IGH: Worum geht es bei Südafrikas Antrag gegen Israel?

Was hat Südafrika vor dem IGH in Den Haag gegen Israel beantragt?

Der Staat Südafrika fordert den Gerichtshof auf, "vorläufige Maßnahmen" anzuordnen, die Israel dazu bringen sollen, seine Militäroperation gegen die Hamas im Gazastreifen einzustellen, die Versorgung der Palästinenser im Gazastreifen zu ermöglichen und Rechenschaft über seine bisherigen Schritte abzulegen. Südafrika begründet seinen neuerlichen Antrag auf vorläufige Anordnungen des Gerichts mit der sich weiter zuspitzenden Lage rund um die Stadt Rafah im Gazastreifen. Israel hat offenbar mit einer Bodenoffensive gegen Hamas in Rafah begonnen. Hunderttausende Menschen sind erneut auf der Flucht. Der Grenzübergang Rafah zu Ägypten, der für die Versorgung unerlässlich ist, ist geschlossen.

Demonstranten mit Palästinensertüchern und palästinensischer Flagge
Pro-palästinensische Aktivisten unterstützen vor dem Gericht in Den Haag die Anträge Südafrikas (Archiv Januar 2024)null Patrick Post/AP Photo/picture alliance

Wie reagiert Israel auf diesen Antrag?

Die israelischen Vertreter am Gerichtshof in Den Haag werden darauf hinweisen, dass ein militärisches Vorgehen gegen die Hamas-Terroristen, die am 7. Oktober 2023 über 1400 Menschen, hauptsächlich israelische Bürger, getötet oder verschleppt haben, in Rafah unabdingbar ist. Zivile Opfer seien im Häuserkampf in dicht besiedelten Städten nur schwer zu vermeiden. Die Kämpfe würden sofort eingestellt, sobald die Hamas, die von den USA, der EU und anderen als Terrororganisation eingestuft werden, sich ergebe oder geschlagen sei. Israel bestreitet deshalb, alleine für die katastrophale humanitäre Lage der Zivilisten verantwortlich zu sein und nicht genug für deren Versorgung zu unternehmen. Den Grenzübergang Rafah halte im übrigen Ägypten geschlossen, nachdem israelisches Militär die palästinensische Seite besetzt habe. Ägypten bestreitet das.

Was kann das Gericht entscheiden?

Der Internationale Gerichtshof hat bereits zweimal, im Januar und im März 2024, "vorläufige Maßnahmen" auf Antrag Südafrikas gegen Israel angeordnet. Im Januar hatten die Richterinnen und Richter entschieden, dass Israel alles unternehmen müsse, um die Versorgung der palästinensischen Bevölkerung sicherzustellen und zivile Opfer zu vermeiden. Bisher sollen nach palästinensischen Angaben 35.000 Menschen getötet worden seien. Dem Antrag aus Pretoria, einen Waffenstillstand anzuordnen, folgte das Gericht nicht. Im März hat der Gerichtshof seine Anordnungen noch einmal wiederholt und verschärft, weil sich die Lage der Zivilbevölkerung in Gaza nach Angaben der Vereinten Nationen einer Hungersnot annäherte. Das Gericht könnte jetzt seine Anordnungen weiter ausdehnen und zum Beispiel einen Rückzug israelischer Truppen aus Rafah verlangen. Mit einer Entscheidung über den südafrikanischen Antrag wird in einigen Wochen gerechnet.

Mehrere proiIsraelische Aktivisten halten israelische Flaggen und Plakate von Geiseln der Hamas
Pro-israelische Aktivisten demonstrieren für die Ablehnung der Anträge und Klage gegen Israel in Den Haag (Archiv Januar 2024)null Patrick Post/AP Photo/picture alliance

Welche Folgen haben Entscheidungen des Gerichts?

Auf die Lage in Gaza und Israel wirkten sich die Anordnungen des Gerichts bisher wenig aus. Der politische Druck auf Israel steigt zwar, aber dessen Regierung zeigt sich unbeeindruckt. Und das obwohl die Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofes für Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen, zu denen Israel gehört, bindend sind. Das Gericht hat aber keine Mittel, keine Polizei, um seine Urteile tatsächlich durchzusetzen. Auch in anderen Fällen ignorieren die Beklagten die Entscheidungen aus Den Haag. Russland wurde zum Beispiel verurteilt, seine rechtswidrige Invasion der Ukraine zu stoppen - wie man weiß ohne Konsequenzen.

Hat Südafrika Israel vor dem Internationalen Gerichtshof wegen Völkermordes verklagt?

Im Dezember vergangenen Jahres hat Südafrika Israel wegen Verletzung der UN-Konvention zur Verhinderung von Völkermord verklagt. Israels Vorgehen im Gazastreifen im Krieg gegen die Hamas führe zur Ausrottung der palästinensischen Bevölkerungsgruppe. Israel bestreitet, gegen die Völkermord-Konvention zu verstoßen, weil es sein Recht auf Selbstverteidigung ausübe. Der Gerichtshof hat sich für zuständig erklärt und die Klage Südafrikas angenommen. Auf der Grundlage dieses Hauptsacheverfahrens beantragt Südafrika nun erneut "vorläufige Maßnahmen", die das Gericht vor dem Hintergrund der Völkermordklage anordnen kann. Die Hauptsache, also die Frage, ob Israel eventuell Völkermord begeht, wird aber erfahrungsgemäß erst in einigen Jahren nach ausführlichen Verhandlungen und Beratungen entschieden. Kolumbien und die Türkei wollen sich der Klage aus Südafrika anschließen.

Der Friedenspalast, das Gebäude des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag
Friedenspalast in Den Haag, Niederlande: Sitz des Internationalen Gerichtshofesnull Peter Dejong/AP/dpa/picture alliance

Warum ist der Gerichtshof in Den Haag zuständig?

Der Internationale Gerichtshof (IGH) ist ein Organ der Vereinten Nationen. Jedes reguläre Mitglied der Vereinten Nationen ist automatisch dem Gerichtshof gegenüber verantwortlich. In Den Haag können nur Staaten andere Staaten verklagen, um Streitigkeiten untereinander zu regeln oder Verstöße gegen die UN-Charta oder andere UN-Konventionen klären lassen. Für die Durchsetzung der Urteile sind die Staaten selbst verantwortlich. Das Gericht hat - wie gesagt - keine Polizeitruppe zur Verfügung. Der Internationale Gerichtshof ist nicht zu verwechseln mit dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH), vor dem natürliche Personen wegen Verstößen gegen das Völkerrecht belangt werden können. Der Chefankläger ermittelt bereits gegen die Hamas-Führung und israelische Politiker. Sein Sitz ist ebenfalls Den Haag.

20 Jahre Haft für gambischen Ex-Innenminister Ousman Sonko

Das Schweizer Bundesstrafgericht hat den gambischen Ex-Innenminister Ousman Sonko wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt. Sonko wurde wegen einer Reihe von Straftaten schuldig gesprochen, die er zwischen 2000 und 2016 unter dem Regime des ehemaligen gambischen Diktators Yahya Jammeh begangen hatte. Die Staatsanwaltschaft hatte in dem Prozess in Bellinzona in der Südschweiz eine lebenslange Haft gefordert. Der heute 55-Jährige - auch als "Folterkommandant von Gambia" tituliert - kann gegen das Urteil Berufung einlegen.

Gambias früherer Machthaber Yahya Jammeh neben einem Offizier (Foto von November 2016)
Gambias früherer Machthaber Yahya Jammeh (links) regierte das westafrikanische Land äußerst repressiv (Foto von November 2016)null Jerome Delay/AP Photo/picture alliance

Sonko befindet sich seit Januar 2017 in Schweizer Haft, nachdem er nach seiner Entlassung aus der Regierung des westafrikanischen Landes Asyl beantragt hatte. Er wurde nach dem Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit angeklagt, das es Ländern erlaubt, mutmaßliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Völkermord zu verfolgen - unabhängig davon, wo sie begangen wurden.

Verbrechen mehr als 20 Jahre lang begangen  

"Die Verurteilung von Ousman Sonko, einer der Stützen des brutalen Regimes von Yahya Jammeh, ist ein wichtiger Schritt auf dem langen Weg zur Gerechtigkeit für Jammehs Opfer", sagte der US-Anwalt für Menschenrechte, Reed Brody. Er betreut Opfer von Jammehs Herrschaft und verfolgte den Prozess in der Schweiz. "Dieses Urteil bestätigt, dass Gerechtigkeit keine Grenzen kennt und dass die 'universelle Gerichtsbarkeit' zu einem mächtigen Instrument geworden ist, um Tyrannen und Folterer zur Rechenschaft zu ziehen", sagte Brody in einer Erklärung.

Der US-Menschenrechtsanwalt Reed Brody
Der US-Menschenrechtsanwalt Reed Brody: "Dieses Urteil bestätigt, dass Gerechtigkeit keine Grenzen kennt" null RANU ABHELAKH/AFP

Die Anwälte der Kläger hatten erklärt, es bestehe kein Zweifel daran, dass Sonko während der gesamten Zeit von Jammehs repressivem Regime zum inneren Kreis gehörte. Jammeh regierte Gambia von 1994 bis 2016 mit eiserner Hand. Sonko wurde von der Schweizer Staatsanwaltschaft beschuldigt, "systematische und allgemeine Angriffe im Rahmen der von den gambischen Sicherheitskräften gegen alle Regimegegner durchgeführten Repressionen unterstützt, daran teilgenommen und sie nicht verhindert zu haben".

Oppositionelle, Journalisten und Putschverdächtige im Visier

Die Anklage umfasste neun Fälle von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Sonko wurde vorgeworfen, "vorsätzlich getötet, gefoltert, vergewaltigt und Personen in schwerwiegender Weise unrechtmäßig ihrer Freiheit beraubt" zu haben. Es traf vor allem Oppositionelle, Journalisten und als Putschisten verdächtige Personen. Sonko soll die Verbrechen zunächst in der Armee, dann als Generalinspekteur der Polizei und schließlich als Innenminister von 2006 bis 2016 begangen haben. Die Anklage wegen Vergewaltigung stellte das Gericht allerdings ein.

Ousman Sonkos Tochter Olimatou - in Bellinzona auch als Anwältin ihres Vaters im Einsatz - im Gespräch mit Journalisten
Ousman Sonkos Tochter Olimatou - in Bellinzona auch als Anwältin ihres Vaters im Einsatz - im Gespräch mit Journalistennull Maria Linda Clericetti/KEYSTONE/TI-PRESS/dpa/picture alliance

Seine Anwälte argumentierten hingegen, dass er nicht wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt werden könnte. Bei den mutmaßlichen Straftaten habe es sich um isolierte Handlungen gehandelt, für die Sonko ihrer Meinung nach keine Verantwortung tragen könne.

Im Jahr 2022 stimmte die gambische Regierung den Empfehlungen einer Kommission zu, die die während der Jammeh-Ära verübten Gräueltaten untersuchte. Die Behörden erklärten sich bereit, 70 Personen strafrechtlich zu verfolgen. Darunter ist auch der Ex-Diktator selbst, der aber schon 2017 nach Äquatorialguinea ins Exil gegangen war. Im April verabschiedete Gambias Parlament dann Gesetzentwürfe zur Einrichtung eines Sonderstaatsanwalts, der die von der Kommission ermittelten Fälle verfolgen soll, und zur Schaffung eines Sondergerichts.

sti/kle (afp, ap, rtr, epd)

Konflikt beigelegt: Benin erlaubt die Verschiffung nigrischen Öls nach China

Benin wird den Export von nigrischem Öl über seinen Hafen jetzt erlauben, sagte die Regierung Benins am Mittwoch (15.05.2024). Damit sei ein entscheidender Schritt zur Lösung eines Handelskonflikts zwischen den westafrikanischen Nachbarn gemacht worden, der beiden Ländern großen wirtschaftlichen Schaden zuzufügen drohte. Die Annäherung kam unter Vermittlung der chinesischen Regierung sowie der chinesischen Unternehmen zustande, die die neu eingeweihte Pipeline zwischen Agadem, im Osten Nigers, und Sèmè Kpodji, im Süden Benins, betreiben.

Die Schließung der nigrisch-beninischen Grenzen hatte in den vergangenen Monaten vor allem die Staatseinnahmen Benins beeinträchtigt und für erhöhte Lebensmittelkosten gesorgt, was zu Protesten wegen der hohen Lebenshaltungskosten geführt hatte. Benin forderte die Öffnung der Grenzen zu Niger und setzte die Blockade der Ölexporte des Nachbarlands als Druckmittel gegen Niger ein. Was war der Auslöser für den Handelsstreit zwischen Benin und Niger?

Militärputsch in Niger: Auslöser des Konflikts

Die Spannungen zwischen beiden westafrikanischen Ländern begannen mit dem Militärputsch in Niger und der Festnahme des demokratisch gewählten Präsidenten Mohamed Bazoum im Juli 2023.

Die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) verurteilte den Putsch und verhängte Sanktionen gegen das nigrische Militärregime. Im Nachbarland Benin war der Protest gegen die Putschisten besonders laut: Präsident Patrice Talon forderte die Wiedereinsetzung Bazoums und sprach sich sogar für eine militärische Intervention von ECOWAS-Truppen gegen die Putschisten in Niger aus. Nigers Militärführer reagierten prompt und schlossen die Grenzen zum Nachbarstaat Benin.

Niger hält Grenzen zu Benin geschlossen

Ulf Laessing bereiste Niger erst vor wenigen Tagen. Er ist Leiter des Regionalprogramms Sahel der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung, die der konservativen Partei CDU nahesteht. Die Lage an der nigrisch-beninischen Grenze beschreibt Laessing im DW-Gespräch so: "An der Grenze zu Benin sind Truppen der nigrischen Armee stationiert. Die nigrische Regierung hat immer noch Angst, dass ECOWAS oder Frankreich versuchen könnten, per Militärintervention den gestürzten Präsidenten wieder einzusetzen. Auch wenn das völlig unrealistisch ist. Aber dort im Niger herrscht eine gewisse Paranoia vor."

Ein Mann sitzt in einem offenen Lastwagen am Straßenrand, dahinter stehen weitere LKWs
An der geschlossenen Grenze zwischen Benin und Niger kam es wie hier im September 2023 zu kilometerlangen Lastwagen-Stausnull AFP/Getty Images

Konsequenz der Grenzschließung: Der Handel zwischen beiden Ländern kam praktisch zum Erliegen, was große finanzielle Verluste, vor allem auf beninischer Seite zur Folge hatte. Vor dem Putsch wurde ein Großteil der nigrischen Importe über Benin abgewickelt: Lebensmittel, Autos, Konsumgüter - fast alles, was das Binnenland Niger importierte, kam über den Hafen von Cotonou.

Alternativrouten, beispielsweise über den Hafen von Lomé in Togo und dann durch Burkina Faso, galten lange als kompliziert und wegen islamistischer Umtriebe als sehr unsicher. Dennoch verlagerte Niger seine Importe zunehmend auf genau diese Route und baute seine Kooperation mit Burkina Faso aus. Das Land wird derzeit - ebenfalls nach einem gewaltsamen Putsch - von einer Militärjunta regiert.

Benin war alarmiert davon, dass die Beziehungen zu Niger zusammenbrechen und sich der Nachbarstaat gleichzeitig Burkina Faso annähert. Nachdem die ECOWAS Sanktionen gegen Niger im Februar aufgehoben hatte, verlangte Benin deshalb, dass Niger die gemeinsamen Grenzen unverzüglich wieder öffnet. 

Konflikt schaukelt sich hoch

Benin griff zu einem "höchst effektiven Druckmittel", wie es Laessing bezeichnet. Niger wollte damit beginnen, Rohöl über eine von China neu gebaute Pipeline zunächst nach Benin zu transportieren. Dort sollte das Öl auf Schiffe verladen werden, um es nach China zu exportieren. Benin verbot den Export über sein Territorium, solange die Grenzen geschlossen sind. Die Entscheidung wurde am 6. Mai auf höchster Regierungsebene getroffen und dem chinesischen Botschafter in Benin und der Pipeline-Management-Gesellschaft mitgeteilt.

Schiffe, die nigrisches Rohöl laden wollten, durften nicht in den beninischen Hafen einlaufen. Das brachte Niger in ernste Schwierigkeiten: Ein lukratives Geschäft, zu dem es keine Alternative gibt, stand auf dem Spiel. Es geht um mehr als 90.000 Barrel Rohöl am Tag. Der chinesische Staatskonzern China National Petroleum Corporation (CNPC) hatte entsprechende Vorverträge im Wert von 400 Millionen US-Dollar gerade unterschrieben. Erst vor kurzem wurde die fast 2000 Kilometer lange Pipeline fertiggestellt zwischen Agadem im Osten Nigers und Sèmè-Kpodji nahe dem Hafen von Cotonou in Benin.

War die Blockade rechtens?

Die Position Benins ist aus Sicht des beninischen politischen Analysten David Morgan "zumindest nachvollziehbar". Benin könne sich auf das Prinzip der Souveränität der Staaten sowie auf das Prinzip der Gegenseitigkeit berufen - also darauf, dass Niger die Grenze zum Nachbarland geschlossen habe und mit einer vergleichbaren Gegenmaßnahme rechnen müsse, sagte der Analyst, bevor Benin die Öffnung bekanntgab. "Diese Maßnahme Benins zielte darauf ab, Niger dazu zu zwingen, seine Grenzen zu öffnen, damit die Bevölkerungen auf beiden Seiten der Grenze die Bedingungen für einen gemeinsamen Handel wiederfinden."

Hafen von Cotonou in Benin
Soll ein Schiff mit nigrischem Rohöl für China beladen werden, darf es momentan nicht in den Hafen von Cotonou einlaufennull AFP via Getty Images

Morgan gibt aber zu bedenken, dass Benins Blockadehaltung gegen das Völkerrecht verstoßen haben könnte. Im Internationalen Seerecht der Vereinten Nationen wird Binnenstaaten wie Niger ein Zugang zum Meer rechtlich zugesagt.

Großer ökonomischer Schaden

Für Ulf Laessing von der Adenauer-Stiftung habe der Konflikt in beiden Ländern großen wirtschaftlichen Schaden angerichtet. "Beide Länder sind aufeinander angewiesen. Aber Niger, so scheint es, braucht Benin mehr als umgekehrt, weil die Erdölexporte nur über Benin laufen können. Die Pipeline wurde ja so gebaut."

Tatsächlich braucht Niger die Einnahmen aus dem Rohölexporten nach China dringend: Seit dem Militärputsch vom Juli 2023 befindet es sich in großen finanziellen Schwierigkeiten. Laessing erinnert daran, dass westliche Staaten die Entwicklungszusammenarbeit, mit Ausnahme von humanitärer Hilfe, suspendiert haben. Deswegen seien die Erdölexporte für das nigrische Regime so wichtig.

Lösung unter Vermittlung Chinas

Ulf Laessing begrüßt, dass China jetzt offenbar erfolgreich im Konflikt vermitteln konnte. China pflege mit beiden Ländern gute Beziehungen und habe ein vitales Interesse, die Investitionen in der Region zu schützen. "China hat ja die Erdöl-Pipeline gebaut. Und es sind auch chinesische Unternehmen, die das Erdöl aus Niger kaufen", so Laessing.

Bau der Pipeline zwischen Niger und Benin mehrere Rohrteile und Baufahrzeuge auf einer Baustelle
Fast 2000 Kilometer lang: Die von China gebaute Pipeline zwischen Niger und Benin wurde gerade erst fertiggestelltnull Boureima Hama/AFP/Getty Images

Alle drei beteiligten Länder - Niger, Benin und China - messen dem Geschäft mit dem Rohöl eine große Bedeutung bei. Noch im April wurde die Fertigstellung der Pipeline von Vertretern aller drei Länder als "zukunftweisendes Projekt" gefeiert. Die Pipeline stehe für eine Zukunft in Wohlstand - und mehr Unabhängigkeit von den traditionellen Partnern in Frankreich und Westeuropa, hieß es.

Letztendlich brauchten Niger und Benin einander. Der Hafen Cotonou will weiter Importgüter für Niger umsetzen. Und Niger muss dringend sein Rohöl durch beninisches Territorium Richtung Cotonou pumpen, um eine Staatspleite zu verhindern. "Insofern ist es sehr zu begrüßen, dass beide Länder, abseits der feindseligen Rhetorik, unter Vermittlung der Chinesen, offenbar wieder zusammenkommen", so Ulf Laessing von der Adenauer-Stiftung.

Mitarbeit: Rodrigue Guézodjè (Cotonou, Benin)

Dieser Artikel wurde am am 15.05.2024 veröffentlicht und zuletzt am 17.05 aktualisiert.

Militärdiktaturen kehren ECOWAS den Rücken

Darfur: Massives Leid durch Machtkampf zweier Generäle

"Massaker", "Gemetzel", "Blutvergießen": Beobachter von UN und Menschenrechtsorganisationen befürchten das Schlimmste, sollte die anhaltende Belagerung von El Fasher - der letzten Hochburg der regulären sudanesischen Streitkräfte (SAF) in Darfur - durch die abtrünnigen sogenannten Rapid Support Forces (RSF) in einen Großangriff münden.

Seit dem Ausbruch des Krieges im Sudan im April 2023 hat sich El Fasher zur größten Anlaufstelle für Flüchtlinge entwickelt. Derzeit leben dort rund 1,5 Millionen Menschen, darunter 800.000 Binnenvertriebene.

Ein informelles Abkommen zwischen den Kriegsparteien- den SAF unter General Abdel Fattah Burhan und den RSF unter General Mohammed Hamdan Dagalo (auch "Hemeti" genannt) - hatte der durch Flucht und Vertreibung stark angewachsenen Bevölkerung der Stadt bisher relative Sicherheit gewährt.

Doch die Situation änderte sich im vergangenen Monat, als zwei bewaffnete Gruppen in El Fasher, die so genannte Sudan Liberation Army und das Justice and Equality Movement, ankündigten, sich auf die Seite der regulären Streitkräfte zu stellen.

"Diese beiden Gruppen haben nicht nur ihre eigenen lokalen Netzwerke, sondern sehen in den Rapid Support Forces auch einen gemeinsamen Feind, was sie sehr stark zusammenschweißt", sagt Hager Ali, Sudan-Expertin am GIGA Institute for Global and Area Studies in Hamburg, im DW-Gespräch. Im Gegenzug verstärkten die rivalisierenden RSF ihre militärischen Anstrengungen, so Ali. So wollten sie sicherstellen, dass die neuen Allianzen nicht zu stark werden oder in die Lage versetzt werden, militärisch wirksam gegen die Belagerung vorzugehen.

Eine Mutter mit ihrem Kind in El Fasher
Mutter mit Kind in einem Flüchtlingscamp in El Fasher: Durch die Belagerung droht den Menschen eine humanitäre Katastrophe null Albert Gonzalez Faran/Unamid/Han/dpa/picture alliance

Willkürliche Tötungen, Niederbrennen von Dörfern 

Die humanitäre Lage in und um El Fasher sei katastrophal, erklärte Anfang des Monats Toby Harward, der stellvertretende UN-Koordinator für humanitäre Hilfe im Sudan. "Die Sicherheitslage hat sich erheblich verschlechtert, unter anderem durch vermehrte zunehmende willkürliche Tötungen, Diebstahl von Vieh, systematisches Niederbrennen ganzer Dörfer in ländlichen Gebieten, eskalierende Luftangriffe auf Teile der Stadt und die sich verschärfende Belagerung um El Fasher. Diese hat die humanitären Hilfskonvois zum Stillstand gebracht und den Handel abgewürgt ", so Harward in einem Bericht vom 2. Mai.

Laut einer kürzlich durchgeführte Analyse des Humanitarian Research Lab der Universität Yale wurden zudem seit Mitte April 23 Gemeinden in Nord-Darfur gezielt niedergebrannt.

Die Folgen für die Bevölkerung sind dramatisch. Nach Angaben des UN-Welternährungsprogramms läuft die Zeit ab, um eine Hungersnot in der riesigen Region zu verhindern.

Die US-Botschafterin bei den UN, Linda Thomas-Greenfield, erklärte bereits Ende April gegenüber Reportern, sie befürchte, die Geschichte werde sich in Darfur auf "schlimmste Weise" wiederholen." El Fasher stehe "am Rande eines groß angelegten Massakers".

Angriffe auf ethnische Minderheiten 

Bereits kurz nach Ausbruch des Krieges im April 2023 dehnten sich die Kämpfe zwischen der SAF und RSF schnell von der sudanesischen Hauptstadt Khartum auf Darfur aus. Dort identifiziert sich ein Teil der Bevölkerung als arabisch und ein anderer als afrikanisch. Laut Human Rights Watch (HRW) starteten die RSF und mit ihnen verbündeten Milizen sogenannte "ethnischen Säuberungen" gegen die nicht-arabische Bevölkerung Darfurs. Am 9. Mai veröffentlichte HRW einen Bericht über Ermordungen und Vertreibungen von Menschen der ethnischen Minderheit der Masaliten in Darfur im Jahr 2023. UN-Experten gehen davon aus, dass allein in El Geneina (alternative Schreibweise: Al-Dschunaina), der Hauptstadt von West-Darfur, rund 15.000 Menschen getötet und mehr als eine halbe Million Menschen vertrieben wurden.

Ebenfalls in dieser Woche veröffentlichte das Sudanese Archive, eine Open-Source-Plattform, die digitale Informationen zu Menschenrechtsverletzungen sammelt, Filmmaterial, das die Misshandlung von Zivilisten, darunter Frauen und Kinder, durch die Rapid Support Forces in El Geneina im November 2023 zeigt.

Sudanesische Binnenflüchtlinge: Zuflucht in den Nuba-Bergen

Sorge vor Rache-Attacken 

Derzeit ist ungewiss, ob die RSF einen Großangriff starten werden, um endgültig die Kontrolle über El Fasher zu übernehmen. Würden sie es tun, dann stünde mehr als ein Drittel des sudanesischen Territoriums, einschließlich der Grenzen zu Libyen, dem Tschad und der Zentralafrikanischen Republik, unter ihrer Macht. 

Beobachtern zufolge wäre ein RSF-Sieg in El Fasher jedoch mit einem hohen Preis verbunden: "Eine Schlacht um die Kontrolle der Stadt hätte ein massives Blutvergießen unter der Zivilbevölkerung zur Folge. Außerdem würde sie zu Racheangriffen in den fünf Darfur-Staaten und über die Grenzen Darfurs führen", erklärte UN-Koordinator Toby Harward.

Ähnlich sieht es Constantin Grund, Leiter des Khartumer Büros der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung: "Ein Angriff würde weitere lokale bewaffnete Gruppen provozieren, sich den Kämpfen anzuschließen, mit katastrophalen Folgen für die Zivilbevölkerung", so Grund zur DW. Darüber hinaus würden die RSF in Teilen der Bevölkerung ihre bisherige politische Popularität und ihr Ansehen verlieren: "Es würde den Rückgang der lokalen Unterstützung beschleunigen und die enormen Anstrengungen der RSF, sich den Anschein von Legitimität zu geben, auf einen Schlag zunichte machen."

Flüchtlinge in einem Krankenhaus in El Fasher
Seit dem Ausbruch des Krieges ist El Fasher zu einer Anlaufstelle für anderthalb Millionen Menschen geworden null ALI SHUKUR/AFP

Hoffnung auf internationalen Druck

Unterdessen bleiben die internationalen Forderungen nach einem Waffenstillstand und der Wiedereröffnung der Korridore für humanitäre Hilfe unerhört - auf beiden Seiten. 

Anfang Mai etwa telefonierte der saudische Außenminister mit beiden rivalisierenden Generälen und forderte sie auf, die Kämpfe zum Schutz der staatlichen Institutionen und der sudanesischen Nation einzustellen - bisher jedoch vergeblich. 

Ohne internationalen Druck wird es nicht gehen, erklärt Hager Ali vom GIGA-Institut am Beispiel der RSF: "Die RSF halte sich derzeit für völlig unempfindlich gegenüber realen Konsequenzen", sagt sie. Die Miliz gehe davon aus, dass sie hinsichtlich einer etwaigen internationalen Strafverfolgung nichts zu befürchten habe. 

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

 

Wie kann Ghana von teurem Kakao profitieren?

Kingsley Owusu ist in seinem Bezirk Afigya Kwabre in der ghanaischen Ashanti-Region bekannt. Zusammen mit anderen Landwirten baut er seit über 30 Jahren Ghanas wichtigstes Exportgut an: Kakao. Viele Jahre lang konnte er dank der Erträge seine Kinder ernähren, doch jetzt macht sich der 60-jährige Owusu Sorgen um seinen eigenen Lebensunterhalt.

"Meine Produktion ist aufgrund des Klimawandels und wegen Krankheiten zurückgegangen. Auch die illegalen Bergbauaktivitäten tragen dazu bei", erzählt Owusu der DW. Er verdiene kaum genug, um über die Runden zu kommen. Früher produzierte Owusu etwa zehn Säcke Kakao pro Saison, jetzt hat er Mühe, drei Säcke zu füllen.

Wer bestimmt den Kakaopreis?

Kakao ist eine milliardenschwere Industrie. Jährlich produzieren afrikanische Bauern Dreiviertel der weltweit geernteten 4,70 Millionen Tonnen Kakao. Ghana und die Elfenbeinküste allein produzieren fast 60 Prozent davon. Doch das spiegelt sich nicht in den Geldbörsen der Bauern wieder: Sie erhalten nur etwa fünf Prozent des Verkaufspreises einer Tafel Schokolade.

Ghana Kakaoanbau in der Krise
In den letzten Jahren ist die Produktionsmenge von Kakao in Ghana stark zurückgegangen. Die Gründe: überalterte Kakaobäume, schlecht bewirtschaftete Plantagen und extreme Trockenheit.null DW/Gerlind Vollmer

"Gemessen am Weltmarktpreis sollten wir mehr erhalten", sagt Kakaobauer Owusu zur DW und weist darauf hin, dass der Kakaopreis auf dem Weltmarkt aktuell bei 10.000 Dollar pro Tonne stehe. Der Kakaopreis wird vor allem an den Warenterminbörsen bestimmt, die sich nach Angebot und Nachfrage richten. Der Verkauf von Kakaobohnen basiert jedoch auf den Standards der einzelnen Länder, wobei die Kakaohandelssysteme in Afrika oft sehr unterschiedlich strukturiert sind.

In der Elfenbeinküste zum Beispiel, dem führenden Erzeuger, können Bauern ihre Bohnen an Genossenschaften verkaufen, denen sie angehören, oder direkt mit privaten Einkaufsgesellschaften handeln. In Ghana hingegen, dem weltweit zweitgrößten Kakao-Exporteur, können Bauern nicht mit externen Käufern handeln, sondern dürfen nur an die staatliche ghanaische Kakaobehörde COCOBOD verkaufen, die das Produkt dann auf dem Weltmarkt weiterverkauft.

Ghanas Bauern haben kein Mitspracherecht beim Preis

Und genau die soll nun helfen. COCOBOD kündigte in einer Erklärung an, dass die Zahlungen an Kakaobauern deutlich erhöht werden, "um das Einkommen der Kakaobauern zu verbessern". Anstatt des bisherigen Preises von 20.928 ghanaischen Cedis (1460 Euro / 1557 US-Dollar) pro Tonne wurde eine Erhöhung um fast 60 Prozent zugesagt: 33.120 Cedis pro Tonne. Das entspricht 2070 Cedis pro Sack Kakao mit einem Bruttogewicht von 64 Kilogramm.

Dieser Schritt reicht vielen der ghanaischen Bauern jedoch nicht. Auch Moses Djan Asiedu, Vorstandssekretär der West African Cocoa Farmers Organization, schließt sich den Bedenken an. "COCOBOD ist ein Preismacher, und der festgesetzte Preis entzieht sich der Kontrolle der Bauern. Wir denken, dass die Einrichtung, die den Preis festlegt, nicht fair ist", sagte er der DW.

Daher sei es wichtig, Kakaobauern eine Stimme und eine Plattform zu geben. Die Lösung: Kooperativen und Lobbyarbeit. "Wenn wir uns zusammentun und mit einer Stimme sagen, dass dies nicht erlaubt werden kann, kann das die Preisfrage verändern", so Asideu.

Terminverkäufe für mehr Sicherheit im Kakaogeschäft?

Der Sprecher des COCOBOD, Fiifi Boafo, erläuterte der DW, dass ein Anstieg der Kakaopreise auf dem Weltmarkt "den Landwirten die Möglichkeit bietet, ihr Einkommen zu verbessern", und fügte hinzu, dass sie mit den Landwirten "Terminverkäufe" abschließen.

Die ghanaische Politik der Weitergabe von Kakaoverkaufspreisen bedeutet jedoch, dass die Erzeuger von den Preisen abhängig sind, denen die Regierung zustimmt, ohne ein unabhängiges Mitspracherecht zu haben. Laut COCOBOD soll diese Politik sowohl der Regierung als auch den kakaoproduzierenden Bauern eine kollektive Kontrolle über die Mechanismen von Angebot und Nachfrage auf dem Rohstoffmarkt ermöglichen. Dies soll zukünftige Kakaolieferungen sichern, etwaige Preisschwankungen ausgleichen und gleichzeitig den Markt stabilisieren.

Wie man in Ghana Kakaobauer wird

Bauern-Fürsprecher Asiedu kritisiert diese Regelung: Sie mache kakaoproduzierende Länder wie Ghana hilflos, wenn es darum geht, faire Preise für alle zu sichern. Asiedu sieht in der staatlichen Einmischung die Ursache für die Benachteiligung der Produzenten: "Die Regierung betrachtet nur die Kosten, die mit der Verarbeitung des Kakaos verbunden sind, bevor sie den Bauern einen Preis anbietet", sagte er der DW.

Schmuggel auf den freien Markt

COCOBOD-Vertreter Boafo räumt ein, dass diese Politik des Vorwärtsverkaufs von Ghanas Kakao die Gewinnmöglichkeiten der Bauern einschränkt, wenn wie aktuell die Preise auf dem Weltmarkt gestiegen sind. Er ist jedoch der Meinung, dass die ghanaische Regelung auch ihre Vorteile hat und die Landwirte in der Vergangenheit geschützt hat, indem sie verlässliche Preise für ihre Ernten festlegte.

Viele ivorische und ghanaische Landwirte schmuggeln ihre Bohnen in Länder wie Kamerun, Togo oder Burkina Faso, in denen sie mehr Geld einbringen, da sie dort privat verhandeln können. Die Regierung hatte sich erhofft, durch die Preisanpassungen Landwirte zu ermutigen und den Schmuggel zu verhindern. Ghana hat im vergangenen Jahr 150.000 Tonnen Kakaobohnen durch Schmuggel verloren, wie COCOBOD-Geschäftsführer Joseph Boahen Aidoo mitteilte. COCOBOD arbeitet daher mit der Polizei zusammen, um den Schmuggel von Kakao in die Nachbarländer einzudämmen.

Prämien für gute Kakaoqualität - ein Lösungsansatz?

In Ghana schrumpfe der Kakao-Sektor, beklagt Bauernvertreter Asiedu. Viele Bauern geben entweder ihren Betrieb auf oder gehen in den Ruhestand, ohne dass jemand den Hof weiterführt. "Etwa 70 Prozent der Bauern sind überaltert. Ihnen fehlt die Kraft, ihre Farmen zu erhalten, vor allem, weil sie nicht genug Geld für ihre Arbeit bekommen", erklärte Asiedu.

Um diesen Trend zu stoppen, erklärten sowohl die Elfenbeinküste als auch Ghana im Jahr 2019, dass Kakaokäufer eine zusätzliche Prämie von 400 US-Dollar pro Tonne gekaufter Kakaobohnen zahlen müssen, um den sich verändernden Kakaoarbeitsmarkt zu kompensieren - das sogenannte Living Income Differential.

Eine neue Studie der humanitären Organisation Oxfam legt jedoch nahe, dass dieser Ansatz gescheitert ist: Zum einen aufgrund der steigenden Rohstoffpreise, zum anderen, weil die Händler auch eine ausgehandelte Prämie für Kakao zahlen, die auf Qualitäten wie Geschmack, Fettgehalt oder Bohnengröße basiert - das so genannte "Länderdifferential". Viele Kakaokäufer reduzierten die Länderzuschläge für die Elfenbeinküste und Ghana, nachdem diese die 400-Dollar-Prämie zur Unterstützung der Bauern eingeführt hatten.

Die Kakaobohnen gehen aus

Unterdessen bahnt sich eine weitere große Krise für den Kakao an: An afrikanischen Kakaopflanzen wachsen weniger Bohnen. Zwischen 2021 und 2022 produzierte Ghana rund 750.000 Tonnen Kakaobohnen - doch die ghanaische Kakaoproduktion für die Saison 2023/2024 wird voraussichtlich um fast 40 Prozent fallen. Dies sei der Auslöser dafür, dass die Preise auf dem Weltmarkt 10.000 Dollar pro Tonne überschritten haben, so Boafo.

Auch Faktoren wie der Klimawandel bedrohen den Kakao-Sektor, so Asiedu. "Wir haben ungewöhnliche Regenfälle und Dürren, und manchmal kann man das nicht vorhersagen. Landwirte müssen eine ganze Reihe von Probleme, wie Krankheiten, in den Griff bekommen", sagt er der DW. "Manchmal wird auch der Zugang zu Pestiziden zur Krankheitsbekämpfung zum Problem".

Boafo fügt hinzu, dass zum Schutz des Sektors und zur Bekämpfung der globalen Erwärmung intelligente Anbaumethoden angewandt werden müssten: "Der Klimawandel ist ein großes Problem. Es ist wichtig, dass wir in der Lage sind, mit den Auswirkungen des Klimawandels umzugehen."

Ghana: Nachhaltigkeit im Kakaoanbau

Dafür sicherte sich COCOBOD im Februar bei der Weltbank ein Darlehen von 200 Millionen US-Dollar für die Sanierung von Plantagen, um von Krankheit befallene Kakaobäume zu entfernen und zu ersetzen und Pflanzen bis zur Fruchtbildung aufziehen, bevor sie an die Bauern zurückgegeben werden.

Die Verantwortung der Kakao-Käufer

Um jedoch das Grundproblem des fairen Preises zu lösen, bedarf es einer Zusammenarbeit zwischen Produktionsländern und den Käufern des Rohkakaos, die den größten Einfluss auf die Preise haben, die den Bauern gezahlt werden. In diesem mittlere Bereich der Lieferkette müsse sich etwas ändern, so das Kakaobarometer 2022, eine Studie, die hauptsächlich aus Entwicklungsgeldern unter anderem Deutschlands finanziert wurde.

"Die Kakaobauern sind bereit, wir nehmen die Herausforderung an, etwas gegen die derzeitige Situation zu tun, weil unsere Lebensgrundlage bedroht ist", so Asiedu. "Aber wir haben nicht das Zeug dazu, alle Probleme zu lösen, und wir brauchen die Unterstützung anderer Akteure: Verarbeiter, Chocolatiers, Transporteure."

Große Schokoladenunternehmen wie etwa Cemoi und Nestlé haben sich bereits verpflichtet, Bauern mehr Geld für nachhaltige Praktiken zu zahlen. Doch das Kakaobarometer argumentiert, dass diese Art von Programmen vage und ineffektiv sind: "In der Praxis zahlt kein einziges großes Schokoladen- oder Kakaounternehmen höhere Preise ab Hof."

Tony's Chocolonely, ein Schokoladenunternehmen, das von niederländischen Journalisten gegründet wurde, hat längerfristige Verträge mit Bauern geschlossen, die auf angemessenen Preisen basieren. Diese Preise hängen vom Referenzpreis für ein existenzsicherndes Einkommen ab, einem Zuschlag, der den Landwirten gezahlt wird, um ein existenzsicherndes Einkommen zu erzielen, das mit den Lebenshaltungskosten steigt. Dieser Zuschlag ist im Rahmen von Fairtrade freiwillig.

Doch eine freiwillige Zahlung fairer Preise ist keine langfristige Option. Es ist Zeit, dass "Schokoladengiganten ihren Worten Taten folgen lassen", so Amitabh Behar, Interimsgeschäftsführer von Oxfam International Behar. Denn erst wenn auch die Bauern vom Geschäft leben können, ist es ein süßer Deal für jeden im Kakao-Geschäft.

 

Adaptiert aus dem Englischen von Silja Fröhlich

30 Jahre nach dem Genozid: Ruandas Dorf der Versöhnung

Als am 7. April 1994 in Ruanda der Völkermord an den Tutsi begann, töteten Kazimungu Frederick und Nkundiye Tharcien - beide Hutu - ihre Tutsi-Nachbarn. Die Mörder waren zu langen Haftstrafen verurteilt worden. Doch nachdem sie um Vergebung gebeten hatten, verbüßten die Männer nur neun Jahre im Gefängnis.

Heute leben sie im Mbyo Reconciliation Village, einem Dorf nahe der Hauptstadt Kigali. Es ist eines von sechs Versöhnungsdörfern, in denen mehr als 400 Täter und Überlebende des Völkermordes wohnen.

Die damalige Rebellengruppe, die von der Ethnie der Tutsi-Minderheit geführte Ruandische Patriotische Front unter Leitung von Paul Kagame, beendete den Völkermord nach 100 Tagen und übernahm die Macht. Kagame wurde 1994 Vizepräsident, am 17. April 2000 wurde er vom Parlament mit großer Mehrheit zum Staatspräsidenten gewählt und regiert seither das Land.

Eine neue ruandische Identität

Der Prozess der Versöhnung zeigt Erfolg: "Ich habe mich schuldig bekannt und die Überlebenden, deren Familienmitglieder ich getötet habe, um Verzeihung gebeten." Im Gefängnis schrieb er seiner Nachbarin Anastasie, deren Ehemann er ermordet hatte, einen Brief. "Jetzt leben wir beide, Überlebende und Täter, in Frieden. Wir identifizieren uns nicht mehr entlang ethnischer Grenzen", sagte der 74-jährige Tharcien zur DW.

Eine Frau und drei Männer sitzen auf bunten Plastikstühlen vor einer Hauswand im Versöhnungsdorf Mbyo
Versöhnungsdorf Mbyo: Mukamusoni Anastasie, Usengumuremyi Silas, Nkundiye Tharcien und Kazimungu Frederick (v.l.n.r.) - damals Überlebende und Täter, heute wieder Nachbarnnull Isaac Mugabi/DW

Auch Fredrick, inzwischen Vater von sieben Kindern, zeigte Reue für seine Tat und kam frei. Der 56-jährige Angehörige der Hutu-Mehrheit beschuldigt die frühere Regierung, Zivilisten wie ihn dazu gedrängt zu haben, ihre Tutsi-Nachbarn zu töten. "Von Kindheit an wurde uns gesagt, dass die Tutsi unsere Feinde seien und die Hutu seit langem kolonisiert hätten. Als das Morden begann, mussten wir also die Tutsi töten", sagt er zur DW.

Eine schwierige Versöhnung

Usengimuremyi Silas und Mukamusoni Anastasie - Überlebende des Völkermords und Nachbarn der beiden Männer - haben sich mit den Tätern versöhnt, sagen sie.

Im Jahr 1994 war Anastasie 20 Jahre alt. Sie erinnert sich an die hilflosen Tutsi, die sie damals an Straßensperren in der Nähe des Dorfes Mbyo sah. Tharcien tötete Anastasies ersten Ehemann, aber jetzt helfen sie sich gegenseitig in Zeiten der Not. "Wenn ich Hilfe brauche, ist Tharcien immer zur Stelle", sagte sie der DW. "Ich habe die Hutu so sehr gehasst, dass ich nicht bereit war, mich mit ihnen zu treffen", fügte sie hinzu.

Zunächst war Anastasie nicht begeistert von der Vorstellung, dass die Täter in die Gemeinden zurückkehren würden. Doch jetzt gilt Mbyo für zahlreiche Ruander als Beispiel für ein friedliches Zusammenleben 30 Jahre nach dem Völkermord.

Bedürfnis nach einem Abschluss

Auch Silas fiel es schwer, den Tätern zu vergeben, die seinen Vater und andere Familienmitglieder während des Völkermords getötet hatten. "Anfangs waren wir entsetzt, als wir hörten, dass die Täter des Völkermordes in die Gemeinden zurückkehren würden", sagt Silas zur DW.

Soldaten in Militäruniform und Flüchtlinge mit ihrem Hab und Gut auf dem Rücken drängeln sich in Goma 1994
Soldaten, unter ihnen auch Milizen der Hutu-Extremisten, erreichten im Juli 1994 zusammen mit Flüchtlingen die Grenzstadt Goma in Zaire (heute DR Kongo)null dpa/picture alliance

"Aber wir hatten keine andere Wahl, denn viele haben nicht die ganze Wahrheit über ihre Beteiligung an den Morden gesagt. Wir brauchten jedoch eine Form des Abschlusses, um zu heilen."

Die Regierung habe sie davon überzeugt, dass alle Menschen von Geburt an gleich seien. "Der Heilungsprozess war schwierig, Sie zeigten uns die Massengräber unserer Angehörigen, und wir vergaben ihnen schließlich", sagt Silas.

Mit der Vergangenheit ringen

Trotz des Erfolgs gibt es Kritik, die Versöhnung sei erzwungen. Phil Clark, Professor an der SOAS University of London, betont aber die enormen Fortschritte, die Ruanda bei der Versöhnung nach dem Völkermord gemacht habe. Besonders "wenn man bedenkt, dass Hunderttausende von verurteilten Völkermord-Tätern heute wieder in denselben Gemeinden leben, in denen sie Verbrechen begangen haben, Seite an Seite mit Überlebenden des Völkermords," sagt Clark.

Kampf um Aussöhnung

Die meisten dieser Gemeinden seien friedlich, stabil und produktiv. Laut Clark habe man sich aber zu sehr auf diese Modelle der Versöhnungsdörfer konzentriert: Die Regierung wolle ausländischen Besuchern die Erfolge bei der Versöhnung zeigen. "Diese Modelle sind gar nicht nötig, denn die Fortschritte der Versöhnung sind in fast jeder Gemeinde des Landes sichtbar. Sie werden nicht für Außenstehende inszeniert, sondern sind einfach Teil des täglichen Lebens."

Clark betont, es sei viel wichtiger, dass Hunderttausende von verurteilten Tätern in ihre Heimatgemeinden zurückgekehrt sind und dort ihr Leben wieder aufbauen und zur Entwicklung dieser Gemeinden beitragen konnten.

Einigkeit und Entwicklungsprojekte

Mehr als die Hälfte der Bewohner in Mbyo sind Frauen, und ihre Projekte - darunter eine Korbflechter-Kooperative und ein informelles Geldspar-Programm - haben viele von ihnen vereint.

"Wir haben es geschafft, uns zu versöhnen und gemeinsame Projekte wie Landwirtschaft und Korbflechterei für die Frauen durchzuführen", sagte Fredrick der DW. Auch Anastasie sagt, dass sie jetzt in Harmonie leben und sich als Freunde und Familie betrachten. "Wann immer ich ein Problem habe, das gelöst werden muss, wende ich mich an Nachbarn wie Tharcien und Fredrick", sagte sie.

Ruanda | Versöhnungsdorf Mbyo
In Mbyo wird gute Nachbarschaft gelebt - wie auch zwischen Jeanette Nyirabashyitsi und Frederick Kazigwemo, die hier für einen Fotografen der Agentur AP posierennull Brian Inganga/AP Photo/picture alliance

Mit der Einrichtung eines Ministeriums, dass sichum die Aussöhnung bemüht, haben die ruandischen Behörden die nationale Einheit zwischen der Hutu-Mehrheit und der Tutsi- und Twa-Minderheit gefördert.

Außerdem weisen ruandische Personalausweise nicht mehr die ethnische Zugehörigkeit einer Person aus, und Lektionen über den Völkermord sind Teil des Lehrplans in den Schulen.

Die Regierung hat zudem strenge Gesetze erlassen, um diejenigen strafrechtlich zu verfolgen, die sie verdächtigt, den Völkermord zu leugnen oder die "Völkermordideologie" zu fördern. Einige Beobachter sind allerdings der Ansicht, dieses Gesetz werde dazu benutzt, Regierungskritiker zum Schweigen zu bringen.

Aus dem Englischen adaptiert von Martina Schwikowski

Wahlen im Tschad: kaum Hoffnung auf Wandel

Für Lydie Beassemda ist Montag, der 6. Mai ein wichtiges Datum: Wenn Tschaderinnen und Tschader ihr neues Staatsoberhaupt wählen, steht auch die 57-Jährige zur Wahl - als einzige Frau im Wettstreit mit neun Männern.

Beassemdas Vater hatte Ende der 1990-er Jahre die Partei für vollständige Demokratie und Unabhängigkeit (PDI) gegründet - und damit letztlich auch den Grundstein für die politische Karriere der Tochter gelegt. "Ich wollte etwas beitragen und denen, die vor mir da waren und von den Jahren des Kampfes etwas erschöpft waren, etwas Zeit zum Durchatmen geben", sagt Beassemda über ihren Einstieg in die Partei ihres Vaters. Seit 2018 steht sie dieser selbst vor und kämpft für ein föderales System im Tschad.

Lydie Beassemda, Präsidentschaftskandidatin im Tschad
Lydie Beassemda will die Verhältnisse im Tschad ändernnull Privat

Doch die Chancen auf die Präsidentschaft stehen nicht gerade gut für Beassemda. Immerhin belegte sie bei den Wahlen von 2021 den dritten Platz - mit rund drei Prozent der Stimmen weit hinter dem wiedergewählten Präsidenten Idriss Déby Itno. Der galt nach drei Jahrzehnten an der Spitze als unersetzbar. Als kurz darauf Débys Tod bei der Bekämpfung einer Rebellion im Norden verkündet wurde, übernahm kurzerhand sein Sohn Mahamat Idriss Deby an der Spitze einer Militärregierung.

Jetzt, zum Ende einer dreijährigen "Übergangszeit", gilt Mahamat als klarer Favorit auf seine eigene Nachfolge.

Tschads Wahlen in Zeiten der Krise

Die Zeiten sind chaotisch: Von Osten her sorgt der Krieg im Sudan dafür, dass hunderttausende Menschen über die Grenze in den Tschad fliehen. Westlich des Tschad bekämpfen hingegen mehrere Putschistenregierungen mehr schlecht als recht den Vormarsch vom islamistischen Gruppen im Sahel.

Tschad Flüchtlinge aus Darfur (Sudan)
Der Tschad hat so viele Flüchtlinge aufgenommen wie kein anderes afrikanisches Land - ihre Versorgung gestaltet sich schwierignull David Allignon/MAXPPP/dpa/picture alliance

Und während Europa und die USA dort nicht mehr willkommen sind und ihre Armeen weitgehend abgezogen haben, gilt das zentralafrikanische Land dem Westen zunehmend als unverzichtbarer Partner. So gibt es sogar ein EU-Programm zur Unterstützung des Wahlprozesses - allen demokratischen Bedenken zum Trotz.

Den Norden des Landes hat die Regierung in N'Djamena bis heute kaum unter Kontrolle. Die Menschen dort klagen, die Politik habe sie vergessen: Keiner der zehn Kandidaten zeigte sich zu einem Wahlkampfauftritt im Norden, selbst Übergangspräsident Mahamat zog es vor, sich vertreten zu lassen.

"Diese Wahl betrifft alle Menschen im Tschad. Denn der Präsident, der am Montag gewählt wird, wird der Präsident aller Tschader sein", sagt der Händler Younouss Ali in der Stadt Miski in der nördlichsten Provinz Tibesti. "Aber leider werden wir hier vernachlässigt: Niemand kommt, um uns zu erklären, warum wir wählen sollten, oder um nach unseren Sorgen zu fragen."

Ein politischer Mord an Tschads Oppositionskandidat Dillo?

In N'Djamena hingegen hat das politische Tauziehen zuletzt einige überraschende Wendungen genomment. Ende Februar stand das Land gar am Rande des Chaos, als Sicherheitskräfte gegen Mahamats gefährlichste Rivalen vorgingen und seinen potenziellen Herausforderer Yaya Dillo tötete. Die Regierung gab vor, einen Putschversuch abgewendet zu haben - Opposition und Beobachter sprachen von einer politischen Exekution.

Die Kandidaturen einiger weiterer Gegenspieler des Präsidenten wurden von der Wahlkommission abgelehnt. Als prominentester Herausforderer geht jetzt Premierminister Succès Masra ins Rennen: Der Gründer der Oppositionspartei Les Transformateurs hatte 2022 zu Protesten gegen die Regierung aufgerufen, die Sicherheitskräfte am 20. Oktober brutal niederschlugen. Laut Aussagen der Opposition kamen dabei hunderte Menschen zu Tode.

Paris Treffen Premier Succes Masra Tschad und Premier Gabriel Attal
Der Einfluss von Premierminister Succès Masra, hier mit seinem französischen Amtskollegen Gabriel Attal, auf die Regierungsgeschäfte in N'Djamena gilt als geringnull Lafargue Raphael/abaca/picture alliance

Masra floh ins Ausland, kehrte aber Ende 2023 zurück, nachdem ein Deal unter Vermittlung des kongolesischen Präsidenten Félix Tshisekedi seine Sicherheit garantieren sollte. Die Abmachung beinhaltete auch eine Amnestie für politische Gefangene - doch die Verbrechen der Sicherheitskräfte wurden nicht aufgearbeitet. Kurz darauf machte Mahamat den Konkurrenten zum Premierminister. Bei seiner Anhängerschaft verlor Tschads Premierminister dadurch an Glaubwürdigkeit.

Der Tschad: ein gespaltenes Land

Dass Masra aus der Übergangsregierung heraus als eigener Kandidat antritt, hat im Tschad für Debatten gesorgt: Verschiedene Oppositionspolitiker und Analysten sehen in seiner Kandidatur ein Feigenblatt, das die erwartete Wiederwahl von Präsident Mahamat demokratisch legitimieren soll. Masra selbst weist diese Kritik zurück: Er gehe als "Pilot, nicht als Ko-Pilot" ins Rennen.

Saleh Kebzabo, einstige Oppositionsfigur und Vorgänger Masras im Amt des Premierministers, warnte indessen vor drohendem Chaos. Er vermute, dass Masra erneut Zwietracht säen wolle, sagte Kebzabo diese Woche in einem DW-Interview: "Wir dürfen nicht vergessen, dass Masra der Drahtzieher der Proteste des 20. Oktober ist, die mehr als 300 Menschenleben forderten - laut seinen eigenen Zahlen." Damit griff er ein bekanntes Argument auf, wonach Masra Warnhinweise vor den Protesten ignoriert hätte - möglicherweise, um sich selbst zu profilieren.

Porträtaufnahme von Saleh Kebzabo
Saleh Kebzabo kritisiert seinen Nachfolger im Amt des Premierministersnull Denis Sassou Gueipeur/AFP/Getty Images

Masra selbst stellte sich in einem DW-Interview dagegen als Kandidat für Menschen dar, die nach "Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und nach Veränderung" strebten: "Eine der größten Tragödien des tschadischen Volkes ist nicht, dass fähige Menschen fehlen, sondern dass sie in einem System gefangen sind, in dem sie ihre Anführer nie gewählt haben." Tatsächlich kamen Tschads Staatsoberhäupter seit der Unabhängigkeit fast ausschließlich durch Putsche an die Macht.

Lydie Beassemda: niemals aufgeben

Präsidentschaftskandidatin Lydie Beassemda weiß, dass die Bedingungen für sie nicht günstig sind: "Die politische Kultur ist im Tschad sehr schwach entwickelt", sagt die Politikerin im DW-Gespräch. Ihre männlichen Kollegen würden Dinge lieber unter sich ausmachen. "Sie akzeptieren nicht, dass Frauen den gleichen politischen Raum besetzen."

Doch Beassemda lässt sich nicht davon abbringen, weiter für ihre Vision eines föderalen Staats zu kämpfen: "Es wäre unlogisch, wenn wir bei diesen Wahlen nicht antreten würden", sagt sie. "Wenn wir nicht antreten, haben wir schon aufgegeben, dann ist der Kampf verloren."

Zivilgesellschaft bezweifelt transparente Wahlen

Menschenrechtsorganisationen kritisierten bereits vor Monaten, dass zahlreichen tschadischen Medien ihre Lizenz entzogen wurde - vorgeblich aus formellen Gründen. Während des Wahlkampfs berichteten Tschader von Soldaten, die Wahlplakate von Übergangspräsident Mahamat Deby aufhängten - Deby ist selbst ein General. Einige führende Militärs bekundeten sich in den Sozialen Medien ihre Unterstützung für Mahamat, ein General wurde Schatzmeister seiner Wahlkampagne.

Für den Menschenrechtsaktivisten Jean-Bosco Manga ist das nicht hinnehmbar: "Dass sich die Armee in die Politik einmischt, gefährdet den demokratischen Prozess", sagt Manga der DW. Das könne Einflussnahme, Einschüchterung und die Einschränkung von Bürgerrechten zur Folge haben.

Tschad | Übergangspräsident Mahamat Idriss Déby Itno
Interimspräsident Mahamat Déby hat gerade auch eine Autobiographie herausgegebennull Präsidentschaft des Tschad

Zuletzt sorgte eine Aussage der nationalen Wahlkommission für Diskussionen. Demnach dürfen Delegierte der Wählerschaft und Entsandte der Wahlbüros zwar anwesend sein, wenn die Ergebnisse bestätigt werden. Die signierten Abschlussdokumente dürfen aber nicht fotografiert oder abgefilmt werden, teilte die Wahlkommission unter Berufung auf das neue Wahlgesetz mit.

Damit wolle man Betrug vorbeugen. "Es ist bekannt, wie leicht Zahlen in den Sozialen Medien manipuliert werden können", sagte der Leiter der Wahlkommission, Ahmed Batchiret.

Agnès Ildjima Lokiam, die ein zivilgesellschaftliches Netzwerk zur Wahlbeobachtung leitet, widerspricht. Das Gegenteil sei der Fall: "Gerade dadurch, dass die Unterzeichnung der Wahlprotokolle gefilmt wird, wird Transparenz erzeugt", sagt sie der DW - und bezeichnete die Anweisung der Wahlkommission als demokratischen Rückschritt.

Die Ergebnisse werden für den 21. Mai erwartet. Der Wahlkalender sieht auch die Option einer Stichwahl vor, falls kein Kandidat im ersten Wahlgang eine Mehrheit erreicht. Diese würde am 22. Juni stattfinden.

Mitarbeit: Blaise Dariustone (N'Djamena) und Georges Ibrahim Tounkara

Dieser Artikel erschien zuerst auf Englisch.

Warum Burkina Faso die Pressefreiheit einschränkt

Burkina Faso hat weitere internationale Medien suspendiert. Nachdem vergangene Woche schon die britische BBC und der US-Sender Voice of America suspendiert worden waren, sind jetzt auch die Deutsche Welle (DW), die französischen Medien TV5 Monde und "Le Monde" sowie die britische Zeitung "The Guardian" betroffen.

International riefen die jüngsten Entscheidungen Kritik hervor. "Die Sperrung bedeutet für die Menschen vor Ort, dass ihnen wichtige Möglichkeiten genommen werden, sich unabhängig zu informieren", sagte DW-Programmdirektorin Nadja Scholz - und betonte, dass die DW über Burkina Faso stets ausgewogen und faktenbasiert berichte. Aus Washington und London kam eine gemeinsame Regierungserklärung: "Eine gut informierte Öffentlichkeit bedeutet für eine Gesellschaft eine Stärkung, keine Schwächung." Die beiden Regierungen äußerten auch ihre "schwere Sorge" über die Tötung von Zivilisten im Antiterror-Kampf.

Grund für die Sperrung der Medien war die Berichterstattung über einen Bericht von Human Rights Watch. Darin wird die Armee Burkina Fasos beschuldigt, im Kampf gegen islamistische bewaffnete Gruppen auch Zivilisten zu töten. "Wir sind nicht überrascht über die jüngste Eskalation, denn sie folgt einem Muster von Unterdrückung und Feindseligkeit gegenüber Medien und insbesondere ausländischen Medien", sagt Muheeb Saeed, Leiter des Programms für Meinungsfreiheit bei der Media Foundation for West Africa (MFWA).

Seit Burkina Fasos Militärführung im September 2022 durch einen Staatsstreich die Macht übernommen hat - den zweiten in jenem Jahr - , hat sie die Verbreitung zahlreicher Medien verboten, darunter France 24, Radio France International und Jeune Afrique. Außerdem wurden im April 2023 zwei französische Journalisten ausgewiesen. Inzwischen halten sich keine ausländischen Journalisten mehr in dem westafrikanischen Land auf.

Das Regime nimmt auch lokale Medien ins Visier. So schlossen die Behörden etwa Radio Omega, einen der beliebtesten Radiosender des Landes, im vergangenen Jahr vom Sendebetrieb aus. Der Sender hatte zuvor ein Interview ausgestrahlt, das als "beleidigend" für die neue Militärführung im benachbarten Niger angesehen wurde.

Analysten sehen mehrere Gründe für das harte Vorgehen der Junta gegen die Pressefreiheit. Hauptziel sei, die Kritik an der Militärführung zu unterdrücken, wonach diese unfähig sei, den Terrorismus im Land effektiv zu bekämpfen.

Burkina Faso ganz oben auf dem Terrorismus-Index

Wie auch weitere Länder in der Sahelzone hat Burkina Faso große Probleme, den islamistischen Terror auf seinem Staatsgebiet einzudämmen. Die aktiven Terrorgruppen sind gut vernetzt, sie stehen in Verbindung mit Al-Kaida und dem sogenannten "Islamischen Staat".

Der Präsident von Burkina Faso, Ibrahim Traoré, ein Hauptmann der Armee, hatte die vorherige Militärjunta mit der Begründung gestürzt, diese habe es nicht geschafft, die Gewalt einzudämmen. Er versprach, den Aufstand zu zerschlagen, warb für eine engere Zusammenarbeit mit Russland und beendete ein Abkommen mit Frankreich. Das Kontingent von mehreren hundert französischen Soldaten zog sich Anfang 2023 komplett aus Burkina Faso zurück, nachdem Traoré den Spezialeinheiten dafür eine Frist gesetzt hatte.

Sankt Petersburg: Burkina Fasos Präsident Ibrahim Traoré, in Tarnfarben, schüttelt Russlands Präsident Wladimir Putin die Hand
Zu Russland unterhält Burkina Fasos Präsident Ibrahim Traoré gute Kontaktenull Alexander Ryumin/dpa/Tass/picture alliance

Gleichzeitig ist Burkina Faso seit Traorés Machtübernahme im globalen Terrorismus-Index auf den ersten Platz vorgerückt. Dem Index zufolge stieg die Zahl der durch Terror verursachten Todesfälle im Jahr 2023 im Vergleich zum Vorjahr um mehr als zwei Drittel: Fast 2000 Menschen wurden im betreffenden Zeitraum Opfer von Terrorattacken. Auf das westafrikanische Land entfallen jetzt fast ein Viertel aller terroristischen Todesfälle weltweit.

"Der Krieg gegen die Rebellen in Burkina Faso wird sowohl auf dem Schlachtfeld als auch auf ideologischer Ebene geführt", so Saeed zur DW. "Auf der ideologischen Ebene gibt es viel Propaganda, die darauf abzielt, alle Bürger auf Linie zu bringen. Die Regierung reagiert mit Repression auf jedwede Kritik."

Vorwurf: Burkina Fasos Armee verletzt Menschenrechte

Nach Aussage der Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen (RSF) verfolgt die Junta mit ihrem harten Vorgehen gegen die Medien auch das Ziel, Menschenrechtsverletzungen zu vertuschen, die die Armee bei ihren Antiterroroperationen begeht.

"Während sie versucht, die bewaffneten Terroristen zurückzudrängen, begeht ihre reguläre Armee meistens auch viele Menschenrechtsverletzungen", sagt Sadibou Marong, Leiter des Westafrika-Büros von RSF, der DW. "Die Junta will nicht, dass unabhängige Medien diese schrecklichen Menschenrechtsverletzungen aufdecken."

Pickup transportiert französische Soldaten in Burkina Faso auf einer staubigen Straße
Im Antiterror-Kampf sind sie nicht mehr erwünscht: Französische Truppen haben das Land Anfang 2023 verlassennull Philippe De Poulpiquet/MAXPPP/dpa/picture alliance

In dem Bericht von Human Rights Watch, der als Auslöser für die jüngsten Mediensperren gilt, wird der Armee von Burkina Faso vorgeworfen, im Februar 2024 mindestens 223 Dorfbewohner ermordet zu haben.

Ähnliche Massaker von Sicherheitskräften wurden auch von anderen Menschenrechts- und Medienorganisationen dokumentiert. Unter der von Traoré geführten Junta stieg die Zahl der getöteten Zivilisten von 430 im Jahr 2022 auf 735 im Jahr 2023, wie aus Zahlen des Armed Conflict Location and Event Data Project, einer in den USA ansässigen gemeinnützigen Organisation, hervorgeht.

Maulkorb für lokale Medien in Burkina Faso

Das harte Durchgreifen gegen internationale Medien werde es den lokalen Medien noch schwerer machen, ihre Arbeit auszuüben, sagen sowohl Reporter ohne Grenzen als auch die Media Foundation for West Africa voraus.

"Internationale Medienorganisationen sind im Allgemeinen einflussreicher und verfügen über ein gewisses Maß an diplomatischer Macht", so Saeed von der MFWA. "Wenn also selbst die internationalen Medien angegriffen, ausgewiesen und suspendiert werden, ist das eine Warnung für die lokalen Medien, sich anzupassen oder ein ähnliches Schicksal zu erleiden."

Lokale Journalisten seien extrem vorsichtig geworden und Selbstzensur sei weit verbreitet, sagen sowohl Saeed als auch Marong von RSF: Vielfach würden die Medien allein die offiziellen Presseerklärungen der Militärregierung als Grundlage für ihre Berichterstattung über die Sicherheitskrise nutzen.

Ministerin Schulze auf schwieriger Mission in Burkina Faso

"Journalisten ziehen es vor, auf die offizielle Darstellung, die offizielle Presseerklärung der Regierung zu warten", sagt Marong. "Das ist kein unabhängiger Journalismus."

Saeed berichtet von einem Fall, in dem mindestens vier lokale Zeitungen "Wort für Wort" identisch über dieselbe Geschichte berichteten. "Das bestätigt die Theorie, dass das Militärregime den Medien vorschreibt, was sie zu schreiben haben, und dass die Medien nicht einmal das Recht haben, irgendeine Änderung an der Mitteilung vorzunehmen, die sie vom Militär erhalten, nicht einmal ein Komma."

Aus dem Englischen adaptiert von Philipp Sandner.

Migration: Wird Tunesien zum "Ruanda" der EU?

Wie umgehen mit irregulären Flüchtlingen? Auf der Suche nach Antworten hat die Europäische Union in den vergangenen Monaten immer wieder Tunesien in den Blick genommen. Könnte sich das nordafrikanische Land sogar anbieten, zeitweilig auch Menschen aufzunehmen, die nicht die Voraussetzungen für einen Aufenthalt auf dem Gebiet der EU mitbringen?

Ein solches Modell würde dem umstrittenen "Ruanda-Modell" Großbritanniens entsprechen. Dieses zielt darauf ab, Asylsuchende, die versuchen, irregulär einzureisen, in das Land im Süden Afrikas zu deportieren - auch wenn sie nicht von dort stammen oder dorther gekommen sind.

In den EU-Ländern gibt es neben vielen Kritikern durchaus auch Befürworter eines solchen Modells. Tatsächlich spricht derzeit aber wenig dafür, dass Tunesien zu einer Art "Ruanda der EU" wird. Das gilt unabhängig davon, dass sich Tunesiens Küste längst zu einem rege genutzten Ausgangspunkt für Migranten aus Nordafrika und Subsahara-Ländern auf ihrem Weg nach Europa entwickelt hat.

"Weder Zentrum noch Durchgangsstation"

Tunesien werde "weder ein Zentrum noch eine Durchgangsstation" für Migranten aus Ländern südlich der Sahara werden, bekräftigte hingegen Anfang April der tunesische Präsident Kais Saied. Auch werde das Land keine Migranten aufnehmen, die aus Europa abgeschoben würden, erklärte er kategorisch.

Saied gibt solche Erklärungen nicht zum ersten Mal ab. Dieses Mal wurde er jedoch sogar von der italienischen rechtsgerichteten Ministerpräsidentin Giorgia Meloni unterstützt. Die Schützenhilfe aus Rom kam unerwartet, denn bislang versucht insbesondere Italien, mit allen Mitteln die Migration aus Tunesien zu begrenzen

Zustande kam der Schulterschluss, kurz nachdem Italien drei neuen Abkommen mit Tunesien zugestimmt hatte. Diese sind Teil des italienischen "Mattei-Plans", einer auf ganz Afrika gerichteten Strategie, die die wirtschaftliche Zusammenarbeit erweitern, zugleich aber auch Migration eindämmen will.

Unterzeichnet wurden diese Abkommen rund acht Monate, nachdem die EU Tunesien ein "Partnerschaftsprogramm" im Wert von über eine Milliarde Euro an finanzieller Unterstützung angeboten hatte. Dieses umfasste auch 105 Millionen Euro zur Eindämmung der irregulären Migration. 

Weniger Ankünfte in Italien

Die Partnerschaft hat offenkundig zumindest in einem ersten Schritt durchaus Wirkung entfaltet. So hat Tunesien laut UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR bis zum 15. April 2024 rund 21.000 Migranten abgefangen, bevor sie europäische Gewässer erreichen konnten.

Auch aus Sicht Melonis ein Erfolg: Denn in diesem Zeitraum erreichten mit rund 16.000 Menschen insgesamt weniger als halb so viele Migranten Italien wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Die meisten Migranten legten von Tunesien aus ab, in geringerem Maße aber auch aus Libyen und Algerien.

"Flüchtlingsrechte werden untergraben"

Doch die Kritik an der Zusammenarbeit ist nicht zu überhören. "Das EU-Abkommen mit Tunesien zielt darauf ab, Migranten und Flüchtlinge von der EU fernzuhalten, nicht aber von Tunesien selbst", sagt Kelly Petillo, Nahost- und Nordafrika-Expertin beim European Council on Foreign Relations, im DW-Gespräch.

Außerdem gehe keines der Abkommen auf die Tatsache ein, dass Tunesien für Flüchtlinge nicht als "sicheres Land" gelten könne. In der Zusammenarbeit mit Tunesien ignoriere Europa weitgehend den Umstand, dass Präsident Kais Saied seit dem Sommer 2021 nicht nur die meisten demokratischen Institutionen des Landes abgebaut habe, sondern auch hart gegen Migranten vorgegangen sei. Kritiker warfen ihm unter anderem vor, Bürger gegen Migranten aufgewiegelt zu haben. In Medienberichten war mitunter von Hetze die Rede.

"Die Abkommen mit der EU und Italien untergraben die Rechte von Flüchtlingen und Migranten sogar", urteilt Petillo. 

Tunesien: Geschäft mit Menschenschmuggel floriert weiter

Salsabil Chellali, Tunesien-Expertin von Human Rights Watch, sieht dies ähnlich: "Werden Migranten, Asylsuchende und Flüchtlinge auf See abgefangen, sind sie schweren Misshandlungen durch die tunesischen Sicherheitskräfte ausgesetzt (...)", berichtet die Menschenrechtlerin. "Auch wenn Menschen nach Tunesien zurückgebracht werden, könnten sie dort Misshandlungen, willkürliche Verhaftungen, Inhaftierungen und kollektive Ausweisung erleiden", so Chellali.

Allerdings sei die negative Situation nicht allein auf die harte Politik des Präsidenten zurückzuführen, so Chellali, auch die EU trage Verantwortung: "Denn die EU finanziert weiterhin die Migrationskontrolle in Tunesien auf Kosten der Menschenrechte und jener Werte, die man in Brüssel angeblich vertritt."

Hinzu komme, dass es in Tunesien kein ordentliches Asylsystem gebe, das Menschen einen verlässlichen Status samt Arbeitserlaubnis gewähre, ergänzt Lauren Seibert, Expertin für Migrantenrechte bei Human Rights Watch, gegenüber der DW.

Migranten wärmen sich in Tunis nachts an einem Lagerfeuer
Weitgehend auf sich selbst gestellt: Migranten in Tunesiennull Chedly Ben Ibrahim/NurPhoto/picture alliance

Unzureichende Unterstützung

"Zwar ist das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) grundsätzlich in der Lage, Asylsuchende und Flüchtlinge in Tunesien zu registrieren", so Seibert. Doch die humanitäre Unterstützung sei völlig unzureichend. Viele Migranten seien obdachlos und ohne Mittel. "Selbst registrierte Flüchtlinge haben Schwierigkeiten beim Zugang zu Arbeit und öffentlichen Dienstleistungen".

Derzeit sind in Tunesien rund 12.000 Flüchtlinge und Asylsuchende beim UNHCR registriert.

Die italienische Küstenwache rettet Migranten auf dem Mittelmeer
Die Zahl der in Italien ankommenden Migranten hat sich zuletzt halbiertnull Hasan Mrad/ZUMA Wire/IMAGO

"Aber Frau Meloni weiß natürlich, dass inzwischen bis zu 80.000 Migranten aus Subsahara-Staaten in den Olivenplantagen südlich der tunesischen Hafenstadt Sfax auf besseres Wetter (für die Überfahrt nach Europa) warten", sagt Heike Löschmann, Leiterin des Tunis-Büros der deutschen Heinrich-Böll-Stiftung.

Mit anderen Worten: Die irreguläre Einwanderung nach Europa aus und über Tunesien dürfte trotz aller Kooperations- und Eindämmungsbemühungen nicht so einfach zu stoppen sein. 

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

Menschenschmuggel hat Hochkonjunktur in Tunesien

Aufarbeitung mit Lücken: Hat die Wahrheitskommission Südafrika versöhnt?

Unermüdlich harren sie aus, auf dem Constitution Hill oberhalb des Zentrums von Johannesburg. Ihr Gesang hallt über das Gelände des alten Gefängnisses und früheren Militärforts. Dort steht auch das moderne Verfassungsgericht des Landes, teilweise erbaut aus den Ziegelsteinen eines abgerissenen Gefängnisblocks.

Diesen symbolträchtigen Ort hat die Gruppe von älteren Menschen schon seit fünf Monaten als Stätte für ihren Protest und als Schlafplatz eingenommen - in ihrem Kampf für Gerechtigkeit: Sie sind Opfer der Gewalttaten des Apartheid-Regimes. Aber haben von den Anhörungen der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission vor 28 Jahren nicht profitiert.

Im Stich gelassen

Thabo Shabangu war 1990 bei einer Demonstration gegen die Unterdrückung der mehrheitlichen schwarzen Bevölkerung durch das weiße Regime von Polizisten in den Rücken geschossen worden, sagt er im DW-Interview. "Ich bin enttäuscht. Wir sind die Revolutionäre von damals, wir haben diese Regierung gebildet und dafür gekämpft," sagt Shabangu.

Am Verfassungsgericht sitzen Südafrikaner auf dem Boden, Plakate hängen zwischen den Bäumen und fordern Entschädigungen für Apartheid-Opfer
Constitution Hill in Johannesburg: Apartheid-Opfer fordern Entschädigungennull Dianne Hawker/DW

Die südafrikanische Regierung sei nicht für das Volk da. Er fühlt sich im Stich gelassen und fordert finanzielle Entschädigung für das ihm widerfahrene Leid im Anti-Apartheid-Kampf, aber auch für medizinische und soziale Unterstützung. Diese Hilfen waren von der Kommission für anerkannte Opfer empfohlen worden. Shabangu ist - wie rund ein Drittel der Südafrikaner - arbeitslos, das Geld für die Ernährung der Familie und Schulbildung ist knapp.

"Wir haben geglaubt, die Kommission bringe uns Gerechtigkeit", klagt er. Aber niemand der Angehörigen der Khulumani Support Group für Opfer und Überlebende schwerer Menschenrechtsverletzungen, die mit ihrer Schwesterorganisation Galela nach Anerkennung suchen, fühlt sich versöhnt.

"Keine Reparationen - keine Wählerstimme"

Nach 30 Jahren Demokratie im neuen Südafrika ist für sie die grausame Vergangenheit nicht abgeschlossen: "Keine Reparationen - keine Wählerstimme", sagt Shabangu. So wollen es die meisten in der Gruppe halten, wenn Südafrika am 29. Mai einen neuen Präsidenten wählt.

Ein Blick zurück: Die Anhörungen vor der Wahrheits- und Versöhnungskommission (TRC) begannen im April 1996 und endete im Oktober 1998. Der damalige Präsident Nelson Mandela hatte Erzbischof Desmond Tutu mit dem Vorsitz beauftragt. Ihr Ziel war es, Versöhnung und Vergebung - anstatt Vergeltung - zwischen Tätern und Opfern der Apartheid zu fördern.

Südafrika historische Aufnahmen vom "Sharpeville massaker"
Sharpeville 1960: Ein Massenbegräbnis fand in dem Township statt, nachdem weiße Polizisten in einem Massaker 69 Schwarze erschossen hattennull AP Photo/picture alliance

Betroffene wurden ermutigt, sich zu melden und Zeugnis abzulegen. Die Kommission konzentrierte sich in dieser Zeit auf Beweise für Tötung, Entführung und Folter von Menschen sowie für schwere Misshandlungen.

Amnestie für Täter

Täter, die vollständig über die Geschehnisse berichteten, erhielten Amnestie - ein schmerzhafter Kompromiss für viele Opfer. Aber durch die Zusage der Straffreiheit kam die Wahrheit über das Schicksal vieler Menschen ans Licht, die spurlos verschwunden waren: verschleppt, umgebracht und irgendwo verscharrt.

In den Gemeindehallen und Kirchen landesweit saßen sich Opfer und Täter häufig gegenüber, erstmals gab es Live-Berichte aus Anhörungen einer Wahrheitskommission. Nur zwei Jahre nach der Machtübernahme durch den Afrikanische Nationalkongress (ANC) drangen die Gräueltaten der Vergangenheit öffentlich ins Bewusstsein. Überwiegend schwarze Südafrikaner hatten unter der Staatsgewalt gelitten, aber auch Weiße, deren Angehörige bei Anschlägen der Freiheitskämpfer starben.

Als die Kommission 2002 ihre komplette Arbeit abschloss, empfahl sie, den mehr als 21.000 anerkannten Opfern monatliche Zuschüsse als Entschädigungen aus dem eingerichteten "President's Fund" zu zahlen. Der damalige Präsident Thabo Mbeki veranlasste jedoch eine einmalige Hilfe in Höhe von damals 30.000 Rand (nach damaligem Kurs knapp unter 3600 Euro), die rund 17.000 Menschen erhielten.

Türen nicht verschließen

Laut Jahresbericht des Fonds standen 2023 noch knapp zwei Milliarden Rand (heute 97 Millionen Euro) zur Verfügung. Kritiker behaupten, die Empfehlungen der Kommission werden nur schleppend umgesetzt. Die Regierung sagt, sie werde den Entschädigungsfonds für Wohnraum, Bildung und Gesundheitsversorgung für die 22.000 Menschen auf der aktuellen Liste verwenden.

Eine Gruppe  Frauen und Männer stehen vor Südafrikas Verfassungsgericht und klatschen. Sie singen, protestieren und fordern Entschädigungen
Opfer der Apartheid singen und klatschen in Protest vor dem Verfassungsgericht. Sie fordern Entschädigungen vom Staatnull Thuso Khumalo

Mehr als 82.000 Südafrikaner haben sich Khulumani seit der Gründung 1995 angeschlossen, die bislang keinerlei Ansprüche geltend machen können. Der Staat habe damals nicht ausreichend bekannt gegeben, wie die Opfer ihre Erklärungen an die Kommission abgeben konnten, sagte Marjorie Dobson, Direktorin der Organisation.

Viele hätten kein Geld gehabt, um an entsprechende Stellen zu gelangen. "Wir haben das alles für das Justizministerium dokumentiert. Es ist völlig ungerechtfertigt, die Türen einfach zu schließen, wenn die Fehler tatsächlich auf der Seite des Staates liegen", sagt Dobson zur DW.

Auch Danisile Mabanga hofft noch auf Entschädigung. Ihre Familie war während der Apartheid gewaltsam vertrieben worden. "Wir wussten von der Kommission, aber wir haben es nicht geschafft, dorthin zu gehen", sagt sie zur DW. "Die Zeiten waren hart und wir hatten Angst." Mandela hätte eine sinnvolle Sache angestoßen, aber die Täter seien zu gut dabei weggekommen, ist ihr Eindruck, den viele Südafrikaner teilen.

Ungenutzte Chancen

Insgesamt baten 7000 Täter um Amnestie, die Kommission gewährte 1500 Anträge. Es waren hauptsächlich Fußsoldaten der Sicherheitskräfte und bereits Inhaftierte. Hochrangige Politiker der Apartheid-Regierung stellten keinen Antrag auf Amnestie.

Die Strafverfolgung von Tätern kam damals kaum voran, heute sind einige Hauptverdächtige bereits tot. "In vielen dieser Fälle ist die Zeit gegen uns, in einigen besteht noch eine Chance auf Strafverfolgung, und wir werden weitermachen", sagt Zaid Kimmie, Direktor der NGO Foundation for Human Rights. "Letztendlich wird es um die Frage gehen, warum wir dazu nicht in der Lage waren, welche Entscheidungen getroffen wurden und wer daran beteiligt war." Familien hätten ein Recht auf Antworten.

Bei Demonstrationen gegen die Apartheidregierung  hält ein schwarzer Südafrikaner in blauem Overall ein Plakat hoch, ein weißer Polizist weist ihn zurück
Unruhen vor den freien Wahlen 1994: Ein Polizist der damaligen Apartheidregierung weist einen Demonstranten zurücknull ALEXANDER JOE/AFP/Getty Images

Das kurze Zeitfenster für die Wahrheit ergab 2500 Anhörungen - ein Anstoß zur Bildung einer versöhnten Nation, das war ihr Zweck. "Wir hatten damals Hoffnung, denn es ging um den Prozess des Wiederaufbaus des Landes, der Friedenskonsolidierung. Wir wollten Teil des Wandels sein", sagt Nomarussia Bonase, Koordinatorin von Khulumani, zur DW. "Von der jetzigen Regierung werden wir wieder zum Opfer gemacht."

Justizminister Ronald Lamola sieht keinen Grund für die Menschen, am Constitution Hill zu sitzen. Sie sollten nach Hause gehen, sagt er. "Das Parlament hat die Liste, sie ist geschlossen. Und es wäre eine Unregelmäßigkeit, wenn wir die Liste wieder öffnen würden."

 

Mitarbeit: Dianne Hawker

Südafrika: Der geplatzte Traum der Regenbogennation

Mit großer Euphorie war Südafrika mit den ersten freien Wahlen 1994 neu gestartet. Stundenlang warteten die Menschen darauf, ihre Stimmen abzugeben. Die Aufbruchstimmung begleitete Nelson Mandela, der nach 27 Jahren Haft zum Präsidenten gewählt worden war, ins Amt.

Der Afrikanische Nationalkongress (ANC), die politische Partei Mandelas und ehemalige Anti-Apartheid-Bewegung, regiert bis heute. Doch im Rückblick auf die vergangenen 30 Jahre im "Land der Hoffnung" fällt die Bilanz nüchtern aus. Die Wirtschaft am Kap ist marode, die Gesellschaft sozial gespalten, die Menschen fühlen sich von der Politik nicht verstanden.

Nelson Mandela - 10. Todestag
Historischer Moment für Südafrika: Nelson Mandela - hier mit seiner Ehefrau Winnie Mandela - wird 1990 aus der Haft entlassennull epa/picture alliance/dpa

Die Schere zwischen Arm und Reich wächst - dabei war es ein zentrales Anliegen der Schwarzen Regierung bei Amtsantritt, diese Kluft zu überwinden und gleiche Chancen für alle zu schaffen. Die Frustration über diesen zerplatzten Traum sitzt tief.

Aber es gibt auch wichtige Errungenschaften. Fredson Guilengue, Programmleiter für das südliche Afrika bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Johannesburg, hebt einige hervor: "Es ist gelungen, eine der fortschrittlichsten Verfassungen der Welt einzuführen, eine unabhängige Justiz, eine freie Presse, freie und faire Wahlen zu etablieren." Darüber hinaus nennt er im DW-Interview die LGBTQ-Rechte, ein erweitertes Bildungswesen - und größeren Zugang zu Elektrizität, zu Wohnraum und Sozialleistungen für die Ärmeren.

So war zum Beispiel die Verfassung des demokratischen Südafrika die erste der Welt, die eine Diskriminierung aufgrund der sexuellen Ausrichtung verbot. Schon 2006 erlaubte der Staat als fünftes Land der Welt und erstes Land in Afrika die Ehe für gleichgeschlechtliche Partner.

Korrupte Interessen

Darüber hinaus hat Südafrika noch immer eine robuste und aktive Zivilgesellschaft, die für ihre Rechte lautstark eintritt. In den letzten Jahren hat das Land jedoch unter der internen Dynamik innerhalb des regierenden ANC gelitten. Machtkämpfe und korrupte Interessen warfen das Land immer wieder zurück.

Menschen sitzen in Dunkelheit um eine brennende Kerze, ein Lagerfeuer brennt im Hintergrund
Die Energieversorgung war 2023 mit bis zu zehn Stunden täglichem Stromausfall für Südafrikaner zur Krise geworden null Siphiwe Sibeko/REUTERS

Die Folgen: tagtäglicher Stromausfall - verursacht durch den von Korruption und Verschuldung geplagten staatlichen Energieversorger Eskom -, hohe Arbeitslosigkeit, Kriminalität und Armut, steigende Lebenshaltungskosten.

Die Jugendarbeitslosigkeit - etwa jeder zweite junge Mensch unter 34 Jahren gilt als arbeitslos - hat laut Guilengue die soziale Instabilität weiter befeuert. Denn sie verstärke das Gefühl, dass Ausländer den Einheimischen die wenigen verfügbaren Arbeitsplätze wegnehmen.

Enttäuschung über die Politik

Die Regierungspartei hat über die Jahre stetig an Vertrauen verloren. So könnte der ANC bei der Wahl im Mai - bei der Präsident Cyril Ramaphosa zum zweiten Mal kandidiert - erstmals unter die 50-Prozent-Hürde sinken.

Laut Wirtschaftsanalyst Daniel Silke macht sich eine tiefe Enttäuschung über die Befreiungspartei breit. Diese sei "unfähig, ethische Standards aufrechtzuerhalten, die insbesondere von Nelson Mandela gesetzt wurden", sagt Silke zur DW.

Die Südafrikaner seien wütend auf die Führung, weil sie die Chance vertan habe, Südafrika nach seinem einzigartigen Übergang an die Spitze der Nationen zu bringen. "Die Bemühungen, die Menschen zu einer Nation zusammenzubringen, die in den frühen Mandela-Jahren wirklich spürbar waren, haben sich verflüchtigt."

Absturz unter Jacob Zuma

In die folgenschwerste Krise schlitterte das Land unter der Führung von Jacob Zuma, der von 2009 bis zu seiner Absetzung 2018 regierte. In dieser Zeit plünderte er den Staat mit Hilfe seines weiten Korruptionsnetzes bis an den Rand des Bankrotts. Davon hat sich Südafrika nicht erholt. Vielmehr hielten Klientelismus und Vetternwirtschaft bis heute an, betont Silke.

Symbolbild Südafrika soziale Ungleichheit | Johannesburg Skyline
Infrastruktur in Südafrikas Wirtschaftsmetropole Johannesburg ist wegen massiver Korruption marodenull Graham de Lacy/Greatstock/IMAGO

Der Zusammenbruch der Infrastruktur und Logistik bei stagnierender Wirtschaft erinnert täglich an den Abstieg des einst reichsten Industrielandes in Afrika. "Es herrscht ein großes Unbehagen in der Bevölkerung", sagt Silke.

Tiefe Wunden aus der Apartheid-Ära

Kritische Beobachter stellen auch die Frage, ob drei Jahrzehnte ausreichen, um das Erbe der langen und tiefgreifenden Prozesse des Kolonialismus und der Apartheid zu beseitigen. So sieht Verne Harris, geschäftsführender Direktor der Nelson Mandela Stiftung, die Gesellschaft in großen Schwierigkeiten: "Wir müssen uns fragen, warum haben wir es nicht besser gemacht," sagt er zur DW.

Denn die Messlatte war hoch gesetzt: "Einige junge Leute sagen, Mandela war ein Verräter", so Verne mit Blick auf die Versprechungen auf ein besseres Leben in einem geeinten Land. "Wir müssen uns mit diesen Diskursen auseinandersetzen und einige unserer Kompromisslösungen überdenken."

Anfang der 1990er Jahre sei allen bewusst gewesen, dass es einige Generationen dauern würde, die Gesellschaft zu heilen, zu reparieren und die Demokratie in ihr zu verankern. "Doch wir haben uns zu dem Glauben verleiten lassen, wir könnten die Dinge sehr schnell in Ordnung bringen", bilanziert Harris. "Das hat in einigen Fällen zu Schnellschuss-Lösungen geführt, die uns nicht geholfen haben."

Internationaler Friedensstifter

International scheint sich Südafrika - gerade nach seinen Erfahrungen der Apartheid - als Verfechter des Kampfes gegen Unterdrückung auf globaler Ebene positionieren zu wollen, sagt Guilengue.

Südafrika | 15th BRICS Gipfel in Johannesburg
Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa war Gastgeber des BRICS-Gipfels 2023 in Johannesburgnull Prime Ministers Office/Zuma Press/picture alliance

Deshalb leite das Land friedensstiftende Initiativen, entsende Truppen in Länder der Region, ziehe vor internationale Gerichtshöfe: Ende Dezember 2023 hatte Südafrika Israel vor dem Internationalen Gerichtshof (IStGH) in Den Haag beschuldigt, im Gaza-Krieg gegen die Völkermordkonvention verstoßen zu haben.

Südafrika habe verstanden, dass die traditionelle Partnerschaft mit dem Westen nicht ausgewogen sei und sich ändern müsse. "Aus diesem Grund drängt Südafrika auf Reformen im UN-Sicherheitsrat und ist Mitglied des BRICS-Blocks, der für sich in Anspruch nimmt, für faire Regeln und Wirtschaftspartnerschaften zu kämpfen", sagt Guilengue und fügt an: "Vielleicht werden wir in Zukunft ein aktiveres Südafrika sowohl in Afrika als auch weltweit erleben."

Afrika: Wie relevant ist das Commonwealth heute noch?

Das moderne Commonwealth of Nations ist so alt wie sein Oberhaupt, der britische König Charles III.: Seit 75 Jahren besteht der Bund souveräner Staaten in seiner heutigen Form, aber für viele junge Menschen hat die einst aus dem britischen Weltreich hervorgegangene Gemeinschaft offenbar nur wenig politischen Nutzen.

Das Commonwealth ist für Khalil Ibrahim eine Organisation, die zwar aktiv ist, aber "nicht wirklich", sagt der 32-jährige Aktivist aus Accra im DW-Interview: "Sie bietet Stipendien an, Praktika für junge Fachkräfte aus den Mitgliedsländern, kostenlose Online-Kurse." Auch er habe von einigen Kursen profitiert. "Aber auf politischer Ebene ist es eine nutzlose Organisation."

Kenianische Demonstranten protestieren über den Besuch von König Charles III und halten ein weißes Plakat hoch mit der Aufschrift: König Charles ist nicht willkommen
Im Commonwealth-Mitgliedsland Kenia wurde König Charles III. im vergangenen Oktober nicht von allen Menschen herzlich empfangennull Luis Tato/AFP

Keine Relevanz - zu wenig Einfluss

Auch Eyram Yorgbe glaubt weder an Relevanz noch Wirksamkeit des Commonwealth, insbesondere für die afrikanischen Mitgliedsstaaten. Die Organisation behaupte, dass sie die wirtschaftlichen Partnerschaften zwischen ihren Mitgliedern erleichtere, sagt die 34-jährige Verwaltungsangestellte einer ghanaischen Firma. "Aber diese Partnerschaften gelten hauptsächlich für stärker entwickelte Volkswirtschaften im Commonwealth." Die afrikanischen Länder seien nur deshalb im Commonwealth, weil sie historisch mit der Monarchie verbunden seien, sagt Yorgbe zur DW. "Aber es ist höchste Zeit, dass wir unsere Strategien überdenken."

Von den 56 Mitgliedstaaten liegen 21 in Afrika. In keinem dieser Länder ist der britische Monarch Staatsoberhaupt. Die Mitgliedschaft wurde über die Jahrzehnte auch auf nicht-britische ehemalige Kolonien, darunter Mosambik (1995) und Ruanda (2009) ausgedehnt. Gabun und Togo sind 2022 als jüngste Mitglieder dazugekommen. Die Organisation setzt nach wie vor auf gemeinsame Werte.

Nutzen: Ein diplomatisches Netzwerk

Aber laut Philip Murphy, Direktor für Geschichte und Politik am Institut für historische Forschung an der University of London, gibt es zu viele verschiedene Länder und Herangehensweisen. Damit lasse sich kein klarer Konsens zu den wichtigsten politischen Themen finden, sei es der Krieg in der Ukraine oder der Klimawandel.

König Charles III - hier 2018 als Prinz - im blauen Anzug vor einer Holzbank mit Commonwealth-Plakate vor dem stellvertretenden Hochkommissariat in Lagos
König Charles III. 2018 in Nigeria, damals war er noch Prinz und zu Gast im britischen stellvertretenden Hochkommissariat in Lagos null Sunday Alamba/AP Photo/picture alliance

Das moderne Commonwealth hat eine Gesamtbevölkerung von 2,5 Milliarden Menschen, von denen mehr als 60 Prozent unter 30 Jahre alt sind. Die Mehrheit der Bürger lebt im globalen Süden und stammt zumeist aus ehemaligen britischen Kolonien.

"Es ist ein Relikt aus der Vergangenheit, aber es ist ein nützliches diplomatisches Netzwerk, insbesondere das Netzwerk der Hohen Kommissare in London", betont Murphy. Gerade für die mehrheitlich kleinen Mitgliedsländer und Inselstaaten sei auch der Zugang zur britischen Regierung und Außen- und Bildungsminister des Commonwealth von Vorteil. Dazu zählten reiche Geberstaaten wie Kanada und Australien.

Sekretariat zu schwach

"Das Netzwerk ist also wichtig genug, um zu verhindern, dass Mitglieder die Organisation verlassen oder sie auflösen, aber der Commonwealth ist sehr schwach und das hat mit seiner Geschichte zu tun", bilanziert Murphy im DW-Interview.

Das 1965 gegründete Commonwealth Secretariat sei nicht befugt, Politik zu machen. Es hatte laut Murphy nie einen ausreichend starken Durchsetzungsmechanismus, um die souveränen Mitgliedsstaaten zu verpflichten, sich den westlichen Werten wie Demokratie, Menschenrechte oder Rechtsstaatlichkeit anzuschließen. Oft seien sie nur dem Namen nach Demokratien. Die aktuelle Kritik am Commonwealth ziele häufig darauf, dass Menschenrechtsverbrechen in einzelnen Mitgliedstaaten und repressive homophobe Gesetze nicht nachdrücklich genug angeprangert werden.

Frauen in afrikanischen Kleidern applaudieren zu den Vorträgen auf dem Frauen-Forum des Commonwealth 2022 in Kigali
Das Commonwealth-Frauen-Forum fand 2022 im ostafrikanischen Kigali stattnull SIMON WOHLFAHRT/AFP

Neue Mitglieder treten ein

Erfolgreiches Engagement zeigte das Commonwealth in den Zeiten der Entkolonialisierung der weißen Siedlerkolonien in seinen Ex-Kolonien im damaligen Rhodesien (heute Simbabwe) und Südafrika, sagt Murphy. Und spielte eine wichtige Rolle bei der Sicherstellung eines friedlichen Machtwechsels in Südafrika in den 1990iger Jahren. Danach habe die Organisation an Bedeutung verloren.

Das Commonwealth sei aber keine sterbende Organisation, betont Alex Wines, Leiter des Afrika-Programms in der Londoner Denkfabrik Chatham House. Sie gewinne neue Mitglieder. Das habe nichts mit der imperialen Vergangenheit des Vereinigten Königreichs zu tun, sondern mit handfesten Interessen.

Neben Angola steht auch Simbabwe auf der Warteliste für die Mitgliedschaft. Das Land war 2003 wegen schweren Menschenrechtsverletzungen unter der Präsidentschaft des Autokraten Robert Mugabe aus dem Staatenbund ausgeschlossen worden. Eine eher seltene Sanktion innerhalb der Gemeinschaft, sagt Murphy.

Simbabwe will wieder Mitglied werden

Seit 2018 bemüht sich das international isolierte Land um einen Wiedereintritt. Aus strategischen Gründen, so der politische Analyst Gibson Nyikadzino in Harare: "Es geht um das Ansehen, Mitglied innerhalb des Komitees der Nationen zu sein, um Zugang zu billigen Märkten mit geringen Handelszöllen zu haben."

Prinz Charles in weißer Militäruniform wendet den Kopf zu Robert Mugabe im Anzug - dazwischen stehen britische und simbabwische Offizielle
Aus der Kolonialherrschaft ins Commonwealth: Prinz Charles (rechts) mit dem späteren Diktator Robert Mugabe am 16. April 1980 - einen Tag vor der Unabhängigkeit Simbabwesnull picture alliance/AP Photo

Die junge Rechtsanwältin Fortunate Nyamayaro findet das überflüssig: Simbabwe könne auf sich allein gestellt sein und auch mit anderen regionalen Blöcken zusammenarbeiten, und bilaterale Abkommen schließen, die für beide Seiten von Vorteil sind, sagt sie zur DW. "Für mich ist das Commonwealth ein koloniales Erbe, mit dem sich Simbabwe nicht zu identifizieren braucht."

Reformen notwendig

Zu den Funktionen der Organisation gehört auch die Wahlbeobachtung in Mitgliedsländern. Vor wenigen Tagen veröffentlichte die Beobachtergruppe des Commonwealth ihren Bericht über die Präsidentschaftswahlen in Nigeria 2023. Darin stellte sie erhebliche Mängel fest, die die Glaubwürdigkeit und Transparenz der Wahlen insgesamt beeinträchtigten.

Prinz Harry wird bei seiner Ankunft auf dem Flughafen in Lusaka von afrikanischen Tänzern in traditionellen Kostümen begrüßt
Der inzwischen aus den Diensten des Palasts ausgeschiedene Prinz Harry reiste 2018 im Auftrag des Commonwealth-Büros zum Staatsbesuch nach Sambianull Tsvangirayi Mukwazhi/AP Photo/picture alliance

Diese Kritik begrüßt der Anti-Korruptions-Aktivist Bishir Dauda im Bundesstaat Katsina: "Das ist wichtig für gute Regierungsführung", sagt er zur DW. Aber er fordert auch Reformen im Commonwealth, um den sich ändernden Anforderungen und Herausforderungen der Welt gerecht zu werden.

Für die Studentin Rabi Marafa überwiegen die negativen Auswirkungen des Kolonialismus: Nigeria profitiere in keiner Weise vom Commonwealth, sagt sie zur DW. "Es erinnert mich an unsere dunkelste Vergangenheit und ist das letzte Überbleibsel des Imperialismus."

Mitarbeit: Isaac Kaledzi in Ghana, ⁠Privilege Musvanhiri in Simbabwe, Muhammad Al-Amin in Nigeria

50 Jahre nach der Nelkenrevolution in Portugal: Afrika gehört zur Staatsräson

Sie wurde von einer linken "Bewegung der Streitkräfte" angeführt und von der großen Bevölkerungsmehrheit Portugals unterstützt: Die Nelkenrevolution beendete nicht nur die fast 50 Jahre währende Diktatur der Machthaber Salazar und Caetano - sie ebnete auch den Weg für das Ende der portugiesischen Kolonialkriege und die Unabhängigkeit von Angola, Mosambik, Guinea-Bissau, Kap Verde und São Tomé und Príncipe. Die fünf lusophonen Länder Afrikas blicken in diesem Jahr mit besonderem Interesse auf Lissabon, wo am 25. April 2024 der 50. Jahrestag der Nelkenrevolution gemeinsam begangen werden soll.

Angola: Nelkenrevolution ermöglichte Verhandlungen

"In Angola erweckt die Nelkenrevolution positive Gefühle", sagt der Analyst Nkikinamo Tussamba, der selbst 13 Jahre später in der nordangolanischen Provinz Zaire geboren wurde. Für ihn ist klar: "Die portugiesische Revolution hat den Unabhängigkeitsprozess unseres Landes maßgeblich beeinflusst. Dank ihr konnte die Unabhängigkeit unseres Landes bereits anderthalb Jahre später - am 11. November 1975 - proklamiert werden."

Januar 1975: Portugiesische Regierung unterschreibt mit Vertretern von drei angolanischen Befreiungsbewegungen das Abkommen von Alvor, das der MPLA, der UNITA und der FNLA die Macht in Angola überträgt
Mit dem Abkommen von Alvor vereinbarte Portugal im Januar 1975, die Macht an die Befreiungsbewegungen in Angola zu übertragennull casacomum.org/Arquivo Mário Soares

Tatsächlich wurden im Zuge des Regimewechsels in Lissabon direkte Verhandlungen zwischen der portugiesischen Regierung und den Unabhängigkeitsbewegungen in Angola aufgenommen. Im Januar 1975 unterschrieb die Regierung Portugals im südportugiesischen Algarvestädtchen Alvor Unabhängigkeitsabkommen mit den drei Befreiungsorganisationen Angolas MPLA, UNITA und FNLA.

Mosambik: Abkommen mit Portugal kurz nach der Nelkenrevolution

Auch für Mosambik war der 25. April ein Meilenstein, bestätigt der Journalist Fernando Lima: "Die Nelkenrevolution war ausschlaggebend dafür, dass die Befreiungsfront FRELIMO im September 1974 in Lusaka ein Unabhängigkeitsabkommen mit Portugal unterschreiben konnte." Als in Mosambik geborener Sohn portugiesischer Siedler entschied sich Lima nach der Unabhängigkeit für die mosambikanische Staatsangehörigkeit, also dafür, "als Afrikaner in Afrika" zu bleiben.

Juni 1974: Portugals damaliger Außenminister Mário Soares (links) trifft den Präsidenten Mosambiks und der FRELIMO Samora Machel in der sambischen Hauptstadt Lusaka
Juni 1974: Portugals damaliger Außenminister Mário Soares (links) trifft den Präsidenten Mosambiks und der FRELIMO Samora Machel in der sambischen Hauptstadt Lusakanull casacomum.org/Arquivo Mário Soares

Anders Fernando Cardoso, Professor für Internationale Beziehungen und Geopolitik an der Autonomen Universität Lissabon: Er wuchs zu Kolonialzeiten ebenfalls in Mosambik auf, siedelte aber kurz nach der Unabhängigkeit mit seinen Eltern nach Lissabon über. Als Erwachsener reiste er dann als Dozent und Leiter von mehreren Forschungsprojekten nach Mosambik, Angola und Kap Verde.

Wachsender Druck auf die Kolonialmacht Portugal

Die Nelkenrevolution habe die Dekolonisierung "ohne Zweifel" beschleunigt, sagt Cardoso. Aber: "Die Unabhängigkeit der portugiesischen Kolonien wäre auch ohne die Nelkenrevolution in Portugal früher oder später eingetreten." Das portugiesische Kolonialimperium sei in den 1970-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts international als "großer Anachronismus" angesehen worden.

Die internationale Gemeinschaft habe damals enormen diplomatischen Druck auf Portugal, die "erste und letzte Kolonialmacht in Afrika", ausgeübt: Praktisch die gesamten Vereinten Nationen (UN) hätten Portugal in mehreren Resolutionen aufgefordert, seine Kolonien in die Unabhängigkeit zu entlassen, so der Politikwissenschaftler.

Auch der militärische Druck auf Portugal wurde erhöht: Angolas Befreiungsorganisationen MPLA, UNITA und FNLA bekamen immer größere Waffenlieferungen und militärische Ausbildung aus der Sowjetunion und anderen Ländern des Ostblocks, aber auch aus China. Vor allem im ländlichen Raum konnten sie so Druck auf die Kolonialmacht ausüben.

In Mosambik rückten die Kämpfer der Befreiungsbewegung FRELIMO immer weiter vom Norden in Richtung Mitte des Landes vor. Es galt nur als eine Frage der Zeit, bis die portugiesische Kolonialarmee die Kontrolle über weite Gebiete des Landes verlieren würde.

Allein was mit São Tomé und Príncipe und den Kapverdischen Inseln ohne die Nelkenrevolution geschehen wäre, ist nach Meinung von Cardoso nicht ganz klar: "In beiden Archipelen gab es keine bewaffneten Befreiungsbewegungen, wohl aber laute Stimmen, die eine umfassende Autonomie oder gar die vollständige Unabhängigkeit der Inseln forderten."

Guinea-Bissau: tonangebend für Portugal und die Kolonien

In Guinea-Bissau war der Unabhängigkeitsprozess am weitesten vorangeschritten: In dem westafrikanischen Land hatte die Unabhängigkeitsbewegung unter Amílcar Cabral bereits am 25. September 1973 - also genau sieben Monate vor der Nelkenrevolution - einseitig die Unabhängigkeit von Portugal erklärt. Als die portugiesische Diktatur und damit das Kolonialregime zusammenbrachen, hatten bereits 34 UN-Mitgliedsstaaten Guinea-Bissau als unabhängigen Staat anerkannt. Militärisch hatte die portugiesische Armee längst die Kontrolle über weite Teile des Landes verloren.

Guinea-Bissau, 1972: Die Befreiungsorganisation PAIGC, unter der Führung von Amílcar Cabral (auf dem Foto im Vordergrund), übernimmt nach und nach die militärische Kontrolle über weite Teile des Landes
Guinea-Bissau, 1972: Die Befreiungsorganisation PAIGC, unter der Führung von Amílcar Cabral (im Vordergrund), übernimmt nach und nach die militärische Kontrolle über weite Teile des Landesnull casacomum.org/Documentos Amílcar Cabral

"Wir Guineer wollen nicht unbescheiden sein, aber ich wage dennoch zu behaupten, dass wir einen wichtigen Beitrag zum Erfolg der Nelkenrevolution geleistet haben", sagt die Juristin und ehemalige Justizministerin Guinea-Bissaus, Carmelita Pires, im DW-Gespräch. "Durch unseren erfolgreichen Befreiungskrieg haben wir die Forderungen der portugiesischen Bevölkerung nach einem Ende der Kolonialzeit und des Krieges und nach Freiheit indirekt unterstützt." Und sie fügt hinzu: "Gleichzeitig haben wir dazu beigetragen, dass die anderen, von den Portugiesen kolonisierten Länder unserem Beispiel folgten. Wir waren damals echte Vorbilder für unsere Brüderländer, die ebenfalls gegen den Kolonialismus kämpften."

Beziehungen in der Lusophonie: "Nie besser als jetzt"

In den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit galten die Beziehungen zwischen den befreiten Staaten und der ehemaligen Kolonialmacht als schwierig. Ideologisch ging man getrennte Wege: Während sich Portugal der Europäischen Union zuwandte, begaben sich die fünf afrikanischen Staaten auf den Weg zum Sozialismus und errichteten mit Hilfe des Ostblocks marxistische Einparteiensysteme.

Der Präsident von São Tomé und Príncipe, Carlos Vila Nova, wird im März 2023 vom Präsidenten von Kap Verde, José Maria Neves, in Praia empfangen
Die Inselstaaten Kap Verde und São Tomé und Príncipe erlangen 1975 die Unabhängigkeit von Portugal. Foto: Der Präsident von São Tomé und Príncipe, Carlos Vila Nova, im März 2023 mit dem Präsidenten von Kap Verde, José Maria Nevesnull Semedo, Àngelo

In den Anfangszeiten bezichtigten diese neuen Regime Lissabon immer wieder, Vertreter von Rebellenorganisationen, vor allem der mosambikanischen RENAMO und der angolanischen UNITA, die die marxistischen Regime in ihren Ländern bekämpften, bei sich aufzunehmen und diplomatisch zu unterstützen.

Die Missstimmung zwischen Portugal und den Ex-Kolonien habe aber nicht lange angehalten, betont die guineische Juristin Carmelita Pires: "Nach einer gewissen Übergangszeit haben wir Guineer uns erneut Portugal angenähert. Für uns war immer klar, dass unser Befreiungskampf gegen das portugiesische Kolonialsystem gerichtet war - und keinesfalls gegen das portugiesische Volk." 

Familiäre und kulturelle Bande

Es seien vor allem familiäre Bande, die Menschen aus Guinea-Bissau und aus Portugal verbänden, so Carmelita Pires. Man dürfe nicht vergessen, dass Portugiesen und Bissau-Guineer über Jahrhunderte interagiert und untereinander geheiratet hätten. Sie selbst sei Nachfahrin eines einfachen portugiesischen Siedlers, der eine Frau aus der Fulani-Ethnie geheiratet und mit ihr eine Familie gegründet habe. "Viele Guineer tragen heute noch portugiesische Namen. Das unterscheidet uns von Völkern aus anderen - etwa anglophonen oder frankophonen - Kolonialsystemen."

Carmelita Pires, Ex-Justizministerin Guinea-Bissaus: "Die kulturellen familiären Bande zwischen Portugal und Guinea-Bissau sind nach wie vor stark"
Carmelita Pires, Ex-Justizministerin Guinea-Bissaus: "Die kulturellen familiären Bande zwischen Portugal und Guinea-Bissau sind nach wie vor stark"null DW/F. Tchumá

Ähnlich sieht es der mosambikanische Schriftsteller Adelino Timóteo, dessen letzter Roman mit dem Titel "Das Jahr des Abschieds von Übersee" zur Zeit der Nelkenrevolution spielt: "Die Portugiesen haben im Vergleich zu anderen Kolonialmächten länger und intensiver mit den Völkern in den Kolonien zusammengelebt und sich ausgetauscht", sagt er der DW.

"Bei uns in Mosambik gab es schon immer enge Kontakte zwischen afrikanischen, europäischen und arabischen Kulturen, später kamen auch Inder und Chinesen aus den ehemaligen portugiesischen Kolonien in Asien dazu. Sie alle wurden bei uns integriert. Von diesem Erbe der portugiesischen Kolonialzeit sind wir immer noch beeinflusst und sind deshalb heute besser in der Lage, trotz aller Wunden der Vergangenheit, gute Beziehungen zu Portugal und den Portugiesen zu pflegen."

Gründung der Gemeinschaft portugiesischsprachiger Länder

"Nach der Nelkenrevolution stellten die Leute in Portugal bange Fragen: Was wird aus den Beziehungen Portugals zu Afrika?", erinnert sich André Thomashausen, Professor für Internationales Recht und Verfassungsrecht an der University of South Africa: "Ich war damals in Portugal und vertrat die dezidierte Meinung, dass das Land eine wichtige und besondere Rolle in Afrika spielen sollte, und dass Portugal das Potential habe, als Tor Afrikas nach Europa zu fungieren."

CPLP-Gipfeltreffen im August 2023 in São Tomé und Príncipe
CPLP-Gipfeltreffen im August 2023: Die Gemeinschaft der Portugiesisch-sprachigen Länder, CPLP, wurde 1996 in Lissabon gegründetnull Ricardo Stuckert/PR

Und das sei auch gelungen, so Thomashausen. Alle ehemaligen Kolonien hätten Portugiesisch als Amtssprache übernommen und für viele junge Menschen, aber auch Geschäftsleute aus den ehemaligen Kolonien, sei Portugal heute tatsächlich das wichtigste Eingangstor nach Europa, betont der Verfassungsrechtler mit deutschen Wurzeln. Portugal habe es verstanden, sehr schnell eine enge Kooperation mit den lusophonen Ländern aufzubauen. Die Lusophonie gehöre für Portugal zur "Staatsräson".

1996 habe man deshalb die CPLP gegründet: die Gemeinschaft der portugiesischsprachigen Länder, die alle neun Staaten der Welt umfasst, in denen Portugiesisch Amtssprache ist. Thomashausen: "Die CPLP ist heute wichtiger und funktioniert besser als die Frankophonie der Franzosen. Die portugiesische Diplomatie hat Hervorragendes geleistet."

Wirtschaftliche oder zwischenmenschliche Beziehungen?

Die Beziehungen zu allen ehemaligen Kolonien seien auf allen Ebenen gut. Auf Regierungsebene, im kulturellen und im Ausbildungsbereich. Und auch wirtschaftlich seien die lusophonen Länder Afrikas sehr eng mit Portugal verquickt, fügt Thomashausen hinzu.

Fernando Cardoso von der Autonomen Universität Lissabon bestätigt, dass sich Portugals wirtschaftliche Beziehungen zu den ehemaligen Kolonien gut entwickelt hätten: "Von viel größerer Bedeutung als der Handelsaustausch ist für die Portugiesen aber die historische und emotionale Dimension: In Portugal ist man davon überzeugt, dass eine privilegierte kulturelle und politische Partnerschaft mit den portugiesischsprachigen Ländern unabdingbar ist. Das war auch die Hauptmotivation für der Gründung der CPLP."

Eine Befestigungsanlage auf der Ilha de Moçambique
Ilha de Moçambique: Die Insel in der Provinz Nampula im Norden Mosambiks ist die ehemalige Hauptstadt des Landes und gab Mosambik auch seinen Namennull DW/J.Beck

Portugal habe viel unternommen, um die negativen Seiten der gemeinsamen Geschichte zu verarbeiten und gleichzeitig die positiven Seiten der historischen Verbindungen hervorzuheben, so Cardoso: "Die positiven Aspekte beruhen vor allem auf der gemeinsamen Sprache. Wenn sich São-Tomeser, Kapverder, Angolaner oder Portugiesen im Ausland treffen, dann unterhalten sie sich selbstverständlich auf Portugiesisch und verbrüdern sich."

Das heiße nicht, dass die jeweiligen Regierungen immer im Einklang seien. Ein Beispiel für konträre Positionen in internationalen Fragen sei die Positionierung bezüglich des Krieges zwischen Russland und der Ukraine. "Die Trennlinien in der Ukrainefrage verlaufen quer durch die portugiesischsprachigen Länder. Einige der Länder Afrikas haben sich bei den Abstimmungen in der UNO über die Verurteilung des russischen Angriffskrieges der Stimme enthalten, im Gegensatz zu Portugal", so Cardoso.

Bei allen Auseinandersetzungen, die immer wieder auf Regierungsebene in Erscheinung treten: Die Begegnungen zwischen den Menschen in den verschiedenen lusophonen Ländern nehmen stetig zu. "Die Leute treten gemeinsam auf, nehmen gemeinsam Schallplatten auf, sie organisieren gemeinsame Feste und Konzerte oder Sportveranstaltungen, oder sie geben gemeinsam Bücher über transnationale Themen heraus", fasst Fernando Cardoso zusammen. "Vor 50 Jahren, in den Wirren der Nelkenrevolution, hätte ich nicht zu träumen gewagt, dass sich die Begegnungen - sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht - so gut entwickeln."

Portugiesen wandern nach Angola aus

 

ECOWAS-Staatenbund vor Reform oder Untergang

"Die ECOWAS wird nur eine Zukunft haben, wenn ihre Mitgliedsländer sich auf den Geist des Panafrikanismus besinnen, sich zusammenraufen und an einem Strang ziehen", sagt Carlos Pereira, politischer Analyst und Aktivist aus Guinea-Bissau, im DW-Interview. Die Zusammenarbeit und Integration der Region sei wichtiger denn je - aber zurzeit praktisch inexistent, fügt Pereira, der seit vielen Jahren die Entwicklung der ECOWAS beobachtet, hinzu.

Lange galt die ECOWAS als institutionell am weitesten entwickelte Regionalorganisation in Afrika. Diesen Ruf hat sie jetzt in den Augen vieler verspielt, denn nach Militärputschen in verschiedenen Ländern ist die Region an der Belastungsgrenze. Der Organisation fehle es an Autorität, Legitimation und effektiven Sanktions- und Interventionsinstrumenten, sagt Pereira. Deutlich sichtbar seien die Probleme hervorgetreten, als die drei Sahel-Länder Mali, Niger und Burkina Faso im Januar 2024 ihren Austritt aus der ECOWAS erklärten. Diese Austritte hätten die Regionalorganisation in eine tiefe Krise gestürzt, fasst der Analyst die Lage zusammen.

Auslöser waren Militärputsche in allen drei betroffenen Staaten, auf die die ECOWAS zunächst konsequent reagierte: Auf eilig einberufenen Gipfeltreffen beschloss man regelmäßig Sanktionen gegen die Putschisten und forderte vehement die Wiedereinsetzung der abgesetzten Machthaber. Diese Linie ließ sich aber nicht durchhalten. Inzwischen gelten die Sanktionen in allen drei Fällen als komplett gescheitert.

Senegal fordert radikale Reformen der ECOWAS

Vor Kurzem ist ein weiterer potenzieller Instabilitätsfaktor für die Region hinzugekommen: Der im März gewählte neue Präsident Senegals, Bassirou Diomaye Faye, der sich bereits im Wahlkampf als "Kandidat des Bruchs mit der Vergangenheit" bezeichnet hatte, äußerte wiederholt Verständnis für die Putschisten-Regime in Mali, Burkina Faso und Niger - und ruft immer lauter nach "radikalen Veränderungen in der ECOWAS".

Für Senegals neuen Präsidenten stehen viele Gewissheiten aus der Vergangenheit längst zur Disposition: So gehört es zu Fayes wichtigsten Wahlversprechen, zu prüfen, ob die Währung der Region - der Franc CFA - abgeschafft werden soll. Der stammt noch aus der französischen Kolonialzeit und ist heute an den Euro gebunden. Faye will außerdem Fischereiverträge mit der EU neu verhandeln und Verträge mit europäischen Firmen, die große Erdgasvorkommen vor Senegals Küsten ausbeuten wollen, einer kritischen Prüfung unterstellen. Möglichst viele ECOWAS-Partner sollten dem Beispiel Senegals folgen, appelliert die Regierung in Dakar.

Senegals neu gewählter Präsident Bassirou Diomaye Faye
ECOWAS- und europakritisch: Senegals neu gewählter Präsident Bassirou Diomaye Fayenull Zohra Bensemra/REUTERS

Viele politische Beobachter in der Region fragen sich seit Fayes Wahl, ob im Senegal ein Präsident regiert, der die ECOWAS zum Sündenbock für die Fehler der Vergangenheit machen wird, so wie das die Putschisten-Regierungen in Mali, Burkina Faso und Niger tun. Letztere wenden sich nicht nur immer mehr von der ECOWAS und auch vom Westen ab, sondern wenden sich gleichzeitig - vor allem in Sicherheits- und Militärfragen - Russland und China zu.

Wird die ECOWAS Bestand haben?

Angesichts dieser Entwicklungen müsse sich in der ECOWAS vieles ändern, sagt der nigrische Politikanalyst Dicko Abdourahamane im DW-Interview. Wenn nichts unternommen werde, könne dies ihr "systematisches Verschwinden" bedeuten.

Welche Schritte wären jetzt nötig, um das Überleben der ECOWAS langfristig sicherzustellen? Für den Bissau-guineischen Aktivisten Carlos Pereira kann das nur gelingen, wenn die politischen Führer der Region es schaffen, eine neue "panafrikanistische Vision" zu entwickeln.

Übergangspräsidenten von Mali: Assimi Goïta. Niger: Abdourahamane Tiani, von Burkina Faso: Ibrahim Traoré
Übergangspräsidenten von Mali, Niger und Burkina Faso: Assimi Goïta, Abdourahamane Tiani, Ibrahim Traoré (von links)null Francis Kokoroko/REUTERS; ORTN - Télé Sahel/AFP/Getty; Mikhail Metzel/TASS/picture alliance

Eine ähnliche Position vertritt der senegalesische Journalist Hamidou Sagna: "Das Überleben der ECOWAS ist nur möglich, wenn alle beteiligten Länder der Region das Konzept der Demokratie als wichtiger erachten als ihre partikulären wirtschaftlichen Interessen", formuliert er gegenüber der DW. "Nur dann ist es möglich, echte Reformen durchzuführen, sodass die ECOWAS wirklich den Völkern der Mitgliedsstaaten in dieser Region Afrikas dient."

Rückkehr der Putschisten-Regime zur ECOWAS?

Ein schneller Wiedereintritt von Niger, Burkina Faso und Mali in die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft gilt den meisten politischen Beobachtern in der Region als sehr unwahrscheinlich. Die betreffenden Länder hätten sich der Kontrolle der ECOWAS entzogen und hätten sich mit ihrer neuen Rolle arrangiert, beschreibt Analyst Pereira die Lage. Der einzige Weg, diese Länder vielleicht noch zu einem Wiedereintritt in die ECOWAS zu bewegen, sei, alle Sanktionen aufzuheben.

Malischer Mann sitzt vor einem Porträt des russischen Präsidenten Putin während einer Demonstration zur Feier der Ankündigung Frankreichs, französische Truppen aus Mali abzuziehen
Frankreichs Truppenabzug aus Mali war auch ein Sieg für Russland - wie dieses Banner zeigt, mit dem Malier die Ankündigung 2022 feiertennull Florent Verges/AFP

Genau diese Strategie verfolgt augenscheinlich Nigerias Präsident Bola Tinubu, der zurzeit den ECOWAS-Vorsitz innehat. Bereits Ende Februar erklärte er, dass die gesperrten Land- und Luftgrenzen zu den sanktionierten Ländern wieder geöffnet werden sollten. Handels- und Finanztransaktionen zwischen den Staaten sollten wieder möglich sein. Nur persönliche und politische Sanktionen sollten bis auf Weiteres weiterbestehen.

Militärdiktaturen kehren ECOWAS den Rücken

Der nigrische Politikanalyst Dicko Abdourahamane bleibt dennoch skeptisch: Die drei Länder unter Militärherrschaft hätten mit ihrer eigenen Organisation namens "Sahel-Staaten-Allianz" (AES) längst Tatsachen geschaffen, die nicht so einfach rückgängig zu machen seien: "Wenn Niger, Burkina Faso und Mali wirklich irgendwann wieder beitreten sollten, wird das höchstwahrscheinlich nur im Rahmen und im Namen der AES geschehen können."

Wenn es darum gehe, die drei Staaten zur Rückkehr zu überreden, könne Senegals neuer Präsident eine Schlüsselrolle übernehmen, sagt Journalist Hamidou Sagna: "Diese drei Sahel-Länder haben die Position von Senegals neuem Präsidenten ihnen gegenüber überaus positiv aufgenommen. Sie haben die große Hoffnung, dass sich Senegal ihren Positionen annähert."

Und tatsächlich gebe es in mehreren Punkten gewisse Übereinstimmungen. Doch auch Sagna rechnet kurz- und mittelfristig nicht damit, dass das Wirtschaftsbündnis wieder zusammenwächst. Damit steht das Fortbestehen der ECOWAS weiter auf dem Spiel.

Mitarbeit: Djariatú Baldé

Pariser Sudan-Konferenz: ein Fünkchen Hoffnung?

Die mit Goldverzierungen dekorierte Decke und die eleganten Kronleuchter des Raums, in dem an diesem Montagmorgen die Auftaktpressekonferenz stattfand, standen in starkem Kontrast zu deren Anlass: der Bürgerkrieg im Sudan. "Wir bringen Regierungen, internationale und regionale Organisationen zusammen, um sie zu unterstützen", sagte Stéphane Séjourné, der Außenminister Frankreichs. Das Land richtete die Konferenz gemeinsam mit Deutschland und der Europäischen Union aus. "Wir wollen, dass humanitäre Hilfe in alle Teile des Sudans gebracht werden kann, und wir wollen auf eine Waffenruhe und einen demokratischen Übergang zu einer zivilen Regierung hinarbeiten."

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock fügte hinzu, dass man dem Sudan dringend mehr Beachtung schenken müsse. "Nichtsdestotrotz schwingt am heutigen Tag auch die angespannte Lage im Nahen Osten mit – wir sehen in der Welt, dass wir so viele Konflikte haben, die aus den Schlagzeilen geraten", sagte sie. Experten begrüßten die Initiative, auch wenn nicht alle glauben, dass sie einen entscheidenden Friedensanstoß geben könne.

Frankreich I Internationale humanitäre Konferenz für Sudan und Nachbarländer
Der für Krisenhilfe zuständige EU-Kommissar Janez Lenarcic, Deutschlands Außenministerin Annelena Baerbock, Frankreichs Außenministerin Stéphane Séjourné und der EU-Außenbeauftragte Josep Borell (v. r.) bei der Konferenz in Parisnull Thomas Koehler/IMAGO

Dabei drängt die Zeit. Seit einem Jahr herrscht im Sudan zwischen den sudanesischen Streitkräften (SAF) und den sogenannten schnellen Eingreiftruppen (RSF) sowie verbündeten Milizen Krieg. Der  hatte sich entzündet, als sich der Kommandeur der RSF, Mohammed Hamdan Dagalo alias Hemedti, geweigert hatte, seine Truppen der Befehlsgewalt der SAF – unter der Führung von Abdel Fattah al-Burhan – zu unterstellen. Al-Burhan war Teil einer Übergangsregierung, nachdem der Diktator Omar al-Bashir nach 30 Jahren autoritärer Herrschaft im April 2019 gestürzt worden war. Eigentlich sollten auf diese Übergangsregierung 2022 demokratische Wahlen folgen, doch Al-Burhan blieb durch einen Putsch an der Macht, zunächst mit Hemedtis Unterstützung – bis die beiden sich überwarfen. Laut Vereinten Nationen (UN) könnte es dort bald zur größten Hungerkatastrophe der Welt kommen – mit etwa 18 Millionen Menschen, etwa der Hälfte der sudanesischen Bevölkerung kurz vor der Hungersnot. Experten sprechen von der größten Vertreibungskrise der Welt – mehr als acht Millionen Menschen sind auf der Flucht.

Die Hälfte der laut UN benötigten Gelder sind zusammengekommen

In Paris fand nun die zweite humanitäre Konferenz seit Beginn des Krieges statt. Im Juni 2023 hatten in Genf europäische Länder, die USA und arabische Staaten 1,4 Milliarden Euro Hilfszahlungen versprochen. Für dieses Jahr sprechen die UN von einem Bedarf an humanitärer Hilfe in Höhe von rund vier Milliarden Euro für den Sudan und die Nachbarländer, in die Hunderttausende Flüchtlinge geflohen sind. In Paris versprachen jetzt mehr als 50 Staaten und die EU mehr als zwei Milliarden Euro.

Der sudanesische Machthaber Abdel Fattah al-Burhan (l.)
Der sudanesische Machthaber Abdel Fattah al-Burhan (r.)null Mahmoud Hjaj/AA/picture alliance

Doch laut Ibrahim Modi, Gründer der sudanesischen Hilfsgruppe Vereinigte Friedensorganisation (UPO) und ehemaliger Vorsitzender des Forums der Sudanesischem Nichtregierungsorganisationen, zu dem 700 lokale Organisationen gehören, wären eigentlich Hilfsgelder in Höhe von acht Milliarden Euro nötig. "Zudem ist in der Vergangenheit immer nur ein Bruchteil des versprochenen Geldes vor Ort angekommen – auch deswegen, weil wir uns auf ein altes System verlassen", sagt er zu DW.

"Anstatt hauptsächlich Hilfskonvois zu nutzen, sollte man lokale NGOs stärker mit einbeziehen – die kommen vor Ort zurecht und haben die nötigen Verbindungen." Damit spielt Modi darauf an, dass Al-Burhan im Februar ankündigte, die Grenzen zum Tschad zu schließen. Von dort soll Hemedti, dessen Basis im westlichen Darfur liegt, mutmaßlich Waffen erhalten haben. Internationale Hilfsorganisationen berichten seitdem von Schwierigkeiten, an Visa und andere Genehmigungen zu kommen. Cindy McCain, geschäftsführende Direktorin des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen, pflichtet Modi bei. "Wir brauchen die Hilfe lokaler NGOs. Sie arbeiten in Teilen des Landes, zu denen wir keinen Zugang haben", sagte sie in  Paris gegenüber der Presse.

Bürokratische Hürden, um mit lokalen NGOs zusammenzuarbeiten

Aus französischen Diplomatenkreisen hieß es zwar, man unterstütze auch lokale NGOs, aber Gerrit Kurtz, Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, bestätigt, dass nur ein kleiner Teil der Gelder bei lokalen Organisationen ankomme. "Internationale Geldgeber tun sich sehr schwer, mit denen zusammen zu arbeiten, weil das keine registrierten Organisationen mit einem langen Track-Record sind. Sie haben Schwierigkeiten, in ihren bürokratischen Prozessen mit so etwas umzugehen. Das muss besser werden – obwohl man natürlich auch weiterhin die UN braucht", erklärt er gegenüber DW.

Teilnehmer der Konferenz am Verhandlungstisch
Teilnehmer der Konferenz am Verhandlungstischnull Sarah Meyssonnier/REUTERS

Vertreter von rund 15 Regierungen – aus Europa, Nachbarländern und den USA – verhandelten zudem in Paris über bestehende Friedensinitiativen. Das begrüßte der Außenminister des Tschads: "Wir müssen Druck aufbauen, um eine unmittelbare Waffenruhe zu ermöglichen. Der Sudan ist kurz davor, auseinanderzufallen", sagte Mahamat Saleh Annadif vor Ort.

Doch Thierry Vircoulon, Koordinator der Beobachtungsstelle für Zentral- und das südliche Afrika der Pariser Denkschmiede Ifri, bezweifelt, dass diese Konferenz unter europäischer Ägide viel zu einer friedlichen Lösung des Konfliktes beitragen wird. "Bisher haben sich beide Seiten nicht auf Friedensverhandlungen eingelassen", sagt er gegenüber DW. "Und europäische Staaten haben in dieser Region wenig Einfluss – man wird sie wohl kaum als Vermittler akzeptieren."

Experte Kurtz glaubt, eine Konferenz in Paris könne durchaus die internationale Aufmerksamkeit auf den Sudan-Konflikt lenken. Auf positiven Elan hofft auch Ehsan Babiker von der sudanesischen NGO Nida, die an der Konferenz teilnahm – selbst wenn sie sich mehr als zwei Milliarden Euro Zusagen erhofft hätte. "Der Sudan braucht massive Unterstützung – ich hoffe, diese Konferenz ist nur ein erster Schritt", sagte sie zu DW.

Die Entführung von Chibok: Zehn Jahre und kein Ende

In der Nacht des 14. April 2014 stürmen Dutzende Kämpfer der militanten islamistischen Gruppe Boko Haram ein Schulwohnheim für Mädchen in der abgelegenen Stadt Chibok, einer kleinen christlichen Enklave im überwiegend muslimischen Nordosten Nigerias.

Die 276 Schülerinnen, die meisten im Alter zwischen 16 und 18 Jahren, werden mit vorgehaltener Waffe durch den Wald zu wartenden Lastwagen getrieben, nachdem die Kämpfer die Schulgebäude in Brand gesetzt haben. Es ist ein Überfall, der in die Geschichte eingehen wird - auch, weil viele der Mädchen für Jahre verschollen bleiben.

Erst nach und nach wurden Details der Entführung bekannt. Die Berichte von Rückkehrenden haben daran einen entscheidenden Anteil. 57 Mädchen gelang in den Stunden nach der Entführung die Flucht. Einige versteckten sich im Gebüsch, andere sprangen von den Fahrzeugen, als sie durch die dunkle Nacht des Sambisa-Waldes fuhren, der zum Versteck von Boko Haram geworden war.

Eine derjenigen, denen die Flucht gelang, erzählte Human Rights Watch, dass ein Milizionär die Schülerinnen im Lastwagen fragte: "Nach welcher Art von Wissen sucht ihr hier [in der Schule]? Da ihr hier nach westlicher Bildung sucht, sind wir hier, um sie zu bekämpfen und euch den Weg des Islam zu lehren.

Warum war es so einfach, die Schülerinnen zu entführen?

Nach Angriffen von Boko Haram waren zahlreiche Schulen in der Region bereits im März geschlossen worden, darunter die Sekundarschule von Chibok. Die Terrorgruppe hatte 2009 eine bewaffnete Rebellion gegen die nigerianische Regierung begonnen, um einen islamischen Staat zu gründen. Sie war bekannt für ihre feindselige Haltung gegenüber dem westlichen Bildungssystem.

Doch die von der Regierung betriebene Schule in Chibok wurde extra geöffnet, damit die Schülerinnen ihre Abschlussprüfungen ablegen konnten. Viele Mädchen reisten aus umliegenden Dörfern an, deren Schulen geschlossen blieben.

Obwohl im Bundesstaat Borno der Ausnahmezustand galt, waren keine Soldaten an der Schule stationiert, und die beiden Wächter, die das Gelände bewachten, flohen, als sich die Kämpfer näherten.

Eine andere Gruppe von Boko-Haram-Kämpfern schoss auf die 17 im Stadtzentrum stationierten Sicherheitskräfte, die vor der Übermacht in den nahen Wald flohen.

Laut Untersuchungen, die unter anderem von der Menschenrechtsorganisation Amnesty International angestellt wurden, rollte der Boko-Haram-Konvoi zuvor bereits durch Nachbardörfer. Deren Bewohner hätten daraufhin - mehrere Stunden vor dem Angriff - auch die Militärbasis in Maiduguri, der Hauptstadt des Bundesstaats Borno, angerufen. Doch das Militär war offenbar nicht in der Lage, kurzfristig Truppen für die 125 Kilometer lange Fahrt nach Chibok zu mobilisieren. So konnte Boko Haram die schutzlosen Mädchen entführen.

Was geschah mit den Schülerinnen?

Kurz nach den Entführungen drohte der Anführer der Gruppe, Abubakar Shekau, damit, die Mädchen als Sklavinnen zu verkaufen. Tatsächlich zwangen die Entführer viele der Mädchen, zum Islam zu konvertieren, Boko-Haram-Kämpfer zu heiraten und ihnen Kinder zu gebären. Oft wurden sie mehrfach verheiratet, da viele der Männer bei Kämpfen getötet wurden.

In den folgenden Jahren gab es kaum Lebenszeichen von den entführten Schülerinnen, allein zwei junge Frauen wurden zwischen Mai und September 2016 gefunden. Doch durch Vermittlung des Internationalen Roten Kreuzes wurden schließlich zahlreiche Mädchen freigelassen - laut Berichten geschah dies im Rahmen eines Gefangenenaustauschs.

Zwei halb geschlossene Hände halten mit den Zeigefingern das Passbild eines jugendlichen Mädchens
Zainabu Mala hält 2019 ein Bild ihrer entführten Tochter Kabunull Audu Ali Marte/AFP

Mehr als 100 Mädchen sind seitdem freigelassen worden. Diejenigen, die zurückgekehrt sind, berichteten von Schlägen, ständigem Hunger und Schlimmerem. Sie wurden meist in einfachen Hütten im Sambisa-Wald gefangen gehalten.

"An dem Ort, wo ich gefangen gehalten wurde, war es sehr schlimm. Das hatten wir nicht erwartet. Wir haben dort gelitten. Wir waren hungrig", sagte die Chibok-Überlebende Mary Dauda gegenüber Amnesty International. 82 der jungen Frauen werden bis heute vermisst.

Welche Rolle hat #BringBackOurGirls gespielt?

Die Regierung des damaligen Präsidenten Goodluck Jonathan gab die Entführungen nur zögerlich zu und unternahm lediglich halbherzige Versuche, die Mädchen zu retten. Doch dann startete eine Gruppe von Nigerianern die Twitter-Kampagne #BringBackOurGirls. Sie wurde von Prominenten wie der Hollywood-Schauspielerin Angelina Jolie und der amerikanischen First Lady Michelle Obama geteilt und löste in den sozialen Medien eine weltweite Empörung aus.

Nigeria Lagos 2019 | Plakat am Straßenrand: "112 #ChibokGirls are still missing; darunter Schattenrisse von vermissten Schülerinnen, im Hintergrund Verkehr
Bis heute bleiben Dutzende der Chibok-Schülerinnen vermisst - und das Mittel der Entführung kommt weiter zum Einsatznull Olukayode Jaiyeola/NurPhoto/picture alliance

Infolge der Social-Media-Kampagne kam es in Nigeria und anderswo auch zu tatsächlichen Demonstrationen. Daraufhin versprach Präsident Jonathan, die Schülerinnen zu finden, und die Polizei setzte eine Belohnung von 300.000 Dollar aus, damals umgerechnet rund 220.000 Euro. Der damalige US-Präsident Barack Obama entsandte sogar ein Team von Beratern, um das nigerianische Militär bei der Suche zu unterstützen, obwohl die nigerianischen Behörden zögerten, internationale Hilfe anzunehmen.

Warum wirken die Chibok-Entführungen noch heute nach?

Boko Haram hat im Jahr vor dem Überfall in Chibok etwa 50 Schulen angegriffen und Dutzende von Kindern entführt. Doch mehrere Faktoren haben dazu beigetragen, dass die Entführung der Chibok-Mädchen auch zehn Jahre später noch große Aufmerksamkeit erfährt.

Chibok war der Beginn groß angelegter Entführungen in Nigeria, wie sie auch heute noch stattfinden - auch wenn heute eine größere Zahl von Akteuren an Entführungen beteiligt ist.

Anfang März dieses Jahres wurden fast 300 Kinder aus einer Schule in Kigura im Nordwesten Nigerias entführt. Viele von ihnen kamen später frei. Wenige Tage zuvor waren im Bundesstaat Borno bereits 200 Menschen entführt worden - größtenteils Frauen und Kinder.

Fast 300 Schulkinder in Nigeria entführt

Dazu kommt der mangelnde Einsatz der Behörden, die Schülerinnen von Chibok zu befreien. Damit wurde der Fall zu einem berüchtigten Beispiel für das Versagen der nigerianischen Regierung beim Schutz der Menschen - damals wie heute.

Vor allem Schülerinnen und Schüler sind die Leidtragenden. Nach Angaben der Kinderhilfsorganisation Save the Children wurden in Nigeria von April 2014 bis Mitte 2023 mehr als 1680 Kinder entführt.

Allein im Bundesstaat Katsina blieben im Jahr 2023 fast 100 Schulen wegen der unsicheren Lage geschlossen. Und die Angst vor Entführungen ist ein wichtiger Grund für Nigerias Kinder, der Schule fernzubleiben.

Aus dem Englischen adaptiert von Philipp Sandner.

Tod von Soldaten im Kongo stellt SADC-Mission infrage

Der Einsatz gegen Rebellen im Osten der Demokratischen Republik Kongo hat erneut Soldaten aus dem Ausland das Leben gekostet. Die drei Tansanier waren im Rahmen einer Mission der südafrikanischen Entwicklungsgemeinschaft SADC dort stationiert. Sie wurden getötet, als Rebellen ihre Stellungen mit Granaten beschossen. Drei weitere SADC-Soldaten wurden bei dem Angriff verletzt.

Wieder steht die Frage im Raum, inwieweit die noch junge SADC-Mission im Kongo (SAMIDRC) in der Lage ist, die Rebellion der M23 (Bewegung des 23. März) zu beenden.

Neben tansanischen Soldaten kämpfen auch Südafrikaner und Malawier in der Mission. Die ersten SADC-Truppen waren im Dezember entsandt worden, nachdem das Mitgliedsland DR Kongo einen Hilferuf gestartet hatte. Die Regierung in Kinshasa hatte sich auf den Verteidigungspakt des Staatenbunds berufen.

Dass Soldaten bei ihrem Einsatz ums Leben gekommen sind, nennt Gilbert Khadiagala, Experte für internationale Beziehungen, im DW-Gespräch "in hohem Maß besorgniserregend". Der Vorfall zeige die Entschlossenheit der M23, ihre weitreichenden Angriffe im Osten des Landes fortzuführen.

Die M23, die als zerschlagen galt, hatte Ende 2021 erneut zu den Waffen gegriffen. Seitdem hat sie weite Teile der kongolesischen Provinz Nord-Kivu erobert. Zuletzt auch mehrere strategisch wichtige Städte am Rande der Provinzhauptstadt Goma.

Durch das jüngste Aufflammen der Kämpfe hat sich die ohnehin schon katastrophale humanitäre Situation weiter verschlechtert: Mehr als 6,3 Millionen Menschen sind im Kongo auf der Flucht.

Angriff auf Stützpunkt bei Goma

Die drei Soldaten wurden bei einem Angriff auf den SAMIDRC-Stützpunkt in Mubambiro getötet. Der Stützpunkt liegt etwas außerhalb der Stadt Sake, etwa 20 Kilometer von Goma entfernt. Hier waren bereits Mitte Februar zwei südafrikanische Soldaten durch eine Mörsergranate getötet und drei weitere verletzt worden.

Soldaten geleiten einen Sarg mit südafrikanischer Flagge, trauernde Frauen im Hintergrund
Erst vor Kurzem waren zwei südafrikanische Soldaten beim Einsatz im Kongo getötet wordennull Marco Longari/AFP

"Das zeigt, wie verletzlich dieser Stützpunkt ist", antwortet Piers Pigou, Programmleiter für das südliche Afrika beim Institut für Sicherheitsstudien in Pretoria, auf eine DW-Nachfrage. "Und weil die Kämpfer weiter auf Artillerie setzen, ist es wahrscheinlich, dass dies so bleiben wird. Das wirft die Frage auf, ob die SAMIDRC in der Lage ist, solche Stützpunkte zu verteidigen und wann sie über die erforderlichen Verteidigungsmöglichkeiten verfügen wird."

M23 gewinnt an Stärke

Die Demokratische Republik Kongo, die Vereinten Nationen (UN) und viele westliche Länder beschuldigen Ruanda, die M23-Rebellen zu unterstützen, um die reichen Bodenschätze der Region zu kontrollieren. Diese Anschuldigung hat Kigali wiederholt zurückgewiesen.

Die M23-Rebellen verfügen inzwischen über militärische Waffen, die normalerweise nicht mit Milizen in Verbindung gebracht werden. Darunter befinden sich hochentwickelte Sturmgewehre, GPS-gesteuerte Langstreckenmörser und Boden-Luft-Raketen.

Die M23 sei heute "ganz anders" ist als 2013, als internationale Truppen die Rebellengruppe im Kongo besiegten, nachdem sie vorübergehend Goma eingenommen hatte, sagt Stephanie Wolters, Expertin für die Region der Großen Seen. Jetzt sei die M23 eine "sehr entschlossene militärische Kraft" und werde "stark von Ruanda unterstützt".

"Ruanda ist hoch motiviert", stellt die Senior Research Fellow am Südafrikanischen Institut für Internationale Angelegenheiten (SAIIA) fest. "Ich denke, es wird so viel wie möglich in die Unterstützung der M23 investieren, um eine Niederlage zu vermeiden."

SADC-Mission ist unterbesetzt und unterversorgt

Der M23 steht eine SADC-Truppe gegenüber, die deutlich kleiner ist als die ursprünglich zugesagten 5000 Soldaten. Die Leiterin der UN-Friedensmission MONUSCO im Kongo, Bintou Keita, sagte dem UN-Sicherheitsrat Ende März, dass 2000 SADC-Soldaten im Kongo eingesetzt seien.

Immer mehr Flüchtlinge in der DR Kongo

Südafrika hatte 2900 Soldaten angekündigt, doch südafrikanische Medien haben bislang nur etwa 600 Soldaten gezählt. Malawi und Tansania wollten 2100 Soldaten schicken. Analyst Piers Pigu hält es für unwahrscheinlich, dass die zugesagte Truppenstärke voll ausgeschöpft werden wird - eine Einschätzung, die andere Analysten teilen.

Außerdem mangelt es der SAMIDRC an essenzieller Ausrüstung. In einem Interview mit dem südafrikanischen Sender Newzroom Afrika erklärte die Gewerkschaft des südafrikanischen Militärs, die Soldaten hätten nicht genügend Feldküchen, Feldlazarette oder medizinisches Personal. Insbesondere haben Experten wiederholt kritisiert, dass es der Mission an Luftfahrzeugen wie Transport- und Kampfhubschraubern mangele. Diese gelten als unverzichtbar, um die M23 im schwierigen Gelände des Ostkongo zu besiegen.

Die dichten Wälder und die "hohe Mobilität der Rebellengruppen" verlangen besondere Maßnahmen. "Das bedeutet, dass robuste Luftkapazitäten für eine effektive Gebietsüberwachung, eine schnelle Verlegung der Truppen und logistische Unterstützung von entscheidender Bedeutung sind", schrieb Militäranalyst Darren Oliver in einem Artikel für SA Flyer, Afrikas größtes Luftfahrtmagazin. Nur so gebe es eine realistische Chance, die Rebellen aufzuspüren, einzudämmen und zu besiegen.

Vielfalt der Akteure

Die SADC-Truppen bekämpfen die Rebellen jedoch nicht allein. Sie sind Teil einer informellen Koalition, zu der die kongolesische Armee, Streitkräfte aus den Nachbarländern Burundi und Uganda sowie mit der kongolesischen Regierung verbündete bewaffnete Gruppen gehören.

Blick aus einem PKW auf einen Pickup mit burundischen Soldaten in Minova, Kongo
Burundis Beteiligung ist nicht offiziell - aber Soldaten des Nachbarlandes wurden schon gesichtet, wie hier in Minova im Südkivunull ALEXIS HUGUET/AFP

Die Vereinten Nationen haben unterdessen mit dem Abzug ihrer 15.000 Einsatzkräfte begonnen: Seit Jahren hatte es Kritik am Vorgehen und der vermeintlichen Untätigkeit der Blauhelme gegeben. Zuletzt hatte Kinshasa die MONUSCO aufgefordert, zu gehen, weil es ihr nicht gelungen sei, die Sicherheit im Land zu garantieren.

"Die beste denkbare Situation ist, dass die SADC ausreichend militärischen Druck auf die M23 ausüben, um Ruanda zu zwingen, sich auf Verhandlungen einzulassen und seine Unterstützung der M23 zurückzufahren", sagt Analystin Stephanie Wolters. "Es muss eine politische Lösung geben. Das hier wird sich nicht militärisch lösen lassen."

Aus dem Englischen adaptiert von Philipp Sandner.

Sudan: Ausländische Akteure befeuern den Krieg

"Zentral-Darfur ist eine humanitäre Wüste." So umriss Christos Christou, der Direktor der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen, Anfang dieser Woche die Auswirkungen des vor einem Jahr ausgebrochenen Krieges im Sudan. In den Flüchtlingslagern in einem der am stärksten betroffenen Gebiete herrschten entsetzliche Zustände. Es fehle an Trinkwasser, Lebensmitteln und sonstiger Versorgung. Die hygienischen Bedingungen seien katastrophal. Im Kurznachrichtendienst X forderte er die Weltgemeinschaft zu verstärkter Hilfe auf.

Rund 18 Millionen Menschen litten unter Hunger, meldete vor wenigen Wochen das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen. Die meisten von ihnen hielten sich in Regionen auf, die für Hilfsorganisationen kaum oder gar nicht zugänglich seien, so das UN-Hilfswerk. Es drohe eine humanitäre Katastrophe.

Sudanesische Kriegsflüchtlinge nehmen in einem Lager im Tschad Lebensmittelhilfen entgegen
Angewiesen auf das Nötigste: Sudanesische Kriegsflüchtlinge im Tschad null David Allignon/MAXPPP/dpa/picture alliance

Militärs und Politiker gleichermaßen für Gewalt verantwortlich

Seit April vergangenen Jahres stehen sich im Sudan zwei große militärische Gruppen gegenüber: die sudanesischen Streitkräfte (SAF) und die sogenannten schnellen Eingreiftruppen (RSF) sowie zunehmend verbündete Milizen- und Splittergruppen. Der Konflikt hatte sich daran entzündet, dass sich der Kommandeur der RSF, Mohammed Hamdan Dagalo alias Hemedti, geweigert hatte, seine Truppen der Befehlsgewalt der SAF zu unterstellen, obwohl dies zuvor in einem nationalen Dialog vereinbart worden war.

Aber auch Teile der zivilen Akteure trügen Verantwortung für die Gewalt, sagt Osman Mirghani, Chefredakteur der sudanesischen Zeitung "Al-Tayyar", im Gespräch mit der DW. Trotz des im Dezember 2022 unterzeichneten Rahmenabkommens hätten einige Akteure ihre Interessen um jeden Preis durchsetzen wollen und darum Verbindungen zu den militärischen Gruppen des Landes aufgenommen. "Leider versuchen alle politischen Parteien, ihre Macht auch um den Preis des Krieges zu behalten."

Systematische Vernichtung von Lebensmitteln

Für ihre Anliegen nehmen die beiden Parteien offensichtlich auch eine humanitäre Katastrophe in Kauf, sagt Marina Peter, Gründerin und Vorsitzende des Sudan- und Südsudan-Forum, im DW-Interview. In vielen Landesteilen könnten die Bauern aufgrund der Kämpfe und deren Auswirkungen nichts mehr anbauen. Zudem würden in traditionell fruchtbaren Regionen wie Dschasira oder White Nile Ernten und andere Lebensmittel gezielt vernichtet. "Insbesondere die RSF zünden in Gebieten, die sie zu unterwerfen trachten, Kornlager an. Außerdem verhindern sie gezielt den Zugang zu humanitärer Hilfe in diesen Gebieten."

Die Rolle internationale Akteure

Hinzu kämen die internationalen Akteure in dem Krieg, sagt Marina Peter. Ägypten etwa unterstütze die regulären Streitkräfte der SAF. "Die Regierung in Kairo steht der friedlichen Revolution und der Aussicht einer zivilen sudanesischen Regierung seit jeher skeptisch gegenüber. Sie wünscht sich eine Herrschaftsform wie im eigenen Land, also eine militärische Führung mit demokratischem Antlitz." Zugleich fürchte man, der Konflikt könne auch auf das eigene Land überspringen. Und aus Sorge um die Wasserversorgung durch den Nil suche die Regierung in Kairo vorzugsweise die Nähe zu den jeweiligen Machthabern. "Und das ist aus ägyptischer Sicht derzeit eben Abdel Fatah Burhan." 

Zudem hätten die SAF zuletzt einen neuen Partner gewonnen, so Peter: den Iran. "Sie haben dorthin einige stabile Beziehungen geknüpft. Inzwischen bekommen sie von dort etwa Drohnen geliefert."

Überleben im Sudan

Die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) hingegen setzen auf Mohammed Hamdan Dagalo. "Im Sudan befinden sich erhebliche Goldvorräte", so Peter. Deren Verkauf laufe ganz wesentlich über die VAE. "Die RSF haben seit langem Truppen aufgebaut, die den Abbau und Transport des Goldes organisieren." Zudem seien die VAE rigorose Gegner des politischen Islam und wollten unbedingt verhindern, dass wieder ein Islamist wie Omar al-Baschir die Macht in dem Land übernehme. "Das ist natürlich bizarr, denn sowohl Burhan als auch Hemedti sind politische Ziehsöhne des gestürzten Präsidenten Omar al-Baschir, der einen islamistischen Kurs fuhr. Allerdings versuchen die RSF sich als Gegner der alten Kader zu inszenieren - und haben darüber die VAE auf ihre Seite gezogen." Im Gegenzug werden die RSF von den VAE mit Waffen versorgt. 

Geliefert werden die unter anderem auch über Libyen. Diese Aufgabe hatte bis zum Sommer vergangenen Jahres die russische Söldnertruppe Wagner übernommen. Doch nach dem Tod ihres Kommandanten Jewgeni Prigoschin im August letzten Jahres nannte sich der Teil der in Afrika aktiven Gruppe um: Nun heißt sie "Afrikakorps" - in Anlehnung an die gleichnamige Armee des deutschen Feldmarschalls Erwin Rommel in Libyen während des Zweiten Weltkrieges. Deren Aufgabe sollte es sein, die britischen und französischen Kolonialreiche in Nordafrika zu erobern. Auch die russischen Söldner wollen den Einfluss ihres Landes in dieser Region offenbar ausweiten: "In Sudan verfolgt Russland bereits seit 2017 Pläne zum Bau eines Marinestützpunkts am Roten Meer - an der zentralen Schlagader des globalen Handels zwischen Europa und Asien", heißt es in einem Bericht der Tageszeitung (TAZ) vom März dieses Jahres.

Ein Stapel mit Getreidesäcken in Gedaref im Süden des Landes
Im Visier der Kriegsparteien: Lebensmittelvorräte. Im Bild ein Stapel mit Getreidesäcken in Gedaref im Süden des Landes null EBRAHIM HAMID/AFP/Getty Images

Ende des Konflikts wenig wahrscheinlich

Dass der Konflikt absehbar ein Ende finden würde, sei wenig wahrscheinlich, schreibt die Politologin Hager Ali vom Hamburger GIGA-Institut in einer Analyse. Die beiden Konfliktparteien seien womöglich gar nicht mehr in der Lage, die Gewalt einzuhegen, da sich ihre jeweiligen Kommandostrukturen teils aufgelöst hätten. Weitere Fraktionen seien bereits dabei, die Autorität von Al-Burhan und Dagalo auf kommunaler Ebene zu verdrängen und den Krieg für ihre eigenen Interessen zu nutzen.

Auch unter internationalen Aspekten sei ein Ende des Krieges derzeit eher unwahrscheinlich, so Ali. Der Sudan sei von großen Waffenschmuggelzentren umgeben. "Treibstoff, Munition, Waffen und andere Güter werden über Libyen, den Tschad, die Zentralafrikanische Republik und über das Rote Meer geschmuggelt. Waffen kommen auch aus Uganda und dem Südsudan. Die Vereinigten Arabischen Emirate und die Wagner-Gruppe arbeiten bei der Versorgung des Krieges über diese Länder eng zusammen."

Die Regierungen Norwegens und anderer westlicher Staaten sowie der EU veröffentlichten anlässlich des ersten Jahrestages des Kriegsausbruchs einen Appell, in dem sie die Kriegsparteien dazu aufriefen, die Kämpfe zu beenden und einen sofortigen Waffenstillstand auszuhandeln.

Sudanesische Binnenflüchtlinge: Zuflucht in den Nuba-Bergen

Afrika: Schmutzige Luft erhöht Gesundheitsrisiko

Im Herzen der kamerunischen Hauptstadt Yaoundé vibriert die Luft vom Brummen der Motoren. Abgase aus den Autos, von Fabriken, dazu der Qualm brennender Abfälle in Wohngebieten - das alles hüllt als grauer Smog die Stadt ein.

Felix Assah ist Mitarbeiter der Forschungsgruppe für Bevölkerungsgesundheit an der Universität Yaoundé. "Mit der Verstädterung und der wirtschaftlichen Entwicklung nehmen die Luftverschmutzung in städtischen Gebieten, aber auch die Krankheiten zu", sagt Assah zur DW. Dazu zählten Erkrankungen des Herzkreislaufsystems, der Atemwege und Krebs.

Fachleute und Organisationen, die sich für eine sauberere Luft in Afrika einsetzen, trafen sich kürzlich in Yaoundé. Sie diskutierten wie sie zusammen die Luftqualität mit moderner und günstiger Sensortechnologie kontrollieren können.

Innovative Technologie

Bisher sei die Messung kostspielig gewesen, doch es gebe innovative Fortschritte, sagt Deo Okure, Wissenschaftler für Luftqualität an der Makerere-Universität in Kenia. Mit Forscherkollegen entwickelte Okure 2015 ein "lokales Luftüberwachungssystem", das günstiger ist, aber trotzdem wirksam. Ein Vorteil: Das System könne mit verschiedenen Energiequellen betrieben werden, erklärt Okure: "Gleichzeitig sind wir in der Lage, Daten über GSM oder Sim-Karten zu übertragen, die in allen Teilen Afrikas verwendet werden, anstatt WLAN zu benötigen." Die Technologie liefere zwar wichtige Daten, aber das sei immer noch unzureichend, sagt Okure, da damit noch nicht die Quellen der Luftverschmutzung eindeutig bestimmt werden können.

Männer verbrennen Elektroschrott unter freiem Himmel
Diese Männer nahe Accra in Ghana wollen an Kupferkabel gelangen und verbrennen Elektroschrott unter freiem Himmel - der Qualm gelangt ungehindert in die Atmosphärenull The Yomiuri Shimbun/AP Photo/picture alliance / ASSOCIATED PRESS

In Yaoundé wurden im Rahmen eines Projekts Geräte installiert, die die Luftqualität in Echtzeit überwachen. Trotz technologischer Einschränkungen erwartet Ashu Ngono Stephanie vom kamerunischen Amt für Meteorologie, dass der Staub so besser im Blick behalten werden kann: "Es ist sehr wertvoll, Messgeräte vor Ort zu haben, denn so können wir genau verfolgen, was mit den Staubkonzentrationen in der Atmosphäre geschieht."

Yaoundé ist die zehnte afrikanische Stadt, die diese Technologie zur Überwachung der Luftqualität einsetzt. Mehr als 200 Überwachungsgeräte sind auf dem gesamten Kontinent installiert. Die gesammelten Daten dienen auch als Grundlage für politische Entscheidungen zur Verbesserung der Luftqualität.

Hohe Luftverschmutzung in Afrika

Aber Organisationen warnen: Die Messkapazitäten hinken der raschen Urbanisierung in Afrika hinterher. Der Kontinent ist in Studien unterrepräsentiert, weil Daten unzureichend oder gar nicht erhoben werden. So steht es auch im World Air Quality Report des Schweizer Technologie-Unternehmens IQAir, das sich auf den Schutz vor Luftschadstoffen, die Entwicklung von Produkten zur Luftqualitätsüberwachung und Luftreinigung spezialisiert hat.

In den Bericht fließen Daten von Messstationen in 134 Ländern und Gebieten aus dem Jahr 2023 weltweit. Allerdings: 34 Prozent der afrikanischen Bevölkerung sei gar nicht im Bericht vertreten, da es an öffentlich zugänglichen Daten zur Luftqualität mangelt, sagen die Autoren. Aus diesem Grund seien beispielsweise Länder wie Tschad und Sudan nicht Teil des aktuellen Berichts.

Der Bericht bezieht sich auf die sogenannten PM2,5-Werte. Das sind Feinstaubpartikel, die im Durchmesser nicht größer als 2,5 Mikrometer sind. Das entspricht ungefähr der Dicke von Spinnweben. Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt, dass von diesen Partikeln im Jahr durchschnittlich nicht mehr als 5 Mikrogramm je Kubikmeter in der Luft vorhanden sein sollten. 

Ägypten Kairo | Luftverschmutzung | Morgenansicht von Kairo mit Smog: Über dem Häusermeer von Kairo hängt grauer Dunst
Smog über Kairo: Ägypten zählt zu den größten Luftverschmutzern in Afrika laut Greenpeace Internationalnull imageBROKER/dpa/picture alliance

Die schmutzigsten Städte in Afrika, die in dem Bericht berücksichtigt wurden, überschreiten diesen Wert um das Acht- bis Elffache. Dazu gehören die Hauptstädte Kinshasa (Demokratische Republik Kongo), Kairo (Ägypten), Abuja (Nigeria) und Ouagadougou (Burkina Faso). Die Top-Plätze nehmen zwei Städte in Südafrika ein: Bloemfontein und die Kohlebergbau-Stadt Benoni. 

Vorzeitige Todesfälle

In punko Krankheiten durch Luftverschmutzung sind Ägypten, Nigeria und Südafrika die am stärksten verschmutzten Länder Afrikas. Zu diesem Ergebnis kommt die internationale Umweltschutzorganisation Greenpeace, die Ende März ihren Bericht zu den hauptsächlichen Luftverschmutzern in Afrika veröffentlichte. Untersucht wurden die wichtigsten Industrie- und Wirtschaftssektoren, einschließlich der Industrie für fossile Brennstoffe.

Daten von Satelliten und sogar Kraftstoffverkäufen in den einzelnen Ländern ermöglichten es, die Emissionsquellen zu untersuchen. "Wir haben herausgefunden, dass Satelliten, die die Luftverschmutzung überwachen, regelmäßig Emissionsschwerpunkte finden, die mit Wärmekraftwerken, Zementwerken, Metallhütten, Industriegebieten und städtischen Gebieten übereinstimmen", sagt Cynthia Moyo, Klima-und Energie-Kampagnenleiterin bei Greenpeace Africa in Johannesburg zur DW. "Sechs der zehn größten Stickstoffdioxid-Emissions-Hotspots der Welt und zwei der zehn größten Schwefeldioxid-Emissions-Hotspots befinden sich hier in Südafrika", betont Moyo.

Südafrika Kohlekraftwerk Lethabo: Kühltürme eines Kohlekraftkwerkes im Abendlicht, Rauchschwaden steigen aus den Türmen
Kohlekraftwerk Lethabo in Südafrika: Das Land nutzt hauptsächliche fossile Brennstoffe zur Energiegewinnungnull Themba Hadebe/dpa/AP/picture alliance

Gebiete wie Mpumalanga im Osten des Landes, wo die Kohleverbrennung zur Stromerzeugung ein wichtiger Wirtschaftszweig ist, stechen laut Moyo besonders hervor. Eskom, ein öffentliches Versorgungsunternehmen, dessen einziger Anteilseigner die südafrikanische Regierung ist, betreibt laut Greenpeace viele der umweltschädlichsten Kraftwerke Südafrikas.

Alarmierend findet Moyo, dass keine der Schlussfolgerungen zu den Schadstoffbelastungen in Afrika neu ist: Die Luftverschmutzungskrise in Afrika ist gut dokumentiert, sagt sie. Doch es fehle an Investitionen in saubere Energie. "Wenn die Menschen über Daten verfügen, haben sie eine Stimme, um Veränderungen zu fordern. Wir brauchen eine angemessene Umweltüberwachung, um unsere Regierung und die Verursacher von Umweltverschmutzung zur Rechenschaft zu ziehen."

Ruanda gedenkt der Opfer des Völkermords von 1994

Mehr als eine Million Menschen wurden in Ruanda 1994 zu Opfern - vor allem Angehörige der ethnischen Minderheit der Tutsi, aber auch gemäßigte Angehörige der Hutu-Mehrheit, die versuchten, die Tutsi zu schützen. Während eines 100-tägigen Massakers, das am 7. April begann, wurden sie systematisch von Hutu-Extremisten ermordet

Die Vereinten Nationen organisieren Veranstaltungen, um der Opfer zu gedenken und die Überlebenden zu ehren: "Wir werden die Opfer dieses Völkermordes niemals vergessen", sagte UN-Chef Antonio Guterres in einer Erklärung. "Ebenso wenig werden wir jemals den Mut und die Widerstandskraft derer vergessen, die überlebt haben."

Familienmassaker: ein persönliches Schicksal

Freddy Mutanguha, ein Tutsi, ist einer der Überlebenden. Zum Zeitpunkt des Völkermords war er 18 Jahre alt. Er hatte gerade Schulferien und war in seinem Heimatdorf in der Nähe der Stadt Kibuye, rund 130 Kilometer von Ruandas Hauptstadt Kigali entfernt. Hutu-Extremisten machten dort Jagd auf junge Männer, weil sie sie verdächtigten, mit der Ruandischen Patriotischen Front (RPF) zu sympathisieren, einer hauptsächlich von Tutsi geführten Rebellengruppe unter Paul Kagame, der später Ruandas Präsident werden sollte.

Ruandas Präsident Pasteur Bizimungu (links, im Anzug und Sonnenbrille) und Verteidigungsminister Paul Kagame (rechts, in Militäruniform) sitzen lachend Seite an Seite, die Blicke einander zugewandt, Ellbogen aufgestützt
Rebellenführer Paul Kagame, dessen RPF den Völkermord in Ruanda beendete, galt schon früh als eigentlicher Machthaber - hier im Juli 1994 mit Präsident Pasteur Bizimungunull epa/dpa/picture alliance

Da sie das Schlimmste für ihren Sohn befürchtete, riet ihm seine Mutter, sich im Haus einer Hutu-Familie zu verstecken, deren Sohn mit ihm zur Schule gegangen war. Während Freddy Mutanguha bei seinem ehemaligen Schulfreund in Sicherheit war, musste seine Familie, die sich in einem nahe gelegenen Ort aufhielt, zu anderen Methoden greifen: Um am Leben zu bleiben, bestach sie eine Gruppe von Hutu-Extremisten mit Geld und Alkohol.

Doch am 14. April ging der Familie das Geld aus. Das hatte dramatische Folgen: Die Extremisten ermordeten Freddys Eltern und vier seiner Schwestern - 4, 6, 11 und 13 Jahre alt - auf brutale Weise. "Ich konnte die Schreie meiner Geschwister hören, als sie erbarmungslos getötet wurden", erinnert sich Mutanguha im Gespräch mit der DW. "Sie flehten ihre Angreifer an, ihr Leben zu verschonen, und versprachen, nie wieder Tutsi zu sein, aber vergeblich. Sie warfen meine Schwestern in eine nahegelegene Grube - einige waren noch am Leben - und töteten sie mit Steinen. Meine Eltern wurden mit Macheten hingerichtet."

Nur eine einzige Schwester, Rosette, konnte entkommen und überlebte. Die Mörder suchten auch nach Freddy - er blieb die ganze Zeit in seinem Versteck. "Es wäre Selbstmord gewesen, wenn ich es verlassen hätte", so Mutanguha gegenüber der DW. Neben seinen Eltern und den vier Schwestern hat er durch den Völkermord mehr als 80 Mitglieder seiner Großfamilie verloren.

Fotos von oft jungen Ruanderinnen und Ruandern hängen an Drahtseilen
Das Kigali Genocide Memorial, das Mutanguha leitet, will die Erinnerung an die Völkermordopfer wachhaltennull Ben Curtis/AP Photo/picture alliance

Einige der Mörder von Mutanguhas Angehörigen wurden im Rahmen eines Vergleichs freigelassen. Dieser ermöglichte es den Tätern, nur die Hälfte ihrer Strafe zu verbüßen, wenn sie den Staatsanwälten dafür wichtige Informationen über die Verdächtigen und die Orte lieferten, an denen die Leichen beseitigt worden waren.

Freddy Mutanguha war früher der Vizepräsident von IBUKA, einer Gruppe für ruandische Überlebende des Völkermords. Heute ist er Direktor des Kigali Genocide Memorial, der Gedenkstätte für den Völkermord in Ruandas Hauptstadt - dort sind die Überreste von rund 250.000 Opfern begraben.

Ein schwieriger Heilungsprozess für Überlebende

Trotz der Bemühungen Ruandas, die Versöhnung zwischen Überlebenden und Tätern voranzutreiben, ist der Weg zur Heilung der tiefen Wunden für Menschen wie Mutanguha oder seine Schwester äußerst steinig. "Die Täter sagen oft nicht die ganze Wahrheit. Das behindert die Versöhnungsbemühungen und ist für die Überlebenden beunruhigend", sagt er.

Einer der Mörder seiner Familie zum Beispiel habe viele Informationen zurückgehalten, erklärt er. "Er wurde freigelassen, nachdem er 15 der 25 Jahre, zu denen er verurteilt worden war, abgesessen hatte - und das nur wegen der spärlichen Informationen, die er den Staatsanwälten mitgeteilt hatte", bedauert Mutanguha. "Wir müssen damit leben - denn unsere Angehörigen werden nie wieder zurückkommen."

Trotzdem habe sein Land bedeutende Fortschritte gemacht, räumt Mutanguha ein - eine Ansicht, die er mit Phil Clark teilt. Der Professor für internationale Politik an der Londoner School of Oriental and African Studies (SOAS) hat die Entwicklungen in Ruanda in den letzten 20 Jahren erforscht. 

"Ruanda hat enorme Fortschritte bei der Versöhnung nach dem Völkermord gemacht, wenn man bedenkt, dass Hunderttausende verurteilte Völkermord-Täter heute wieder in denselben Gemeinden leben, in denen sie ihre Verbrechen begangen haben - Seite an Seite mit Überlebenden des Völkermords", so Clark gegenüber der DW. "Die meisten dieser Gemeinschaften sind friedlich, stabil und produktiv." Viele Kommentatoren hätten vorausgesagt, dass Ruanda nach dem Völkermord weitere Zyklen der Gewalt durchlaufen würde - so wie es in den meisten Nachbarstaaten der Fall sei. Doch dem Land sei es gelungen, dieses Schicksal zu vermeiden.

Wie soziale Medien die Versöhnung behindern

Die Überlebenden mussten ihre Gefühle überwinden und mit den Tätern zusammenarbeiten, sagt Mutanguha. Der größte Stolperstein für die Einheit seien die Ruanderinnen und Ruander in der Diaspora: "Sie sind berüchtigt dafür, spaltende Informationen auf sozialen Medien zu verbreiten und an ihre Familien in der Heimat weiterzugeben. Das behindert die Versöhnungsbemühungen - insbesondere unter der Jugend, die nur wenig über die Geschehnisse vor 30 Jahren weiß", so Mutanguha.

Ruandas traumatisierte Männer

Tatsächlich hatten Jahrzehnte der interethnischen Spannungen und Gewalt schon vor dem Völkermord von 1994 mehrere Migrationswellen zur Folge. Viele der Vertriebenen sind nie zurückgekehrt. Die größte Herausforderung für die Versöhnung liege in der ruandischen Diaspora, sagt auch Politikwissenschaftler Clark - also bei den Menschen, die gar nicht selbst an den wichtigen Versöhnungsprozessen in ihrem Heimatland teilgenommen haben. "Die zerstörerischste interethnische Dynamik findet derzeit unter der ruandischen Bevölkerung in Nordamerika, Westeuropa und anderen Teilen Afrikas statt", so Clark. "Diese wirkt auf Ruanda selbst zurück. Die nächste entscheidende Phase der Versöhnung muss in den Gemeinschaften außerhalb Ruandas stattfinden."

Repatriierung ruandischer Flüchtlinge

Die Versöhnung sei ein noch weit entfernter Traum, sagt Victoire Ingabire Umuhoza, die prominenteste Kritikerin von Präsident Paul Kagame. Um sie wirklich zu erreichen, müssten alle ruandischen Flüchtlinge weltweit in die Heimat zurückgeholt werden, findet sie. "Es gibt immer noch viele ruandische Flüchtlinge, vor allem in den Nachbarländern, die repatriiert werden müssen, damit eine echte Versöhnung stattfinden kann", sagte Ingabire in einer Neujahrsbotschaft auf dem YouTube-Kanal ihrer Partei. "Wir leben in Frieden - aber die Versöhnung ist immer noch gering und es herrscht ein tiefes Misstrauen unter den Ruandern", so Ingabire.

"Die ruandische Regierung ist auch besorgt über die Flüchtlinge in den Nachbarländern, die sich entschieden haben, zu den Waffen zu greifen und gegen sie zu kämpfen. Dieses Problem wird niemals enden, wenn wir, die wir im Land sind, uns nicht zuerst vereinen und versöhnen." Ingabire bezog sich dabei auf die Rebellen der Demokratischen Kräfte zur Befreiung Ruandas (FDLR), einer ethnischen Hutu-Rebellengruppe.

Menschen in Uniformen sitzen auf einem Panzer, dicht gedrängt darum laufen Flüchtlinge mit Bündeln auf den Köpfen und Uniformierte
Viele Täter des Völkermords flüchteten sich 1994 ins benachbarte Zaire (heute Kongo)null dpa/picture alliance

Ruandas Präsident Paul Kagame betrachtet die FDLR seit Langem als eine existenzielle Bedrohung für sein Land. Die Gruppe wurde von den USA als terroristische Organisation eingestuft. Die anhaltende Existenz der FDLR, die angeblich von der Regierung im benachbarten Kongo geduldet wird, hat zu Anschuldigungen geführt, dass Ruanda konkurrierende Rebellengruppen wie die M23-Bewegung unterstützt. Ruanda bestreitet, die M23 zu unterstützen.

Das jüngste Wiederaufflammen der Kämpfe im Osten der DR Kongo hat zu ernsthaften Spannungen zwischen Kigali und Kinshasa geführt - einschließlich der Androhung eines Krieges durch den kongolesischen Präsidenten Félix Tshisekedi.

All das deutet darauf hin, dass die Lücken im Versöhnungsprozess auch 30 Jahre nach dem Völkermord in Ruanda eine ernsthafte Sicherheitsbedrohung für die gesamte Region darstellen.

Ein langer Weg: Annäherung, Sinneswandel, Hoffnung

Die Regierung, die Zivilgesellschaft und die Bürger haben zahlreiche Anstrengungen unternommen, um die Ideologie des Völkermords hinter sich zu lassen - doch nicht alle haben den für eine Annäherung erforderlichen Sinneswandel vollzogen.

Wöchentliche Dialogclubs und Vereinigungen auf Gemeindeebene, in denen die Menschen über vergangene und gegenwärtige Konflikte diskutieren, haben den Ruandern entscheidend dabei geholfen, zu heilen und sich positiv zu entwickeln. Die Situation sei heute viel positiver als noch vor fünf oder zehn Jahren, sagt Politikwissenschaftler Clark. "Aber die meisten Ruander, mit denen ich spreche, sagen, dass noch ein langer Weg vor uns liegt."

Freddy Mutanguha weist darauf hin, wie wichtig es ist, weltweit des ruandischen Völkermords zu gedenken: "Die Erinnerung an die Geschehnisse in Ruanda vor 30 Jahren sollte nicht nur für die Tutsi gelten, die den Völkermord überlebt haben, sondern für die ganze Welt. Um daraus zu lernen - denn es war ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit."

Kolonialismus und der Völkermord in Ruanda

Übersetzung aus dem Englischen: Nikolas Fischer

Ruanda: Vom Kolonialismus zum Genozid

"Wir sprechen die gleiche Sprache, teilen die gleiche Kultur, das gleiche Land - was hat uns auseinandergebracht?" Es ist diese grundlegende Frage, die Samuel Ishimwe, ruandischer Filmemacher und Gewinner eines Silbernen Bären der Filmfestspiele Berlinale 2018, umtreibt. Wie wurde der Hass in Ruanda gesät? Von wem? Ab April 1994 wurden innerhalb von 100 Tagen rund eine Million Menschen brutal ermordet, darunter auch die Eltern und ein Großteil der Familie von Samuel Ishimwe.

Ein Familienfoto aus den frühen 1980ern zeigt Familienmitglieder von Samuel Ishimwe und ihre Nachbarn.
Von 10 Geschwistern von Samuel Ishimwes Vater überlebten nur drei den Genozidnull Samuel Ishimwe/DW

Dass er nun ausgerechnet im Auftrag eines deutschen Senders der Frage nach dem "Warum" nachgeht, hat für ihn eine besondere Bedeutung. Wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass Deutschland als erste Kolonialmacht bereits Ende des 19. Jahrhunderts die einheimische Bevölkerung in verschiedene "Rassen" einteilte. Wurde hier der Keim für das spätere Morden gelegt? Während des Völkermords töteten Hutu-Milizen ihre Nachbarn, weil sie der Propaganda glaubten, dass die Minderheit der Tutsi keine Menschen seien.

Bosco Nshimiyimana (Ton), Samuel Ishimwe und Matthias Frickel (Regie), Robert Richter (Kamera), Roméo Dallaire (UN-Mission für Ruanda 1993-1994)
DW-Filmteam (stehend): Bosco Nshimiyimana (Ton), Samuel Ishimwe und Matthias Frickel (Regie), Robert Richter (Kamera) - vorne im Bild: Roméo Dallaire (UN Mission für Ruanda 1993-1994) null Matthias Frickel/DW

Wie Feindbilder entstehen

Im 19. Jahrhundert teilten europäische Wissenschaftler die Menschheit in eine Hierarchie verschiedener Rassen ein. Die "weiße Rasse" galt als die überlegene und fortschrittlichste. Die so genannte "negroide" oder "schwarze Rasse" galt als minderwertig. Der Hamiten-Mythos wurde von den Deutschen nach Ruanda gebracht. Sie sahen in den Tutsi "Hamiten", die aus Nordafrika eingewandert seien und seit Jahrhunderten die angeblich einheimischen Hutu beherrschten. Hamiten, eine "Rasse", die der "weißen Rasse" näher stehe. Sie galten daher als höher entwickelt als die "negroide" Rasse. Dieses Narrativ hielt sich lange Zeit. Und wurde für die Tutsi zum Verhängnis. 

Deutschlands Anteil am Genozid in Ruanda

Die DW-Dokumentation "Reclaiming History - Kolonialismus und Völkermord in Ruanda" untersucht die Rolle des deutschen und belgischen Kolonialismus beim Völkermord an den Tutsi 1994 in Ruanda. Der ruandische Regisseur Samuel Ishimwe, dessen Eltern während des Genozids ermordet wurden, begibt sich auf die Suche nach den Ursprüngen des "Rassenhasses" zwischen Tutsi und Hutu. Die Ausstrahlung des 86-minütigen Dokumentarfilms beginnt am 5. April 2024 im weltweiten DW-Linearprogramm sowie auf den YouTube-Kanälen von DW Documentaries.

Schwarzweiß-Aufnahmen von schwarzen Menschen
Kolonialisten behaupteten, Tutsi seinen eine "fremde Rasse"null Public Domain/Deutsche Digitale Bibliothek

DW-Regisseur Matthias Frickel begleitet Ishimwe auf seiner Reise durch Ruanda, Deutschland und Belgien, wo Historikerinnen und Historiker, Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ihm helfen, seiner Geschichte und der seines Landes auf den Grund zu gehen. So berichtet Roméo Dallaire, ehemaliger Chef der UN-Blauhelmtruppe in Ruanda, wie er 1994 mit ansehen musste, wie die westliche Welt das Morden zuließ. Trotz seiner eindringlichen Warnungen. 

Schädel aus Ruanda nach Deutschland verschleppt

In Deutschland trifft Samuel Ishimwe auf eine Gesellschaft, die mit der Erinnerung an den Holocaust ähnliche Erfahrungen gemacht hat wie die Ruander mit dem Genozid. Dass deutsche Ethnologen 1907/1908 in Ruanda mehr als 900 Schädel für die zu dieser Zeit populäre "Rassenforschung" stahlen, die bis heute in Berliner Institutionen lagern, wird erst jetzt zum Thema.

Eine historische Karte zeigt Schädel im Profil, die Menschentypen nach ihrer Herkunft einteilen sollte.
Die Rassenideologie, die zum Genozid führte, stammt bereits aus der Zeit des deutschen Kolonialismus in Ruandanull Public Domain/Deutsche Digitale Bibliothek

Andre Ntagwabira, Archäologe, Ethnographisches Museum, Huye: "Diese menschlichen Überreste wurden gesammelt, um die Ruander zu klassifizieren und zu beweisen, dass es in Ruanda ethnische Zugehörigkeiten gab. Und die Folge war der Völkermord an den Tutsi". Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, bestätigt die deutsche Verantwortung. Heute stelle sich aber die Frage: "Musste es nach der Einteilung in 'Rassen', die die Deutschen nach Ruanda brachten, 100 Jahre später zum Völkermord kommen?"

Dutzende menschliche Schädel liegen auf der Erde
Schädel von Genozid-Opfern im Nyamata Church Genocide Memorialnull DW

Die Kulturanthropologin Dr. Anna-Maria Brandstetter forscht seit 20 Jahren über und in Ruanda. Sie sagt, der Kolonialismus habe den Grundstein gelegt, greife aber als alleinige Erklärung für den Völkermord zu kurz: "Koloniale Gewalt führt nicht automatisch zu postkolonialer Gewalt wie dem Völkermord an den Tutsi. Man tötet einen Nachbarn nicht, weil man ihn für einen Tutsi oder Hutu hält. Man tötet ihn, weil er nicht mehr als Mensch angesehen wird."

Belgier schürten den Hass zwischen Hutu und Tutsi

Wie die Belgier als spätere Kolonialmacht den Hass zwischen Hutu und Tutsi schürten, um ihre Herrschaft zu erhalten, erfährt Ishimwe in Brüssel und Lüttich. Der ruandische Historiker Dantès Singiza, der dort über die belgische Kolonialherrschaft forscht, zeigt ihm Dokumente, die die rassistische Politik der Belgier in Ruanda belegen. 1932 führte Belgien einen Personalausweis ein, der eine "Rassentrennung" zementierte, die es laut Historikern vorher nicht gegeben hatte. Von nun an war man dauerhaft Tutsi, Hutu oder Twa. Aus durchlässigen sozialen Kategorien wurden in der Kolonialzeit feste ethnische Kategorien. Samuel Ishimwe: "Es hat mich schockiert, dass das alles kein unschuldiger Fehler der Kolonialmächte war. Es gab eine systematische Absicht, diese Ideologie zu verbreiten und die Menschen zu spalten. Sie haben hart daran gearbeitet, bis die Ruander glaubten, sie seien wirklich anders."

Wie kann man mit diesem schwierigen Erbe umgehen? Die Traumatherapeutin Esther Mujawayo-Keiner gibt Ishimwe einen Hinweis: "Wir müssen darüber reden, wir dürfen dem Thema nicht ausweichen. Aber wie soll man darüber reden? Schweigen ist gefährlich. Aber auch Reden kann gefährlich sein. Es kommt darauf an, wie man redet." Sie hat den Völkermord an den Tutsi überlebt und arbeitet seit 20 Jahren in Deutschland.

Gibt es eine Zukunft der Erinnerung in Ruanda?

Zurück in Ruanda trifft Ishimwe verurteilte Völkermörder und ihre Opfer, die heute in einem Versöhnungsdorf zusammenleben: "Ich weiß, dass wir Ruander eine große Verantwortung dafür tragen, dass wir uns gegenseitig hassen und dass es zum Völkermord gekommen ist. Wir Ruander haben den Genozid begangen. Niemand sonst hat es getan. Aber der Hass und die Ideologie dahinter sind Ideen, die vor allem während der belgischen Kolonialzeit gewachsen und kultiviert worden sind." Ishimwe fragt sich, wie die Zukunft der Erinnerung aussehen kann.

Kongos erste Regierungschefin vor großen Aufgaben

Mehr als drei Monate nach der Präsidentschaftswahl hat die Demokratische Republik Kongo eine neue Premierministerin: Der für eine zweite und letzte Amtszeit wiedergewählte Präsident Félix Tshisekedi hat Judith Suminwa Tuluka am Ostermontag offiziell ernannt. Seit das Land im Jahr 1960 unabhängig wurde, ist sie die erste Frau, die eine Regierung leitet. Tuluka war bereits ein Jahr lang Planungsministerin unter ihrem Vorgänger Jean-Michel Sama Lukonde. Das Planungsministerium ist für die wirtschaftliche und soziale Entwicklungspolitik des Landes zuständig. Lukonde, der die Regierung seit Februar 2021 leitete, hatte im Februar seinen Rücktritt eingereicht.

Demokratische Republik Kongo Stadt Kinshasa Panorama Freies Format
Kongos Megastadt Kinshasa ist auch die Hauptstadtnull AP

Tuluka, 56, stammt aus Zentralkongo, der Provinz von Joseph Kasavubu, der von 1960 bis 1965 der erste Präsident des Landes war. Sie besitzt einen Master-Abschluss in angewandten Wirtschaftswissenschaften der Freien Universität Brüssel und ein Diplom für Zusatzstudien im Bereich Personalmanagement in Entwicklungsländern.

Enge Vertraute von Präsident Tshisekedi

Die neue kongolesische Regierungschefin arbeitete im Bankensektor, bevor sie zum Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) wechselte. Dort war sie Koordinatorin der Säule "Friedenskonsolidierung und Stärkung der Demokratie".

Tuluka ist Mitglied der "Union pour la Démocratie et le Progrès Social" (UDPS), der sozialliberalen Partei von Félix Tshisekedi. Die enge Vertraute des Präsidenten war Expertin in einem nationalen Projekt zur Unterstützung der Gemeinschaft im Osten der Republik. Anschließend arbeitete sie im Finanzministerium und später als stellvertretende Koordinatorin des "Conseil présidentiel de veille stratégique" (CPVS), eines Gremiums, das den Präsidenten in strategischen Fragen berät.

Kongos Regierungschefin: ermutigendes Beispiel für viele Frauen

Vor allem bei den Frauen in der DR Kongo hat die Ernennung Tulukas zur neuen Premierministerin viele zufriedene Reaktionen hervorgerufen, wie die DW in der Hauptstadt Kinshasa erfuhr.

DRK Jean-Michel Sama Lukonde und Félix Tshisekedi
Tuluka Suminwas Vorgänger Jean-Michel Sama Lukonde (links) hatte seinen Rücktritt eingereichtnull Giscard Kusema/Press Office Presidency DRC

"Ich hoffe sehr, dass es auf jeden Fall neue Dinge geben wird, gute Dinge", sagt etwa die Studentin Sefora Wameh. "Es gibt Männer, die sagen, dass Frauen nicht können, was sie tun. Aber ich glaube fest daran, dass wir Frauen dieses Mal die Möglichkeit haben, es besser zu machen als die Männer".

Antomiss Mangaya, Staatsbeamtin im Ministerium für Grund- und Sekundarschulbildung, stimmt zu. Auch sie fühlt sich ermutigt und wünscht sich positive Veränderungen durch Tuluka: "Sie ist ein sehr gutes Beispiel für uns Frauen. Das ist sehr zu loben. Da es das erste Mal ist, soll sie es besser machen als die Person, die vor ihr da war. Sie soll viel arbeiten und uns zeigen, dass Frauen das auch können".

Anhaltende Gewalt an der Grenze zu Ruanda im Ostkongo

Tulukas Ernennung erfolgt in einer Zeit, in der die Sicherheitslage im Osten des Landes, der an Ruanda grenzt, nach wie vor äußerst schwierig ist: Rebellen der sogenannten M23 (Bewegung des 23. März), eine von weit über 100 bewaffneten Gruppen im rohstoffreichen Osten des Kongo, kämpfen dort gegen die kongolesische Armee - in den vergangenen Wochen sind sie der Regionalhauptstadt Goma schon sehr nahe gekommen, einige Ortschaften werden noch immer von den Rebellen kontrolliert.

Die diplomatischen Beziehungen der Nachbarländer DR Kongo und Ruanda sind angespannt: Die Regierung in Kinshasa, die Vereinten Nationen und westliche Länder beschuldigen Ruanda seit Jahren, die M23-Rebellen zu unterstützen, um die lukrativen Bodenschätze der Region zu kontrollieren - Kongo verfügt unter anderem über Diamanten, Kupfer und Gold.

DR Kongo | Die Goldmine Nzani-Kodo in der Provinz Ituri
Goldmine in der Provinz Ituri: Der Osten des Kongo ist besonders rohstoffreichnull Marcus Loika/DW

Die Regierung in Kigali hat die Vorwürfe wiederholt bestritten, doch UN-Experten haben Beweise für ruandische Eingriffe im Kongo gefunden. Das US-Außenministerium hat Ruanda aufgefordert, seine Truppen und Boden-Luft-Raketensysteme aus dem Osten Kongos abzuziehen. Das ruandische Außenministerium hat erklärt, die Truppen würden ruandisches Territorium verteidigen, da der Kongo eine "dramatische militärische Aufrüstung" in Grenznähe durchführe. Von einer Bedrohung der nationalen Sicherheit war die Rede.

Schwere humanitäre Krise im Osten des Kongo

Nach Angaben der Vereinten Nationen hat der schon lange andauernde Konflikt bereits mehr als sieben Millionen Menschen vertrieben. Das macht ihn zu einer der schlimmsten humanitären Krisen der Welt - und zur größten Herausforderung, der sich die neue Premierministerin stellen muss. Dafür wird sie nun ein Kabinett zusammenstellen, in dem sie die Kräfte der "Union sacrée de la nation" (USN) zu bündeln versucht, der seit Dezember 2020 bestehenden Mehrparteien-Koalition im Parlament der DR Kongo.

Demokratische Republik Kongo |  Geflüchtete in Minova
Der Vormarsch der M23-Rebellen im Ostkongo hat hunderttausende Menschen in die Flucht getriebennull ALEXIS HUGUET/AFP

Bis die neue Regierung gebildet ist und die Ministerposten verteilt sind, könnten allerdings Monate vergehen - der Prozess erfordert nämlich intensive Verhandlungen mit den verschiedenen politischen Parteien.

Die Erwartungen an Judith Suminwa Tuluka sind hoch. Laurette Mandala Kisolokele, Beraterin im Ministerium für regionale Integration, zeigt sich dennoch optimistisch. Denn die Themen und Probleme seien für die Spitzenpolitikerin ja nicht neu: "Sie kennt die Sicherheitslage im Osten des Landes. Was wir jetzt von ihr wollen, ist, dass sie kluge Entscheidungen bei ihren Mitarbeitern trifft, damit sie sie effektiv begleiten und wir die unsichere Situation im Osten des Landes beenden können."

"Meine Gedanken gehen in den Osten"

In ihrer ersten Rede im staatlichen Fernsehen nach ihrer Ernennung versprach die neue Ministerpräsidentin, sich für Frieden und Entwicklung einzusetzen: "Meine Gedanken gehen in den Osten und in alle Ecken des Landes, die heute mit Konflikten mit - manchmal versteckten - Feinden konfrontiert sind", sagte Judith Suminwa Tuluka. "Ich denke an all diese Menschen, und mein Herz schlägt für sie."

Immer mehr Flüchtlinge in der DR Kongo

Nachhaltige Mobilität: Grüne Hoffnung in Afrika

An den zwölf Zapfsäulen am Rasthof herrscht reger Betrieb: Ständig kommen neue Autos vom Highway N3, der die südafrikanische Hafenstadt Durban mit der Metropolregion Johannesburg verbindet. Etwas abseits hinter den Zapfsäulen, unter einem grünen Sonnensegel, ist hingegen nichts los: Hier steht ein Ladeterminal für Elektroautos bereit.

Benzindurst, aber Elektro-Flaute - das ist ein Bild, das sich auch anderswo in Afrika fortsetzt. Dabei ist im teils wohlhabenden Südafrika die Abdeckung mit E-Ladesäulen noch vergleichsweise dicht, auch wenn dort Stromabschaltungen an der Tagesordnung sind. Von Dakar bis Daressalam, von Kairo bis Kapstadt ist Mobilität weiter vom Verbrennungsmotor abhängig - häufig unter der Motorhaube von alternden Gebrauchtwagen. Doch die Mobilität in Afrika verändert sich, wenn auch nicht unbedingt in Richtung klassischer Pkw mit Elektroantrieb.

Eine Ladesäule auf einem gepflasterten Parkplatz
Einsame Ladesäule am Rasthof - die Elektromobilität entwickelt sich in Afrika anders als im globalen Nordennull David Ehl/DW

Trend zu Motorrädern und Tuk-Tuks - und zwar gerne elektrisch

Genaue Zahlen, wie viele Autos in Afrika unterwegs sind, gibt es nicht - Schätzungen liegen zwischen 26 und 38 Millionen Pkw. Tendenz steigend: "Es gibt eine riesige Nachfrage nach Autos", sagt Godwin Ayetor, Dozent an der Kwame Nkrumah University of Science and Technology (KNUST) im ghanaischen Kumasi. "Aber im Vergleich zwischen Autos und Motorrädern verschiebt sich die Nachfrage von Vierrädern zu Zweirädern, die sich eine kleine Familie eher leisten kann. Und sie kommen besser durch Stau und Buckelpisten. Auch Wartungsaufwand und Treibstoffkosten sind niedriger", sagt Ayetor im Gespräch mit der DW. Eine ähnliche Entwicklung lasse sich auch bei Dreirädern beobachten - wegen ihres Motorengeräuschs auch besser bekannt als Tuk-Tuks.

Elektrisch mobil in Nairobi

Insbesondere bei den Motorrädern verstärkt sich derzeit ein Trend hin zu Elektroantrieb. Eines von ihnen fährt Thomas Omao, der als einer von zehntausenden gewerblichen Motorradfahrern in Nairobi unterwegs ist.

Thomas Omao sitzt auf seinem modernen Motorrad, im Hintergrund sind viele ältere Modelle abgestellt
Thomas Omao fährt in Nairobi ein elektrisches Motorrad von ARC Ride - und konnte dank besserer Verdienstmargen bereits ein zweites kaufennull David Ehl/DW

Mit seinem elektrischen Boda-Boda fährt er Essen für verschiedene Lieferdienste aus - und klingt hoch zufrieden: "Ein großer Vorteil ist, dass Elektro-Motorräder sehr angenehm zu fahren sind", sagt er der DW. Dazu sei es sehr kostengünstig: "Ein Freund von mir fährt ein Boda-Boda mit Benzin. Er gibt jeden Tag 1000 Shilling (derzeit umgerechnet 6,90 Euro) beim Tanken aus. Mich kostet der Strom 400 Shilling. Ich spare also gegenüber dem Kollegen 600 Shilling pro Tag." Von seinen Ersparnissen hat Omao im Januar ein zweites Motorrad gekauft und beschäftigt nun einen Angestellten.

Omao nutzt die Technologie des Start-ups ARC Ride. Das Motorrad hat er gekauft, für die Akkus nutzt er eine Leih-Flatrate. Für den Batteriewechsel, der kaum eine Minute dauert, sind knapp 80 Ladeschränke in der kenianischen Hauptstadt verteilt. "Am meisten machen sich die Leute Sorgen um die Reichweite", sagt Felix Saro-Wiwa, der bei ARC Ride für die strategische Entwicklung zuständig ist. "Deshalb haben wir so viele Ladeschränke aufgestellt. In der ganzen Stadt ist man niemals weiter als drei bis vier Kilometer vom nächsten Schrank weg." Ziel seien maximal zwei Kilometer - also eine ähnliche Dichte wie bei Tankstellen.

Felix Saro-Wiwa steht vor einem weißen Schrank mit nummerierten Türen; er hält einen Motorradhelm in der Hand
Felix Saro-Wiwa vor einem der Ladeschränke seines Arbeitgebers - statt Reichweitenangst geht der Batteriewechsel mit wenigen Handgriffen über die Bühnenull David Ehl/DW

In diesem Jahr will das junge Unternehmen in zwei weitere Städte der Region expandieren. Und es ist dabei nur eins von vielen Anbietern in ganz Afrika, die Wechselbatterien für Motorräder zum Leihen anbieten. Für Godwin Ayetor ist dieses Konzept zukunftsweisend: "Die Start-ups verkaufen elektrische Zweiräder ohne den Akku - und das reduziert den Kaufpreis für die Besitzer. Die mieten die Batterie dauerhaft. Bisher funktioniert das sehr gut."

Gebrauchtwagen drängen auf den Markt

Dennoch nehmen Elektro-Bodas in der riesigen Motorrad-Flotte afrikanischer Länder vorerst weiter eine Nische ein - für die Mobilität vieler Afrikanerinnen und Afrikaner sind Autos unverzichtbar.

In den Werken des Kontinents laufen Jahr für Jahr Hunderttausende neue Autos vom Band. Die sind allerdings zu großen Teilen für den Export bestimmt - so verschifft Großproduzent Südafrika zwei Drittel seiner Produktion nach Übersee.

Insgesamt spielen Neuwagen jedoch eine untergeordnete Rolle. Im Schnitt sind laut Schätzungen der UN-Umweltorganisation UNEP sechs von zehn in Afrika neu zugelassenen Fahrzeugen importierte Gebrauchtwagen. Mit starken Schwankungen: In Kenia liegt die Quote sogar bei 97 Prozent, Südafrika beispielsweise verbietet den Import von gebrauchten Autos.

Dabei haben viele afrikanische Regierungen Höchstalter festgesetzt, die Autos beim Import nicht überschreiten dürfen. In Kenia liegt die Grenze bei acht Jahren, so dass die meisten Wagen zum Zeitpunkt des Imports sieben Jahre alt sind. Das benachbarte Uganda hingegen zieht die Grenze erst bei 15 Jahren, Ruanda sogar gar keine. Das führt dazu, dass die Autos dort im Schnitt wesentlich älter sind - und laut einer UNEP-Studie im Schnitt ein Viertel mehr Benzin als in Kenia verbrauchen und folglich mehr CO2 ausstoßen.

Importverbote sind keine Lösung

In Ghana verschärfte die Regierung 2020 die Einfuhrbedingungen: Sie führte ein generelles Alterslimit von zehn Jahren ein; auch Unfallwagen dürfen nicht mehr importiert werden. Gleichzeitig befreite sie Neuwagen oder Autoteile für die heimische Produktion von Einfuhrzöllen. "Die Regierung glaubte, das würde den Preis von Neuwagen reduzieren, so dass Ghanaer sich neue statt gebrauchte Autos leisten könnten", sagt Ayetor.

Festival Boateng erforscht an der britischen Oxford University Gesetzgebung rund um Mobilität. Aus seiner Fallstudieüber Ghana schlussfolgert er: "Wenn man Importe von Gebrauchtwagen verbietet, haben die Menschen nicht plötzlich mehr Geld, um Neuwagen zu kaufen. Aber sie müssen mobil sein. Dadurch verschieben sich Angebot und Nachfrage auf den Schwarzmarkt", sagt Boateng im Gespräch mit der DW.

Nicht nur regionale Zwischenhändler waren perplex, als die äthiopische Regierung Ende Januar einen sofortigen Import-Stopp für Autos mit Verbrennungsmotor verkündete. Und das, obwohl Elektroautos derzeit noch verhältnismäßig teuer sind und ohnehin nur die Hälfte der Bevölkerung Zugang zu Elektrizität hat. Mitte März ruderte die Regierung zurück, so dass wieder Verbrenner eingeführt werden können.

Elektrischer Druck aus dem Globalen Norden

Als eines der ersten afrikanischen Länder stellte Kenia 2020 einen Ausbauplan vor: Bis 2025 sollen mindestens fünf Prozent der importierten Fahrzeuge elektrisch angetrieben werden.

Kenias Präsident William Ruto ist gerade aus einem gelben Elektroauto gestiegen und wird von einem Mann im Anzug begrüßt
Kenias Präsident William Ruto (l.) gibt sich als Transformations-Vorreiter - als Gastgeber des Afrika-Klimagipfels im September fuhr er medienwirksam im Elektroauto aus kenianischer Produktion vornull Simon Maina/AFP

Über kurz oder lang dürfte sich das Gebraucht-Angebot auch in Afrika stärker auf E-Autos umstellen. Denn die Gebrauchtwagen für den afrikanischen Markt kommen hauptsächlich aus dem globalen Norden - und dort soll sich die Mobilität zugunsten des Klimas verändern: Die EU hat neue Autos mit Verbrennungsmotor ab 2035 verboten; dasselbe Datum gilt in Großbritannien und dem bevölkerungsreichsten US-Bundesstaat Kalifornien. Gerade erst haben die USA strengere Schadstoffgrenzwerte verhängt, die ebenfalls die E-Mobilität ankurbeln dürften.

Rollt also die Verkehrswende durch die Hintertür auf Afrika zu? "Wir gehen nicht davon aus, dass Europa oder die USA alle Elektrifizierungs-Ziele direkt erreichen werden", sagt Godwin Ayetor, der auch dem Technischen Komitee für Fahrzeug-Standards in Ghana vorsitzt. "Aber ich glaube, wir müssen uns dafür wappnen. Und das Thema Gebrauchtwagen wird auch in Zukunft bleiben."

Zwischen Spritschluckern, Elektro-Motorrädern und radikaleren Ideen

Doch noch sind weite Teile Afrikas nicht auf E-Autos eingestellt: Mechanikern fehlt das nötige Spezialwissen, für Ersatzteile wie Batterien existieren schlicht keine Lieferketten, nicht einmal Afrika-weit einheitliche Standards für Ladestecker gibt es. Vielerorts mangelt es auch an Investitionen in Ladeinfrastruktur - als der Ölkonzern Shell im März große Pläne für ein mehr oder weniger weltweites Ladenetz präsentierte, tauchte Afrika darin nicht auf. Und so setzt der Kontinent vorerst weiter auf gebrauchte Verbrenner - oder eben die neuartigen Elektro-Motorräder und Tuk-Tuks mit Wechselbatterien.

E-Motorrad-Taxis schonen den Geldbeutel

Aus Sicht von Festival Boateng eröffnet der aufkeimende Wandel aber noch Möglichkeiten, andere Probleme mit zu lösen: "Wir haben sehr viele Verkehrsunfälle, Staus und andere Probleme. Der Umstieg auf elektrische Fahrzeuge ändert daran nichts. Wir brauchen ein Gesamtkonzept, das Investitionen in öffentlichen Personenverkehr berücksichtigt. Solche Investitionen könnten dabei helfen, die Notwendigkeit für Autos zu verringern."

So baut die senegalesische Hauptstadt Dakar gerade ein elektrisch betriebenes Busliniennetz auf. Die erste Phase läuft bereits, bis nächstes Jahr soll das Projekt auf rund 120 Busse anwachsen, die nachts geladen werden. Sie fahren dann teilweise auf eigenen Spuren - vorbei am Stau der Autos.

Tunesien: Harter Kurs gegen Oppositionelle und Kritiker

Wann genau werden sie stattfinden, welche Kandidaten werden teilnehmen? Noch sind mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen in Tunesien mehrere Fragen offen. Festgelegt sind diese auf den Zeitraum zwischen September und Dezember dieses Jahres, doch ein konkretes Datum ist noch nicht bekannt. Ebenso ist noch nicht ganz klar, ob der amtierende Staatspräsident, Kais Saied, sich noch einmal zur Wahl stellen wird. 

Dass er dies tun wird, gilt aber allgemein als wahrscheinlich. Als Indiz dafür gilt manchen Beobachtern der Umstand, dass der tunesische Staat unter der Herrschaft des seit 2021 zunehmend autokratisch regierenden Said verschärft gegen Journalisten, politische Gegner und die Zivilgesellschaft vorgeht. 

"Die jüngste Repressionswelle steht offenbar in engem Zusammenhang mit den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in Tunesien", sagt Marwa Murad, Sprecherin der Schweizer Menschenrechtsorganisation Komitee für Gerechtigkeit, der DW. Durch die Unterdrückung der Zivilgesellschaft und die Einschränkung der Meinungs- und Vereinigungsfreiheit wolle Saied seine Macht festigen und seine Autorität gegen mögliche Anfechtungen im Vorfeld der Wahlen verteidigen.

Ähnlich sieht es Lamine Benghazi vom Thinktank Tahrir Institute for Middle East Policy in Washington. "Das mit der Überwachung der Wahlen beauftragte Wahlgremium hat seine Unabhängigkeit verloren. Darum ist das Wahljahr in Tunesien von Angst, Unterdrückung und fehlender Rechtsstaatlichkeit geprägt."

Unabhängige Gremien seien demontiert, die Unabhängigkeit der Justiz eingeschränkt worden, so Benghazi. Ein großer Teil der politischen Opposition sei inhaftiert oder sehe sich Prozessen gegenüber, sagt Benghazi. Zudem unterlägen die Medien einer drakonischen Zensur. Darum gebe es ernsthafte Sorgen, dass Saied die Zivilgesellschaft noch stärker unter Druck setzen könnte, so Benghazi.

Protestierende mit tunesischen Fahnen gegen Kais Saied in Tunis
Es gibt immer wieder Proteste gegen Tunesiens Präsident Saied - so wie hier im Januar in der Hauptstadt Tunisnull Hasan Mrad/DeFodi Images/picture alliance

Journalisten verhaftet und zum Schweigen gebracht

Erst kürzlich verhaftete die tunesische Staatsanwaltschaft den beliebten TV-Journalisten und Saied-Kritiker Mohamed Boughalleb. Zuvor war er von einer Einheit für Cyberkriminalität verhört worden.

Lokalen Medien zufolge hatte eine Mitarbeiterin des tunesischen Ministeriums für religiöse Angelegenheiten Boughalleb in Facebook-Posts beschuldigt, er habe "ihre Ehre und ihren Ruf" beschädigt.

"Die Inhaftierung von Mohamed Boughalleb spiegelt eine systematisch betriebene Politik wider, die darauf zielt, Journalisten zum Schweigen zu bringen und rechtliche Verfahren zu verletzen", sagt Ziad Dabbar, Leiter des tunesischen Journalistenverbandes, der DW. Die Inhaftierung verstoße gegen das tunesische Pressegesetz.

Angriff auf die Meinungsfreiheit

Auch die in der Schweiz ansässige Menschenrechtsorganisation Euro-Med Human Rights Monitor zeigt sich zunehmend besorgt über das, was sie als "gefährliche Ausweitung der staatlichen Repression in Tunesien" bezeichnet. Mit ihrer Erklärung reagiert die Organisation auf einen weiteren Fall, in dem der tunesische Staat gegen Journalisten vorgeht: Ghassan Ben Khalifa, Chefredakteur der Website Inhiyaz, wurde zu sechs Monaten Haft verurteilt. Ihm wurde vorgeworfen, hinter einer Facebook-Seite zu stehen, die sich gegen Kais Saied richte.

Ebenso zeigt sich die Menschenrechtsorganisation besorgt über die Vorladung von Lotfi Mraihi, dem Generalsekretär der Partei der Republikanischen Volksunion. Er hatte kurz zuvor in einem privaten Radiosender den Präsidenten kritisiert.

"Das gezielte Vorgehen gegen Mraihi ist ein Beispiel für das seit zwei Jahren anhaltende systematische Vorgehen der Regierung gegen Persönlichkeiten aus der Politik", so Euro-Med Human Rights Monitor. Dies gelte insbesondere für die Zeit vor den Präsidentschaftswahlen. 

Tunis: gegen die Politik von Präsident Kais Saied, April 2023 - mehrere Personen vor einem Gebäude, mehrere recken Hände oder Fäuste hoch oder halten Papptafeln mit Aufschriften und Fotos von (inhaftierten) Personen
Die Unzufriedenheit mit dem Präsidenten ist in Teilen der Bevölkerung groß, während viele andere ihn gleichzeitig unterstützen: Demonstration gegen Kais Saied in Tunis, April 2023 null Hasan Mrad/DeFodi Images/picture alliance

Allerdings genieße die Regierung Saied weiterhin sichtbare Zustimmung in der Bevölkerung, sagt Uta Staschewski, Leiterin des Tunis-Büros der deutschen Hanns-Seidel-Stiftung, im DW-Gespräch. Vieles deute darauf hin, dass die Politik des Präsidenten bei einem bedeutenden Teil der Bevölkerung gut ankomme. Andere hingegen gingen zuletzt gegen den Präsidenten auf die Straße.

Aufschwung trotz Repression in Tunesien

Saied selbst legitimiert seine Herrschaft mit dem Hinweis, dass die Wirtschaft sich stabilisiere. So konnten Angaben der Regierung zufolge die Auslandsschulden abgebaut werden, und zwar ohne Inanspruchnahme internationaler Kredite. Da zudem der Tourismus wieder das Niveau von vor der Corona-Pandemie erreicht habe, sei das Geschäftsklima positiv. Zudem sank nach Angaben des tunesischen Statistikamtes die Inflation im März 2024 weiter auf 7,8 Prozent.

Einem kürzlich erschienenen Bericht der Financial Times zufolge plant die Europäische Union, den tunesischen Sicherheitskräften über einen Zeitraum von drei Jahren bis zu 164,5 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen. Die Mittel stehen im Zusammenhang mit einem 2023 vereinbarten Migrationsabkommen.

Ein überfülltes kleines Boot mit über 40 Flüchtlingen nahe der tunesischen Hafenstadt Sfax, 2023
Im Rahmen des Migrationsabkommens mit der EU fangen die tunesischen Behörden nach Europa startende Boote mit Flüchtlingen abnull Hasan Mrad/ZUMA Wire/IMAGO

Kritiker weisen jedoch darauf hin, dass das Wirtschaftsmodell des Landes trotz der wirtschaftlichen Stabilisierung nicht reformiert worden sei. "Man kann von einem Auseinanderdriften der offiziellen Narrative und der gelebten Realität sprechen", so Staschewski. Offiziell werde seitens der Regierung immer wieder von einer wirtschaftlichen Erholung gesprochen. Das treffe zu einem gewissen Teil auch zu. "Aber für die Menschen auf der Straße ist dies eher weniger spürbar."

Wahlkampf und Wirtschaft 

Anfang März noch gingen viele Tunesier auf die Straße, um gegen ihren sich verschlechternden Lebensstandard zu protestieren. Die Fähigkeit des Staates, seine Auslandsschulden bis 2023 zu bedienen, gehe zu Lasten der Bevölkerung und habe zu einer Verknappung von Grunderzeugnissen geführt, sagte der Vorsitzende des tunesischen Gewerkschaftsbundes (UGTT), Noureddine Taboubi, kürzlich auf einer Kundgebung.

Die Kandidaten für das Präsidentschaftsamt werden also auch erklären müssen, wie sie den wirtschaftlichen Druck von Land und Bevölkerung zu nehmen gedenken. Unter anderem daran dürften sie am Wahltag wesentlich gemessen werden.

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

Menschenschmuggel hat Hochkonjunktur in Tunesien

Senegal: Wandel nach dem Wahlsieg von Diomaye Faye?

Der "Neue" an der Spitze des Staates hat vor allem bei der jungen Wählerschaft Hoffnungen auf Veränderungen im Senegal geweckt: Im Wahlkampf bezeichnete sich Bassirou Diomaye Faye als "Kandidat für den Systemwechsel" und als Vertreter eines "linken Panafrikanismus".

Mit seinen Vorschlägen für währungspolitische Reformen und die Neuverhandlung von Öl-, Gas- und Bergbauverträgen begeisterte er seine Anhänger. "Ich verpflichte mich, mit Bescheidenheit und Transparenz zu regieren", sagte Faye in seiner ersten Rede nach der Wahl zum Präsidenten des Landes.

Senegals gewählter Präsident Bassirou Diomaye Faye spricht mit erhobener Hand vor einem Pult, mit der Landesflaage im Hintergrund
Wahlsieger Faye sagte Korruption den Kampf an und will mehr Transparenz in seiner Regierung zeigennull Luc Gnago/REUTERS

Die "Souveränität Senegals" müsse wieder gestärkt werden. Analysten sehen darin die Absicht Fayes, den Senegal von den westlichen Mächten, insbesondere dem ehemaligen Kolonialherren Frankreich, zu distanzieren. Dazu gehört auch die Abschaffung des CFA-Franc, der streng von der französischen Zentralbank kontrolliert wird und an den Euro gekoppelt ist. 

"Die erste Veränderung, die bereits stattfindet, ist die Abkehr von der politischen Klasse, die rücksichtslos, sehr hart und gewalttätig mit unseren Bürgern und Institutionen umgegangen ist", sagte Hawa Ba, Abteilungsleiterin bei Open Society-Africa im Senegal, im DW-Interview.

Laut Ba ist die Wiederherstellung der demokratischen Institutionen die wichtigste Aufgabe, die jetzt von Faye erwartet wird. "Die Macht des Präsidenten zu beschneiden und die Bürger an die Spitze der Regierungsprozesse zu stellen."

"Ohne Sonko kein Diomaye"

Oppositionsführer Ousmane Sonko, der Fayes Kandidatur unterstützt hat, fordert entsprechende Reformen schon lange. Der 44-jährige Faye scheint seine politische Linie fortzusetzen. Wahlplakate mit dem Slogan "Diomaye ist Sonko" zeigen Sonko und Faye Seite an Seite. Beide Politiker waren die führenden "Köpfe" der senegalesischen Oppositionsbewegung.

Bei den Präsidentschaftswahlen am 24. März durfte jedoch nur einer kandidieren - Sonko war wegen einer Verurteilung in einem Verleumdungsprozess ausgeschlossen worden. Bassirou Diomaye Faye trat als unabhängiger Kandidat an, nachdem er sich mit dem charismatischen Oppositionsführer zusammengetan hatte. Sie war von den senegalesischen Behörden aufgelöst worden.

Präsidentschaftswahlen I Amadou Ba, Kandidat der Regierungspartei, sitzt im weißen Hemd vor zahlreichen Mikrofonen der Presse und spricht
Der Kandidat der Regierungspartei, Amadou Ba, gestand noch vor der Verkündung der offiziellen Wahlergebnisse seine Niederlage einnull Luc Gnago/REUTERS

Nach dem vorläufigen Endergebnis hat Faye 54,28 Prozent der Stimmen erhalten. Sein Hauptkonkurrent, der 62-jährige Amadou Ba, konnte 35,79 Prozent der Stimmen auf sich vereinen, eine deutliche Niederlage für die Regierungspartei "Allianz für die Republik". Der bisherige Premierminister Ba war mit Unterstützung des noch amtierenden Präsidenten Macky Sall angetreten.

Für die Analystin Hawa Ba - die mit dem Wahlverlierer nicht verwandt ist - war Ousmane Sonko ein wichtiger Teil dieses Puzzles, denn er sei der Kopf hinter dem Erfolg der Opposition: "Seine Vision, Führungsstärke und unerschütterliche Unterstützung für Präsident Faye in den letzten zehn Tagen des Wahlkampfes haben zum Wahlsieg geführt. Ohne Sonko gibt es keinen Diomaye."

Sonko, der Königsmacher

Auch für Ismaila Diack, Jurist und Projektleiter bei der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Dakar, ist die Wahl des Oppositionskandidaten vor allem auf Sonko zurückzuführen: Junge Senegalesen verehrten ihn als Kritiker elitärer Politiker und als Verfechter der Korruptionsbekämpfung, sagt er. "Das Volk hat offiziell für Bassirou Diomaye Faye gestimmt, aber das geschah mit der Garantie von Ousmane Sonko", sagte Diack der DW. Sonko habe die Kampagne wirklich getragen und das gesamte politische Projekt unterstützt.

Senegal Dakar | Anstehende Wahlen | Anhänger von Ousmane Sonko und Wahlsieger Diomaye Faye halten Plakate mit den Porträts beider Politiker
Junge Senegalesen stimmten für den Oppositionskandidaten Faye, der von seinem Parteifreund Ousmane Sonko unterstützt wirdnull Muhamadou Bittaye/AFP/Getty Images

Sonko wurde im Juni 2023 wegen Verleumdung verurteilt - aus seiner Sicht ein Komplott, um ihn von den Präsidentschaftswahlen auszuschließen. Bereits zuvor lieferte er sich seit 2021 einen erbitterten Machtkampf mit Präsident Macky Sall, der nach zwei Amtszeiten nicht mehr kandidieren durfte. Sall hatte aber den für den 25. Februar gesetzten Wahltermin kurzfristig verschoben. Der Verfassungsrat lehnte diesen Schritt jedoch ab und forderte einen zeitnahen Termin. Die Amtsübergabe findet somit wie vorgesehen am 2. April statt.

Vom Gefängnis in den Präsidentenpalast

Sonko ist Gründer und Vorsitzender der PASTEF-Partei. Faye, der bei der Gründung 2014 zunächst als Gast dabei war, stieg schnell zu einer der wichtigsten Persönlichkeiten der Partei auf. Als Absolvent der Ecole Nationale d'administration arbeitete er in der Generaldirektion für Steuern und Immobilien.

Dort lernte er Sonko kennen. Doch der wurde 2016 aus dem Staatsdienst entlassen, nachdem er Präsident Sall und seine "Entourage" der Unterschlagung bei der Verwaltung der natürlichen Ressourcen des Landes beschuldigt hatte.

Senegal | Präsidentschaftswahl. Ousmane Sonko gibt seinen Stimmzettel im Wahllokal Zinguinchor ab
Oppositionsführer Ousmane Sonko durfte nicht als Kandidat zur Präsidentenwahl antreten, ist aber weiterhin populär bei seinen Anhängernnull Muhamadou Bittaye/AFP

Nach Sonkos Verhaftung wurde Faye Generalsekretär der "Partei Afrikanische Patrioten Senegals für Arbeit, Ethik und Brüderlichkeit" (PASTEF) und Ersatzkandidat für Sonko. Nach der Ungewissheit über eine mögliche Kandidatur Sonkos bei den Präsidentschaftswahlen 2024 unterstützte PASTEF Faye als ihren Kandidaten im November 2023, obwohl auch er seit April 2023 inhaftiert war - wegen Missachtung des Gerichts, Verleumdung und Gefährdung des öffentlichen Friedens.

Sonko und Faye konnten das Gefängnis erst zehn Tage vor der Wahl im Rahmen einer von Präsident Sall nach politischen Unruhen gewährten Amnestie verlassen. Obwohl Faye nicht annähernd über die Erfahrung und das Charisma seines Mentors Sonko verfügt, konnte er auf eine breite Unterstützung zählen.

Könnte Sonko Faye in den Schatten stellen?

Man müsse damit rechnen, dass der charismatische Sonko Faye eines Tages übertrumpfen könnte, analysiert Ismaila Diack von der FES in Dakar. "Aber sie haben den Senegalesen versprochen, dass sie zusammenarbeiten wollen, um die Probleme des Landes zu lösen - indem sie ein soziales Konzept für die Gesellschaft entwerfen." 

Sonko könnte aktiv an der nächsten Regierung beteiligt sein, glaubt Hawa Ba. Entweder als Premierminister oder in einer ähnlichen Position mit Einfluss auf die Tagespolitik. "Allerdings ist nicht auszuschließen, dass er im Hintergrund bleibt."

Mitarbeit: Marco Wolter, Carole Assignon, George Okach

Sudan: Hungersnot nimmt zu, Kriegsparteien blockieren Hilfe

Endlich sei das richtige Wort gefallen, meinen die Aktivisten in der sudanesischen Regionalhauptstadt Al-Faschir: Die Vereinten Nationen (UN) warnen vor einer "Hungerkatastrophe" im Sudan. Damit, so die Helfer, sei die Dramatik der Lage angemessen beschrieben.

Seit einem Jahr betreibt die Aktivistengruppe eine Gemeinschaftsküche, um Hungernde zu versorgen. Doch über Monate waren ihre Mitglieder nicht in der Lage, die nötigen Gelder aufzutreiben oder Lebensmittel zu beschaffen.

"Zum Schluss gingen uns am 15. Februar die Lebensmittel aus", sagt einer der Gründer der Initiative im Gespräch mit der DW. "Seither konnten wir niemanden mehr versorgen". 

Seinen Namen will der Helfer aus Angst vor möglichen Repressalien nicht nennen. Derzeit ist die Region um Al-Faschir Schauplatz heftiger Auseinandersetzungen. Für viele Familien in der Region habe dies schlimme Konsequenzen, so der Helfer: Sie bekämen nicht einmal eine Mahlzeit am Tag.

Seit Beginn des Krieges im Sudan vor einem Jahr spielen Gemeinschaftsküchen und andere bürgerschaftlich organisierte geleitete Hilfsinitiativen, im Englischen "Emergency Response Rooms" (ERRs) genannt, eine wichtige Rolle für die Versorgung der Bevölkerung.

Unverzichtbare Hilfe

Nach einem aktuellen Bericht der Vereinten Nationen haben die ERRs über vier Millionen Zivilisten mit schneller Hilfe unterstützt. Dazu zählen die Versorgung mit Wasser und Nahrungsmitteln sowie medizinische Hilfe. Außerdem reparieren sie beschädigte Stromleitungen und sorgen sich um sichere Evakuierungsrouten. 

"Teilweise waren die lokalen Helfer die einzigen, die überhaupt humanitäre Hilfeleistungen erbrachten", sagt Michelle D'Arcy, Sudan-Länderdirektorin der humanitären Organisation Norwegian People's Aid, im DW-Interview. "Doch so bewundernswert diese Initiativen auch sind: Letztlich reichen sie nicht aus, um den massiven Bedarf vor Ort zu decken."

Sudanesische Zivilisten diskutieren über Möglichkeiten der Nahrungsmittelbeschaffung
Hilfe gegen den Hunger: Sudanesische Aktivisten beraten über mögliche Wege der Lebensmittelbeschaffungnull ERRFC

Tote, Hungernde, Vertriebene

Der brutal geführte Konflikt zwischen den von General Abdel Fattah al-Burhan geführten Sudanesischen Streitkräften (SAF) und den paramilitärischen Rapid Support Forces (RSF) unter dem Kommando von General Mohamed Hamdan Dagalo (auch Hemeti genannt) begann im April 2023. Anlass war ein Streit um die geplante Integration der RSF in die Armee des Landes. Der Konflikt verursacht die vielleicht schon jetzt größte humanitäre Krise weltweit - oder ist zumindest verantwortlich, dass der Sudan auf dem Weg dorthin ist und die Lage immer kritischer wird.

Nach Angaben des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen sind rund 18 Millionen Menschen im Sudan, also über ein Drittel der Bevölkerung, von akuter "Ernährungsunsicherheit" betroffen. Darunter seien 14 Millionen Kinder, die dringend humanitäre Hilfe benötigten, erklärte Mandeep O'Brien, UNICEF-Vertreterin im Sudan, Mitte März.

Bereits jetzt sind 2,9 Millionen Kinder akut unterernährt, informierte kürzlich der sogenannte Nutrition Cluster im Sudan, eine Partnerschaft internationaler Organisationen und Ministerien. Zudem fürchte man, in den kommenden Monaten könnten rund 222.000 stark unterernährte Kinder und mehr als 7000 junge Mütter sterben, würden ihre Ernährungs- und Gesundheitsbedürfnisse nicht erfüllt. 

Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration wurden durch den andauernden Konflikt rund 8 Millionen Menschen aus ihrer Heimat vertrieben. Zudem wurden Tausende getötet.

Trotz dieser ernsten humanitären Lage ist keine der verfeindeten Parteien bereit, humanitären Organisationen und Gütern uneingeschränkten und ungehinderten Zugang zu gewähren.

"Leider muss ich berichten, dass es vor Ort keine großen Fortschritte gegeben hat", erklärte der Direktor für humanitäre Einsätze der UNO, Edem Wosornu, kürzlich vor dem UN-Sicherheitsrat.

Systematisches Aushungern

"Mehrere Aspekte erschweren die Schaffung von Korridoren für humanitäre Hilfe und die Einrichtung entmilitarisierter Zonen", sagt die Politologin Hager Ali, die am Hamburger GIGA-Institut zur Rolle von Streitkräften in den arabischen und nordafrikanischen Ländern forscht, im DW-Gespräch.

"Um die sudanesischen Streitkräfte zu sabotieren, besetzen die Rapid Support Forces (RSF) bestimmte Straßen oder Engpässe und blockieren damit den Nachschub für die Truppen." Dies betreffe dann aber auch nicht-militärische Güter, so Ali. Die RSF plünderten alles, was ihnen in die Hände fiele. Anstatt es vor Ort an die Gemeinden zu verteilen, verkauften sie es. 

Umgekehrt kontrollierten und blockierten auch die regulären Streitkräfte (SAF) den Zugang für humanitäre Hilfe auf dem Weg in die von der RSF gehaltenen Gebiete, so Ali weiter.

Die andauernde Gewalt hindere die Bauern daran, ihre Felder zu bestellen. "Eine der Taktiken der RSF-Kriegsführung ist es, die Bevölkerung auszuhungern. Genau das passiert derzeit im Bundesstaat Dschasira", sagte Ali gegenüber DW. Unter normalen Umständen produziere der Bundesstaat im Südosten des Landes nahezu die Hälfte der gesamten sudanesischen Weizenproduktion.

"Als die RSF die Macht übernahm, verbrannten sie Ernten und plünderten Lager, stahlen Landmaschinen und sogar Saatgut für die Aussaat", sagt Ali. Außerdem würden die Bauern vor die Wahl gestellt, sich den Milizen anzuschließen oder hingerichtet zu werden.

Vertriebene Kinder suchen unter der Veranda eines Hauses Schutz vor der Sonne
Hunderttausenden sudanesischen Kindern droht der Hungertod null -/AFP/Getty Images

Hoffnung auf Geberkonferenz

Zivilgesellschaftliche Aktivisten und andere humanitäre Helfer blicken nun bereits in Richtung einer Mitte April angesetzten Geberkonferenz in Paris. Der Bedarf des Landes ist weiterhin riesig: Der diesjährige humanitäre Hilfsplan der Vereinten Nationen in Höhe von 2,7 Milliarden US-Dollar (knapp 2,5 Milliarden Euro) ist nur zu vier Prozent finanziert. Er umfasst bisher lediglich 131 Millionen US-Dollar (knapp 121 Million Euro).

Doch trotz aller Herausforderungen geben die Aktivisten der Gemeinschaftsküche in Al-Faschir nicht auf. "Wir werden weiterhin Vorschläge Vorschläge an humanitäre und Nichtregierungsorganisationen schicken. Wir hoffen, dass die Finanzierung irgendwann wieder anläuft", sagen sie.

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

Sudan: Leben in permanenter Panik und Unsicherheit