FIFA gibt Fußball-WM der Frauen 2027 an Brasilien

Deutschland und seinen Partnern bleibt die Austragung der Frauen-WM 2027 verwehrt. Die Mitgliedsländer des Fußball-Weltverbandes FIFA stimmten beim Kongress in Thailands Hauptstadt Bangkok am Freitag mehrheitlich für den Konkurrenten Brasilien. Damit wird erstmals eine Frauen-WM in Südamerika stattfinden.

Deutschland hatte die WM im Jahr 2011 zuletzt alleine ausgerichtet. Unter dem Motto "Breaking New Ground" hatte sich der Deutsche Fußball-Bund gemeinsam mit Belgien und den Niederlanden beworben. Die USA und Mexiko hatten ihre gemeinsame Bewerbung für 2027 Ende April zurückgezogen, zuvor hatte dies bereits Südafrika getan.

Bei der abschließenden Präsentation hatte Bernd Neuendorf, der Präsident des Deutschen Fußballbundes (DFB), "die bislang kommerziell erfolgreichste Frauen-WM" und das "kompakteste Turnier" versprochen. Man wolle, die "größte Feier des Frauenfußballs in der Geschichte" organisieren. Seine Versprechungen reichten aber offenbar nicht, um die Mehrheit der Kongressmitglieder zu überzeugen.

Schlechte Benotung durch die FIFA

Schon einige Tage zuvor hatten die deutschen WM-Hoffnungen einen Dämpfer erlitten: Im Evaluierungsbericht der FIFA hatte Brasilien 4,0 von 5 möglichen Punkten erhalten, die Europäer kamen lediglich auf 3,7. Es gebe bei einer Vergabe an Deutschland, Belgien und die Niederlande eine "Reihe rechtlicher Risiken", hieß es im Bericht. Für die FIFA bestehe die Gefahr, "mit erheblichen operativen und finanziellen Problemen konfrontiert zu werden".

Gianni Infantino und Bernd Neundorf im Gespräch auf der Tribüne bei der Fußball-WM in Katar
Gelten nicht als Freunde: FIFA-Präsident Gianni Infantino (l.) und DFB-Präsident Bernd Neuendorf (r.)null Federico Gambarini/dpa/picture alliance

Der Hintergrund der Benotung scheint klar: Der Weltverband zielt wieder einmal auf maximale Erlöse ab. Schon in der Vergangenheit war es der FIFA ein Dorn im Auge, wenn sie ihre Forderungen im Hinblick auf staatliche Unterstützung und Steuererleichterungen nicht wie gewünscht durchsetzen konnte. Der Bericht stellte jedoch nur eine Empfehlung dar und war in der Vergangenheit nicht immer ein sicherer Indikator für die letztliche Vergabe.

Ohnehin haben Neuendorf und FIFA-Präsident Gianni Infantino nicht das innigste Verhältnis. Neuendorf hatte sich in den vergangenen Monaten immer wieder mal verhalten kritisch gegenüber Infantino und dessen Plänen geäußert. Auch die Unterstützung bei dessen letzter Wiederwahl im November 2023 hatte Neuendorf lange offen gelassen und letztlich nicht für den Schweizer gestimmt, der dennoch mit großer Mehrheit gewonnen hatte. Allerdings wurden keine Stimmen ausgezählt, sondern per Applaus abgestimmt. 

Nächste Chance erst 2035?

Die letzten Bemühungen der deutschen Delegation im Kampf um den WM-Zuschlag fruchteten nicht mehr: Neuendorf und DFB-Sportdirektorin Nia Künzer hatten in den vergangenen Tagen noch einmal kräftig die Werbetrommel gerührt und sich prominente Unterstützung aus der Politik geholt. Neben Bundeskanzler Olaf Scholz waren Belgiens Premierminister Alexander De Croo und Mark Rutte, Ministerpräsident der Niederlande, eingespannt worden.

Mit der gescheiterten Bewerbung könnte sich die Chance auf eine Heim-WM für den DFB nun für viele Jahre erledigt haben. FIFA-Boss Infantino pflegt vor dem Männerturnier 2026 immer engere Kontakte in die USA, die nach dem Rückzug im aktuellen Bewerbungsprozess als Kandidat für die Frauen-WM 2031 gelten. Die nächste Chance für den DFB ergibt sich damit womöglich erst 2035. 

asz/sn (SID, dpa)

DFB-Team ohne Mats Hummels und Leon Goretzka zur Fußball-EM

"Super-Truppe! Könnte von mir sein, ist aber unser Kader", sagte Bundestrainer Julian Nagelsmann am Ende das Videos, in dem bei der Pressekonferenz des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) der vorläufige Kader für die Fußball-Europameisterschaft in Deutschland vorgestellt wurde. Damit wollte er betonen, dass er und sein Trainerteam gemeinsam die Spieler ausgesucht hatten, die am besten für die Mannschaft und ein erfolgreiches Abschneiden passen.

27 Spieler wurden berufen. Am 7. Juni ist der Tag, an dem Nagelsmann seine endgültige Auswahl, die maximal 26 Spieler umfassen darf, benennen muss. Einen Spieler muss der Bundestrainer vor dem Turnier also noch aussortieren.

Angeführt wird das Aufgebot von Kapitän Ilkay Gündogan. Mit Manuel Neuer, Toni Kroos und Thomas Müller gehören ihm noch drei Weltmeister von 2014 an. Ein weiterer, Mats Hummels von Borussia Dortmund, fand genau wie Leon Goretzka vom FC Bayern keine Berücksichtigung.

"Anfang der Woche hatte ich mit beiden längere Gespräche", sagte Nagelsmann. "Natürlich sind beide sehr enttäuscht. Am liebsten würde man alle mitnehmen, aber ich muss meine Entscheidungen treffen im Sinne der Mannschaft. Ich habe versucht, es zu begründen. Es waren keine 'bösen Gespräche', aber es gibt angenehmere." Auch der verletzte Münchener Serge Gnabry wird nicht mit zum Turnier genommen. 

Ungewöhnliche Nominierungs-Kampagne vorab

Die Bekanntgabe durch Nagelsmann auf der Pressekonferenz am Donnerstag war lediglich der Abschluss einer ungewöhnlichen Nominierungskampagne. Der DFB hatte in den Tagen zuvor die Namen zahlreicher EM-Fahrer vorab durch Prominente, Fans, Influencer und Medien verkünden lassen. Das erzeugte Aufmerksamkeit und sollte die Vorfreude auf das erhoffte Sommermärchen 2.0 steigern. Der Großteil des Kaders war bis zum Mittwochabend schon öffentlich. Allerdings gab es auch einige Falschmeldungen, bei denen man zunächst nicht wusste, ob sie tatsächlich vom DFB autorisiert und initiiert waren, bis das offizielle Dementi vom Verband kam.

Der DFB-Tross wird sich in der übernächsten Woche zum Trainingslager versammeln. Es findet vom 26. bis 31. Mai in der Nähe der Stadt Weimar im Bundesland Thüringen statt. Allerdings stehen von den 27 nominierten Spielern gleich mehrere zum Start nicht zur Verfügung. Die Dortmunder Nico Schlotterbeck und Niclas Füllkrug spielen am 1. Juni in London noch im Finale der Champions League. Dort treffen sie auf ihre Nationalmannschaftskollegen Toni Kroos und Antonio Rüdiger von Real Madrid. Auch Florian Wirtz, Jonathan Tah und Robert Andrich von Bayer 04 Leverkusen werden nach dem DFB-Pokalfinale gegen den Zweitligisten 1. FC Kaiserslautern am 25. Mai und der Saison-Abschlussfeier des neuen deutschen Meisters am Tag darauf leicht verspätet ins Trainingslager reisen.

"Es ist immer besser, dass Spieler mit Erfolgen zur Nationalmannschaft kommen", sagte Nagelsmann. "Natürlich wäre es einfacher, wenn alle von Anfang an da wären, aber ich traue uns zu, alle zu integrieren."

Die deutsche Mannschaft bestreitet vor dem EM-Auftakt noch zwei Testspiele. Am 3. Juni geht es in Nürnberg gegen die Ukraine. Vier Tage später steht in Mönchengladbach die EM-Generalprobe gegen Griechenland auf dem Programm. Das Turnier startet für Nagelsmann und sein Team dann mit dem Eröffnungsspiel am 14. Juni in München gegen Schottland.

Der deutsche EM-Kader in der Übersicht:

Tor: Manuel Neuer (FC Bayern), Marc-André ter Stegen (FC Barcelona), Alexander Nübel (VfB Stuttgart), Oliver Baumann (TSG Hoffenheim)

Abwehr: Jonathan Tah (Bayer Leverkusen), Antonio Rüdiger (Real Madrid), Robin Koch (Eintracht Frankfurt), Nico Schlotterbeck (Borussia Dortmund), Joshua Kimmich (FC Bayern), Benjamin Henrichs, David Raum (RB Leipzig), Waldemar Anton (VfB Stuttgart)

Mittelfeld und Angriff: Toni Kroos (Real Madrid), Ilkay Gündogan (FC Barcelona), Florian Wirtz, Robert Andrich (beide Bayer Leverkusen), Kai Havertz (FC Arsenal), Pascal Groß (Brighton & Hove Albion), Niclas Füllkrug (Borussia Dortmund), Deniz Undav, Chris Führich, Maximilian Mittelstädt (alle VfB Stuttgart), Thomas Müller, Jamal Musiala, Leroy Sané, Aleksandar Pavlovic (alle FC Bayern), Maximilian Beier (TSG Hoffenheim)

asz/ck (SID, dpa)

Lebenslange Haft für tödliche Messerattacke bei Brokstedt

Im Strafprozess um die tödliche Messerattacke in  Brokstedt in Schleswig-Holstein hat das Landgericht Itzehoe den Angeklagten Ibrahim A. wegen Mordes und versuchten Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Die Kammer sah es als erwiesen an, dass der 34-Jährige am 25. Januar 2023 in einem Regionalzug zwei Menschen erstochen und vier schwer verletzt hat.

Das Gericht verurteilte den Palästinenser auch wegen dreifachen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher sowie schwerer Körperverletzung. Zudem stellte die Große Strafkammer die Schwere der Schuld fest, was bedeutet, dass eine Aussetzung der Strafe zur Bewährung nach 15 Jahren praktisch ausgeschlossen ist.

Auf der Zugfahrt von Kiel nach Hamburg hatte Ibrahim A. ein Küchenmesser gezogen und damit unvermittelt Fahrgäste angegriffen. Eine 17-Jährige und ihr 19 Jahre alter Freund starben. Vier weitere Fahrgäste wurden schwer verletzt. Der Täter wurde schließlich von Fahrgästen überwältigt. Die Tat sorgte weit über Schleswig-Holstein hinaus für Entsetzen. Ibrahim A. bestritt am Anfang der Verhandlung im Juli 2023 die Tat zunächst, räumte sie später aber ein.

Der Angeklagte wird in Handschellen von drei Beamten zu Beginn des Prozess im Juli 2023 zu seinem Platz im Gerichtssaal gebracht
Der Angeklagte wird zu Beginn des Prozess im Juli 2023 zu seinem Platz im Gerichtssaal gebrachtnull Christian Charisius/dpa/dpa-POOL/picture alliance

Gericht folgt Forderung der Staatsanwaltschaft

Bei der Frage der Schuldfähigkeit folgte die Große Strafkammer dem Gutachten des Psychiaters Arno Deister. Der Professor hatte psychotische Symptome und eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) bei dem Angeklagten diagnostiziert, aber keine Psychose. "Ich sehe keine Beeinträchtigung der Einsichtsfähigkeit", hatte er gesagt. Auch liege keine Aufhebung der Steuerungsfähigkeit vor. Das Gericht folgte mit seinem Urteil der Strafforderung von Staatsanwältin Janina Seyfert.

Die Verteidigung hielt dagegen den Angeklagten für psychisch krank und nicht schuldfähig. Der Verteidiger Björn Seelbach plädierte für einen formalen Freispruch und die Unterbringung seines Mandanten in der forensischen Psychiatrie. Für den Fall, dass die Strafkammer keine eingeschränkte Schuldfähigkeit oder Schuldunfähigkeit sehe, forderte er eine Verurteilung zu zehn Jahren wegen Totschlags und schwerer oder gefährlicher Körperverletzung.  

Politische Debatte über Versäumnisse

Der Kriminalfall beschäftigte auch die Politik, weil es Versäumnisse beim Austausch von Informationen zwischen Behörden gegeben hatte. Ibrahim A. war im Gazastreifen aufgewachsen und den Erkenntnissen zufolge 2014 nach Deutschland gekommen. Er lebte zunächst in Nordrhein-Westfalen und zog später nach Kiel.

Bis wenige Tage vor der Tat hatte der Angeklagte wegen einer Körperverletzung in Hamburg in Untersuchungshaft gesessen. Dort und später in der Untersuchungshaft in Schleswig-Holstein war er als renitent aufgefallen. Mehrere Ärzte berichteten vor Gericht von der Verdachtsdiagnose eine Psychose. Am Tag des Angriffs war Ibrahim A. zu einem Termin bei der Ausländerbehörde nach Kiel gefahren. Nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft handelte er aus Frust.

kle/jj (dpa, afp, ARD)

Deutsche Politiker besorgt über "Agentengesetz" in Georgien

Der Grünen-Politiker und Staatssekretär in Bundeswirtschafts- und Klimaschutzministerium, Sven Giegold, möchte zu Beginn etwas Grundsätzliches sagen über Georgien. Er hat das Land in der vergangenen Woche besucht. Der DW erklärt er: "Ich habe mich ein Stück weit in Georgien verliebt. Ich habe mich wie in Europa gefühlt, als ich dort war. Es ist wunderbar, mit den Menschen dort in Kontakt zu kommen. Für viele hier in Deutschland ist Georgien weit weg, getrennt durch das Schwarze Meer.  Aber kulturell sind wir uns sehr nah."

Sven Giegold,Staatsekretär im Bundeswirtschaftsministerium, blickt in die Kamera
Sven Giegold: "Ich habe mich in Georgien wie in Europa gefühlt" null Elmar Kremser/Sven Simon/picture alliance

Umstrittenes Gesetz

Aktuell sind die Meldungen aus Georgien eher beunruhigend, das weiß auch Giegold. Am Dienstag dieser Woche beschloss das Parlament in Tiflis ein umstrittenes Gesetz,  das zuvor viele tausend Menschen wochenlang auf die Straßen trieb: Organisationen und Medien, die zu mindestens 20 Prozent aus dem Ausland finanziert werden, müssen sich in der ehemaligen Sowjetrepublik künftig bei den Behörden als Organe registrieren lassen, die "Interessen ausländischer Mächte verfolgen". Beobachter sehen darin eindeutige Parallelen zum Gesetz gegen "ausländische Agenten" in Russland. Den Behörden erlaubt es dort, massiv gegen kritische Medien, Stiftungen und unabhängige Organisationen vorzugehen.

Infografik Karte Georgien DE

"Das entfernt Georgien wieder von Europa"

Giegold sagt: "Georgien ist auf dem Weg in die Europäische Union. Die große Zahl der Bürgerinnen und Bürger möchte das. Die Wirtschaft ist offen dafür. Und dieses Gesetz entfernt jetzt Georgien vom Rechtsstand der Europäischen Union." Und weiter: "Mein Eindruck war: Die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger will nach Europa, lehnt deshalb dieses Gesetz ab - nicht so sehr wegen der Details, sondern wegen seines nicht-europäischen Geistes."

Geld aus Steueroasen?

Während seiner Gespräche, so Giegold, habe es im Grund viel Wohlwollen gegeben. So hätten sowohl die mitreisenden deutschen Wirtschaftsvertreter als auch die georgische Seite Interesse an weiteren gegenseitigen Investitionen bekundet. Aber es gebe auch fragwürdige Initiativen der georgischen Regierung: Konkret nannte Giegold ein Gesetz, das es erleichtere, Gelder aus Steueroasen nach Georgien zu bringen. Oder auch die Beschneidung der Unabhängigkeit der Zentralbank. Vereinbart habe er mit der Regierung eine Zusammenarbeit bei den Wettbewerbsbehörden beider Länder: "Diese Behörde engagiert sich für einen intensiveren Wettbewerb, wie auch unser Bundeskartellamt. Das braucht Georgien, etwa mit Blick auf die hohen Preise in den Supermärkten. Etwas mehr Wettbewerb würde hier den Menschen sicher helfen."

Proteste in Georgien gegen "Russengesetz" dauern an

Der wichtigste Mann ist ein geheimnisvoller Milliardär

Tatsächlich verfolgt die Regierungspartei "Georgischer Traum" ein Art Schaukelpolitik zwischen Russland und der EU. Klar ist: Eine Bevölkerungsmehrheit möchte sich von Russland lösen, der angestrebte Beitritt zur EU und zur Nato steht in der Verfassung. Seit dem vergangenen Dezember hat das Land den Status eines EU-Beitrittskandidaten.  Aber der entscheidende Mann hinter der Partei "Georgiens Traum", der Gründer und Milliardär Bidsina Iwanischwili, ist mit dem jetzigen Gesetz den Interessen Russland entgegen gekommen. Er verfolgt einen eher autoritären Kurs. Als das Parlament am Dienstag das Gesetz verabschiedete, versammelten sich viele zumeist junge Leute in der Innenstadt von Tiflis. Einige versuchten, Barrikaden zu überwinden und ins Parlament zu gelangen. Die Polizei trieb sie zurück. Brisant: Auch diepro-westliche Staatspräsidentin Salome Surabischwili   unterstützt den Protest, kann das Gesetz aber letztendlich nicht aufhalten.

Der deutsche Bundeskanzler sorgt sich

Auch der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag, Michael Roth (SPD), hielt sich diese Woche in Tiflis auf. Er sieht die heranrückenden EU-Beitrittsverhandlungen als möglichen Grund für den jetzigen Kurswechsel. Dann müsse die Regierung Reformen für mehr Rechtsstaatlichkeit und Freiheit einleiten, sagte er und fügte im Gespräch mit der "Deutschen Presse Agentur" (dpa) hinzu: "Offenbar hat man vor diesem Weg Angst und ist auch bereit, dafür einen hohen Preis zu zahlen." Und auch der Sprecher von Bundeskanzler Olaf Scholz, Wolfgang Büchner, mahnt: "Wir erinnern die georgische Regierung an ihre Zusagen aus 2023, ein solches Gesetz bedingungslos zurückzuziehen. Wir teilen die Sorge, dass sich die georgische Regierung mit dem Gesetz von ihrem Kurs auf eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union entfernt."

Grünen-Politiker Giegold fügt dann noch hinzu: Trotz der vielen außenpolitischen Krisenherde, wie dem Krieg in Gaza und dem russischen Angriff auf die Ukraine, sei die Entwicklung Georgiens für Deutschland ein immens wichtiges Thema. Daran ändere auch der jüngste Parlamentsbeschluss nichts.

 

Salman Rushdie: "Meine Waffe ist die Sprache"

Eigentlich hatte Salman Rushdie gehofft, all das für immer hinter sich gelassen zu haben. Den Personenschutz, die Kontrollen des Publikums. All das ist seit dem 12. August 2022 wieder notwendig geworden, als der Schriftsteller bei einem Messerangriff im Bundesstaat New York fast getötet worden wäre. 33 Jahre nach der Fatwa durch den damaligen iranischen Revolutionsführer Ayatollah Chomeini, der Rushdies Roman "Die Satanischen Verse" als blasphemisch verurteilte. "Da bist du ja", habe er gedacht, schreibt Rushdie in seinem neuen Buch "Knife", "Du bist es also." 

Bevor Rushdie im Deutschen Theater auf Einladung des Internationalen Literaturfestivals in Berlin auf die Bühne trat, traf er - unter höchster Geheimhaltung - Bundeskanzler Olaf Scholz und später auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Der sprach Rushdie seinen tiefen Respekt dafür aus, dass er nach wie vor ein leidenschaftlicher Verfechter der Demokratie und der Freiheit sei. 

Salman Rushdie erhält Friedenspreis

Mit Liebe gegen den Hass - aber auch mit Humor 

600 Menschen sind am Abend gekommen, um Rushdie live zu erleben. Angekündigt sind eine Lesung und ein Gespräch über dessen jüngstes Buch: "Knife. Gedanken nach einem Mordversuch". "Ich bin glücklich, hier zu sein", sagt Rushdie zum Publikum, das ihn mit tosendem Beifall begrüßt, "auch wenn ich Sie leider nicht sehen kann." Denn der Schriftsteller hat bei dem Attentat ein Auge verloren - sein Sehvermögen auf dem anderen ist eingeschränkt. Den Humor, das wird schnell deutlich, hat Rushdie nicht verloren. 

Die Dramaturgie des Abends folgt dem Aufbau des Buches: Rushdie beschreibt, wie er das Attentat erlebt hat, und die Tage danach, als die Ärzte um sein Leben kämpften. Er  hat nicht nur ein Auge verloren, seine Organe waren verletzt, Nerven durchtrennt. Er wurde künstlich beatmet, und zunächst war es alles andere als klar, ob er überleben würde - und in welchem Zustand. Wie hat er sich danach ins Leben zurück gekämpft? 

Mit sehr viel Willenskraft - und mit sehr viel Liebe, das wird Rushdie nicht müde zu betonen. Die Liebe seiner Schwester, seiner Söhne, aber vor allem die seiner Frau Eliza Rachel Griffiths, selbst Dichterin und Künstlerin, die ihn auch auf dieser Lesetour begleitet. 

Ein Mann und eine Frau stehen nebeneiander, sie zeigt das Buch "Knife"
Salman Rushdie mit seiner Frau Rachel Eliza Griffith in Berlin null Sabine Kieselbach/DW

Schreiben als Therapie

Nach Wochen im Krankenhaus, nach schmerzhaften Behandlungen und einer Reha geht es in den kommenden Monaten kontinuierlich bergauf - und Rushdie wird klar, dass er wieder schreiben muss. Schreiben als Therapie. Dazu gehört die Erinnerung an das Attentat, die Konfrontation mit seinem Schmerz und seinen Verletzungen, aber auch die Auseinandersetzung mit dem Täter. 

Rushdie nennt ihn auch in Berlin nur "A." - wie Attentäter. Erst dachte er daran, ihn zu treffen. Aber nachdem er las, dass der junge Mann nicht mal sein Buch kannte, sondern lediglich ein paar hetzerische Youtube-Videos gesehen hatte, nahm er davon Abstand. Hätte ich eine solche Romanfigur erfunden, witzelt Rushdie, hätte mein Verleger gesagt: unglaubwürdig, keine überzeugende Figur. 

"Knife" ist ein bewegendes Buch über das Überleben nach einem Mordversuch. Es ist auch der Versuch Salman Rushdies, die Kontrolle über sein Leben zurückzugewinnen, auf den Messerangriff mit seinen eigenen Mitteln zu reagieren - mit der einzigen Waffe, die er beherrscht, der Waffe der Sprache, sagt er in Berlin. Und mit dieser Waffe kämpft er weiter für die Freiheit des Wortes und der Literatur. 

Das Publikum in Berlin feiert Salman Rushdie für seine Kraft, seinen Humor und auch für seine so wichtige Botschaft. Dafür, das ist an diesem Abend noch einmal klar geworden, zahlt Rushdie einen furchtbaren Preis. 

Ein Büchertisch, daneben das Schild. Vom Autor signierte Exemplare
Andrang am Büchertisch null Sabine Kieselbach/DW

Zur Person: Salman Rushdie wurde 1947 als Sohn muslimischer Eltern im indischen Mumbai (Bombay) geboren. 1989 verurteilte ihn der iranische Revolutionsführer Ayatollah Khomeini wegen seines Romans "Die Satanischen Verse" mit einer Fatwa zum Tode; jahrelang lebte Rushdie unter Polizeischutz in verschiedenen Verstecken. Im Sommer 2022 versuchte ein junger Islamist das Todesurteil mit einem Messeranschlag zu vollstrecken. Rushdie  gilt heute als leidenschaftlicher Verfechter der Meinungsfreiheit. 

Viele Forschende werden laut Studie angefeindet und bedroht

Portraits in Sträflingskleidung, lautstarke Beschimpfungen, Morddrohungen im Internet - während der COVID-19-Pandemie wurden prominente Virologen wie Christian Drosten wiederholt angefeindet und auch bedroht. Aber dies waren keine Einzelfälle in einer aufgeheizten Ausnahmesituation. Schon seit längerem werden in Deutschland Forschende aus den unterschiedlichsten Fachrichtungen auf verschiedene Arten attackiert. 

Dies belegt die erste repräsentative Umfrage unter deutschen Forschenden, die am Deutschen Zentrum für Hochschul- & Wissenschaftsforschung (DZHW) in Kooperation mit dem KAPAZ-Projektverbund durchgeführt wurde. KAPAZ steht für "Kapazitäten und Kompetenzen im Umgang mit Hassrede und Wissenschaftsfeindlichkeit". Demnach haben 45 Prozent aller Forschenden bereits Anfeindungen erfahren. Und sehr häufig sind diese Angriffe politisch motiviert.

Wissenschaft als Grundlage für umstrittene Entscheidungen

Vor allem in der Corona-Pandemie wurden Forschungsergebnisse öffentlich debattiert, was vermehrt Spannungen erzeugt habe, heißt es in der Studie. Vor allem wenn wissenschaftliche Ergebnisse als Grundlage für gesellschaftlich und politisch umstrittene Entscheidungen dienten. "Die Wut über diese politischen Entscheidungen oder das Gefühl, dass die eigenen menschlichen Handlungsmöglichkeiten begrenzt werden, können sich dann auch in Angriffen gegen Forschende niederschlagen", so Clemens Blümel, der als Forscher am DZHW die Erhebung geleitet hat.

"Die Ergebnisse der Befragung von insgesamt 2600 Wissenschaftler*innen zeigen, dass Anfeindungen gegen Forschende ein ernstzunehmendes Problem sind", so Blümel. "Dabei kommen die Angriffe nicht immer von außen. Auch innerhalb der Wissenschaft selbst gibt es Anfeindungen und abwertendes Verhalten."

Protest gegen Corona-Politik in Berlin. Mann in schwarzem T-Shirt mit Schrift auf dem Rücken "Getestet, geimpft, genesen - jeweils angekreuzt - gesund mit grünem Haken dahinter
Die Corona-Maßnahmen haben die Gesellschaft tief gespalten null Christophe Gateau/dpa/picture alliance

Digitaler Pranger

Nicht nur Virologen werden massiv angegangen. Auch Mediziner und Biologen sowie Geisteswissenschaftler erleben häufig Beleidigungen und Drohungen.

Sehr häufig wird dabei die Kompetenz der Forschenden angezweifelt oder die Forschungsergebnisse werden herabgesetzt und schlecht gemacht. Oftmals sind feindselige Äußerungen offen diskriminierend, rassistisch und sexistisch. Frauen geraten dabei weit häufiger in die Schusslinie als Männer..

Die Beschimpfungen und Bedrohungen finden vor allem in den Sozialen Netzwerken und in digitalen Kanälen statt. Aber zuweilen werden Forschende auch im Alltag, auf offener Straße oder im Büro angegriffen. Häufig aber bleibt es bei verbalen Attacken. Sachbeschädigungen oder gar physische Abgriffe gab es bislang nur sehr selten. Allerdings wurde bei 17 Prozent der Anfeindungen auch körperliche Gewalt angedroht.

Einschüchterung zeigt Wirkung

Laut Umfrage haben die populistischen Kampagnen, Hassreden und Morddrohungen dazu geführt, dass sich einige Forschende aus der öffentliche Kommunikation zurückgezogen haben oder gar nicht mehr an brisanten Themen arbeiten. 

"Kritische Diskurse sind natürlich etwas anderes als Anfeindungen und Diskreditierungskampagnen. Letztere können aber zur Selbstzensur unter Forschenden führen. Im schlimmsten Fall wird dann unter großem Druck zu wichtigen Themen nicht mehr geforscht, etwa im Bereich Klimawandel", so Projektleiterin Nataliia Sokolovska.

Vereinzelt haben die Täter also ihr Ziel erreicht: Sie haben die Reputation von Forschenden beschädigt, haben unliebsame Forschende mundtot gemacht und störende Forschung verhindert.

Kommunikation verbessern

Der Projektverbund will deshalb Maßnahmen entwickeln, wie Forschende besser gegen Angriffe geschützt werden können. Dazu gehören bundesweite Beratungsstellen für Forschende bei konkreten Anfeindungen, Leitlinien für Krisensituationen und praxisnahes Kommunikationstraining.

Die Untersuchung zeigt sehr deutlich, dass vor allem bei der Kommunikation erheblicher Nachholbedarf besteht. Wichtig sei in dem Zusammenhang, dass sehr bewusst entschieden werde, was wie vermittelt wird. Dazu gehört laut Blümel auch, deutlich zu machen, dass der wissenschaftliche Prozess auch von Unwägbarkeiten und Unsicherheiten geprägt ist. Auch Fehler müssten kommuniziert und insgesamt ein "realistisches Bild der wissenschaftlichen Praxis" gezeichnet werden, so Blümel.

 

International Booker Prize-Anwärterin: Jenny Erpenbeck

Bereits 2017 sagte James Wood, der berühmte Kritiker der Zeitung "New Yorker", voraus, dass "diese Schriftstellerin in ein paar Jahren den Literaturnobelpreis bekommen wird". Diese Schriftstellerin: Das ist Jenny Erpenbeck - im Ausland ein Star, dessen Werk mit Preisen überhäuft wurde. In Deutschland allerdings fragt sich so mancher Leser: "Jenny wer?" Unwillkürlich stellt sich die Frage: Warum läuft es in der Heimat nicht so gut für die Autorin?  

Es ist nicht so, dass Jenny Erpenbeck in Deutschland eine Unbekannte wäre - im Gegenteil. Sie hat eine treue Leserschaft, und fast jedes Jahr darf sie sich über einen neuen Literaturpreis freuen. Auch ihr 2021 erschienenes Buch "Kairos", das jetzt für den Booker Prize nominiert ist, wurde schon prämiert. Allerdings wurde dieses international gefeierte Werk weder mit dem renommierten Preis der Leipziger Buchmesse oder dem wichtigen Büchner-Preis noch dem Deutschen Buchpreis geadelt - noch nicht mal nominiert war es. 

"Ostdeutsche" Probleme

Vielleicht stimmt es ja, was Jenny Erpenbeck vermutet: Ihrem Gefühl nach ist die Mauer zwischen der DDR und dem Westen Deutschlands nie wirklich gefallen, eine westliche Kulturhoheit bestimme die Diskurse. 

Jenny Erpenbeck, Jahrgang 1967, ist Ostdeutsche. Als die Mauer fiel, war sie 22. Der Staat, in dem sie aufwuchs, ging unter. Sie fand sich in einem neuen Land wieder: der Bundesrepublik Deutschland - und unter Westdeutschen, die sich wenig für die Geschichte der DDR interessierten.

In ihrem Buch "Kairos" geht um den Niedergang der DDR. Die geringe Resonanz auf das Buch sei kein Zufall, sagte sie gegenüber der Zeitschrift "Die Zeit", denn in den Buchpreisjurys des Kairos-Jahrgangs sei kein einziges Mitglied ostdeutscher Herkunft gewesen. Daher sei ihr Buch wohl nicht berücksichtigt worden. "Ich interessiere mich ja auch nicht für eure Probleme. Das tausendste Buch über die 68er zum Beispiel", sagt sie dem westdeutschen Journalisten. "Obwohl - die sind ja eigentlich noch ganz interessant …"

Der Untergang der bekannten Welt

"Kairos" erzählt von Umbrüchen im Leben. Es ist die Geschichte einer toxischen Liebe vor dem Hintergrund der untergehenden DDR - zwischen einer jungen Frau und einem 34 Jahre älteren Mann, einst Faschist in Nazideutschland, jetzt überzeugter Kommunist. Es ist auch die Geschichte von Kunstschaffenden in der DDR - in einem Staat, in dem die Zensur allgegenwärtig war, mussten sie Kritik "zwischen den Zeilen" verstecken. "Denn Kunst (...) war darüber hinaus vielleicht das einzige Kommunikationsmittel, über das Verständigung innerhalb der Gesellschaft noch möglich war. Wenn man die Zeitung aufgeschlagen hat, war das ja eine ganz unwirkliche Sprache", so Erpenbeck 2022 gegenüber der DW.

Buchcover Kairos von Jenny Erpenbeck
"Kairos" ist ein heißer Anwärter für den Booker Prize

"Kairos" erzählt von Menschen, die den Regimewechsel vom kommunistisch-sozialistischen Regime in einen Staat mit freier Marktwirtschaft erleben. Ein Erdbeben, das ihr Selbstverständnis von Grund auf erschüttert. Die Trennung der Liebenden in "Kairos" versinnbildlicht die Haltlosigkeit, der sie durch den Untergang ihrer Welt ausgesetzt sind. "Was vertraut war, ist im Verschwinden begriffen. Das gute, üble Vertraute", lässt Erpenbeck ihre Protagonistin sagen.

Sie weiß, wie sich der Zerfall der DDR anfühlte, den sie so eindringlich beschreibt. 2018 verfasste sie ein Essay für die Frauenzeitschrift "Emma", darin heißt es: "Von Freiheit war plötzlich viel die Rede, aber mit diesem Begriff Freiheit, frei schwebend in allen möglichen Sätzen, konnte ich wenig anfangen. Reisefreiheit? (Aber wird man die Reisen denn auch bezahlen können?) Oder Meinungsfreiheit? (Und wenn meine Meinung dann niemanden mehr interessiert?) … Die Freiheit war ja nicht geschenkt, sie hatte einen Preis, und der Preis war mein gesamtes bisheriges Leben. Der Preis war, dass das, was sich eben noch Gegenwart genannt hatte, nun Vergangenheit hieß…. Meine Kindheit gehörte von nun an ins Museum."

Eine Familientradition: die Schriftstellerei

25 Jahre ist es her, dass Jenny Erpenbecks Leben sich von Grund auf änderte. Noch in der DDR hatte sie eine Ausbildung zur Buchbinderin absolviert, dann als Requisiteurin gearbeitet, bevor sie ein Studium der Theaterwissenschaft und später Musikregie aufnahm. Doch nicht nur die Bühne hatte es ihr angetan, sondern auch die Schriftstellerei. Die liegt ihr im Blut. Schon ihre Großeltern gehörten der schreibenden Zunft an: Großvater Fritz Erpenbeck, nach dem in Ostberlin eine Straße benannt ist, ebenso wie seine Frau Hedda Zinner. Vor den Nazis floh das kommunistische Paar nach Moskau. Auch ihr Vater John, eigentlich Physiker, veröffentlichte mehrere Bücher. 

Eine Frau sitzt in einem Zimmer voller Bücherregale
Jenny Erpenbeck in ihrem Arbeitszimmernull picture alliance/dpa

Jennys Debüt erschien 1999: "Geschichte vom alten Kind". "Ein Mädchen wird gefunden, niemand weiß, woher es kommt, niemand weiß, wer seine Eltern sind. Niemand, auch das Kind selbst nicht", ist auf dem Klappentext zu lesen. Viele sahen in der Novelle eine Parabel auf DDR-Bürger, die seit dem Ende ihres Staats der DDR eine starke Orientierungslosigkeit verspürten.

Motiv der Vergänglichkeit allgegenwärtig

Immer wieder beschäftigt sich Erpenbeck in ihrem literarischen Werk mit dem Motiv der Vergänglichkeit. In "Heimsuchung" durchleben die Bewohner eines Hauses gleich mehrere Umbrüche: die Weimarer Republik, das Dritte Reich, den Krieg und dessen Ende, die DDR, die Wende und die Zeit danach. 

"Heimsuchung" von Jenny Erpenbeck

Erpenbecks Bestseller  "Gehen, ging, gegangen" über die hoffnungslose Situation von Flüchtlingen in Berlin war 2015 unter den heißen Kandidaten für den Deutschen Buchpreis.

In dem Roman "Aller Tage Abend" stirbt ein Säugling, und Erpenbeck fragt: Was wäre gewesen, wenn das Kind überlebt hätte? Gleich mehrfach erweckt sie es zum Leben: als halbjüdisches Mädchen, als Kommunistin, die vor den Nazis aus Österreich nach Moskau flieht (eine Anspielung auf ihre eigene Großmutter) oder als gefeierte Autorin in der DDR. 

Mit diesem Buch - bzw. der englischen Fassung "The end of Days" - gewann Erpenbeck 2015  zusammen mit der Übersetzerin Susan Bernofsky schon einmal den Booker Prize - nur dass er damals noch "Independent Foreign Fiction Prize" hieß. 

Kairos: der günstigste Zeitpunkt

Jetzt steht Erpenbeck erneut auf der Liste der Nominierten des britischen International Booker Prize. Immerhin rangiert er für Literaturfreunde gleich hinter dem Nobelpreis. Nicht nur der "New Yorker" sieht sie auf dem besten Weg dorthin, in der englischsprachigen Welt ist sie längst ein Literaturstar. In 30 Sprachen wurden ihre Bücher übersetzt, Jenny Erpenbecks Werk ist jetzt in der Welt zu Hause. Sie geht auf Lesereise von Usbekistan über Mexiko bis Indien und ist begeistert, wie ihre Literatur dort angenommen wird.

Eine Frau mit Mikrofon, neben ihr das Buch "Kairos"
Jenny Erpenbeck stellte "Karios" auf der Buchmesse Frankfurt vor null picture alliance/dpa

Am 21. Mai wird in einer feierlichen Zeremonie in der Tate Modern in London bekanntgegeben, wer den mit 50.000 Pfund (ca 58.000 Euro) dotierten International Booker Prize bekommt. Der Preis geht je zur Hälfte an Autorin und Übersetzer. Neben Jenny Erpenbeck stehen auch die Schwedin Kira Josefsson, der Argentinierin Selva Almada, Hwang Sok-yong aus Südkorea, Jente Posthuma aus den Niederlanden und der Brasilianer Itamar Vieira Junior auf der Shortlist. Erpenbeck hat erstmals mit einem neuen Übersetzer zusammengearbeitet, dem in der Literaturbranche bekannten Michael Hofmann. "Der übersetzt eigentlich sonst nur Tote", vertraute sie der Süddeutschen Zeitung augenzwinkernd an.

Den Buchtitel hat Jenny Erpenbeck der griechischen Mythologie entlehnt. "Kairos" ist dort der Gott des günstigen Zeitpunkts. Vielleicht ist das ja ein gutes Omen.

Berlin: Antisemitismus und Israelfeindlichkeit eskalieren

 

Es sind knapp 800 Menschen, die sich am Mittwochabend in Berlin-Charlottenburg versammeln: Sie schwenken palästinensische Fahnen. Sie sprechen auf ihren Transparenten von "Völkermord",  der sich ihrer Meinung nach im Gazastreifen abspielt. Ein Frau - wie alle anderen Befragten möchte sie ihren Namen nicht nennen - sagt zunächst: "Eigentlich habe ich keine Lust, mit der Deutschen Welle zu sprechen, weil sie immer falsche Nachrichten verbreitet." Dann tut sie es doch, und spricht etwa darüber, dass Deutschland Israel mit Waffen versorgen würde, dass die DW und viele andere Medien die Palästinenser nur als Terroristen darstellen würden. "Ich bin hier, weil ich Palästinenserin bin, weil ich gegen den Genozid bin." Gerade heute, fügt sie hinzu.

Denn an diesem Mittwoch ist Nakba-Tag. Jedes Jahr am 15. Mai gedenken die Palästinenser des Jahres 1948, als geschätzt rund 700.000 Menschen während des ersten Nahost-Kriegs flohen oder vertrieben wurden: In die Nachbarländer, in viele andere Regionen der Welt. Ein Trauma bis heute.

Jubel, als das Wort Hamas fällt

Genozid, Völkermord also, tötende Waffen aus Deutschland für Israel, lügende Medien. Seit Wochen schon ist die Stimmung in Berlin aufgeheizt, angefeuert von jeder neuen Schreckensmeldung aus dem Kriegsgebiet im Nahen Osten, im Gazastreifen. Bevor sich der Demonstrationszug in Bewegung setzt, quer durch Charlottenburg Richtung Kürfürstendamm, klärt der Veranstalter über Megafon die Menge auf, dass es verboten sei, für die islamistische Terrorgruppe der Hamas Werbung zu machen. Als das Wort Hamas fällt, brandet aber Jubel auf unter den Demonstranten. Anhaltender Jubel. Die Hamas also, die militante, islamistische palästinensische Gruppe. Die Europäische Union, ebenso wie die USA, Deutschland und weitere Länder stufen sie als Terrororganisation ein. Dass diese Hamas am 7. Oktober vorigen Jahres Israel brutal überfallen hat und mehr als 1200 Menschen ermordete, wird beim Protestzug nicht erwähnt. Wie so oft nicht. Wie viele der rund 40.000 Palästinenser, die in Berlin leben, diese Meinung teilen, ist unklar.

Auf einer pro-palästinensische Demo in Berlin hält eine Teilnehmerin ein Plakat hoch mit der Aufschrift: "It all starts in 1948."
Erinnerung an den Nakba-Tag auf einer pro-palästinensischen Demonstration am Mittwoch in Berlin null Jens Thurau/DW

Ein Protestcamp wird geräumt

Friedlicher Protestzug also in Charlottenburg, aber am gleichen Abend noch, bei einer weiteren Nakba-Demonstration in Berlin-Neukölln, muss die Polizei eingreifen, weil Demonstranten Pyro-Technik abfeuerten und Mülleimer in Brand setzten. Eine "zweistellige Zahl" von Demonstranten wird festgenommen, wie die Polizei mitteilt.

Und in den letzten Wochen eskaliert die Lage auch an den Berliner Universitäten: Dort vergeht zur Zeit kaum ein Tag ohne heftige Demonstrationen gegen Israel und für die Palästinenser. Vor einigen Tagen räumte die Polizei ein Protestcamp an der Freien Universität (FU) im Südwesten Berlins. Daraufhin veröffentlichten rund 300 Dozenten diverser Berliner Hochschulen einen offenen Brief, in dem es hieß, die Dringlichkeit des Anliegens der Studierenden sei angesichts der humanitären Krise im Gazastreifen nachvollziehbar.

Proteste an Unis: Pro-palästinensisch oder antisemitisch?

Wut und Ärger bei der Jüdischen Gemeinde

Dem Antisemitismus-Beauftragten der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Sigmount Königsberg, ist im Gespräch mit der DW die Spannung und der Ärger der vergangenen Wochen anzumerken. Er sagt: "Haben diese Dozenten auch in Betracht gezogen, dass jüdische Studenten angegriffen und gemobbt werden? Dass jüdische Studierende ihr Judentum entweder verschweigen oder den Besuch der Hochschule vermeiden? Wo bleibt hier die Fürsorgepflicht für die Studierenden?"

Polizisten nehmen vor der Humboldt-Universität in Berlin einen Mann fest, der gegen den den Krieg im Gazastreifen demonstriert hat
Nach einer Protest-Aktion gegen Israel kommt es Anfang Mai vor der Humboldt-Universität in Berlin zu einem Handgemenge mit der Polizeinull Halil Sagirkaya/Anadolu/picture alliance

Empörung rief der Brief auch bei der Berliner Landesregierung aus: Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra (SPD) meldete sich zu Wort und sagte: "Die Grundthese dieses Briefes stimmt ja schon nicht. Also wir haben es nicht mit friedlichem studentischem Protest zu tun." Es habe von Anfang an verbotene Parolen, Hetze und erhebliche Sachbeschädigung gegeben. In einem Flugblatt der Campus-Besetzer sei zu lesen gewesen, dass sie keine Verhandlungen wollten, sondern Forderungen hätten, die unverhandelbar seien.

Jüdische Studenten werden am Studieren gehindert

Sigmount Königsberg schildert weiter, dass zahlreiche jüdische Studierende entschlossen seien, sich nicht aus dem studentischen Leben verdrängen zu lassen. Andere aber überlegten schon, ob sie in Berlin oder anderswo in Deutschland ihre Studien überhaupt fortsetzen könnten. Die jüdische Gemeinde in der Hauptstadt hat rund 8200 Mitglieder. Königsberg weiter: "Ich empfinde die Proteste nicht als pro-palästinensisch, sondern in erster Linie als anti-israelisch. Denn was heißt pro-palästinensisch? Dann würde man doch versuchen, eine Lösung zu finden. Also wie sowohl Israel als auch Palästina zusammenfinden können. Aber was ich vor allem höre, sind Vernichtungsphantasien. Und gar keine Bereitschaft, sich mit dem existierenden Staat Israel auseinanderzusetzen." Tatsächlich mehren sich Berichte von körperlichen Übergriffen auf jüdische Studenten, darüber, dass sie am Betreten der Universitäten gehindert werden.

Sigmount Königsberg ist der Antisemitismus-Beauftragte der Jüdischen Gemeinde in Berlin
"Ich höre auf diesen Demonstrationen vor allem Vernichtungsphantasien", sagt Sigmount Königsberg von der Jüdischen Gemeinde in Berlinnull Annette Riedl/dpa/picture alliance

Fast 3000 Demonstrationen in Deutschland seit dem Hamas-Überfall

Vor einigen Tagen machte die Präsidentin der Humboldt-Universität im Herzen von Berlin, Julia von Blumenthal, den Protestierenden ein Gesprächsangebot. Sie wurde niedergebrüllt. Und Ende vergangener Woche hätten, berichtet Königsberg, Demonstranten ein Gemeindemitglied der Synagoge Brunnenstraße in der Stadtmitte angegriffen. Königsberg: "Sie sagen auch: Wir hassen Zionisten. Aber wenn man sich ein bisschen informiert, dann weiß man, dass Zionismus die Emanzipationsbewegung des jüdischen Volkes ist." Da ist es fast ein Friedensangebot, wenn ein junger Mann am Rande der Demonstration in Charlottenburg zur DW sagt, er habe nichts gegen Israel, nur gegen die gegenwärtige israelische Regierung und gegen die deutsche.

Das Thema Nahost erhitzt die Gemüter wie kaum ein anderes. Das zeigt auch eine eher nüchterne Meldung der Bundesregierung von Mitte der Woche: Darin steht, dass seit dem 7. Oktober vergangenen Jahres  im ganzen Land fast 3000 Veranstaltungen zum Thema Nahost bei der Polizei angemeldet wurden. Fast 1600 davon pro-palästinensisch und rund 1200 pro-israelisch. Bei den Aktionen zur Unterstützung Israels und zur Solidarität mit den nach wie vor im Gazastreifen verschleppten Geiseln gibt es in aller Regel keinerlei Anlass zu einem polizeilichen Eingreifen.

EURO 2024: "Wir brauchen ein neues Sommermärchen - für uns selbst"

"40 Jahre Selbstzweifel sind von einem ganzen Land abgefallen", befand der Soziologe Thomas Druyen 2006 nach dem "Sommermärchen" der Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland: Vier Wochen lang hatten Hunderttausende Fans das Land gefühlt in eine einzige Fanmeile verwandelt und das DFB-Team, den Fußball und auch ein Stück weit sich selbst gefeiert. "Es war nicht nur deutscher Patriotismus, sondern es war schon eine Form des Weltbürgertums, weil man sich gemeinsam freute. Man freute sich nicht gegen jemanden und für etwas, sondern die Freude hat einen Selbstzweck bekommen", sagte Druyen damals in einem Interview, das der bekannte deutsche Filmregisseur Sönke Wortmann führte.

18 Jahre später hat DW-Sport mit dem Wissenschaftler noch einmal über das Sommermärchen gesprochen - mit Blick auf die bevorstehende Europameisterschaft in Deutschland (14. Juni bis 14. Juli).

DW: Wie nachhaltig war aus Ihrer Sicht das Sommermärchen 2006?

Thomas Druyen: Der Fußball ist eine der wenigen Wettbewerbe, in denen selbst Niederlagen Emotionalität nicht oder nur ganz selten in Hass umschlagen lässt. Dieser Sport ist zudem begnadet, weil er Regeln hat, die alle Welt akzeptiert. Die Kraft des Fußballs hat 2006 dazu geführt, dass ein skeptisches, nicht risikoaffines, sondern sicherheitsfanatisches Volk wirklich die Arme öffnete und ein großes Fest feierte. Es war für mich, wie für Millionen andere Menschen, eine Sternstunde in meinem Leben. Die Erinnerung daran ist nachhaltig, im Sinne einer Sehnsucht. Nachhaltig ist auch die internationale Akzeptanz, was unsere Menschlichkeit angeht. Ich bin viel in der Welt unterwegs, und mich hat noch nie jemand bedauert, dass ich aus Deutschland komme. Erschreckend ist allerdings zu beobachten, wie weit wir aktuell von diesem verbindenden Gemeinschaftserlebnis und -gefühl von 2006 entfernt sind. Das ist eine durchaus desaströse Entwicklung. Vielleicht war es wirklich ein Sommermärchen und keine Sommerwirklichkeit.

Soziologe Thomas Druyen im Porträt
Prof. Thomas Druyen: "Vielleicht Sommermärchen und keine Sommerwirklichkeit"null Stefan Zeitz/IMAGO

Nach 2006 haben viele gedacht, von nun an sei Deutschland unwiderruflich das weltoffene Land, als das es sich vier Wochen lang präsentiert hatte. Ist die damalige Heim-WM verklärt worden?

Ich glaube, dass diese Naivität ein Kennzeichen unserer Kultur ist. Wir erleben einen Sieg unserer Lieblingsmannschaft und meinen, dass war die Wende. Wir erleben etwas Schönes im Privatleben oder Beruf und meinen, es bleibt so. Diese gewisse Gutgläubigkeit war damals ein Teil der Euphorie. Wir haben gedacht, das bleibt so. Aber wir haben nicht erkannt, dass man dafür etwas leisten muss. So eine Atmosphäre kann man nicht einfach aus dem Hut zaubern. Vor allen Dingen nicht, wenn es einem nicht gut geht. Wir müssen nach den Kriterien fragen, die dieses wünschenswerte Ereignis möglich gemacht haben. Denn so eine positive Stimmung verbessert das Leben - und entlastet auch die Psychotherapeuten.

Wir haben jetzt einige ähnliche Voraussetzungen wie 2006: ein Team, dem man bis vor Kurzem nichts zutraute, ein relativ neuer Trainer, der auch vor drastischen Schritten nicht zurückschreckt. Für wie wahrscheinlich halten Sie ein neues Sommermärchen bei der anstehenden Heim-EM?

Nichts würde ich uns mehr wünschen. Nichts würde ich aber im Moment mehr ausschließen, weil die gesellschaftlichen Bedingungen nicht dazu passen und auch nicht unsere Bereitschaft, über uns selbst hinauszuwachsen. Unsere Gesellschaft ist tief frustriert. Aus so einer Stimmung heraus loszulassen, ist - wenn überhaupt - nur möglich, wenn Deutschland ins Endspiel kommt. Eine Euphorie kann nicht aufkommen, wenn die eigene Mannschaft ausscheidet. Die sportliche Krise der Nationalelf in den letzten Jahren war ein Spiegelbild unserer seelischen Verfassung. Der Fußball durchlief die gleichen Probleme wie unsere Gesellschaft. Die lange Erfolglosigkeit hatte auch psychische Gründe. Selbst tolle Spieler kamen in der Mannschaft nicht zurecht.

Bastian Schweinsteiger, Philipp Lahm und Torsten Frings (l.-r.) bejubeln Lahms Tor zum 1:0 im Vorrundenspiel gegen Costa Rica.
Bastian Schweinsteiger, Philipp Lahm, Torsten Frings (l.-r.) und Co. begeisterten 2006 die Fansnull Florian Eisele/Pressefoto ULMER/picture-alliance

Ukrainekrieg, Nahostkonflikt, andere ungelöste Probleme - viele Menschen in Deutschland sind verunsichert und in einer eher depressiven Grundhaltung. Wie kann man es schaffen, die Freude wieder wie 2006 zum Selbstzweck zu erheben?

Unsere Position in der Welt, der Zustand unseres Landes, etwa der Medizin, unsere technischen Möglichkeiten stehen international immer noch sehr weit oben. Ja, wir haben etwa zehn Prozent der Bevölkerung, deren Situation wirklich anders werden sollte oder muss. Aber in den meisten anderen Gesellschaften sind es dreißig oder vierzig Prozent. Wir haben faktisch eine deutlich bessere Position, als sie empfunden wird. Es hat also mit Wahrnehmung zu tun. Wenn wir unsere Sorgen 90 Minuten lang ausblenden können und uns einfach nur gemeinsam am Fußballspiel erfreuen, in der Familie oder beim Public Viewing, bedeutet das ein Stück Lebensqualität. Gerade weil die Voraussetzungen jetzt so schlecht sind, sollte es für uns ein Ansporn sein zu sagen: "Mensch, jetzt lass‘ doch mal los! Wir feiern gemeinsam." Es ist eine historische Gelegenheit, die emotionale Sackgasse zu überwinden, in der wir uns gerade befinden. Nehmen wir das Beispiel Borussia Dortmund. Die Bundesliga-Saison verlief eher enttäuschend. Aber jetzt steht der BVB im Champions-League-Endspiel. Was für eine Euphorie, was für eine Freude! Da werden auch viele Leute Seite an Seite stehen, die sich vorher nicht mochten.

Im Gegensatz zu 2006 gibt es heute im Bundestag die AfD, eine rechtspopulistische, in Teilen rechtsextremistische Partei. Sehen Sie die Gefahr, dass diese Szene ein neues Sommermärchen für sich instrumentalisieren könnte?

Wenn es ein Sommermärchen geben sollte, hätte es eine einigende Kraft. Keine Gruppe könnte es für sich in Anspruch nehmen, weder rechts noch links. Das Gemeinschaftsgefühl würde die Menschen wieder einander näherbringen und nicht auseinandertreiben. Die Nationalmannschaft ist eine diverse Gruppe, in der viele kulturelle Elemente vertreten sind. Wenn man sie feiert, widerspricht man rassistischen Argumentationen. Deshalb sehe ich nicht die Gefahr, dass ein großer Erfolg von den Rechten instrumentalisiert werden kann. Anders sieht es aus, wenn es in die Hose geht und das DFB-Team früh ausscheidet. Dann würde dies sicherlich als Beleg für eine Gesellschaft angeführt, die nicht mehr funktioniert.

Torwarttrainer Andreas Köpke, Teamchef Jürgen Klinsmann, Co-Trainer Joachim Löw und Teammanager Oliver Bierhoff (l.-r.) bei der WM-Feier auf der Fan-Meile am Brandenburger Tor.
Euphorie um DFB-Team 2006: Torwarttrainer Andreas Köpke, Teamchef Jürgen Klinsmann, Co-Trainer Joachim Löw und Teammanager Oliver Bierhoff (l.-r.)null picture-alliance/dpa

Studien haben gezeigt, dass das Sommermärchen 2006 zu einem deutlichen Imagegewinn Deutschlands geführt hat. Hat das Land einen solchen Schub wieder nötig?

Der Imageschub damals war gewaltig, geradezu exponentiell. Wir haben ihn nach den Jahrzehnten zuvor auch gebraucht und verdient. Dieses Image ist danach nicht nennenswert eingebrochen. Es gibt zwar durchaus einige Menschen auf der Welt, die uns wieder als hartherzig bezeichnen würden. Aber im Gros ist unser Image auf einer viel besseren Ebene als vorher. Das liegt auch daran, dass Deutschland überall auf der Welt helfend unterwegs ist und Hoffnungslosen eine Perspektive bietet. Darauf sollten wir stolz sein. Deshalb würde ich sagen: Jetzt brauchen wir ein Sommermärchen für uns selbst und nicht, um unsere Reputation in der Welt aufzubessern.

Brauchen wir auch gutes Wetter? 2006 hatten wir während der WM in Deutschland vier Wochen lang Sonnenschein.

Natürlich entwickelt sich Euphorie nur selten unter dem Regenschirm oder wenn man sogar durchnässt ist. Wir brauchen schönes Wetter, auf keinen Fall Regen. Man sieht, von wie vielen Faktoren ein Sommermärchen abhängt. Noch besser wäre es allerdings , wenn wir alle in der Lage wären, uns emotional so einzustellen, dass wir auch gemeinsam im Regen feiern können.

 

Thomas Druyen, geboren in Viersen nahe Düsseldorf, ist ein deutscher Soziologe. Der Professor leitet seit 2015 das von ihm gegründete Institut für Zukunftspsychologie und Zukunftsmanagement an der Sigmund-Freud-Privatuniversität in Wien und ist Präsident der opta data Zukunfts-Stiftung in Essen. Der 66-Jährige bekennt sich zu seiner Fußballleidenschaft.

Das Interview führte Stefan Nestler.

Gericht verurteilt AfD-Politiker Björn Höcke

Verstummt war die Debatte über ein mögliches Verbot der Alternative für Deutschland (AfD) nie. Doch nach zwei Niederlagen vor Gericht wird sie nun wieder lauter geführt.

Am Dienstag (14. Mai) ist der AfD-Politiker Björn Höcke vom Landgericht Halle zu einer Geldstrafe von 100 Tagessätzen à 130 Euro verurteilt worden.

Die fünfte Strafkammer sah es als erwiesen an, dass er im Mai 2021 bei einer Kundgebung in Merseburg die verbotene Parole "Alles für Deutschland" der Sturmabteilung (SA) der NSDAP verwendet habe.

Dabei handle es sich um eine Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen nach Paragraf 86a des Strafgesetzbuchs, so die Begründung des Gerichtsurteils. Der studierte Historiker und frühere Geschichtslehrer Höcke hingegen bestreitet, den Ursprung der verbotenen Losung "Alles für Deutschland" gekannt zu haben.

Bereits am 13. Mai hatte das Oberverwaltungsgericht (OVG) Münster eine Klage der Partei gegen die Einstufung des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) als rechtsextremen Verdachtsfall zurückgewiesen. Der Verfassungsschutz ist der Inlandsnachrichtendienst.

In Sachsen ist die AfD mehr als ein Verdachtsfall

"Nun muss die Prüfung der Erfolgsaussichten eines Verbotsverfahrens konkret erfolgen", kommentierte Sachsens Justizministerin Katja Meier (Grüne) das Gerichtsurteil über die Einstufung der AfD. In ihrem Bundesland gilt die Partei sogar schon als "gesichert rechtsextremistisch". Sie ist also nach Überzeugung des in diesem Fall zuständigen Landesamtes für Verfassungsschutz mehr als ein Verdachtsfall.

AfD-Parteitag in Magdeburg

Trotz dieses Makels könnte die AfD im September bei der Landtagswahl in Sachsen stärkste politische Kraft werden. In Umfragen liegt sie vor der Christlich-Demokratischen Union (CDU), die in Sachsen seit der deutschen Wiedervereinigung 1990 ununterbrochen den Ministerpräsidenten stellt.

Michael Kretschmer hält AfD-Spitze für rechtsextrem 

Der amtierende Regierungschef Michael Kretschmer (CDU) sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) mit Blick auf die AfD: "Es mag sein, dass nicht jeder Wähler und auch nicht jedes Mitglied rechtsextrem ist. Aber die Führung, der Geist, der ist es auf jeden Fall."

Der sächsische Bundestagsabgeordnete Marco Wanderwitz (CDU) kündigte unter dem Eindruck der AfD-Niederlage vor Gericht an, im Deutschen Bundestag einen Antrag für ein Verbotsverfahren zu initiieren. Gerade im Osten bekomme man die Partei auf politischem Weg nicht mehr klein, begründete der Christdemokrat gegenüber Zeit Online seinen Vorstoß.

"Je länger wir schweigen, desto mehr Mut werden wir brauchen"

Warum Hendrik Cremer ein AfD-Verbotsverfahren für unverzichtbar hält

Bei Hendrik Cremer vom Deutschen Institut für Menschenrechte in Berlin stößt Wanderwitz damit auf offene Ohren. Der Jurist warnt schon lange eindringlich davor, die AfD zu unterschätzen.

Im Februar ist sein Buch über die Partei erschienen – der Titel: "Je länger wir schweigen, desto mehr Mut werden wir brauchen." Damit will der Jurist zum Ausdruck bringen, für wie gefährlich er die AfD hält. 

Häufig sei immer noch von einer rechtspopulistischen oder von einer nur in Teilen rechtsextremen Partei die Rede. Über ihre Ziele werde auch in Medien relativ selten berichtet, bemängelt Cremer im DW-Interview.

"Die Gewaltbereitschaft wird häufig ausgespart. Es muss also viel, viel deutlicher werden, welcher Kurs sich dort mittlerweile durchgesetzt hat. Das muss benannt werden."

In AfD-Chats ist von "regierenden Verbrechern" die Rede

Der AfD-Experte analysiert in seinem Buch die seit Jahren zunehmende Radikalisierung. Insbesondere verweist er auf Gewaltfantasien in Chatgruppen, denen auch zahlreiche Landtags- und Bundestagsabgeordnete angehörten.

In diesen Foren war von "regierenden Verbrechern" die Rede, und es fanden sich Sätze wie "Ohne Umsturz und Revolution erreichen wir hier keinen Kurswechsel mehr". 

Das vom Oberverwaltungsgericht Münster verkündete Urteil, mit dem die AfD als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestuft wurde, hält Cremer deshalb für überfällig: "Aus meiner Sicht müsste auch der nächste Schritt erfolgen: nämlich die gesamte AfD als rechtsextremistische Bestrebung einzustufen." Bislang ist das nur in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen der Fall, also in drei von 16 Bundesländern.

AfD in Deutschland - sind das die neuen Nazis?

"Brandmauer" mit Löchern

Die von allen anderen Parteien beschworene "Brandmauer" zur AfD habe Löcher, betont Cremer. Das lasse sich besonders auf der kommunalen Ebene beobachten. "Sie ist allerdings absolut erforderlich. Sie ist die Grundvoraussetzung, um der AfD überhaupt effektiv entgegentreten zu können."

Zweifel an einem erfolgreichen Parteiverbotsverfahren könne er nur schwer nachvollziehen, sagt der langjährige AfD-Beobachter. Deshalb plädiert Cremer dafür, sorgfältig einen Antrag zu prüfen und ihn auch zu stellen.

Sein Buch über die Alternative für Deutschland endet so: "Es wird höchste Zeit, die Erkenntnis über die Gefahr, die von der AfD ausgeht, in die Gesellschaft zu tragen. Noch ist es nicht zu spät. Doch die Zeit drängt."

Kommt es tatsächlich zum Gruppen-Coming-out im Profifußball?

Was ist Sports Free?

Es handelt sich dabei um eine Initiative, die sich für die Sichtbarkeit und die Akzeptanz von queeren Athletinnen und Athleten im Profisport einsetzt. Urheber der Initiative ist Diversero, eine weltweite Community für Vielfalt und gegen Mobbing. Kopf und Mit-Initiator der "Sports Free"-Kampagne ist Marcus Urban.

Wer ist Marcus Urban?

Urban war 2007 der erste ehemalige Fußballspieler in Deutschland, der sich als homosexuell outete. Damals hatte er seine Laufbahn als aktiver Leistungssportler allerdings schon lange beendet. Urban, geboren 1971 in der damaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR), war einer der talentiertesten Nachwuchsfußballer seines Landes. Er spielte als Mittelfeldspieler mit dem FC Rot-Weiß Erfurt aus dem Bundesland Thüringen in der höchsten Liga für DDR-Jugendmannschaften und für mehrere Junioren-Nationalmannschaften der DDR.

Ex-Fußballer Marcus Urban im Porträt
"Es lebt sich leichter, wenn man frei lebt", sagt Ex-Fußballer Marcus Urban, der sich 2007 selbst geoutet hatnull Reto Klar/Funke Foto Services/IMAGO

Fast wäre er Anfang der 1990er Jahre Profi geworden, verzichtete aber auf eine Laufbahn als Berufsfußballer, weil ihm der Druck, seine Homosexualität verstecken zu müssen, zu groß war.

Was ist beabsichtigt?

Für den 17. Mai 2024, den Internationalen Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transfeindlichkeit (IDAHOBIT), stellt die Initiative eine Plattform zur Verfügung, auf der Profisportlerinnen und -sportler sich öffentlich zu ihrer Homosexualität oder ihrem Queersein bekennen können.

"Wir organisieren ein Gruppen-Coming-out und fordern die Gesellschaft auf, über die Werte der Inklusion nachzudenken", heißt es auf der Internetseite. Der Termin wurde bereits im November 2023 angekündigt. "Wir bauen eine Art digitale Bilderwand", erklärte Urban kürzlich in einem Interview mit dem Magazin "stern". "Dort können Spieler, Trainer, Schiedsrichter oder andere Personen aus dem Umfeld des Profifußballs ihre Geschichte teilen."

Anschließend soll der 17. jedes weiteren Monats weltweit als "Sports Free Day" gefeiert werden, um das Bewusstsein für die Herausforderungen zu schärfen, denen sich queere Sportlerinnen und Sportler stellen müssen. Besonderes Augenmerk liegt am 17. Mai jedoch auf schwulen Profifußballern.

"Es ist eine kleine Revolution", sagte Urban im April im Gespräch mit der DW und hoffte auf eine "Kettenreaktion". "Für viele Kinder, Jugendliche und Erwachsene weltweit wird das sehr wichtig. Für sie gibt es dann neue Vorbilder."

Welche Ängste herrschen bei schwulen Fußballern?

Homophobie ist im Fußball der Männer immer noch weit verbreitet. Es gibt zahlreiche schwulenfeindliche Fangesänge, zudem fallen auf dem Platz auch unter den Spielern oft abwertende Kommentare, wie: "Was war das für ein schwuler Pass?" oder "Du spielst wie ein Schwuler!"

Im Dortmunder Stadion hängt ein Transparent mit der Aufschrift "Gemeinsam gegen Homophobie".
Homophobie ist im Männerfußball ein Dauerthema - auch wenn viele Klubs und Fangruppen sich seit Jahren dagegen positionierennull RHR-FOTO/TK/IMAGO

Marcus Urban und seinen Mitstreitern zufolge haben viele homosexuelle Spieler daher eher Angst vor den Reaktionen auf dem Platz und in der Kabine als durch die Fans von den Rängen.

Zudem seien viele Spieler der Überzeugung, "dass sie nach einem Coming-out in Ungnade fallen würden in der Branche", erklärte Urban. Sie versteckten sich daher, führten ein Doppelleben, teilweise mit Scheinfreundinnen für die Öffentlichkeit und träfen sich nur im Geheimen mit anderen Männern.

Welche Fußballprofis haben sich bereits geoutet?

Neben Urban war Ex-Nationalspieler Thomas Hitzlsperger in Deutschland der prominenteste. Allerdings offenbarte sich Hitzlsperger im Jahr 2014 ebenfalls erst nach dem Ende seiner aktiven Karriere. Einen aktiven Profifußballer, der sich outete, gab es in Deutschland bisher noch nicht.

Ohnehin haben sich weltweit nur sehr wenige aktive Profis öffentlich zu ihrer Homosexualität bekannt. Der erste war 1990 der Engländer Justin Fashanu - ein tragischer Fall. Fashanu schlug Hass und Ablehnung entgegen. Er nahm sich 1998 das Leben, nachdem ein 17-Jähriger ihn der Vergewaltigung beschuldigt hatte.

Spielszene Jakub Jankto für Tschechien gegen Schweden
Tschechiens Nationalspieler Jakub Jantko (l.) ist einer der wenigen aktiven Profis, die sich geoutet habennull Jonas Ekstromer/dpa/AP/picture alliance

Nach Fashanus Outing dauerte es lange, bis US-Fußballer Collin Martin 2018 bekanntgab, schwul zu sein. Ihm folgten 2021 der Australier Josh Cavallo (Oktober 2021), Jake Daniels aus England (Mai 2022) und der Tscheche Jakub Jankto (Februar 2023). Zudem gibt es in anderen Ländern einige aktive Spieler im halbprofessionellen, oberen Amateurbereich, die sich geoutet haben.

Was sagen Kritiker zum geplanten Gruppen-Outing?

Sie befürchten, dass die Initiative Urbans keine nachhaltige Wirkung haben werde, sondern nur ein kurzes Schlaglicht auf die Problematik werfe, ohne tatsächlich etwas an der Situation zu ändern, dass Homophobie weit verbreitet ist. "Es ist eine Ablenkung, weil es Menschen das Gefühl vermittelt, dass das Problem angegangen wird und sich etwas verändert - obwohl das in der Realität ja nicht so ist", bemängelte der australische Verhaltensforscher Erik Denison im Deutschlandfunk (DLF). Er forscht seit Jahren zu Homophobie im Sport.

Kritik gibt es auch vom Deutschen Fußballbund (DFB), der nicht in die Initiative eingebunden ist. "Das fehlt mir leider bei der Kampagne, dass da ein breiteres Bündnis aufgebaut wurde, was das Ganze mit unterstützt", sagte Christian Rudolph ebenfalls im DLF. Er leitet beim DFB die Anlaufstelle für geschlechtliche und sexuelle Vielfalt.

Von den 36 Profivereinen aus der 1. und 2. Liga haben sich mit dem VfB Stuttgart, Hannover 96, dem VfL Osnabrück, dem SC Freiburg, Borussia Dortmund, der TSG Hoffenheim, Union Berlin und dem FC St. Pauli bislang erst acht Klubs zur Unterstützung der "Sports Free"-Initiative bekannt.

Was ist für den 17. Mai zu erwarten?

Das ist schwer vorauszusagen. Jedoch steigt die Skepsis, ob es tatsächlich zum erhofften Gruppen-Outing prominenter Fußballprofis kommt, je näher der Termin rückt. Auch Initiator Marcus Urban dämpfte zuletzt die Erwartungen und ruderte ein wenig zurück.

"Aktive Profifußballer halten sich noch zurück", sagte er im "stern"-Interview und gab zudem zu, selbst gar keinen direkten Kontakt zu schwulen Profis zu haben, auch nicht per SMS oder Kurznachrichten. "Es gibt eine Vernetzung, aber sie findet im Verborgenen statt." Er müsse "mühsam" über Dritte kommunizieren. "Die Spieler sind extrem vorsichtig. Keiner traut sich aus der Deckung." Es herrsche "höchste Vorsicht", so Urban.

Daher muss sich erst zeigen, ob die Kampagne erstmal nur große mediale Aufmerksamkeit erzeugt hat, oder ob sie tatsächlich einen nachhaltigen Effekt haben wird und eine Verbesserung der Situation homosexueller Fußballprofis bewirkt.

Sind die Deutschen faul geworden?

Ein Blick auf die Zahlen der Industriestaatenorganisation OECD kann schon erschrecken. Demnach arbeitete 2022 der durchschnittliche US-Amerikaner mehr als 1800 Stunden pro Jahr, der durchschnittliche Deutsche dagegen nur 1340 Stunden. Den Rückschluss, die Deutschen seien faul geworden, dürfe man daraus allerdings nicht ziehen, meint der Arbeitsmarktexperte Enzo Weber. Er forscht am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), eine Art Thinktank des Bundesagentur für Arbeit. 

"Deutschland hat eine sehr hohe Frauenerwerbsquote im Vergleich zu den meisten anderen Ländern", so Weber. Rund jede zweite Frau arbeitet in Teilzeit. Rein rechnerisch drückt das die durchschnittliche Jahresarbeitszeit nach unten.

Beispiel: Wenn zwei Männer in einem Land zehn Stunden arbeiten, ist die durchschnittliche Arbeitszeit zehn Stunden (10+10):2=10. Arbeiten in einem anderen Land zwei Männer zehn Stunden und eine Frau vier Stunden, dann ist die durchschnittliche Arbeitszeit acht Stunden (10+10+4):3=8.

Deutsche arbeiten mehr, nicht weniger 

"Die Zahlen bedeuten also nicht, dass in Deutschland weniger gearbeitet wird", sagt Weber. "Ganz im Gegenteil, es wird mehr gearbeitet, denn die Alternative wäre ja, dass diese Frauen gar nicht in der Statistik drin wären." Auch die OECD weist darauf hin, dass sich die Daten nur beschränkt zum internationalen Vergleich eignen würden.

In Deutschland haben sich die Zeiten, als Männer Vollzeit im Job waren und Frauen zu Hause, verändert. Inzwischen arbeiten 77 Prozent der Frauen - damit ist der Anteil der Frauen in der Berufswelt in den letzten dreißig Jahren deutlich gestiegen, auch wenn viele in Teilzeit beschäftigt sind.

Frau sitzt an einem Laptop, neben ihr sitzt ein Kind
Viele Frauen arbeiten in Teilzeit, weil sie sich auch noch um ihre Kinder kümmern müssennull Julian Stratenschulte/dpa/picture alliance

Wunsch nach weniger Arbeit ist da

Dabei würden die Deutschen durchaus gerne weniger arbeiten. Das haben Umfragen immer wieder gezeigt. Laut einer Studie des IAB möchten von den Frauen, die in Vollzeit beschäftigt sind, beinahe die Hälfte ihre Arbeitszeit um gut sechs Stunden reduzieren. Bei den Männern würden gerne knapp 60 Prozent um die 5,5 Stunden weniger arbeiten. Diese Wünsche gibt es bereits seit Jahrzehnten und sie haben sich im Zeitverlauf nicht sehr verändert.

Auch Gen Z ist besser als ihr Ruf

Besonders schlecht ist im Hinblick auf die Arbeitszeitwünsche, der Ruf der sogenannten Gen Z, also der Menschen, die in den Jahren 1995 bis 2010 geboren wurden. Sie wollen möglichst viel Freizeit und möglichst hohe Gehälter haben. So ein oft wiederholtes Vorurteil. Enzo Weber kann das nicht bestätigen. Der Mehrheit der Generation Z sei Erfolg im Beruf wichtig. Damit würden sie sich nicht von vorherigen Generationen unterscheiden, meint Weber.

"Ich glaube, alle wollen möglichst viel Freizeit und hohe Gehälter haben. Dagegen kann ich schlecht etwas sagen. Was wir für die Jungen finden: keine ungewöhnliche Entwicklung der Arbeitszeitwünsche, kein ungewöhnlicher Rückgang des beruflichen Engagements, nicht mehr Jobwechsel als junge Leute früher."

X-Tage Woche ermöglichen

Inzwischen haben sich zudem die Lebensmodelle der Deutschen verändert. "Den Alleinverdiener-Haushalt aus der Zeit des Wirtschaftswunders gibt es kaum noch", so Weber. Inzwischen würden in der Regel beide Partner arbeiten und bräuchten daher eine gewisse Flexibilität. "Jeder sollte frei wählen können, in welcher Lebensphase er wie viel arbeitet", meint Weber daher. "Wir brauchen keine 5- oder 4-Tage-Woche, sondern eine X-Tage-Woche und eine Flexibilisierung der Arbeit über die gesamte Lebenszeit." Mit flexibleren Arbeitsmodellen könnten auch Menschen im Ruhestandsalter motiviert werden, doch noch weiter zu arbeiten.

Die Corona-Pandemie habe gezeigt, dass ein flexibles und mobiles Arbeiten funktioniert, meint Weber. Diese Entwicklung ließe sich nicht wieder zurückdrehen. Und es sei sinnvoll, Arbeit so zu gestalten, dass Menschen damit zufrieden sind.

Verhandlungspositionen am Arbeitsmarkt verschoben

Die Forderungen nach kürzerer und flexiblerer Arbeitszeit, sind zudem in Zeiten von Fachkräftemangel und durch die Erfahrungen, die in der Corona-Pandemie gemacht wurden, leichter durchsetzbar als nach der Jahrtausendwende, als es Massenarbeitslosigkeit gab.

Wie aber passt "weniger Arbeiten" zusammen mit dem steigenden Bedarf an Fachkräften und dem Wunsch, keine Wohlstandsverluste zu erleiden? Allein durch die demografische Entwicklung wird erwartet, dass bis 2035 sieben Millionen Menschen weniger auf dem deutschen Arbeitsmarkt sein werden.

Ein Schweißer arbeitet mit Schutzbrille an einem Windrad
Der Fachkräftemangel wird sich in vielen Branchen in den kommenden Jahren noch verschlimmernnull Patrick Pleul/dpa/picture alliance

Produktivität ist ein Schlüsselfaktor 

Ein Hebel, wenn die Zahl der gearbeiteten Stunden nicht steigt oder sogar sinkt, ist, die Qualität der Arbeit, also die Produktivität zu steigern. Enzo Weber ist der Ansicht, dass es keinen Sinn mache, aus den Menschen die maximalen Arbeitszeiten rauszupressen. Er hält es für sinnvoller, die Qualität der Arbeit zu steigern: durch Fortbildung, durch Investitionen in Digitalisierung, KI und durch den ökologischen Umbau der Wirtschaft.

Wichtig sei eine proaktive Qualifizierungspolitik, glaubt Weber. Es dürfe also nicht gewartet werden, bis jemand vom Strukturwandel abgehängt wurde, um dann mit einer Notmaßnahme zu versuchen, ihn zu retten. Vielmehr müssten die Menschen in die Lage versetzt werden, selbst initiativ zu werden und selbst eine aktive Rolle spielen zu können.

Eine Krankenpflegerin schiebt ein Bett durch den Flur
In der Pflege lässt sich die Arbeitsproduktivität nur bedingt steigernnull Marijan Murat/dpa/picture alliance

Produktivitätswachstum hat sich sehr verlangsamt

Im Augenblick sieht es allerdings nicht rosig aus, was die Produktivität angeht. Da herrsche eher Stagnation, beklagt Weber. Zwischen 1997 und 2007 wurde in Deutschland noch ein Produktivitätswachstum von 1,6 Prozent erreicht, so eine Studie des McKinsey Global Institute (MGI). Im Zeitraum 2012 bis 2019 halbierte sie sich aber auf 0,8 Prozent. 

Das liegt unter anderem daran, dass viele Stellen in Bereichen mit geringerer Produktivität, etwa bei personalintensiven Dienstleistungen geschaffen wurden. In der Pflege, Erziehung oder im Bereich Gesundheit sind Produktivitätssteigerungen nur beschränkt möglich. 

Produktivität - warum sie in Deutschland kaum noch wächst

Die gesamtwirtschaftliche Produktivität ist auch gesunken, weil die Konjunktur schwächelt und viele Unternehmen aufgrund des Fachkräftemangels trotzdem ihre Mitarbeiter halten und damit die Arbeitskosten nicht verringert werden. Das senkt die Produktivität. Auch bei den Themen Investitionen in technologische Entwicklung, Digitalisierung und bei der ökologischen Transformation könnte mehr passieren, so der Tenor des Digitalrates der BDA(Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände).

Unabhängig von der Entwicklung der Produktivität gibt es aber auch noch viele ungenutzte potentielle Arbeitskräfte. "Dies betrifft nicht nur die Erwerbstätigkeit von Frauen und die Erhöhung der Arbeitszeit von Menschen in Teilzeit, sondern auch die vielen Migrantinnen und Migranten und Deutsche, die keinen Schul- oder Berufsabschluss haben und denen häufig schon früh viele Chancen genommen werden, ein produktiver Teil im Arbeitsleben sein zu können," meint Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin.

 

So will Deutschland Wohnungslosigkeit beenden

Gut zwei Jahrzehnte lang war Dirk Dymarski wohnungslos. Er lebte zeitweise in Notunterkünften und auch auf der Straße. Das sei etwas, das er nicht so leicht abschütteln könne. Allerdings habe es auch sein Denken verändert.

"20 Jahre Wohnungsloser gewesen zu sein, war mir eine Lehre in jeglicher Hinsicht, denn ich habe früher leider selber Wohnungslose diskriminiert und stigmatisiert", sagt er der DW. "Aber in den letzten Jahren hatte ich selber kapiert: Jeder kann schnell in eine solche Situation geraten, und es ist schwierig wieder da raus zu kommen."

Dymarski ist jetzt Mitglied der Freistätter Online Zeitung, einer Lokalzeitung, die von der Stiftung Bethel von und für Wohnungslose in dem kleinen Städtchen Freistatt in Niedersachsen betrieben wird. Dymarski gehört auch der Selbstvertretung Wohnungloser Menschenan, einer Organisation, die wohnungslosen Menschen in Deutschland eine Stimme geben möchte.

Um ein neues Zuhause zu finden, müsse man erstmal das Stigma des Wohnungslosen überwinden, sagt Dymarski. "Die erste Frage, die einem gestellt wird, ist: Wo wohnen Sie denn zur Zeit? Und wenn du dann einem Vermieter sagst, du wohnst in einer stationären Einrichtung, dann fällt man ziemlich schnell durchs Raster."

Das Ende der Wohnungslosigkeit?

Aufgrund des Mangels an bezahlbarem Wohnraum, ist Wohnungslosigkeit in den vergangenen Jahren gestiegen. Genaue Zahlen sind schwer zu ermitteln, die Bundesregierung geht aber von etwa 375.000 Betroffenen in Deutschland aus.

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG-W) geht eher von 600.000 Menschen aus, wobei etwa 50.000 auf der Straße leben sollen. Diese Zahlen schließen all jene ein, die entweder keinen Mietvertrag oder kein eigenes Zuhause besitzen.

Der Kältebus in Berlin hilft Obdachlosen

Es gibt eine Unterbringungspflicht für deutsche Behörden, obdachlose Menschen müssen also in Notunterkünften Zuflucht finden können. Allerdings entscheiden sich viele Menschen gegen eine solche Unterkunft, weil diese häufig weder Sicherheit noch Privatsphäre bietet. 

Um das Problem zu bekämpfen, hat die Bundesregierung Ende April einen "Nationalen Aktionsplan" beschlossen, um die - wie sie es nennt - "Mammutaufgabe" der Beendigung der Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit im Land bis 2030 anzugehen. Es ist das erste Mal, dass eine deutsche Bundesregierung ein solches Dokument erstellt.

Der 31-Punkte-Plan, der vom Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen veröffentlicht wurde, enthält Ideen wie die Bereitstellung von Geldern für die Bundesländer zum Bau von Sozialwohnungen, die Bekämpfung von Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt, die Unterstützung der Menschen beim Zugang zu einer Krankenversicherung und die Verbesserung des Zugangs zu Beratungsdiensten.

"Mehr bezahlbare Wohnungen sind der Kernpunkt für die Bekämpfung von Wohnungslosigkeit", sagt Bauministerin Klara Geywitz. "Dass es diesen bundesweiten Handlungsleitfaden gibt, war ein expliziter Wunsch der Zivilgesellschaft, der vielen Menschen, die sich um obdach- und wohnungslose Menschen kümmern."

"Auf der Straße leben, ist wie Krieg"

Einige Organisationen, die sich um Wohnungslose kümmern, wurden zuvor beratend befragt. Und der Aktionsplan, sagen sie, sei vielsprechend – allerdings nur als ein erster Schritt.

Dymarski und seine Kollegen und Kolleginnen loben Bundesministerin Geywitz und ihr respektvolles Auftreten in Gesprächen mit ihnen. Allerdings sei der Plan, wie er nun veröffentlicht wurde, zu vage und nicht ausgereift.

Andere Organisationen stimmen dem zu. "Aktionsplan klingt ein bisschen wie: Jetzt geht's aber los, und jetzt kommen wir in die Aktion. Aber ich frage mich, ob das nicht eher ein Positionspapier ist", sagt Corinna Müncho, Direktorin des "Housing First" Projekts in Berlin. "Denn diejenigen, die das umsetzen müssen, nämlich die Länder und die Kommunen, wissen trotz Plan nicht, wie sie's tun sollen."

Die "Housing First" Initiative hilft Menschen dabei, eine Wohnung zu finden – ohne Vorbedingungen. Denn das Projekt geht von der Prämisse aus, dass Wohnen schlicht ein Grundrecht sei.

Obdachlosigkeit in Oberhausen, Ein Raum mit mehreren Regalen, die gefükkt sich mit Kleidung und Schuhen. Im Vordergrund eine Plastikwanne mit einer braunen Jacke
Notunterkünfte versuchen die Menschen zumindest mit dem Nötigsten zu versorgennull Volker Witting/DW

Müncho ist sich bewusst, wie schwer das Leben für Menschen auf der Straße ist: "Mir hat mal ein Klient gesagt: Auf der Straße leben ist wie Krieg", sagt sie der DW.

"Das hängt damit zusammen, dass sie völlig schutzlos sind, im Grunde genommen immer in so einem Aufpassmodus sind, keinen privaten Raum haben, keinen Raum, wo sie Intimität leben können. Das, was man an primären Bedürfnissen hat, wird permanent nicht bedient. Und das macht was mit der Psyche."

Bezahlbarer Wohnraum fehlt

Wohltätigkeitsorganisationen hätten schon lange einen solchen Aktionsplan verlangt, sagt Lars Schäfer, Referent für Wohnungsnotfallhilfe bei der Diakonie Deutschland der DW. "Das ist erstmal positiv, dass sich die Politik überhaupt dieses Themas annimmt. Denn so können wir die Politik immer wieder daran erinnern, was sie hier als Ziele formuliert hat."

Allerdings sagt er auch, die 31 Punkte seien lediglich eine "Sammlung von bereits vorher bestehenden Maßnahmen, und einigen wenigen neuen, die aber weder große gesetzliche Veränderungen mit sich bringen, noch Geld kosten — und das sind natürlich die beiden entscheidenden Stellschrauben."

Leben ohne Zuhause

Ein Beispiel dafür ist Punkt Nummer eins: Eine Zusage über 18,15 Milliarden Euro, die der Bund den Ländern für den sozialen Wohnungsbau für den Zeitraum 2022 bis 2027 geben will.

Mietpreiskontrollierte Wohnungen werden dringend benötigt, aber dieser Fonds wurde bereits vor zwei Jahren angekündigt - und die Bundesregierung musste vergangenes Jahr zugeben, dass im Jahr 2022 nur 22.545 neue Wohnungen zur Verfügung gestellt wurden. Das Ziel war, 100.000 Wohnungen pro Jahr.

"Da denke ich mir: Ja, reinschreiben kann man das, allerdings nützt es wenig, denn das, was gemacht wird, und auch gut ist, führt in der Gesamtstrategie nicht dazu, dass die Wohnungs- oder Obdachlosenzahlen sinken", sagt Müncho.

Viel Geld, schlecht verteilt

Schäfer ist der Meinung, dass es konkrete Maßnahmen gäbe, die Verantwortliche ergreifen könnten, vor denen der Aktionsplan aber zurückschrecke: So könnten beispielsweise Vorurteile von Vermietern umgangen werden, wenn die Kommunen Quoten für Obdachlose in neuen Sozialwohnungen festlegen würden.

Oder die Bundesregierung könnte festlegen, dass ein bestimmter Anteil der Gelder, die den Ländern für den sozialen Wohnungsbau zur Verfügung gestellt werden, für die Unterbringung von Obdachlosen verwendet werden müsse.

Es gehe nicht nur darum, mehr Geld auszugeben, sagt Müncho, es gehe um eine bessere Verteilung. "Das Geld ist da – wir geben ganz viel Geld aus für niedrigschwellige Einrichtungen. Auch die ordnungsrechtlichen Unterkünfte kosten unglaublich viel Geld für ganz, ganz schlechte Standards. Wir reden von Tagessätzen: Da kommt man für eine Person im Monat in Berlin auf 1000 Euro. So viel sollte keine Wohnung kosten in Berlin."

Nach Angaben von Wohlfahrtsverbänden ist die Lage auf dem Wohnungsmarkt derzeit so verzweifelt, dass viele Menschen jahrelang in Massenunterkünften festsitzen. Der neue Plan der Bundesregierung ist ein Versuch, dem entgegenzuwirken. Für die Aktivisten ist er kaum mehr als eine Absichtserklärung.

Björn Höcke: Ein "Faschist" als Ministerpräsident?

Björn Höcke und seine Partei, die Alternative für Deutschland, AfD, sind nicht erst seit dem Strafprozess gegen ihn umstritten. Der ehemalige Geschichtslehrer bezieht sich immer wieder auf die Zeit des Nationalsozialismus. Die Nationalsozialisten unter ihrem selbsternannten faschistischen "Führer" Adolf Hitler von 1933 bis 1945 ermordeten über sechs Millionen europäische Juden und verantworteten mit dem Zweiten Weltkrieg einen der folgenreichsten Kriege der Weltgeschichte.

Im Nachkriegsdeutschland gilt jegliche Form von ideologischer oder symbolischer Annährung an den Nationalsozialismus als politisch geächtet. Björn Höcke aber fordert ein Umdenken.

Im Jahr 2017 in einer Rede vor dem Parteinachwuchs Junge Alternative kritisiert er den Umgang der Deutschen mit der NS-Diktatur als "dämliche Bewältigungspolitik" und forderte eine "erinnerungspolitische Wende um 180 Grad".

Björn Höcke - AfD Fraktionsvorsitzender im Zentrum, umgeben von Männern, im Hintergrund Deutschlandfahnen
Gemeinsame Demonstration mit Rechtsextremisten und Neonazis: Björn Höcke am 1. September 2018 in Chemnitz, Sachsennull Kai Horstmann/imago images

Sein eigener Parteivorstand war vor Jahren der Überzeugung, dass er unter dem Pseudonym "Landolf Ladig" Texte veröffentlicht habe, die "eine übergroße Nähe zum Nationalsozialismus" aufweisen würden, so der Parteivorstand in einem Schreiben. Höcke bestritt zwar die Vorwürfe; er weigerte sich aber, eine entsprechende eidesstattliche Erklärung zu unterschreiben. Im Jahr 2017 hatte die AfD deswegen –erfolglos – den Parteiausschluss Höckes beantragt. Stattdessen hat sich die Partei mittlerweile in Höckes Richtung radikalisiert; seine Anhänger prägen inzwischen die Programmatik der Partei.

Höcke gilt als besonders radikaler Vertreter, der mit seinen Reden immer wieder für Skandale gesorgt hat. Vor allem in der Migrationspolitik ist er ein Hardliner, der auch Verschwörungsmythen nährt: dass zum Beispiel Deutschland der "Volkstod" bevorstünde, weil die regierenden Parteien das Land absichtlich mit Migranten besiedeln würden. Höcke fordert seit Jahren, dass Millionen Menschen Deutschland verlassen müssten.

Diese Idee hat eine besondere Brisanz bekommen, seit den Recherchen des Mediums "Correctiv", das im Januar Geheimpläne von AfD-Politikern und Rechtsextremisten zur Vertreibung von Migranten aus Deutschland bekannt machte. Immer mehr politische Beobachter, Holocaustüberlebende und Extremismusforscher warnen daher vor den Konsequenzen des Aufstiegs der rechten Partei.

AfD in Deutschland - sind das die neuen Nazis?

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ruft zur Wachsamkeit auf. Und auch die Diskussion über ein Parteienverbot hat angesichts der Radikalisierung der AfD an Fahrt aufgenommen. Gleichzeitig greift die AfD nach Jahren in der politischen Opposition nach der politischen Macht.

2024 könnte die Alternative für Deutschland wichtige politische Erfolge erzielen, denn es stehen neben den Wahlen zum EU-Parlament zahlreiche Landtags- und Kommunalwahlen an. Meinungsumfragen sehen die in Teilen rechtsextreme Partei derzeit vor allem im Osten der Republik als stärkste politische Kraft.

Im kleinen Bundesland Thüringen will sie 2024 sogar den Ministerpräsidenten stellen. Und das ausgerechnet mit ihrem besonders radikalen Vertreter: Björn Höcke.

Das Amt hat weitreichende politische Macht: Der Ministerpräsident ist maßgeblich verantwortlich für die Bildungs- und Medienpolitik seines Landes. Er entscheidet auch über die konkrete Umsetzung der Asylpolitik des Bundes. Angesichts der Forderung der AfD nach einem radikalen Kurswechsel in der Asyl- und Einwanderungspolitik könnte das besonders folgenreich sein.

Höcke: "Kampf gegen rechts einstellen"

Auf einem AfD-Treffen im November 2023 kündigte Höcke weitreichende Maßnahmen an, sollte er in das Ministerpräsidentenamt gewählt werden: "Wir werden den Kampf gegen rechts einstellen!" versprach er unter dem Jubel seiner Anhänger. Auch gegen die öffentlich-rechtlichen Medien will Höcke vorgehen: "Was passiert denn, wenn der Höcke dann Ministerpräsident wird? Kündigt er denn die Medien-Staatsverträge? Ja, das macht der Höcke dann, ja", rief er ebenfalls unter dem Jubel der AfD-Mitglieder.

TikTok-Erfolg der AfD bereitet Sorgen

Wegen AfD-kritischer Berichte fordert die Partei seit Jahren eine Abschaffung oder Umstrukturierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland. Inspiriert vom ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump setzt die AfD auf sogenannte "Alternative Medien" und verbreitet ihre politischen Vorstellungen auf eigenen, reichweiten-starken Parteikanälen in den sozialen Medien.

Wie realistisch das Szenario von einem rechtsextremen Ministerpräsidenten ist, hat das renommierte Onlineportal "Verfassungsblog" im Dezember 2023 skizziert. Dreh und Angelpunkt ist demnach das eher unscheinbare politische Amt des Landtagspräsidenten. Es entfällt in Deutschland traditionell auf die bei Landtagswahlen erfolgreichste Partei.

"Immenser Schaden für die Demokratie"

Verfassungsblog warnt vor den Folgen: "Der Schaden, den eine autoritär populistische Partei mithilfe dieses Amtes für die Demokratie insgesamt anrichten könnte, ist immens." Denn der Landtagspräsident organisiert das Funktionieren der parlamentarischen Arbeit. Vor allem: In Thüringen hätte der Landtagspräsident die Möglichkeit, einen Politiker zum Ministerpräsidenten zu küren, auch wenn er im Parlament keine absolute Stimmenmehrheit bekommt. Dazu würde im dritten Wahlgang eine einfache Stimmenmehrheit reichen.

Verhindert werden könnte das wohl nur durch ein pikantes Bündnis: Konservative Christdemokraten und sozialistische Linke müssten sich auf einen gemeinsamen Gegenkandidaten verständigen. Aber beide Parteien sind in Deutschland - und insbesondere in Thüringen - erbitterte politische Gegner.

Schaden die Skandale um ausländische Einflussnahme der AfD?

Offen ist, ob die zahlreichen Skandale der AfD und von Björn Höcke selbst den Ambitionen beider nicht doch schaden. Denn das Image beider scheint angeschlagen. Denn die AfD sorgt im Jahr 2024 für viele negative Schlagzeilen. Nicht nur Björn Höcke mit seinem Strafprozess. Andere AfD Politiker stehen im Verdacht, illegale Geldzahlungen aus russischen Propagandatöpfen erhalten zu haben. Und der AfD-Spitzenkandidat für die Europawahl, Maximilian Krah, ist zusätzlich noch wegen seiner Chinafreundlichkeit in der Kritik. Im April wurde ein Mitarbeiter von ihm sogar wegen mutmaßlicher Spionage für China verhaftet.

Dieser Text wurde im Januar 2024 veröffentlicht und später überarbeitet und neu publiziert, um die aktuelle Nachrichtenlage abzubilden

Wer richtet die Fußball-Weltmeisterschaft der Frauen 2027 aus?

In wenigen Tage ist es so weit. Beim FIFA-Kongress am 17. Mai in Thailands Hauptstadt Bangkok entscheiden die 211 FIFA-Mitglieder, welches Land die nächste Fußball-Weltmeisterschaft der Frauen austragen wird. Es ist das erste Mal, dass eine Frauen-WM von einem FIFA-Kongress vergeben wird. Über die bisherigen neun WM-Ausrichter seit der ersten Auflage im Jahr 1991 hatten erst das FIFA-Exekutivkomitee und dann bei der WM 2023 das FIFA-Council entschieden. Bei der letzten WM in Australien und Neuseeland waren erstmals 32 Teams in einer WM-Endrunde mit dabei. Und das soll auch bei der kommenden Weltmeisterschaft 2027 so bleiben. Bei dem Turnier im vergangenen Jahr hatte die spanische Nationalmannschaft den Titel geholt.

Welche Bewerberländer gibt es?

Ursprünglich hatten sich drei Bewerber um die Vergabe der Frauen-Weltmeisterschaft 2027 bemüht. Doch Ende April zogen sich die USA und Mexiko, die das Turnier gemeinsam ausrichten wollten, zurück. Damit sind nur noch zwei Kandidaten im Rennen. Deutschland bewirbt sich mit den Niederlanden und Belgien um den Zuschlag. Einzig verbliebener Konkurrent für die europäische Bewerbung ist Brasilien.

DFB-Sportdirektorin Nia Künzer trägt ein rosafarbendes T-Shirt und schaut nach rechts.
Nia Künzer ist seit Januar 2024 die erste DFB-Sportdirektorin für den Frauenfußballnull Oliver Kaelke/DeFodi Images/picture alliance

Spielorte in Deutschland sollen Gelsenkirchen, Dortmund, Düsseldorf und Köln sein. Letztmals hatte Deutschland 2011 die Fußball-WM der Frauen ausgetragen. "Ich glaube, dass wir eine WM bieten können mit hervorragender Infrastruktur und Organisation, mit kurzen Wegen zu den Spielorten und der Aussicht auf einen sehr guten monetären Gewinn, der wieder in die weltweite Entwicklung des Frauenfußballs fließen wird", sagte DFB-Sportdirektorin Nia Künzer.

Wie groß sind die Chancen der europäischen Bewerbung?

Doch die gemeinsame Bewerbung von Deutschland, den Niederlanden und Belgien hat einen Rückschlag erlitten. Im Evaluationsbericht der FIFA erhielt das Trio aus Europa 3,7 von 5 möglichen Punkten, Mitbewerber Brasilien kam auf 4,0 Punkte. Bei der Risikoanalyse schnitt das Konzept der drei europäischen Verbände in fast allen Punkten besser oder gleichwertig ab. Beim Unterpunkt Stadien, vertragliche Rahmenbedingungen und unterstützende Dokumente von staatlicher Seite hatte Brasilien jedoch die Oberhand.

Vor der Skyline der thailändischen Hauptstadt Bangkok liegen im Vordergrund verschiedene Boote im Wasser.
Beim FIFA-Kongress in Bangkok fällt am 17. Mai die Entscheidung über die Vergabe der Frauen-WM 2027null Zoonar.com/sanga/Imago Images

Es gebe eine "Reihe rechtlicher Risiken", die Regierungen würden geforderte Garantien "nicht gewährleisten", so der Bericht. Für die FIFA bestehe die Gefahr, "mit erheblichen operativen und finanziellen Problemen konfrontiert zu werden".

Obwohl der Bericht nur eine Empfehlung für die abstimmenden FIFA-Mitglieder darstellt und Männer-Weltmeisterschaften in der Vergangenheit oftmals entgegen der besten Bewertung vergeben wurden, geht Brasilien nun als Favorit in die Abstimmung. Der erste FIFA-Evaluationsbericht für eine Frauen-WM überhaupt wurde für das Turnier 2023 erstellt. Damals folgte das FIFA-Council der Empfehlung und vergab das Turnier an Australien und Neuseeland.

Ist eine WM in Europa überhaupt noch möglich?

Am Rande des DFB-Pokalfinals der Frauen machte Bundesinnenministerin Nancy Faeser Werbung für die europäische Bewerbung. Für die SPD-Politikerin war das ausverkaufte Spiel, das der VfL Wolfsburg für sich entscheiden konnte, ein starkes Zeichen. "Wir wären bereit für eine WM im Herzen Europas, die Frauen und Frauenfußball fördert, die nachhaltig ist und die Fans in den Mittelpunkt stellt", sagte Faeser.

Nach ihren Worten würde eine Heim-WM die Aufmerksamkeit für den Frauen-Fußball in Deutschland weiter steigern. Trotz des Rückschlags durch den Evaluationsbericht der FIFA hoffen die Niederlande, Belgien und Deutschland noch auf ein positives Ende, wenn in Bangkok die Entscheidung fällt. "Darauf warten wir alle gespannt", sagte Faeser.

Gerichtsurteil: AfD bleibt rechtsextremer Verdachtsfall

Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) hatte die Alternative für Deutschland (AfD) bereits 2021 als Verdachtsfall eingestuft. Dagegen wehrte sich die Partei in zwei Verfahren vor dem Verwaltungsgericht (VG) in Köln – letztlich ohne Erfolg. Nun musste die AfD eine weitere Niederlage einstecken: Das Oberverwaltungsgericht (OVG) in Münster bestätigte am 13. Mai 2024 das Urteil der Vorinstanz.

Der Verfassungsschutz habe bei seinen Maßnahmen die Verhältnismäßigkeit gewahrt, erklärte das Gericht bei der Urteilsbegründung. Das Vorgehen sei mit dem Grundgesetz, dem Europa- und Völkerrecht vereinbar. Die Möglichkeit, Revision gegen das Urteil einzulegen, hat das OVG Münster nicht eingeräumt. Der AfD bleibt nun nur noch die Möglichkeit, gegen diese Entscheidung vor dem Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) in Leipzig Beschwerde einzulegen. 

Die Einstufung der AfD als Verdachtsfall war die Folge davon, dass sich die Partei nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes zunehmend radikalisiert hatte. Zuvor war sie lediglich ein sogenannter Prüffall gewesen. In diesem Stadium durften nur offen zugänglichen Quellen ausgewertet werden, um die potenzielle Gefahr der AfD für die Demokratie einschätzen zu können.

Verfassungsschutz prüft Texte und Reden

Der Inlandsgeheimdienst konnte zu diesem frühen Zeitpunkt also nur das tun, was alle können: Artikel in Zeitungen und Online-Portalen lesen, TV-Beiträge und Videos im Internet anschauen sowie Reden von AfD-Abgeordneten in Parlamenten und auf Parteitagen hören. Was der Verfassungsschutz dabei registrierte, reichte ihm, um die AfD zum Verdachtsfall hochzustufen.

Ganz weit rechts – Ansichten der AfD zur Europapolitik

Seitdem ist es der Behörde erlaubt, die Partei mit geheimen Methoden ins Visier zu nehmen. Dafür können einzelne Personen in der AfD und ihrem Umfeld als vertrauliche Informationsquellen, sogenannte V-Leute, angeworben werden. Unter bestimmten Voraussetzungen darf auch die Telekommunikation überwacht werden. 

Vorbild Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt?

Nach der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Münster hat der Verfassungsschutz also weiter freie Hand, die AfD mit den klassischen Methoden eines Geheimdienstes zu überwachen. Inzwischen wird sogar darüber spekuliert, dass die Behörde auf Bundesebene schon in absehbarer Zeit einen Schritt weitergeht und das tun wird, was die Landesämter in den Bundesländern Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt bereits getan haben: die AfD als "erwiesen rechtsextremistisch" einstufen.

Durch ein gusseisernes Tor ist der Eingangsbereich einer herrschaftlichen Villa in Potsdam zu sehen. In dem Gebäude haben sich im November 2023 Rechtsextremisten, AfD-Politiker und erzkonservative CDU-Mitglieder getroffen, um über die sogenannte Remigration von Menschen mit ausländischen Wurzeln zu reden.
In dieser Villa in Potsdam trafen sich Rechtsextremisten, AfD-Politiker und erzkonservative CDU-Mitgliedernull Jens Kalaene/dpa/picture alliance

Ein Anhaltspunkt dafür könnte der im Januar 2024 veröffentlichte Bericht des Recherche-Kollektivs "Correctiv" über ein Treffen von Rechtsextremisten in Potsdam sein, bei dem es um Pläne für eine millionenfache "Remigration" von Menschen mit ausländischen Wurzeln gegangen sein soll. An der Veranstaltung haben neben AfD-Politikern auch erzkonservative Christdemokraten (CDU) teilgenommen.

Debatte um ein AfD-Verbot

Wer als "erwiesen rechtsextremistisch" eingestuft ist, muss mehr denn je auch damit rechnen, vom Verfassungsschutz mit geheimen nachrichtdienstlichen Mitteln ins Visier genommen zu werden. Die schärfste Form der Beobachtung kommt auch als Argument für ein Parteiverbotsverfahren infrage. Dafür hat das Bundesverfassungsgericht konkrete Vorgaben formuliert: Demnach müssen "tatsächliche Anhaltspunkte" dafür vorliegen, dass eine Partei die Absicht habe, die freiheitliche demokratische Grundordnung anzugreifen und zu beseitigen.

AfD verbieten?

Daran erinnerte der Präsident des Thüringer Verfassungsschutzes, Stephan Kramer, schon vor dem Beginn des Berufungsverfahrens Mitte März: "Für ein Verbotsverfahren muss jetzt noch der aktiv-kämpferische Teil dazukommen, also ein planvolles Vorgehen", sagte Kramer damals auf einer Veranstaltung der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) und der Kampagnen-Organisation "Campact" in Berlin und betonte: "Dafür müssen keine Straftaten begangen werden."

Kein Steuergeld für die AfD?

Über das Verbot einer Partei entscheidet das Bundesverfassungsgericht. Antragsberechtigt sind die Bundesregierung, der Bundestag und der Bundesrat, in dem die 16 Bundesländer vertreten sind. Gut möglich, dass Deutschlands kleinstes Bundesland, der Stadtstaat Bremen, schon bald die Initiative ergreift. Darauf drängen die drei Regierungsfraktionen: Sozialdemokraten (SPD), Grüne und Linke. Die Mehrheit der Bevölkerung ist dagegen skeptisch: Im Februar 2024 waren laut Deutschlandtrend 51 Prozent gegen ein AfD-Verbotsverfahren.

Eine andere Möglichkeit, die Schlagkraft einer Partei zu schwächen, wäre der Ausschluss von der staatlichen Parteienfinanzierung. Sie ist neben Mitgliedsbeiträgen und Spenden die wichtigste Einnahmequelle für die meisten Parteien. Ob man der AfD den Geldhahn zudrehen könnte, darüber gehen die Meinungen unter Fachleuten genauso auseinander wie bezüglich der Erfolgsaussichten eines Verbotsverfahrens.

 

Dieser Artikel wurde am 12.03.2024 veröffentlicht und nach dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Münster am 13.05.2024 aktualisiert.

Amnesty-Bericht: Druck aus China auf Studenten im Ausland

Tausende Kilometer liegen zwischen Studierenden aus China und Hongkong, die an europäischen oder nordamerikanischen Unis studieren, und ihren Heimatregierungen. Weit weg und doch bedrohlich nah. Diese Botschaft sei bei ihr angekommen, sagte Rowan (Name geändert) der Menschenrechtsorganisation Amnesty International: "Du wirst beobachtet. Obwohl wir auf der anderen Seite des Planeten sind, können wir dich erreichen."

Rowan ist eine der 32 Befragten, davon 12 aus Hongkong, die Amnesty für den Bericht "On my campus, I am afraid" ausführlich interviewt hat. Zur Dokumentation transnationaler Repression durch China an ausländischen Universitäten sprach die Organisation mit chinesischen Studierenden in acht Ländern: Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden, der Schweiz, Kanada und den USA. Alle Personen und Universitäten wurden anonymisiert, um die Befragten zu schützen.

Drohungen gegen die Familien in China

Rowan berichtete Amnesty, dass sie an ihrem Studienort an einer Gedenkveranstaltung zum Tiananmen-Massaker teilgenommen hatte. Das Gedenken an die blutige Niederschlagung der Demokratiebewegung in Peking am 4. Juni 1989 ist in China und Hongkong verboten. Nur wenige Stunden später meldete sich Rowans Vater aus China bei ihr: Sicherheitsbeamte hätten ihm gesagt, er solle seine Tochter im Ausland davon abhalten, an Veranstaltungen teilzunehmen, die dem Ansehen Chinas in der Welt schaden könnten. Rowan hatte niemandem ihren Namen genannt und nirgendwo über ihre Teilnahme berichtet.

Auch die DW hat mit Studenten aus China in Europa gesprochen. Vor dem Besuch des chinesischen Präsidenten Xi Jinping in Paris, sagt Yongzhe der DW (Name geändert), hätten chinesische Behörden diejenigen bedroht, die Demos organisieren wollten und deren Familien in China besucht. So etwas geschehe häufig.

Im Vordergrund zwei Männer im blauen Anzug, die sich die Hände geben und in die Kamera schauen, im Hintergrund stehen Männer in goldbesetzten Uniformen mit rotem Federbusch auf den Helmen, die ihre Waffen präsentieren
Mai 2024: Chinas Präsident Xi Jinping (li.) mit dem franzöischen Präsidenten Emmanuel Macron beim Staatsbesuch in Parisnull Gonzalo Fuentes/REUTERS

"Eure Ausübung der Meinungsfreiheit im Ausland ist nicht akzeptabel", diese Botschaft komme nicht nur bei den direkt Betroffenen an: "Egal wo du bist, ob in Deutschland, Frankreich oder anderswo, es gibt keinen Weg, dem Überwachungssystem Chinas zu entkommen."

Es würden auch die Familienangehörigen in China selbst bedroht, berichtet Theresa Bergmann der DW. Sie ist Asien-Expertin bei Amnesty International in Deutschland. "Es wird zum Beispiel damit gedroht, Pässe einzuziehen, Arbeitsstellen zu kündigen, Renten zu kürzen oder Bildungsmöglichkeiten einzuschränken, sollten die Studierenden im Ausland ihr Engagement fortführen." Der Bezug zur Regierung sei klar: "Diese Einschüchterungsversuche kommen von Staatsbediensteten in China selbst."

Aussagen über chinesische Repression gleichen sich

Einzelfälle? Viele Studierende aus China und Hongkong im Ausland lebten in Angst vor Einschüchterung und Überwachung, berichtet Amnesty International. Die Behörden Chinas und Hongkongs versuchten, sie daran zu hindern, sich mit kritischen Themen zu befassen.

Mehrere Personen stehen mit Plakaten und ernsten Gesichtern vor einem Gebäude. Auf den Schildern steht: "Democracy in China Now" und "Justice in China Now"
Toronto, Kanada, 2016: Seit vielen Jahren erinnern Chinesen im Ausland an die blutige Niederschlagung der Demokratiebewegung auf dem Tiananmen-Platz in Peking 1989null Arindam Shivaani/NurPhoto/picture alliance

Neben dem Tiananmen-Gedenken gehe es auch um Solidarität mit der Demokratiebewegung in Hongkong oder den "White Paper"-Protesten in China, wo Menschen 2022 mit leeren weißen Blättern gegen rigide Corona-Maßnahmen und die Einschränkung der Meinungsfreiheit protestierten. Amnesty habe die Behörden in China und Hongkong mit den Vorwürfen konfrontiert. "Wir haben keinerlei Rückmeldungen aus Festland-China bekommen", sagt Theresa Bergmann, aus Hongkong sei "eine Art Dementi" gekommen.

Studierende seien wegen ihres Aufenthaltsstaus und ihrer finanziellen Situation eine besonders vulnerable Gruppe, betont Bergmann. Amnesty könne nicht für alle geschätzt 900.000 chinesischen Studierenden im Ausland sprechen. Es sei aber auffällig, dass Aussagen über Repressionen sich über nationale Grenzen hinweg glichen und zu bisher bekannten Fällen passten.

So hatte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch 2021 dokumentiert, wie chinesische Studierende in Australien überwacht und bedroht wurden. 2022 berichtete die Menschenrechtsorganisation Safeguard Defender über illegale chinesische Polizeistationen im Ausland, die gegen kritische Staatsbürger dort vorgingen. China bestritt das. Mehrere Staaten aber schritten gegen verdächtige chinesische Personen ein.

Verdeckte chinesische Behörden in Den Haag

2023 berichteten die DW und die Rechercheplattform Correctiv, wie China Stipendiaten des China Scholarship Council (CSC) in Deutschland engmaschig kontrolliere und von allen kritischen Äußerungen abhalte.

WeChat: Online-Überwachung von Studenten im Ausland

"Eine studierende Person, die an einer Demo teilgenommen hat und danach ein Selfie vor der Botschaft machte, berichtet, sie sei auf dem Weg von der Botschaft zur U-Bahn verfolgt worden", schildert Theresa Bergmann eine Erfahrung aus Deutschland. Bei Verfolgung oder dem Fotografieren von Protesten sei nicht immer nachzuverfolgen, dass die Person im Auftrag der chinesischen Regierung handle.

Blick auf ein Handy, auf dem die App WeChat geöffnet ist. Im Hintergrund sind verschwommen die Flagge der USA mit rot-weißen Streifen und weißen Sternen auf blauem Grund und die rote Flagge Chinas mit gelben Sternen zu erkennen
Für den Kontakt mit der Heimat sind Studierende aus China und Hongkong weltweit auf Apps wie WeChat angewiesen, die die chinesische Regierung zulässtnull Andre M. Chang/ZUMA Wire/picture alliance

Eine sehr große Rolle spiele die Online-Überwachung. WeChat gilt als chinesische Super-App, die Daten an die Regierung weitergibt. "Wir haben Fälle, wo WeChat-Accounts geschlossen oder Inhalte blockiert wurden, weil Personen sich offen gegenüber Protesten geäußert haben". Amnesty spricht von einer "Great Firewall". Studierende sind bei der Kommunikation mit Verwandten und Freunden in China auf staatlich genehmigte Apps wie WeChat angewiesen, die für Überwachung anfällig sind.

Angst, Belastung, Isolation

Überwachung und Einschüchterung lösten bei den Studierenden aus China und Hongkong im Ausland Angst aus, berichtet Amnesty. Die Folge seien psychische Belastungen bis hin zu Depressionen. "Ich habe nach psychischen Problemen Unterstützung durch den psychologischen Beratungsdienst der Hochschule gesucht, aber sie hatten wenig Verständnis für den chinesischen Kontext und konnten keine effektive Unterstützung bieten", sagt der Student Xingdongzhe (Name geändert) der DW.

Einige Studierende hätten den Kontakt zu ihren Familien abgebrochen, um sie zu schützen, berichtet Theresa Bergmann. Fast die Hälfte der Befragten habe Angst, nach Hause zurückzukehren. Sechs von ihnen wollten im Studienland Asyl beantragen.

Die Studierenden zensierten und isolierten sich selbst, analysiert die Asien-Expertin. Sie seien unsicher, ob sie anderen chinesischen Studierenden trauen könnten oder ob die sie bei den Behörden melden. "Das ist zum Beispiel mit Blick auf Hongkong nach dem Sicherheitsgesetz möglich. Da gibt es mittlerweile eine Hotline, wo Personen, die im Verdacht stehen, das Sicherheitsgesetz zu verletzen, direkt gemeldet werden können."

Das Ende von Hongkongs demokratischem Widerstand

Forderungen von Amnesty International

Von China und Hongkong fordert Amnesty International, jede Form transnationaler Repression einzustellen. Gesetze, die die Menschenrechte von Studierenden im Ausland einschränken, müssten geändert werden.

Wichtig seien Maßnahmen der Universitäten und Regierungen der Gastgeberländer. 55 Universitäten hat Amnesty befragt und 24 Antworten erhalten. Es gebe erste Ansätze, dass das Problem erkannt werde, sagt Bergmann. Insgesamt aber gebe es großen Nachholbedarf.

Porträt einer Frau mit weißer Bluse und hochgesteckten dunklen Haaren, die in die Kamera lächelt
Theresa Bergmann ist Asien-Expertin bei der Menschenrechtsorganisation Amnesty International Deutschlandnull Sarah Eick

Amnesty fordert traumasensible Meldestellen an Universitäten und auf staatlicher Ebene. An den Hochschulen sollte es psychologische Unterstützung, Beratung und finanzielle Hilfen für Betroffene geben. An die deutsche Regierung gerichtet sagt Julia Duchrow, Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland: "Deutschland hat die Pflicht, internationale Studierende zu schützen." Die Bundesregierung solle konkrete Maßnahmen ergreifen, um dem Klima der Angst unter chinesischen Studierenden entgegenzuwirken.

Die Hoffnung, China demokratischer zu gestalten

"Wir alle versuchen im Ausland schrittweise, unsere hart erkämpfte Freiheit zu genießen." Trotz persönlicher Risiken verlieren chinesische Studierende wie Yongzhe nicht die Hoffnung, China demokratischer zu gestalten.

"Ich werde mich auf Menschenrechtsfragen konzentrieren und hoffen, dass mein Land sich zum Besseren verändert", sagt er der DW. Es gebe viele, die ähnlich denken: "Das macht mir Mut."

Bürokratie-Museum Berlin - ein Weckruf

Gleich am Eingang des Bürokratie-Museumswerden die Besucher in einen ausgehöhlten Baum geleitet. Auch er ist ein Symbol für die Auswirkungen deutscher Bürokratie. Jeden Tag werden 52 Bäume gefällt; nur damit ausgedruckt werden kann, was die Bürokratiekrake produziert, sagen die Museumsmacher.

Deutschland ist berüchtigt für seine Bürokratie. Eines der zentralen Versprechen der Regierung war es, das Dickicht der Gesetze zu lichten. Doch viele sind der Meinung, dass die neuen Gesetzesinitiativen, die Ende Juni vom Parlament verabschiedet werden sollen, weit hinter dem zurückbleibt, was versprochen war: echter Bürokratieabbau.

Bürokratie Museum in Berlin - ein ausgehöhlter Baum als Eingang zum Museum
Eingang in den Paragrafen-Dschungel deutscher Behördennull Julie Gregson

Auf 350 Quadratmetern hat die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) nun in Berlin ein Pop-Up-Museum gestaltet, was sich der ausufernden deutschen Bürokratie widmet.

Ganz eigennützig handelt die Initiative dabei nicht, denn die INSM ist eine Lobby-Organisation, die von den Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektroindustrie finanziert wird. Und die setzen sich schon länger für weniger Bürokratie in der deutschen Wirtschaft ein.

"Bürokratie gibt es überall. Aber in Deutschland ist sie zum Standortnachteil Nummer eins geworden - noch vor Steuern und Energiepreisen", sagt Thorsten Alsleben, Geschäftsführer der INSM. Für 58 Prozent der Unternehmen sei dies Grund genug, sich gegen eine Investition in Deutschland zu entscheiden. Alsleben wirft der deutschen Politik vor, Innovationen und den Unternehmergeist durch ausufernde Bürokratie zu bremsen.

Bürokratie Museum in Berlin - Darstellung eines Warteraumes mit einem Skelett
Endloses Warten – auch das gehört zu den Auswirkungen der Bürokratienull Julie Gregson

Die deutsche Bürokratie ist zeitaufwendig - für Unternehmen und für Bürger. Viele Dienstleistungen, wie die Beantragung eines Führerscheins oder eines Personalausweises, erfordern persönliche Termine bei den Ämtern. Einen solchen zu ergattern ist oftmals reine Glückssache. Nach Angaben des Museums dauern die Ämtertermine im Durchschnitt zwei Stunden und 21 Minuten. Kleinere und mittlere Unternehmen verbringen, so heißt es, rund 13 Stunden pro Woche mit Papierkram für Behörden und Ämter.

Deutschland ist im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ein Nachzügler in Sachen Digitalisierung von Behörden und Verwaltung. Faxgeräte sind häufig noch Standard. Deutschland gerät aber zunehmend unter Druck. Die EU hatte schon 2017 ein Gesetz beschlossen, das Behörden verpflichtet, bis Ende 2022 rund 580 Dienste digital aufzustellen. Bis Anfang 2024 waren in Deutschland lediglich 81 voll und 96 teilweise in Betrieb.

Ein Mann sitzt wartend vor einem Stapel von Faxgeräten - Darstellung in Anlehnung an "Der Denker" von Rodin
Warten auf die nächste Faxnachricht - Persiflage auf Rodins "Der Denker"null Julie Gregson

Die Schuld allein mit dem Föderalismus der Bundesländer zu erklären, sei zu einfach, meint Cornelia Funke. Sie ist Managerin und Beraterin bei der Agentur gfa public. Andere föderale Staaten wie zum Beispiel Kanada schnitten in der Rangliste der digitalen Wettbewerbsfähigkeit besser ab als Deutschland. Der Ansatz Kanadas sei trotz des Föderalismus in der Umsetzung dezentral: "Im digitalen Raum hängt die Qualität stark davon ab, dass es eine Plattform gibt, die jeder kennt. Und nicht tausende unterschiedliche Angebote. Es dürfen eben nicht zu viele Templates und Designs sein, sondern etwas mit Wiedererkennungswert; One-Stop-Shops, die Standards setzen", so Funke zur DW.

Und sie nennt einen weiteren Grund für die deutsche Behäbigkeit. Deutschland habe zuerst preußische Ordnung gehabt; erst später kam die Demokratie: "Die wichtigsten Werte und Normen in den Verwaltungen bürokratischer Länder sind nicht so sehr Effizienz, Bürgerfreundlichkeit oder das Einsparen von Steuergeldern. Es geht sehr oft lediglich um die Umsetzung von Gesetzen", ergänzt Funke.

Manchmal entstünden absurde Situationen, sagt INSM-Geschäftsführer Thorsten Alsleben: "Dann kommt der Arbeitsschutz und sagt, du brauchst geriffelte Fliesen, damit die Mitarbeiter nicht ausrutschen. Dann kommt aber das Gesundheitsamt und erklärt, aus hygienischen Gründen würden doch glatte Fliesen benötigt."

Die Zahl der Gesetze und Verordnungen sei aus dem Ruder gelaufen, so Alsleben. Auch seien in der Politik und den Verwaltungen zu wenige Leute, die unternehmerische Erfahrungen hätten. Im Bürokratiemuseum können sich die Besucher ihre Lieblingsgesetze aussuchen, und sie dann durch den Schredder jagen.

Plastikbeuten mit geschredderten Gesetzesvorlagen und der Aufschrift "Bürokratie in ihrer schönsten Form"
Überflüssige Gesetze gehörten geschreddert, meint die INSMnull Julie Gregson

Die Bürokratie treibt viele zur Weißglut. Aber vielleicht ist es auch ein bisschen zu einfach, Beamte zu den Prügelknaben und -mädchen der Nation zu machen. Johanna Sieben, Leiterin des Creative Bureaucracy Festivals, sagt, dass vor allem auf lokaler Ebene Unterfinanzierung und Personalmangel ebenfalls ein Hindernis für Veränderungen seien. Es fehle oft schlicht das Geld für moderne, unbürokratische Lösungen. Das Festival ist eine internationale Veranstaltung in Berlin, die den Wandel von Verwaltung fördern will.

Beim Museum für Bürokratie übrigens geht alles ganz unbürokratisch und zügig. So schnell wie es gekommen ist, ist es auch wieder weg. Noch bis zum 25. Juni kann es bei freiem Eintritt in der Hauptstadt Berlin besichtigt werden.

Dresdner Friedenspreis geht posthum an Alexej Nawalny

Es ist eine hohe Ehre, aber für Alexej Nawalny selbst kommt sie zu spät: Am 16. Februar dieses Jahres war der international bekannte russische Regimekritiker in einem Straflager am Polarkreis unter bislang nicht geklärten Umständen ums Leben gekommen. Jetzt wurde er mit dem renommierten Friedenspreis der Stadt  Dresden ausgezeichnet. Nawalnys Witwe Julia Nawalnaja nahm den mit 10.000 Euro dotierten Preis in der sächsischen Landeshauptstadt an der Elbe entgegen. 

Nawalnaja: "Putin ist Krieg!"

"Die Welt muss endlich ihre Illusionen und falschen Hoffnungen ablegen und auf diejenigen hören, die all die Jahre vor Putin gewarnt haben", sagt Nawalnaja in ihrer Dankesrede. Mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin sei nicht zu verhandeln: "Man kann ihm kein einziges Wort glauben, er wird niemals aufhören. Putin ist Krieg!" Die Auszeichnung widmete Nawalnaja, die die Organisatin ihres Mannes fortführt, all denjenigen, "die in Russland für den Frieden kämpfen und dabei alles riskieren." 

Bei dem Festakt im Dresdner Schauspielhaus wurde ein Requiem des russischen Komponisten Sergej Newski für Nawalny uraufgeführt. Mitglieder des Ensembles des Staatsschauspiels Dresden trugen "Alexej Nawalnys Reden vor Gericht" vor. Die Laudatio hielt Joachim Gauck

Der ehemalige Bundespräsident hatte Nawalny bereits kurz nach der Todesnachricht als "Ikone aller anständigen Russen" gewürdigt. Nun bezeichnete er Nawalny als "Angstgegner" Putins. Kein anderer Oppositioneller sei so charismatisch gewesen. Kein anderer habe Zehntausende zu Protesten auf die Straße bringen können. Keinem anderen sei es über viele Jahre gelungen, mit unorthodoxen Methoden die Regierung im Kreml derart herauszufordern, sagte Gauck.

Julija Nawalnaja, Witwe des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny, sitzt im Schauspielhaus Dresden anlässlich der Verleihung des Internationalen Friedenspreis Dresden neben Gerhart Baum (FDP) ehemaliger Bundesinnenminister, und Joachim Gauck, Alt-Bundespräsident.
Der Ex-Bundespräsident Joachim Gauck nannte Nawalny in seiner Laudatio einen "Angstgegner" des russischen Präsidenten Wladimir Putin. null Sebastian Kahnert/dpa/picture alliance

Ein Blogger mit Sinn für Humor

Nawalny, 1976 geboren, hatte jahrelang auf Korruption und Missstände in seiner Heimat aufmerksam gemacht und damit weltweit Berühmtheit erlangt. Er überlebte einen Anschlag auf sein Leben  und kehrte dennoch in sein Heimatland zurück.

Alt-Bundespräsident Joachim Gauck steht vor einen Kamera
Alt-Bundespräsident Joachim Gauck hielt in Dresden die Laudatio auf Alexej Nawalnynull Stefan Sauer/dpa/picture alliance

Als Blogger erreichte Nawalny mit seinem subtilen Humor Millionen, vor allem jüngere Russinnen und Russen. Er kämpfte gegen die Korruption im Land - und gegen die Regierung von Wladimir Putin.  Damit machte er sich viele mächtige Feinde. Der Kreml tat alles, um ihn aus der Politik herauszuhalten. Trotzdem gelang es Nawalny, landesweit Unterstützerinnen und Unterstützer zu organisieren.

Geschäftsmann, Anwalt, Nationalist

Nawalny begann seine Karriere als Geschäftsmann und Anwalt. Ende der Neunziger Jahre, mit Mitte 20, engagierte er sich in der linksliberalen "Jabloko"-Partei, wurde aber 2007 ausgeschlossen - wegen Konflikten mit der Parteiführung, aber auch wegen seiner nationalistischen Ansichten. In der Folgezeit war er in einer nationalistischen Bewegung aktiv, weshalb er auch in Oppositionskreisen umstritten war.

Einen Anschlag überlebt, trotzdem zurückgekehrt

Für große internationale Aufmerksamkeit sorgte seine Vergiftung im Jahr 2020. Nawalny wurde nach Berlin geflogen, wo er im berühmten Charité-Krankenhaus erfolgreich behandelt wurde und den Anschlag überlebte. Für die Gift-Attacke auf ihn machte er den russischen Inlandsgeheimdienst und Putin persönlich verantwortlich. Der Kreml bestreitet jegliche Verwicklung in den Fall.  

Nach der Nachricht vom Tode ihres Mannes spricht Julia Nawalnaja im Februar 2024 in München auf der Sicherheitskonferenz
Nach der Nachricht vom Tode ihres Mannes spricht Julia Nawalnaja im Februar 2024 in München auf der Sicherheitskonferenznull Kai Pfaffenbach/REUTERS

Als Nawalny wieder gesund war, entschied er sich dennoch, nach Russland zurückzukehren. Bereits am Moskauer Flughafen wurde er verhaftet und anschließend zu 19 Jahren Haft verurteilt. Im Dezember 2023 galt Nawalny mehrere Wochen als verschwunden. Später wurde bekannt, dass er in ein Straflager im Norden Sibiriens gebracht worden war. Er vermutete, dass er vor der Präsidentschaftswahl im März dieses Jahres isoliert werden sollte. Die Wahl gewann wenig überraschend Amtsinhaber Putin.

Wortgewaltig auch vor Gericht

Zuvor hatte der Oppositionelle immer wieder gegen die Verletzung seiner Rechte in der Haft geklagt. Die Gerichtstermine nutzte Nawalny bis zum Schluss auch dazu, scharfe Kritik an Putins autoritärem System und Moskaus Krieg gegen die Ukraine zu üben. Alexej Nawalny führte einen ungleichen Kampf. Wenige Wochen nach seinem Tod bestätigte sogar Putin selbst, dass es kurz vorher Vorbereitungen für einen Gefangenenaustausch gegeben habe. Warum es nicht dazu kam und ob die Behauptung stimmt, ist offen.

Russland bekämpft Kritiker weiter mit großer Brutalität

Auch nach Nawalnys Tod geht das russische Regime weiterhin mit großer Brutalität gegen System-Kritiker vor. Unterstützer in Großbritannien äußerten sich zuletzt besorgt über den Gesundheitszustand von Wladimir Kara-Mursa engen Wegbegleiter Nawalnys. Der 42-Jährige war im April 2023 wegen "Hochverrats" zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Er hatte in einer Rede in den USA Russland "Kriegsverbrechen" in der Ukraine vorgeworfen. Es ist die längste bekannte Haftstrafe, die je gegen einen Kritiker Putins verhängt wurde. Auch Kara-Mursas Familie und seine Anwälte geben an, der russische Geheimdienst habe 2015 und 2017 versucht, ihn zu vergiften. Seither leide er unter schweren gesundheitlichen Problemen.

"Nawalny wurde zur Gefahr für Putin"

In der Begründung für die Preisverleihung an Nawalny in Dresden heißt es jetzt: "Nawalny hat immer wieder in Wunden der russischen Diktatur gebohrt und wurde zur größten Gefahr für Putin und sein System. Deshalb wurde er zum politischen Gefangenen, dessen Tod stellvertretend für unzählige Menschen steht, die sich für Freiheit und Demokratie in Russland einsetzen."

Alexej Nawalny sitzt in einer Zelle und spricht in einer Videokonferenz
Ein Bild aus dem Gefängnis vom Oktober 2022.null Alexander Zemlianichenko/AP Photo/picture alliance

Den seit 2010 vergebenen Dresdener Friedenspreis vergibt der Verein "Friends of Dresden Deutschland". Er will damit jährlich auch der Bombardierung Dresdens durch alliierte Bomber am 13. Februar 1945 gedenken. Und er soll der Vereinnahmung des Jahrestages durch Rechtsextreme entgegen wirken. Unter den bisherigen Preisträgern sind der letzte Präsident der Sowjetunion, der 2022 verstorbene Michael Gorbatschow, und der argentinisch-israelische Pianist und Dirigent Daniel Barenboim.

Nawalnys Witwe setzt sein Werk fort

Nach Nawalnys Tod ist seine Witwe immer stärker in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Die Todesnachricht erhielt sie am 16. Februar am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz. Dort rief sie dazu auf, Putin zur Rechenschaft zu ziehen. Er und seine Helfer sollten "bestraft werden für das, was sie unserem Land, meiner Familie und meinem Mann angetan haben". Anfang Mai wurde bekannt, dass die Deutsche Welle in diesem Jahr ihren "Freedom of Speech Award" an Julia Nawalnaja vergibt. Der Preis wird Anfang Juni verliehen.

Den seit 2010 vergebenen Dresdener Friedenspreis haben bislang unter anderem der frühere Präsident der Sowjetunion, der verstorbene Michael Gorbatschow, und der Dirigent Daniel Barenboim erhalten.

Islamistische Netzwerke: Wer sind Gruppen wie Muslim Interaktiv?

Um die 1000 Menschen sollen es Ende April gewesen sein auf dem Hamburger Steindamm. Die Gruppe "Muslim Interaktiv" hatte zur Demonstration aufgerufen und Hunderte folgten, skandierten Gott ist groß, auf Schildern war zu lesen: "Kalifat ist die Lösung" und "Deutschland = Wertediktatur". Der Aufschrei war groß, Verbotsforderungen wurden laut. Jetzt soll am Wochenende die nächste Demonstration folgen.

Viele wurden vom plötzlichen Aufmarsch überrascht. Sogar Necla Kelek. Die Soziologin ist Vorsitzende des Vereins Säkularer Islam, ebenfalls in Hamburg angesiedelt. Gemeinsam mit weiteren Vereinen organisierte sie eine Gegendemonstration. "Wir waren selber überrascht von der Demonstration von Muslim Interaktiv", sagt sie der DW. "Das ist vor allem eine Organisation, die sich über soziale Medien wie TikTok organisiert. Das macht sie umso gefährlicher. In einer Moschee könnte man zumindest hingehen und sich erkundigen."

Islamisten auf einer Demonstration in Hamburg, halten en Schild hoch mit der Aufschrift "Kalifat ist die Lösung"
Die Demonstration von Muslim Interaktiv war gezielt vorbereitet, zuvor wurden Schilder verteiltnull Axel Heimken/dpa/picture alliance

Auf dem Radar der Sicherheitsbehörde ist die Gruppe Muslim Interaktiv (MI), sie wird im Verfassungsschutzbericht des Landes erwähnt. Gegründet 2020, rechnet der Bericht die Gruppe zum Umkreis der Organisation Hizb ut-Tahrir (HuT), die 2003 bereits verboten wurde, weil sie Gewaltanwendungen befürwortet und zum Töten von Juden aufgerufen hatte.

Nach dem Verbot gründeten sich laut Verfassungsschutz "informelle HuT-Netzwerke" wie Muslim Interaktiv. Es gibt noch weitere in Deutschland. Der Verfassungsschutz zählt auch "Generation Islam" und "Realität Islam" zu HuT-nahen Ablegern.

"Gesichert extremistisch"

Muslim Interaktiv gilt für den Verfassungsschutz als "gesichert extremistisch". Das liegt unter anderem daran, dass die Gruppe ein weltweites Kalifat fordert und somit die Demokratie und ihre rechtsstaatliche Grundordnung in Deutschland ablehnt. "Das ist ein genuin politisches Programm, das hier ausgerollt wird, und zwar auf Grundlage von Islam und Scharia. Das ist, neutral formuliert, eine revolutionäre politische Bewegung, die eine grundsätzliche Umgestaltung der Herrschaftsverhältnisse, nicht nur im islamischen Raum, sondern der ganzen Welt anstrebt", sagt Andreas Jacobs, Leiter Abteilung Gesellschaftlicher Zusammenhalt bei der Konrad-Adenauer-Stiftung, der DW.

Dabei stünden anders als bei anderen islamistischen Bewegungen wie den Salafisten konkrete Verhaltensregeln weniger Vordergrund. "Es werden weniger Fragen der Lebensweise diskutiert wie: darf ich eine Frau berühren und Ähnliches". Jacobs bezeichnet MI stattdessen als einen "identitären Jugendkult", analog zu rechtsextremen identitären Bewegungen, wie den sogenannten Reichsbürgern.

Inszenierung in den sozialen Medien

Ein Blick in die sozialen Medien untermauert diesen Eindruck: Über 20.000 Follower hat die Gruppe auf TikTok. Die Videos sind professionell gemacht, die prominenten Führungsfiguren inszenieren sich modern und wortgewandt. Es gibt Straßenumfragen, um Nähe zur muslimischen Community zu suggerieren.

Screenshot des TikTok-Kanals der Gruppe Muslim Interaktiv, mehrere Kacheln mit Videos, von Demonstrationen und Kundgebungen
Über TikTok verbreitet die Gruppe Muslim Interaktiv ihre Botschaft und versucht, junge Menschen zu erreichennull muslim.interaktiv/TikTok

Und die Botschaft scheint zu verfangen: In dem Onlinemagazin t-online berichtet ein Lehrer anonym davon, wie die führenden Personen bei Muslim Interaktiv wie Popstars gefeiert werden und seine Schüler schon deshalb zur Demonstration gehen wollen, um ihre "Helden" dort zu treffen.

Häufig knüpft die Gruppe an gesellschaftliche Debatten an: die Verfolgung der Uiguren in China, Koran-Verbrennungen in Schweden, ein mögliches Kopftuchverbot in Deutschland. Und immer präsentiert MI Muslime dabei als diskriminiert und ausgegrenzt - besonders seit dem Terroranschlag der Hamas auf Israel, dem Beginn des Gaza-Krieges und weltweiten Protesten. Die Sprache, die MI und andere Gruppen seither nutzten, sei jetzt sehr viel deutlicher geworden, sagt Navid Wali, pädagogischer Mitarbeiter der Nichtregierungsorganisation Violence Prevention Network, der DW.

"Muslim Interaktiv nutzt auch bekannte Influencer, die vielleicht bedenkenlos ihre Inhalte teilen, und sagt: seht her, wir Muslime sollten alle jetzt zusammenhalten, um gegen diese Islamfeindlichkeit anzugehen. Das ist der Vorwand, wie man dann versucht, andere zu locken und für sich zu gewinnen", erklärt Wali.

Bundesweite Razzien gegen Reichsbürger und Islamisten

Wali bezeichnet Muslim Interaktiv als "Polit-Sekte". Die Videos von MI sind durchweg auf Deutsch, die Inhalte eher kurze analytische Einheiten. "Muslim Interaktiv richtet sich an Studierende, an Akademiker sogar. Aber der Bewegung geht es auch nicht per se um das Anwerben potenzieller Anhänger, sondern darum, so bekannt wie möglich zu werden. Die Umsetzung der Pläne erfolgt später ohnehin durch einen kleinen Kreis, der eingeweiht ist."

Verbot – ja oder nein?

Strategisch gesehen, sei es gar nicht so klug von Muslim Interaktiv nun erneut auf die Straße zu gehen – und neue Verbotsforderungen zu provozieren, sind sich Jacobs und Wali einig.

"Aber die Gruppe ist juristisch gut aufgestellt. Bei dieser neuerlichen Demonstration, das würde ich prophezeien, wird es keinen Extremismus geben. Der Gruppe geht es jetzt vor allem um Aufmerksamkeit", sagt Wali. Bei der ersten Demonstration Ende April waren noch Pullover zu sehen, auf denen die Umrisse des Staates Israels zu sehen waren mit dem Wort Kalifat darüber. Solche Grenzüberschreitungen wird es am Wochenende eventuell nicht mehr geben.

Das juristisch kalkulierte Vorgehen von Muslim Interaktiv erschwert ein Verbot. Ähnlich wie rechtsextreme, identitäre Bewegungen scheinen sie den Rahmen genau zu kennen, in dem sie sich bewegen dürfen. Eine Kalifats-Forderung, solange sie nur theoretisch geäußert wird, ist in Deutschland nicht verboten.

Demo gegen Islamismus in Hamburg, viele Menschen mit verschiedenen Fahnen sind zu sehen, einige haben Schilder in der Hand
Ein breites Bündnis organisierte nach dem Muslim Interaktiv Aufmarsch eine Gegendemonstration in Hamburgnull Jonas Walzberg/dpa/picture alliance

Navid Wali befürchtet aber ohnehin, dass ein Verbot in genau jenes Opfernarrativ hereinspielt, an das MI so oft anknüpft. "Wir müssten dann wahrscheinlich in unserer Arbeit mit Jugendlichen erklären, dass es nicht darum geht, muslimisches Leben zu verbieten. Es wäre besser, statt eines Verbots, den Jugendlichen Alternativen aufzuzeigen, wie muslimisches Leben in Deutschland noch aussehen kann."

Islamwissenschaftler Jacobs bemängelt vor allem das fehlende Wissen zu Gruppen wie Muslim Interaktiv. "Es gibt bisher relativ wenig systematische Forschung über diese Gruppen: über die Größe, Auswertung der Videoportale, Querverbindungen der Botschaften zu Hizb ut-Tahrir. Das steckt noch in den Kinderschuhen im Vergleich zu anderen islamistischen Gruppierungen."

Ein Verbot hätte da, aus seiner Sicht, auch Vorteile: "Erstmal gäbe es eine wichtige Signalwirkung und Zweitens könnten die Sicherheitsbehörden damit Zeit gewinnen, sich die Strukturen genauer anzuschauen und zu überlegen, wie man dann mit Nachfolgeorganisationen umgeht."

Für das anstehende Wochenende sei erstmal keine weitere Gegendemonstration geplant, sagt Necla Kelek in Hamburg. Die Zivilgesellschaft hätte ein Signal gesetzt, nun sei die Politik an der Reihe zu handeln.

Wolfsburgs erneuter DFB-Pokalsieg: Eine Gefahr für die Bundesliga?

Während ihre Teamkolleginnen schreiend und jubelnd auf das Spielfeld stürmten, sackte Wolfsburgs Kapitänin Alexandra Popp von Emotionen übermannt nach dem Schlusspfiff auf dem Rasen zusammen. Soeben hatte sie zum 13. Mal den DFB-Pokal gewonnen, ein Rekord im Fußball der Frauen. Das 2:0 gegen den FC Bayern durch Tore von Jule Brand (14.) und Dominique Janssen (40.) war zugleich der zehnte DFB-Pokalsieg des VfL Wolfsburg in Folge, während den Münchenerinnen das Double aus Meisterschaft und DFB-Pokalsieg verwehrt blieb. Es wird wohl nicht das letzte Mal sein, dass sich diese beiden Mannschaften im Pokalfinale gegenüberstehen. Seit Jahren machen Wolfsburg und Bayern die Meisterschaft bereits unter sich aus, und vieles deutet darauf hin, dass im Pokal eine ähnliche Entwicklung folgen wird. 

Fehlende Spannung in der Frauen-Bundesliga?

Noch tut der ständige Zweikampf der Popularität des Frauenfußballs jedoch keinen Abbruch. Das Pokalfinale war mit 54.400 Zuschauern im Kölner Rhein-Energie-Stadion erneut ausverkauft, in der Frauen-Bundesliga kommen derzeit im Schnitt 3200 Zuschauer pro Spiel zu den Partien, vor vier Jahren waren es noch etwa 650. Auch das Interesse der Medien hat sich in den letzten Jahren deutlich gesteigert. Die Frauen-Bundesliga ist mittlerweile auf sechs verschiedenen Sendern zu sehen, und alle Vereine und Spiele können mit entsprechendem Abo live verfolgt werden. Mit der Vergabe der Medienrechte für die Spielzeiten 2023/24 bis 2026/27 ist die Liga auch wirtschaftlich in neue Dimensionen vorgestoßen. Im Vergleich zum vorherigen Vertrag haben sich die Lizenzeinnahmen um das 16-fache auf jährlich 5,17 Millionen Euro erhöht.

Jule Brand (li.) und Klara Bühl im Zweikampf
Seit Jahren ist die deutsche Meisterschaft ein Zweikampf zwischen Wolfsburg und Bayernnull FloriannWiegan/IMAGO

Doch bei allen positiven Nachrichten: Trotz der Zuschauerrekorde und bei aller Professionalisierung könnte die Frauen-Bundesliga langfristig ein großes Problem bekommen: Die seit Jahren zementierte Tabelle mit den immer selben Top zwei und und dementsprechend auch den selben Pokalsiegern. Seit 2013 mit einer Ausnahme - 2014 der Pokalsieg des 1. FFC Frankfurt - teilen sich der FC Bayern und der VfL Wolfsburg alle nationalen Titel untereinander auf.

Abhängigkeit vom Stammverein

Doch wie entsteht diese überwältigende Dominanz, wenn doch das Fernsehgeld gleichmäßig unter allen Vereinen aufgeteilt wird? Die Fußball-Bundesliga der Frauen ist aktuell noch immer ein Zuschussgeschäft. Die finanziellen Möglichkeiten der Klubs hängen somit stark davon ab, wie viel Geld der jeweilige Stammverein bereitstellen kann oder möchte. Elf der zwölf Vereine der Frauen-Bundesliga werden von ihren Männerfußball-Abteilungen finanziell unterstützt. Die Höhe der jeweiligen Zuschüsse ist jedoch von Verein zu Verein sehr unterschiedlich. Der FC Bayern und der VfL Wolfsburg stecken deutlich mehr Geld in ihre Frauen-Abteilungen als andere Vereine und haben damit im Kampf um die Topspielerinnen sowie beim Thema Infrastruktur einen klaren Vorteil.

Diese Diskrepanz spiegelt sich auch deutlich in den Kaderwerten der verschiedenen Vereine wieder. Laut soccerdonna.de haben der FC Bayern und der VfL Wolfsburg Kaderwerte von etwa 3,3 Millionen Euro und 3 Millionen Euro. Auf dem dritten Platz rangiert Eintracht Frankfurt schon weit abgeschlagen mit knapp 1,6 Millionen Euro, während der MSV Duisburg als Schlusslicht nur einen Kaderwert von knapp 435.000 Euro hat.

FC Bayern Spielerinnen feiern die Meisterschaft 2024
Auch 2024 entschied sich die Meisterschaft zwischen Bayern und Wolfsburg, diesmal zugunsten der Münchnerinnennull Max Ellerbrake/firo/picture alliance

"Kein gerechter Wettbewerb möglich"

Eine Entwicklung, die mitunter auch von Spielerinnen der profitierenden Vereine kritisch gesehen wird. "Wenn man auf alles schaut, dann ist einfach kein gerechter Wettbewerb möglich", sagte Bayern Münchens Torfrau Mala Grohs im ZDF. "Man denkt immer, das sind nur Kleinigkeiten. Aber das summiert sich halt, wenn nicht mal jedes Team in der Bundesliga seine eigene Kabine am Trainingsgelände hat."

Auch Frankfurts Klubchef Axel Hellmann stört sich an der seit über einem Jahrzehnt anhaltenden Dauerdominanz von Bayern und Wolfsburg. "So verliert eine Zwölfer-Liga, die netto nur fünf Monate im Jahr spielt, ihren Reiz", sagte Hellmann der "Frankfurter Rundschau": "Und wenn ich mir dann noch anschaue, wie stark bezuschusst die Frauen sind, ist das kein System, auf dem wir dauerhaft eine stabile Berufsgrundlage für Fußballerinnen gründen können." Dass der DFB vor einer großen Herausforderung steht, ist auch der Vizepräsidentin für Frauen-und Mädchenfußball, Sabine Mammitzsch, bewusst. "Wie schaffen wir das, dass wir die Liga auf ein gleiches Niveau heben? Darum geht es im Moment," sagte Mammitzsch im Deutschlandfunk.

Ausgliederung als Lösung?

Bei der Frage, wie genau das funktionieren soll, gehen die Meinungen allerdings auseinander. Ein möglicher Lösungsansatz ist eine Ausgliederung, also eine Frauen-Bundesliga, die unabhängig vom Deutschen Fußball-Bund (DFB) und der Deutschen Fußball Liga (DFL) existiert. Externe Investoren hätten somit die Möglichkeit, Anteile an der Kapitalgesellschaft eines Vereins zu erwerben und in den jeweiligen Klub zu investieren. "Wir brauchen ein unabhängiges Management", sagte der langjährige Vorstandschef des FC Bayern, Karl-Heinz Rummenigge bereits 2022 gegenüber der "Funke Mediengruppe": "Der DFB braucht zu lange für Entscheidungen. Die Frauen-Bundesliga muss sich für die Vermarktung ausgliedern." Ähnliches ist zuletzt in England passiert, wo der neue Verband NewCo ab der nächsten Saison die ersten beiden Ligen organisiert, um den Umsatz zu steigern.

Porträtphoto von Sabine Mammitzsch
Sabine Mammitzsch, Vizepräsidentin für Frauen-und Mädchenfußball, weiß um die Gefahr der Langeweile in der Frauen-Bundesliganull Sebastian Christoph Gollnow/dpa/picture alliance

Auch eine Aufstockung der Frauen-Bundesliga um zwei oder vier weitere Klubs wird diskutiert sowie die Einführung eines Mindestgehalts oder auch einer Gehaltsobergrenze. "Vielleicht brechen wir so das System mal auf, dass mehr Spannung entsteht, damit wir eine größere Öffentlichkeit erreichen", sagte Hellmann. "Weil damit auch der SC Freiburg, Werder Bremen oder Eintracht Frankfurt die Chance hätten, Meister zu werden."

In einem Punkt sind sich Spielerinnen und Funktionäre jedenfalls einig: Die Frauen dürfen keinesfalls bloß ein Anhängsel der Männervereine sein. Denn ansonsten, da ist sich Hellmann sicher, "werden wir in zehn Jahren bei Männern und Frauen exakt dasselbe Tabellenbild haben, weil die Leistungsfähigkeit im Frauenfußball dann komplett vom Männerfußball abhängt." Man hätte dann eine Riesenchance vertan. 

An all diese Dinge verschwendet Alexandra Popp unmittelbar nach dem Pokalfinale allerdings keine Gedanken. "Es ist der VfL Wolfsburg, es ist der DFB-Pokal und es ist unser Titel", sagte Popp. "Jetzt wird erstmal gefeiert." 

Zeichen gegen Antisemitismus: Karlspreis für Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt

"Ich bin mit Leib und Seele Europäer!", beginnt Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt seine Dankesrede am Donnerstag in Aachen, honoriert durch den ersten Zwischenapplaus. In rund dreißig Minuten zeichnet er die Entwicklung des jüdischen Lebens in West- und Ost-Europa nach und spricht aktuelle Probleme an. 

Kurz zuvor hatte der Präsident der Konferenz der europäischen Rabbiner und der jüdischen Gemeinden  den diesjährigen Internationalen Karlspreis im Aachener Rathaus verliehen bekommen.

Preis geht auch an jüdische Gemeinschaften in Europa

Seit 1950 wird dieser jährlich an eine Persönlichkeit vergeben, die sich in besonderer Weise für die Europäische Einheit verdient gemacht hat. Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt kann sich damit neben Größen der Politik wie der ehemaligen deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, US-Präsident Bill Clinton, dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron oder dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, dem Preisträger des vergangenen Jahres, einreihen.

Deutschland ehrt Rabbiner Goldschmidt

Goldschmidt bedankte sich für den Erhalt des Karlspreises, den er als eine "außergewöhnliche Ehre" und "wichtiges Signal", bezeichnete. Das Karlspreis-Direktorium zeichnet Goldschmidt für sein herausragendes Wirken für den Frieden, die Selbstbestimmung der Völker und die europäischen Werte, wie etwa Toleranz und Pluralismus, sowie seinen Einsatz für den interkulturellen und interreligiösen Dialog aus, heißt es in der Begründung.

Doch der Preis geht nicht nur an Goldschmidt, sondern mit ihm auch an die jüdischen Gemeinschaften in Europa. Damit wolle man ein Zeichen setzen, dass für Antisemitismus in Europa kein Platz sei. Auf der überreichten Medaille ist eingraviert: "Jüdisches Leben gehört selbstverständlich zu Europa."

"Viel Platz für Antisemitismus in Europa" 

Das klinge vielleicht märchenhaft, befindet Goldschmidt in seiner Rede. Doch sei das Gegenteil der Fall. "Jüdisches Leben ist heute nicht selbstverständlich und es gibt viel Platz für Antisemitismus," mahnt er. Gerade seit dem Terrorangriff der militant islamistischen Hamas am 7. Oktober sei der nie erloschene Antisemitismus entfesselt. "Die Sicherheit und die Freiheit jüdischen Lebens in Europa sind ernsthaft bedroht," mahnt Goldschmidt.

Er wisse und sei dankbar um die Bemühungen der deutschen Bundesregierung und anderer europäischer Staaten, den jüdischen Menschen ein Leben in Sicherheit zu gewähren, doch reichten diese nicht. Denn wenn etwa antisemitische Vorfälle und Straftaten zunähmen, jüdisches Leben nur unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen stattfinden könnte und jüdische Menschen sich - aus Angst vor Gewalt - nicht trauten, sich als solche erkennen zu geben, sei das kein Leben in Freiheit.

Proteste an Unis: Pro-palästinensisch oder antisemitisch?

Seit dem 7. Oktober häufen sich die Berichte über antisemitisch motivierte Vorfälle und Straftaten. Allein in  Deutschland hatte sich die Zahl antisemitischer Vorfälle unmittelbar danach vervierfacht .

Mit dem Preis komme auch eine beiderseitige Verpflichtung

Der Preis sei ein "helles Leuchtfeuer der Hoffnung und der Solidarität." Aber auch eine Verpflichtung. Einerseits an ihn selbst, seine Arbeit für Europas Werte, die Versöhnung und die Demokratie noch intensiver fortzusetzen. Gleichzeitig sei es aber auch eine Selbstverpflichtung Europas für das Judentum in Europa zu kämpfen und sich gegen Antisemitismus stark zu machen. Dabei nannte Goldschmidt auch eine Reihe konkreter Maßnahmen, wie etwa die Intensivierung der Ermittlung und Ahndung antisemitisch motivierter Straftaten und ein strengeres Vorgehen gegen Terrororganisationen. Jetzt sei es an der Zeit für Taten.

 

Museum Zwangsarbeit in Weimar eröffnet

Zeit und Ort hätten nicht symbolischer sein können: Am 8. Mai, dem Tag, an dem vor 79 Jahren mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht der Zweite Weltkrieg beendet wurde, ist in Weimar, einer der Schicksalsstädte der deutschen Geschichte, ein neues Museum eröffnet worden: das Museum Zwangsarbeit.

Auf über 20 Millionen schätzen die Historiker die Zahl der Menschen, die zwischen 1933 und 1945 verschleppt und in Deutschland und in den besetzten Gebieten zu Zwangsarbeit unter unmenschlichen Bedingungen gezwungen wurden - vor den Augen der deutschen Gesellschaft.

Neues Museum als Teil der Gedenkstätte Buchenwald

Allein das Gebäude erzählt Geschichte: "Das Museum Zwangsarbeit im Nationalsozialismus ist in dem Gebäudekomplex untergebracht, den Fritz Sauckel, der sogenannte 'Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz', also quasi der oberste Sklavenhalter des Dritten Reiches und zugleich Gauleiter der NSDAP in Thüringen, für seine Repräsentationszwecke hat bauen lassen", erzählt Philipp Neumann-Thein, stellvertretender Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora der DW. Das neue Museum ist Teil der Gedenkstätte.

Kolonnade, Sonne scheint und wirft Schatten in einen langen Säulengang.
Von Prunkbau der Nazis zu einem Museum: Kolonnaden am früheren "Gauforum"null Martin Schutt/dpa/picture alliance

Die Klassik Stiftung Weimar feiert die Eröffnung. "Wir wollen mit dem gemeinsamen Festakt ein deutliches Zeichen für Demokratie setzen", so die Museumsdirektorin Dorothee Schlüter. Die zeitliche Nähe zu den Kommunalwahlen in Thüringen, die Ende Mai stattfinden, liegt den Museumsmachern dabei besonders am Herzen. "Ist Weimar doch ein Brennglas der deutschen Gesellschaft", so Philipp Neumann-Thein gegenüber der DW.

Museum zum Mitfühlen

Das neue Museum geht auf eine große Wanderausstellung zur Zwangsarbeit zurück, die bereits 2010 entstand und danach eine Reise durch ganz Europa zu den Orten der Verbrechen antrat. Nach Stationen etwa in Warschau, Prag oder Moskau kamen die sieben LKWs mit den Exponaten nach Weimar zurück. "Es war die erste und bislang einzige Ausstellung, die Zwangsarbeit im Nationalsozialismus in ihrer gesamteuropäischen Dimension zeigte", sagt Dorothee Schlüter.

Besucher im Museum betrachten die Exponate, einer hält sich einen Hörer ans Ohr.
Eine Ausstellung zum Miterlebennull Christoph Musiol/gewerkdesign

Es ist aber auch eine Exposition der neuen Art, denn neben den "offiziellen" Bildern, Formularen und weiteren Dokumenten präsentiert die Ausstellung exklusives historisches Material aus privaten Quellen. "Diese Verbrechen wurden ja in aller Öffentlichkeit begangen", erzählt Philipp Neumann-Thein. "Millionen Deutsche waren in diese Verbrechen direkt eingebunden – sie waren nicht nur Täterinnen und Täter, sondern es gab auch jede Menge Zuschauerinnen und Zuschauer, die fotografiert und gefilmt haben."

Junge Frauen mit wenig Gepäck und ernsten Gesichtern gehen in einer großen Gruppe, historisches Bild von 1942
Zwangsarbeiterinnen aus der Sowjetunion, Dezember 1942null Deutsches Historisches Museum, Berlin

Diesen Zaungästen der Verbrechen ist sozusagen zu verdanken, dass die Historiker nun auf eine breite Palette von Bildmaterial zurückgreifen können: "Es sind sowohl von Tätern inszenierte Bilder, als auch ganz viele Aufnahmen von einfachen Menschen, von Soldaten, von Betriebsangehörigen, und das ist ein ganz, ganz wichtiges Medium für die Ausstellung", so der Ausstellungsmacher Neumann-Thein. "Wir versuchen, die Zwangsarbeit in all ihren Dimensionen darzustellen, wie sie in der Zeit von 1933 bis 1945 von den Nationalsozialisten organisiert worden war."

Ex-Zwangsarbeiter Ivanji: "Nie ein besseres Museum gesehen"

Das erste Lob könnte für das Team aber auch das größte sein, denn es kommt von den ehemaligen Opfern der Zwangsarbeit. Einige ältere Damen und Herren sind zur Eröffnung angereist, darunter der 95-jährige serbische Schriftsteller Ivan Ivanji. "Ich habe nie ein besseres Museum gesehen", schwärmt der ehemalige Generalsekretär des Schriftstellerverbandes im ehemaligen Jugoslawien. "Dass man so etwas heute machen kann – mit so vielen Möglichkeiten zu sehen, zu hören! Das freut mich wirklich, dass ich das noch erlebt habe!"

Ivan Ivanji empfielt das Museum

Der im serbischen Banat geborene Sohn jüdischer Eltern wurde Ende April 1944 verhaftet, zunächst nach Auschwitz und dann nach Buchenwald deportiert. Dort kam der damals 15-jährige zum "Außenkommando Niederorschel" und landete schließlich in einem Lager bei Halberstadt in Sachsen-Anhalt, wo er "irgendwas für den Endsieg herstellen sollte", so Ivanji. Er überlebte. Das Jahr in der Nazi-Sklaverei prägte sein ganzes Leben. Über zwanzig Romane hat er während seines langen Lebens verfasst, in denen es um das Lagerleben geht – auch eine Art Befreiungsstrategie.

Das Museum Zwangsarbeit sei ein Ort, so Ivanji, den er auch seinen Enkeln und Enkelkindern empfehlen würde und all den jungen Menschen, die bestimmt auch kommen, "wenn es sich herumspricht, dass man da nicht Wände anglotzen muss, sondern etwas Neues erleben kann, wie in einem sehr guten Film."

Am 9. Mai öffnet das neue Museum seine Pforten fürs Publikum - egal welchen Alters..

 

Aachener Karlspreis: Wer ist Pinchas Goldschmidt?

Der Aachener Karlspreis gilt als eine der ehrenvollsten Auszeichnungen Europas und wird Persönlichkeiten oder Institutionen zugedacht, die sich um die Einigung Europas verdient gemacht haben. Seit 1950 bekamen ihn die Gründerväter des gemeinsamen Europas, auch Könige und Regierungschefs, Staatspräsidenten und Päpste, die Opposition in Belarus und das ukrainische Volk. Am 9. Mai geht der Preis erstmals an einen Rabbiner.

Deutschland ehrt Rabbiner Goldschmidt

Pinchas Goldschmidt ist seit bald 13 Jahren Präsident der Konferenz der Europäischen Rabbiner (CER), der rund 800 orthodoxe jüdische Gelehrte angehören. Der 60-Jährige ist der wohl prominenteste Rabbiner Europas. "Das Karlspreisdirektorium will mit dieser Auszeichnung das Signal setzen, dass jüdisches Lebens selbstverständlich zu Europa gehört und in Europa kein Platz für Antisemitismus sein darf", heißt es in der Begründung.

"Eine Explosion von Antisemitismus"

"Die Realität ist leider genau umgekehrt", sagt Goldschmidt der Deutschen Welle. "Wir haben seit dem 7. Oktober geradezu eine Explosion von Antisemitismus." Der Terror der islamistischen Hamas gegen Israel brachte den größten Massenmord an Juden seit dem Holocaust. An die 1200 Menschen wurden ermordet, tausende verletzt, rund 240 wurden als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Israel reagiert seitdem mit einer großangelegten Militäroffensive in Gaza. 

Ein Polizist vor dem Kahal Adass Jisroel Zentrum in Berlin-Mitte
Viele Synagogen in Deutschland werden rund um die Uhr bewacht null Markus Schreiber/AP Photo/picture alliance

Seither nimmt in vielen Teilen der Welt Judenhass zu. Jüdische Eltern, sagt Goldschmidt, hätten Angst, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Jüdische Männer, Jugendliche und Kinder scheuten sich, mit einer Kippa als Kopfbedeckung über die Straße zu gehen. Jüdisches Leben findet oft unter Polizeischutz statt.

Antisemitismus, so der Rabbiner, "wurde wieder salonfähig und politisch korrekt". Das müsse sich wieder ändern. Die Regierungen müssten deutlich machen, dass sie Judenhass nicht akzeptierten, "nicht im Schulwesen, nicht auf der Straße, nicht in der Kultur". Solange offener Judenhass geduldet werde, "haben wir ein schweres Problem". Wenn Goldschmidt da "wir" sagt, meint er nicht etwa allein oder vorrangig die Jüdinnen und Juden. Für ihn geht es um die Zukunft Europas.

Zur europäischen Geschichte der Familie Goldschmidt gehört das Grauen von Auschwitz. Pinchas Goldschmidt wurde 1963 in Zürich geboren - weil die Großeltern wegen einer Erkrankung der Großmutter gerade noch rechtzeitig 1938 aus Wien in die Schweiz übersiedelten. Seine Urgroßeltern mütterlicherseits starben in Auschwitz, auch deren Geschwister, auch die Schwestern und Brüder seines Großvaters, mehr als 40 seiner Verwandten, sagt der Rabbiner. 

Flucht vor Putins Angriffskrieg

Von 1993 bis 2022 war Goldschmidt Oberrabbiner von Moskau. Wenige Tage nach Beginn des russischen Angriffskrieges auf die gesamte Ukraine im Februar 2022 verließ er fluchtartig Russland, weil der Kreml die Religionsvertreter auf seine Linie verpflichten wollte. Seit seinem Abschied von Moskau hätten mehr als hunderttausend Juden Russland verlassen, erläutert der Rabbiner. "Die politische Situation in Russland wird immer schwieriger. Das Land kehrt zurück in die totale Isolation, in die Sowjetunion ohne Kommunismus. Und Antisemitismus ist wieder ein Teil der Regierungspolitik geworden."

"Das Ende kennen wir ja"

Seitdem leben Goldschmidt und seine Frau, die sieben Kinder und zahlreiche Enkelkinder haben, in Jerusalem. In einem seit dem 7. Oktober 2023 veränderten Land. "Ich bin von einem Krieg in den anderen Krieg geraten", meint er. Krieg, sagt er, sei "schrecklich, eine der schrecklichsten Sachen, die die Menschheit erfunden hat". Aber Israel habe wie jedes Land das Recht auf Selbstverteidigung. Und in Gaza kämpfe Israel nicht gegen eine Armee, sondern gegen eine Guerilla-Truppe.

Und er kommt auf die Rolle des Iran, der die Hamas und die Hisbollah-Miliz, beide von der EU als Terrororganisationen eingestuft, stütze. "Es ist eine große Stunde für Europa. Europa muss sich wehren gegen diese Angriffe. Diese Angriffe gegen die Demokratie und die Freiheit, die von einer Seite aus Russland kommen und von der anderen Seite aus Iran."

Vatikan Papst Franziskus und Rabbiner Pinchas Goldschmidt
Rabbiner Goldschmidt im Oktober 2022 zu Gast bei Papst Franziskusnull Vatican Media/picture alliance

Eigentlich ist der vielsprachige Rabbiner ein Meister des Dialogs. Er steht mit vielen führenden Politikern im Austausch, war öfter im Kanzleramt zu Gast, besuchte mehrmals Papst Franziskus. Seitdem er Präsident der Europäischen Rabbinerkonferenz ist, etablierte er einen Dialog führender rabbinischer Gelehrter und muslimischer Imame aus europäischen und nordafrikanischen Ländern. Diverse Treffen und wachsendes Vertrauen, die es eher selten in die Medien schafften, aber ungemein wichtig sind. Die Rabbinerkonferenz hat inzwischen ihren Sitz im süddeutschen München.

Der Islam und Europa

"Anstatt den radikalen Islam zu bekämpfen, bekämpft man einfach die islamische Religion. Das ist ein großer, ein sehr großer Fehler", so Goldschmidt. Man müsse den radikalen Islam bekämpfen, aber es sei zugleich klar: "Der Islam als solcher kann ein wertvoller Bestandteil von Europa werden, wenn seine Gläubigen und Vertreter genauso europäische Werte wie Freiheit, Demokratie und Toleranz aktiv leben."

München Eröffnung CER-Hauptquartier | Konferenz Europäischer Rabbiner
Ein Festtag für Europas Rabbiner: Im September 2023 enthüllte Goldschmidt (vorne rechts) mit anderen das Büro-Schild der Europäischen Rabbinerkonferenz CER in München null Leonhard Simon/Getty Images

Über den Karlspreis freut er sich. "Für mich persönlich wie für die jüdische Gemeinschaft in Europa ist gerade das ein schönes Zeichen. Denn wir wünschen uns mehr Unterstützung der jüdischen Gemeinden aus der Zivilgesellschaft. Es wäre so wichtig."

"König" Kroos erreicht mit Real Madrid das Champions-League-Finale

In der zweiten Minute der Nachspielzeit richteten sich alle Augen auf Schiedsrichter Szymon Marciniak. Dieser ignorierte die wild auf ihn einredenden Spieler von Real Madrid und konzentrierte sich auf die Kommunikation mit dem VAR. Wenige Sekunden zuvor hatte Joselu das 2:1-Siegtor für Real Madrid erzielt.

Aufgrund einer möglichen Abseitsstellung wurde der Treffer überprüft und nach weiteren bangen Sekunden aus Sicht der Madrid-Fans für regelkonform erklärt. Es war gleichzeitig die Entscheidung in einem Spiel, in dem der FC Bayern München bis zur 90. Spielminute wie der Champions-League-Finalist ausgesehen hatte. Doch dann traf der eingewechselte Joselu doppelt und machte den Finaleinzug für Madrid perfekt. "Wir waren heute über 90 Minuten die deutlich bessere Mannschaft", sagte Toni Kroos bei DAZN. Der Finaleinzug gegen Borussia Dortmund sei daher verdient.

Real Madrids Joselu jubelt nach seinem Torerfolg gegen Bayern München
Der eingewechselte Joselu schießt Real Madrid mit seinem Doppelpack ins Finale der Champions Leaguenull Susana Vera/REUTERS

Im Finale im Londoner Wembley-Stadion treffen die Königlichen nun auf Borussia Dortmund, das sich einen Tag zuvor gegen Paris Saint Germain durchgesetzt hatte. Für Toni Kroos, der nach seiner Auswechslung in der 69. Minute das restliche Spiel von der Bank beobachtete, wird das Duell um die Krone im europäischen Fußball ein ganz besonderes.

Bereits vor elf Jahren stand Kroos, damals noch im Trikot des FC Bayern, im Finale der Königsklasse und feierte am Ende einen knappen Sieg gegen den BVB. Nun kommt es erneut zu einem Duell zwischen Madrids Spielmacher und den Dortmundern. "Ein Champions-League-Finale ist etwas für die Dortmunder, was sie noch nicht so oft gespielt haben. Das ist nochmal ein ganz anderes Ambiente. Wembley. Da machen noch ein paar andere Gefühle was mit dir", sagte Kroos, der für Madrid zum entscheidenden Faktor werden könnte. 

Ein König unter Königen

Das untermauert die beeindruckende Statistik beim Halbfinal-Rückspiel. Mit 94 Prozent Passquote bei 101 gespielten Pässen sowie vier Torschussvorlagen war der 34-Jährige bis zu seiner Auswechslung mal wieder Dreh- und Angelpunkt im Spiel der Königlichen. "Es ist wie ein Orchester, er leitet es. Er gibt das Tempo vor", schwärmte Teamkollege Antonio Rüdiger bereits vor dem Spiel und ergänzte überschwänglich: "Du kannst ihn immer anspielen. Er strahlt immer Ruhe aus. Puls 20. Toni ist ein sehr wichtiger Baustein."

Bei Real muss "König Kroos VIII.", wie ihn Real Madrid in einem Post mit Verweis auf seine Rückennummer acht nannte, nichts mehr beweisen. "Toni", betonte Mitspieler Dani Ceballos voller Hochachtung, "ist eine Ikone dieses Vereins." Kroos sei "einzigartig", ergänzte Trainer Carlo Ancelotti. Der Deutsche leiste sich "keinen Fehlpass und wählt immer die beste Lösung", weil er über die nötige Kontrolle und Orientierung verfüge.

Europapokal-Monster Toni Kroos

Und genau diese Verlässlichkeit seines Handelns auf dem Platz zeigte Kroos auch in den beiden Halbfinal-Spielen gegen den deutschen Rekordmeister. Der Spielmacher war immer anspielbereit, sorgte für Ruhe oder änderte das Tempo mit schnellen Pässen. Er war da, wenn seine Mitspieler ihn brauchten.

Das wird vor allem Bayerns Ehrenpräsident Uli Hoeneß ärgern. Einst verunglimpfte er Kroos als "Querpass-Toni" und verlängerte dessen Vertrag trotz des Champions-League-Gewinns 2013 und des WM-Titels 2014 nicht. Der Mittelfeldstratege musste den Verein verlassen und schloss sich Real Madrid an.

Toni Kroos hält den Champions-League-Pokal in seinen Händen
Toni Kroos konnte bereits fünf Mal die Champions League gewinnen - folgt gegen den BVB Titel Nummer sechs?null Alberto Lingria/Pressefoto ULMER/picture alliance

Nach seinem Wechsel in die spanische Hauptstadt hielt der Stratege mit Real bisher vier weitere Male den Henkelpott in die Höhe, er verkörpert den legendären Ruf des Klubs als Europapokal-Monster wie kein Zweiter. Zudem holte er insgesamt sechs Mal den Weltpokal und ist somit einer der am höchsten dekorierten Fußballer weltweit.

Seit nunmehr zehn Jahren steht Kroos bei Real unter Vertrag und gewann in dieser Zeit insgesamt 21 Titel mit den Madrilenen. In Deutschland ist der Weltmeister ohnehin die Nummer eins. "Wer in der erfolgreichsten Mannschaft der letzten Jahre so stattfindet wie Toni, ist über alle Zweifel erhaben", sagte Joshua Kimmich.

Eine erfolgreiche Europameisterschaft mit Kroos?

Auch Bundestrainer Julian Nagelsmann ist sich der Qualitäten von Kroos bewusst und hat ihn zurück in die Nationalmannschaft geholt. In seinen ersten beiden Spielen mit der DFB-Elf verhalf er dem Team zu Siegen in Frankreich und gegen die Niederlande. Der Einfluss des Mittelfeldregisseurs war in beiden Spielen zu sehen und macht den Verantwortlichen des DFB, aber auch den deutschen Fans Hoffnung auf eine erfolgreiche Europameisterschaft.

Toni Kroos steht im DFB-Trikot auf dem Platz
Mit der DFB-Elf will Toni Kroos nun auch bei der Heim-EM erfolgreich seinnull eu-images/IMAGO

Mit dem Weltmeister ist der Erfolg zurückgekehrt, und das hat sogar Kroos' größten Kritiker dazu bewegt, sich lobend über den Offensivmann zu äußern. "Im Moment begrüße ich das schon, dass Toni Kroos zurückkommt, weil wir von den Persönlichkeiten im Moment nicht so die große Auswahl haben", sagte Bayerns Ehrenpräsident Uli Hoeneß. "Jetzt hat sich Julian Nagelsmann entschieden, sehr viele junge Spieler zu holen. In so einem Umfeld ist ein erfahrener Spieler wie Toni Kroos vielleicht der Richtige."

Kroos erneut gegen Borussia Dortmund

Vor der EM kehrt Kroos zurück an den Ort, wo er 2013 seinen ersten großen Titel feiern konnte. Der damals 23 Jahre alte Spieler von Bayern München besiegte in einem knappen Spiel Borussia Dortmund. Elf Jahre später bekommt er nun die erneute Chance, seinen vielleicht letzten Champions-League-Titel zu gewinnen - und erneut muss er im Wembley-Stadion dafür den BVB schlagen. 

Real greift nach dem 15. Henkelpott der Vereinsgeschichte, der BVB hat bislang nur 1997 gewonnen. "Ich hoffe, dass die mit uns ein bisschen weniger machen und wir den Vorteil Erfahrung mitbringen und dann auch das Ding holen", sagte Kroos und ergänzte: "Aber das ist jetzt keine Kampfansage - dass wir das gewinnen wollen, ist klar."

Europawahl: Das sind die Pläne der deutschen Parteien

Die deutschen Parteien stellen sich für die Wahl zum Europaparlament am 9. Juni 2024 auf. Viele Gemeinsamkeiten gibt es, aber auch krasse Unterschiede. Und wer welche Positionen im Wahlprogramm mit wem teilt, das ist manchmal durchaus überraschend.

Grüne: Statt Staatenbund ein Bundesstaat

Keine deutsche Partei geht beim Fernziel der EU so weit wie die Grünen. Sie wollen die Europäische Union zu einem "föderalen europäischen Bundesstaat" weiterentwickeln. So steht es dank der Grünen auch im Koalitionsvertrag der Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP. Deutsche Interessen sind den Grünen zufolge europäische Interessen, sie sehen da keinerlei Gegensätze.

"Strategisch souverän" soll die EU werden, also außen- und militärpolitisch unabhängig agieren können. Die Ukraine wollen sie noch stärker unterstützen. Die Grünen sehen die Ukraine als künftiges EU-Mitglied, mit dem möglichst bald Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden sollen. Alle anderen Parteien sind weit vorsichtiger.

Europaflagge und ukrainische Flagge vor einem großen Gebäude, dem EU-Parlament.
Die Grünen sehen die Ukraine als künftiges EU-Mitgliednull Philippe Stirnweiss/European Union 2024

Ein grünes Markenzeichen bleibt die Klimapolitik, in die massiv investiert werden soll, auch wenn das neue Schulden bedeutet. Und an einer liberalen Asylpolitik wollen die Grünen festhalten, wenngleich das von der Mehrheit der Deutschen inzwischen kritisch gesehen wird. 

SPD: Ausbau europäischer Arbeitnehmerrechte

Solidarität und soziale Absicherung sind Schlüsselbegriffe im sozialdemokratischen Programm. Gleiche Mindeststandards bei den sozialen Sicherungssystemen der EU und ein europaweiter Mindestlohn gehören für sie dazu. Dafür ist viel Geld notwendig, das die SPD über neue Schulden, aber auch durch höhere Steuern einnehmen will.

Der Satz "Wir werden Europa bis spätestens 2050 zum ersten nachhaltigen und treibhausgasneutralen Kontinent machen" könnte genau so im Grünenprogramm stehen. Konsequente Klimapolitik, hohe Standards beim Asylrecht, massive öffentliche Investitionen – das alles klingt sehr ähnlich wie bei den Grünen.

Zahlreiche Windräder auf Feldern vor einem blauen Himmel.
Wie die Grünen wollen auch die Sozialdemokraten einen massiven Ausbau erneuerbarer Energiennull Patrick Pleul/dpa/picture alliance

Aber in einem Punkt hebt sich die SPD ab: "Frieden in Europa kann es nicht gegen, sondern nur mit Russland geben." Hier sieht sich die SPD "als die Friedenspartei in Deutschland", die trotz des eklatanten Bruchs des Völkerrechts durch Russland eine "neue europäische Ostpolitik" fordert. 

FDP: Selbstverantwortung und Sparen

Die dritte Partei in der Bundesregierung, die FDP, setzt deutlich andere Akzente und verteilt kräftig Seitenhiebe.

"Die Vorhaben von EU-Kommissionpräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) – wie eine bürokratische EU-Lieferkettenrichtlinie oder ein EU-Heizungsverbot – drohen, die Wirtschaft sowie die Bürgerinnen und Bürger zusätzlich zu belasten", heißt es bei der FDP. Statt "immer tiefgreifenderen Regulierungen und Vorgaben" setze man u.a. auf Technologieoffenheit. Gemeint ist neben dem Heizen auch die Antriebsart beim Auto, bei dem sich die FDP nicht auf das Elektroauto festlegen würde.

Volle Autobahn
Die FDP will den Markt über den Antrieb von Autos bestimmen lassennull Thomas Banneyer/dpa/picture alliance

Die FDP möchte die Ukraine noch stärker unterstützen, aber Finanzmittel, egal wofür, müssten erst erwirtschaftet werden, bevor man sie verteilt. Statt neuer Schulden fordern sie Einsparungen, auch bei der EU: Die Zahl der Kommissare solle von 28 auf 18 verkleinert werden, und das Parlament sollte nicht mehr an zwei Standorten abwechselnd tagen (Straßburg und Brüssel), sondern nur noch an einem.

CDU: Ausgleich der Interessen und starke Verteidigung

Die CDU (zusammen mit ihrer bayerischen Schwesterpartei CSU) versteht sich als letzte Volkspartei in Deutschland, die für breite Bevölkerungsgruppen wählbar sein soll. Das Programm ist dadurch ein Sowohl-als-Auch: Klimaschutz ja, aber ohne Zwang, Marktwirtschaft ja, aber mit sozialer Absicherung, europäische Solidarität ja, aber mit solider Haushaltspolitik.

Nicht immer gelingt dieser Spagat. So fällt die CDU ihrer eigenen Parteifreundin, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, in den Rücken, die sich für das Aus des Verbrennungsmotors ab 2035 stark gemacht hat; das will die CDU rückgängig machen. Beim Klimaschutz und beim Thema Migration schlägt die CDU inzwischen deutlich restriktivere Töne an als zu Zeiten von CDU-Bundeskanzlerin Angela Merkel, die bis 2021 regierte.

Lächelnder Mann und lächelnde Frau sitzen nebeneinander
CDU-Chef Friedrich Merz und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, ebenfalls CDU, sind nicht überall einer Meinungnull Michael Kappeler/dpa/picture alliance

Wenn es ein Alleinstellungsmerkmal der CDU in der Europapolitik in diesem Wahlkampf gibt, dann ist es bei Sicherheit und Verteidigung seit dem russischen Überfall auf die Ukraine. Die CDU will eine massive Aufrüstung der Europäischen Union einschließlich Flugzeugträger und eigenem Raketenschirm.

AfD: Weg mit der EU!

Nicht nur in der Europapolitik bildet die Alternative für Deutschland den Gegenpol zu den Grünen. Als einzige Partei im Deutschen Bundestag will die AfD die EU abschaffen, jedenfalls in ihrer gegenwärtigen Form. "Wir halten die EU für nicht reformierbar und sehen sie als gescheitertes Projekt", heißt es in der Präambel des Wahlprogramms. Man strebe daher einen "Bund europäischer Nationen" an, eine neu zu gründende europäische Wirtschafts- und Interessengemeinschaft, in der die Souveränität der Mitgliedstaaten gewahrt sei. Den EU-Binnenmarkt würde die AfD erhalten.

Wahlplakat der AfD: "Unser Land zuerst. Europa neu denken"
Die AfD tritt für ein Europa der Nationalstaaten ein, die jetzige EU lehnt sie abnull DW

In der Migrationspolitik fordert die AfD eine "Festung Europa", wobei die EU die Mitgliedstaaten beim Außengrenzschutz und bei Abschiebungen unterstützen solle.

Klimaschutz ist in den Augen der AfD komplett überflüssig, weil sich das Klima schon immer gewandelt habe. Daher lehnt die Partei auch sämtliche Maßnahmen zur Verringerung des CO2-Ausstoßes etwa im Verkehr oder beim Heizen ab.

Radikal andere Wege geht die AfD auch beim Umgang mit Russland. Sie fordert ein Ende der Wirtschaftssanktionen und eine Wiederannäherung an Moskau.

Die Linke: Neustart durch Umverteilung

Die Partei Die Linke stellt die EU zwar nicht grundsätzlich infrage, ist aber für drastische Reformen. "Wer Europa will, muss es den Reichen nehmen" steht im Wahlprogramm.

Durch eine deutlich höhere Besteuerung vor allem von Konzernen will die Linke die Sozialpolitik radikal ausweiten. Sie plädiert zum Beispiel in Deutschland für eine Viertagewoche bei vollem Lohnausgleich, einen Mindestlohn von 15 Euro (derzeit 12,41 Euro) sowie eine europäische Kindergrundsicherung.

Die Asyl- und Flüchtlingspolitik soll in keiner Weise eingeschränkt werden, dafür steht schon die frühere Seenotretterin Carola Rackete im linken Spitzenduo für die Europawahl.

Afrikanische Flüchtlinge in Schwimmwesten auf einem Schlauchboot mit zwei Rettungskräften der Sea Watch.
Die Links-Partei will, dass Europa offen bleibt für Flüchtlinge. null ROPI/picture alliance

In einem einzigen Punkt gibt es Parallelen zur AfD: Auch die Linkspartei strebt eine Wiederannäherung an Russland an und ist gegen Waffenlieferungen an die Ukraine.

BSW: Zwitter aus Linkspartei und AfD

Die Bundestagsabgeordnete Sahra Wagenknecht hat die Linkspartei verlassen und zieht mit dem neugegründeten Bündnis Sahra Wagenknecht in den Wahlkampf. Das BSW verbindet programmatisch einiges ihrer alten politischen Heimat mit manchen Forderungen der AfD.

So tritt das BSW, wie die Linkspartei, für mehr Umverteilung von oben nach unten und für massive öffentliche Investitionen ein. Ebenso will es eine Wiederannäherung an Russland.

Lächelnde Frau dreht sich zum Betrachter um, hinter ihr zahlreiche Fotografen, die Kameras auf sie richten
Sahra Wagenknecht, hier beim Gründungsparteitag des Bündnis Sahra Wagenknecht, verbindet eine linke Sozialpolitik mit rechten Positionen zur Asylpolitiknull Kay Nietfeld/dpa/picture alliance

Mit der AfD verbindet das BSW andererseits die Forderung einer restriktiven Migrationspolitik, wenn auch weniger scharf formuliert. Deutschland sieht die Partei durch die hohe Zahl der Migranten überfordert; den Preis, etwa durch einen angespannten Wohnungsmarkt, würden die Armen zahlen.

Auch beim Klimaschutz zeigt sich das BSW zwar nicht so radikal wie die AfD, beklagt aber "blinden Aktionismus und undurchdachte Maßnahmen", die "helfen dem Klima nicht, aber sie gefährden unsere wirtschaftliche Substanz, verteuern das Leben der Menschen und untergraben die öffentliche Akzeptanz von sinnvollen Klimaschutzmaßnahmen".

Gewalt gegen deutsche Politiker nimmt zu

Die gute Nachricht zuerst: Nach dem Angriff auf Berlins Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey ist die SPD-Politikerin eigenen Angaben zufolge wieder wohlauf. "Nach dem ersten Schreck kann ich sagen, es geht mir gut", erklärte Giffey am Mittwoch.

Ein Mann hatte die frühere Regierende Bürgermeisterin von Berlin und ehemalige Bundesfamilienministerin am Dienstagnachmittag laut Polizei bei einem Termin in einer Bibliothek in Berlin von hinten mit einem harten Gegenstand attackiert. Dabei wurde sie am Kopf und am Nacken getroffen und begab sich zur ambulanten Behandlung in ein Krankenhaus. Wie die Berliner Staatsanwaltschaft am Mittwoch mitteilte, wurde der mutmaßliche Täter inzwischen identifiziert, nachdem er zuvor unerkannt entkommen konnte.

Die Berliner Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey spricht bei der Pressekonferenz
Wurde von einem Unbekannten angegriffen: die Berliner Wirtschaftssenatorin Franziska Giffeynull Britta Pedersen/dpa/picture alliance

Der Angriff erfolgte nur wenige Tage nach dem brutalen Überfall auf den SPD-Politiker Matthias Ecke in Dresden. Der 41-jährige tritt in Sachsen als Spitzenkandidat seiner Partei für die EU-Parlamentswahlen vom 6. bis 9. Juni an. Am vergangenen Freitagabend (3. Mai) war er beim Aufhängen von Wahlplakaten niedergeschlagen und schwer verletzt worden. Er wurde mit einem Bruch des Jochbeins und der Augenhöhle ins Krankenhaus eingeliefert. Trotz des Vorfalls werde Ecke den Wahlkampf fortsetzen, sobald er sich von der Operation erholt habe, so der SPD-Landesverband Sachsen.

Alle vier Tatverdächtigen, junge Deutsche im Alter von 17 bis 18 Jahren, konnten von der Polizei identifiziert werden. Bei mindestens einem von ihnen hat die Polizei Hinweise auf eine rechtsextreme Gesinnung entdeckt.

Ebenfalls in Dresden wurde am Dienstag ein Wahlkampfteam der Grünen beim Aufhängen von Wahlplakaten beleidigt, bedroht und bespuckt. Die Wahlhelfer waren in Begleitung eines Fernsehteams der Deutschen Welle sowie weiterer Journalisten unterwegs, die Zeugen des Vorfalls am helllichten Tag wurden.

Eine Redakteurin der Deutschen Welle, die dabei war, schildert den Zwischenfall so: "Wir haben unterwegs schon Rufe gehört, wie "Heil Hitler“ und "Nur die AfD“. Aber der Angriff kam plötzlich. Erst wurde das Wahlplakat runtergerissen. Dann wurde eine Grünen-Politikerin bedroht und eingeschüchtert. Man hat ihr direkt ins Gesicht gespukt und sie dann dazu gebracht, Beweisfotos von dem zerstörten Plakat auf ihrem Handy zu löschen. Dabei wurde sie immer wieder beleidigt. Ich und einige andere haben versucht, die Polizei anzurufen, landeten aber alle erstmal einige Minuten in der Warteschleife. Das hat Angst gemacht. Als die ersten Polizisten dann kamen, war es natürlich eine große Erleichterung. Gleichzeitig hat man sich gefragt: Warum wart ihr nicht schon früher da, weil die nächste Polizeistation nur drei Minuten entfernt ist."

Die Vorfälle zeigen: Wer sich in Deutschland politisch engagiert, lebt zunehmend gefährlich. Der Angriff auf Ecke ist nur die Spitze des Eisbergs, Tag für Tag werden vor allem Lokalpolitiker massiv angegangen, bedroht und beschimpft.

So wie Max Reschke, seit einem Jahr Parteichef der Grünen in Thüringen. Er sagt gegenüber der DW: "Ab Weihnachten bis Anfang des Jahres, zu Zeiten der Bauernproteste, hatten wir zeitweilig an jedem Büro entweder einen Misthaufen vor der Tür, Eier an den Scheiben, eingeschmissene Scheiben an mehreren Büros und auch aufgesprengte Briefkästen. Es kommt vor, dass Menschen einem sagen, wenn wir wieder an der Macht sind, dann passiert dieses und jenes mit Euch. Die Gewalt in der Sprache ist auf jeden Fall in den letzten Jahren gestiegen."

Mann mit Schnurrbart und blauem Hemd schaut in die Kamera
"Die Leute, die in rechten Strukturen unterwegs sind, sind mit einer ziemlichen Motivation unterwegs" - Max Reschkenull Paul-Philipp Braun

Zur Sicherheit nicht mehr allein im Wahlkampf unterwegs

Vor allem die Grünen werden häufig angegriffen, Reschke und sein Team mussten längst reagieren. Im Wahlkampf für die Kommunalwahlen Ende Mai und die Europawahlen Anfang Juni sind sie für ihre eigene Sicherheit immer mindestens zu zweit unterwegs. In Schulungen werden die grünen Wahlkämpfer trainiert, ruhig mit den Menschen zu sprechen, zu deeskalieren und sich nicht provozieren zu lassen.

"Es gibt Menschen, die früher Sachen gedacht haben, und diese jetzt sagen, wenn sie zu uns kommen. Es wird auch gerne versucht, die Familien einzuschüchtern. Und es gibt andere, die sorgen dafür, dass solche Gedanken auch in Handlungen umgesetzt werden. Das hat man leider jetzt in Dresden gesehen", sagt Reschke.

"Es darf nicht sein, dass erst etwas passieren muss"

Und nicht nur dort: In Essen in Nordrhein-Westfalen wurden am 2. Mai zwei Grünen-Politiker erst beleidigt und dann attackiert, einer von ihnen verletzt. In Brandenburg schlugen am selben Tag aufgebrachte Demonstranten auf das Auto der grünen Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckart ein und hinderten diese an der Weiterfahrt.

Und in Gotha in Thüringen zündeten im Februar Unbekannte das Haus eines SPD-Politikers an, der eine Demonstration gegen Rechtsextremismus organisiert hatte.

Gewalt gegen Politiker ist keine neue Erscheinung: So wurde die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker 2015 Opfer eines Attentates, welches sie knapp überlebte. 2019 war der hessische Regierungspräsident und CDU-Politiker Walter Lübcke von einem Rechtsextremisten ermordet worden. 

Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder macht die in Teilen rechtsextreme AfD für die jüngste Gewalt gegen Politiker verantwortlich. Aber auch deren Politiker werden Opfer von Attacken.

Max Reschke will weitermachen, fordert aber, dass Lokalpolitiker vom Staat und von der Polizei mehr Sicherheit bekommen müssten. "Das ist in letzter Zeit einfach viel zu wenig gewesen. Es darf nicht sein, dass erst etwas passieren muss, damit man aktiv wird. Und die gesamte Gesellschaft muss sich die Frage stellen, in welche Richtung wir gehen wollen. Ich glaube nicht, dass mehr Gewalt und mehr Angst da sinnvoll sein kann."

Hass auf den Staat

Eine aktuelle repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes Forsa im Auftrag der Körber-Stiftung bei den mehr als 6.400 Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern in Deutschland kommt zu einem ähnlich besorgniserregenden Ergebnis: 40 Prozent der Befragten gaben an, dass sie oder Personen aus ihrem Umfeld schon einmal wegen ihrer Tätigkeit beleidigt, bedroht oder tätlich angegriffen wurden.

Mann mit Brille und Bart schaut in die Kamera
"Die Demokratie ist in beiden Richtungen gefährdet, wenn wir das alles so akzeptieren und zulassen" - Sven Tetzlaffnull privat

Einige unter ihnen spielten deswegen auch mit dem Gedanken, die Lokalpolitik an den Nagel zu hängen. Dies sei aber kein rein deutsches Phänomen, sondern ein Trend in ganz Europa und auch den USA, sagt Sven Tetzlaff, Leiter vom Bereich Demokratie und Zusammenhalt bei der Körber Stiftung gegenüber der DW.

Die Ursachen: "Die Sprache ist roher geworden, und es hat natürlich etwas mit den sozialen Medien zu tun. Da pushen sich die Leute gegenseitig hoch in ihrem Hass auf den Staat, auf das System, auf die Politik, auf 'die da oben'. Und wir wissen auch, dass die Hemmschwellen, dann auch physisch anzugreifen, deutlich sinken, wenn sich die Sprache immer weiter in diese Richtung entwickelt."

Am Ende auch Demokratie unter Beschuss

Ein zweiter Punkt ist nach Einschätzung von Tetzlaff, das Phänomen, dass immer mehr Menschen auf ihre eigenen Interessen pochten. Sie wähnten sich im Recht darauf zu bestehen, dass nur noch ihre eigenen Vorstellungen umgesetzt würden.

Die Bereitschaft, einen Kompromiss oder einen Interessenausgleich zu finden, sinke dagegen. "Und das bedeutet dann, dass Menschen sagen, ja, wenn meine Interessen nicht umgesetzt werden, dann lehne ich das System ab, dann beleidige ich den Politiker, der meine Interessen nicht umsetzt", so Tetzlaff. 

Gedenken an Walter Lübcke

Immerhin gibt es seit 2021 eine zentrale Anlaufstelle für alle kommunalen Amts- und Mandatsträger hierzulande: "Stark im Amt" heißt das Online-Portal für Kommunalpolitik gegen Hass und Gewalt, dass die Körber-Stiftung zusammen mit dem Deutschen Städtetag, dem Deutschen Landkreistag und dem Deutschen Städte- und Gemeindebund initiiert hat. An die 3.000 Lokalpolitiker klicken monatlich auf die Seite, um sich über Strategien zur Prävention und gegen Bedrohung und Online-Hetze zu informieren.

Falls sich Lokalpolitiker nach der Attacke auf Matthias Ecke aus Angst um ihre Sicherheit zurückziehen, befürchtet Sven Tetzlaff ein bedrohliches Szenario: "Wenn sich auf der ersten Ebene der Demokratie, in den mehr als 11.000 Kommunen in Deutschland, die Leute nicht mehr engagieren, nicht mehr das kommunalpolitische Ehrenamt ausüben, dann sehen die Menschen in der Provinz, in den Landstrichen, in den Städten und in den Dörfern, dass die Demokratie nicht mehr funktioniert. Und wenn wir vor Ort kein Vertrauen mehr haben, dass dieser demokratische Staat weiterhin funktioniert, haben wir in Deutschland wirklich ein massives Problem."