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Berlin: Antisemitismus und Israelfeindlichkeit eskalieren

 

Es sind knapp 800 Menschen, die sich am Mittwochabend in Berlin-Charlottenburg versammeln: Sie schwenken palästinensische Fahnen. Sie sprechen auf ihren Transparenten von "Völkermord",  der sich ihrer Meinung nach im Gazastreifen abspielt. Ein Frau - wie alle anderen Befragten möchte sie ihren Namen nicht nennen - sagt zunächst: "Eigentlich habe ich keine Lust, mit der Deutschen Welle zu sprechen, weil sie immer falsche Nachrichten verbreitet." Dann tut sie es doch, und spricht etwa darüber, dass Deutschland Israel mit Waffen versorgen würde, dass die DW und viele andere Medien die Palästinenser nur als Terroristen darstellen würden. "Ich bin hier, weil ich Palästinenserin bin, weil ich gegen den Genozid bin." Gerade heute, fügt sie hinzu.

Denn an diesem Mittwoch ist Nakba-Tag. Jedes Jahr am 15. Mai gedenken die Palästinenser des Jahres 1948, als geschätzt rund 700.000 Menschen während des ersten Nahost-Kriegs flohen oder vertrieben wurden: In die Nachbarländer, in viele andere Regionen der Welt. Ein Trauma bis heute.

Jubel, als das Wort Hamas fällt

Genozid, Völkermord also, tötende Waffen aus Deutschland für Israel, lügende Medien. Seit Wochen schon ist die Stimmung in Berlin aufgeheizt, angefeuert von jeder neuen Schreckensmeldung aus dem Kriegsgebiet im Nahen Osten, im Gazastreifen. Bevor sich der Demonstrationszug in Bewegung setzt, quer durch Charlottenburg Richtung Kürfürstendamm, klärt der Veranstalter über Megafon die Menge auf, dass es verboten sei, für die islamistische Terrorgruppe der Hamas Werbung zu machen. Als das Wort Hamas fällt, brandet aber Jubel auf unter den Demonstranten. Anhaltender Jubel. Die Hamas also, die militante, islamistische palästinensische Gruppe. Die Europäische Union, ebenso wie die USA, Deutschland und weitere Länder stufen sie als Terrororganisation ein. Dass diese Hamas am 7. Oktober vorigen Jahres Israel brutal überfallen hat und mehr als 1200 Menschen ermordete, wird beim Protestzug nicht erwähnt. Wie so oft nicht. Wie viele der rund 40.000 Palästinenser, die in Berlin leben, diese Meinung teilen, ist unklar.

Auf einer pro-palästinensische Demo in Berlin hält eine Teilnehmerin ein Plakat hoch mit der Aufschrift: "It all starts in 1948."
Erinnerung an den Nakba-Tag auf einer pro-palästinensischen Demonstration am Mittwoch in Berlin null Jens Thurau/DW

Ein Protestcamp wird geräumt

Friedlicher Protestzug also in Charlottenburg, aber am gleichen Abend noch, bei einer weiteren Nakba-Demonstration in Berlin-Neukölln, muss die Polizei eingreifen, weil Demonstranten Pyro-Technik abfeuerten und Mülleimer in Brand setzten. Eine "zweistellige Zahl" von Demonstranten wird festgenommen, wie die Polizei mitteilt.

Und in den letzten Wochen eskaliert die Lage auch an den Berliner Universitäten: Dort vergeht zur Zeit kaum ein Tag ohne heftige Demonstrationen gegen Israel und für die Palästinenser. Vor einigen Tagen räumte die Polizei ein Protestcamp an der Freien Universität (FU) im Südwesten Berlins. Daraufhin veröffentlichten rund 300 Dozenten diverser Berliner Hochschulen einen offenen Brief, in dem es hieß, die Dringlichkeit des Anliegens der Studierenden sei angesichts der humanitären Krise im Gazastreifen nachvollziehbar.

Proteste an Unis: Pro-palästinensisch oder antisemitisch?

Wut und Ärger bei der Jüdischen Gemeinde

Dem Antisemitismus-Beauftragten der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Sigmount Königsberg, ist im Gespräch mit der DW die Spannung und der Ärger der vergangenen Wochen anzumerken. Er sagt: "Haben diese Dozenten auch in Betracht gezogen, dass jüdische Studenten angegriffen und gemobbt werden? Dass jüdische Studierende ihr Judentum entweder verschweigen oder den Besuch der Hochschule vermeiden? Wo bleibt hier die Fürsorgepflicht für die Studierenden?"

Polizisten nehmen vor der Humboldt-Universität in Berlin einen Mann fest, der gegen den den Krieg im Gazastreifen demonstriert hat
Nach einer Protest-Aktion gegen Israel kommt es Anfang Mai vor der Humboldt-Universität in Berlin zu einem Handgemenge mit der Polizeinull Halil Sagirkaya/Anadolu/picture alliance

Empörung rief der Brief auch bei der Berliner Landesregierung aus: Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra (SPD) meldete sich zu Wort und sagte: "Die Grundthese dieses Briefes stimmt ja schon nicht. Also wir haben es nicht mit friedlichem studentischem Protest zu tun." Es habe von Anfang an verbotene Parolen, Hetze und erhebliche Sachbeschädigung gegeben. In einem Flugblatt der Campus-Besetzer sei zu lesen gewesen, dass sie keine Verhandlungen wollten, sondern Forderungen hätten, die unverhandelbar seien.

Jüdische Studenten werden am Studieren gehindert

Sigmount Königsberg schildert weiter, dass zahlreiche jüdische Studierende entschlossen seien, sich nicht aus dem studentischen Leben verdrängen zu lassen. Andere aber überlegten schon, ob sie in Berlin oder anderswo in Deutschland ihre Studien überhaupt fortsetzen könnten. Die jüdische Gemeinde in der Hauptstadt hat rund 8200 Mitglieder. Königsberg weiter: "Ich empfinde die Proteste nicht als pro-palästinensisch, sondern in erster Linie als anti-israelisch. Denn was heißt pro-palästinensisch? Dann würde man doch versuchen, eine Lösung zu finden. Also wie sowohl Israel als auch Palästina zusammenfinden können. Aber was ich vor allem höre, sind Vernichtungsphantasien. Und gar keine Bereitschaft, sich mit dem existierenden Staat Israel auseinanderzusetzen." Tatsächlich mehren sich Berichte von körperlichen Übergriffen auf jüdische Studenten, darüber, dass sie am Betreten der Universitäten gehindert werden.

Sigmount Königsberg ist der Antisemitismus-Beauftragte der Jüdischen Gemeinde in Berlin
"Ich höre auf diesen Demonstrationen vor allem Vernichtungsphantasien", sagt Sigmount Königsberg von der Jüdischen Gemeinde in Berlinnull Annette Riedl/dpa/picture alliance

Fast 3000 Demonstrationen in Deutschland seit dem Hamas-Überfall

Vor einigen Tagen machte die Präsidentin der Humboldt-Universität im Herzen von Berlin, Julia von Blumenthal, den Protestierenden ein Gesprächsangebot. Sie wurde niedergebrüllt. Und Ende vergangener Woche hätten, berichtet Königsberg, Demonstranten ein Gemeindemitglied der Synagoge Brunnenstraße in der Stadtmitte angegriffen. Königsberg: "Sie sagen auch: Wir hassen Zionisten. Aber wenn man sich ein bisschen informiert, dann weiß man, dass Zionismus die Emanzipationsbewegung des jüdischen Volkes ist." Da ist es fast ein Friedensangebot, wenn ein junger Mann am Rande der Demonstration in Charlottenburg zur DW sagt, er habe nichts gegen Israel, nur gegen die gegenwärtige israelische Regierung und gegen die deutsche.

Das Thema Nahost erhitzt die Gemüter wie kaum ein anderes. Das zeigt auch eine eher nüchterne Meldung der Bundesregierung von Mitte der Woche: Darin steht, dass seit dem 7. Oktober vergangenen Jahres  im ganzen Land fast 3000 Veranstaltungen zum Thema Nahost bei der Polizei angemeldet wurden. Fast 1600 davon pro-palästinensisch und rund 1200 pro-israelisch. Bei den Aktionen zur Unterstützung Israels und zur Solidarität mit den nach wie vor im Gazastreifen verschleppten Geiseln gibt es in aller Regel keinerlei Anlass zu einem polizeilichen Eingreifen.

Gericht verurteilt AfD-Politiker Björn Höcke

Verstummt war die Debatte über ein mögliches Verbot der Alternative für Deutschland (AfD) nie. Doch nach zwei Niederlagen vor Gericht wird sie nun wieder lauter geführt.

Am Dienstag (14. Mai) ist der AfD-Politiker Björn Höcke vom Landgericht Halle zu einer Geldstrafe von 100 Tagessätzen à 130 Euro verurteilt worden.

Die fünfte Strafkammer sah es als erwiesen an, dass er im Mai 2021 bei einer Kundgebung in Merseburg die verbotene Parole "Alles für Deutschland" der Sturmabteilung (SA) der NSDAP verwendet habe.

Dabei handle es sich um eine Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen nach Paragraf 86a des Strafgesetzbuchs, so die Begründung des Gerichtsurteils. Der studierte Historiker und frühere Geschichtslehrer Höcke hingegen bestreitet, den Ursprung der verbotenen Losung "Alles für Deutschland" gekannt zu haben.

Bereits am 13. Mai hatte das Oberverwaltungsgericht (OVG) Münster eine Klage der Partei gegen die Einstufung des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) als rechtsextremen Verdachtsfall zurückgewiesen. Der Verfassungsschutz ist der Inlandsnachrichtendienst.

In Sachsen ist die AfD mehr als ein Verdachtsfall

"Nun muss die Prüfung der Erfolgsaussichten eines Verbotsverfahrens konkret erfolgen", kommentierte Sachsens Justizministerin Katja Meier (Grüne) das Gerichtsurteil über die Einstufung der AfD. In ihrem Bundesland gilt die Partei sogar schon als "gesichert rechtsextremistisch". Sie ist also nach Überzeugung des in diesem Fall zuständigen Landesamtes für Verfassungsschutz mehr als ein Verdachtsfall.

AfD-Parteitag in Magdeburg

Trotz dieses Makels könnte die AfD im September bei der Landtagswahl in Sachsen stärkste politische Kraft werden. In Umfragen liegt sie vor der Christlich-Demokratischen Union (CDU), die in Sachsen seit der deutschen Wiedervereinigung 1990 ununterbrochen den Ministerpräsidenten stellt.

Michael Kretschmer hält AfD-Spitze für rechtsextrem 

Der amtierende Regierungschef Michael Kretschmer (CDU) sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) mit Blick auf die AfD: "Es mag sein, dass nicht jeder Wähler und auch nicht jedes Mitglied rechtsextrem ist. Aber die Führung, der Geist, der ist es auf jeden Fall."

Der sächsische Bundestagsabgeordnete Marco Wanderwitz (CDU) kündigte unter dem Eindruck der AfD-Niederlage vor Gericht an, im Deutschen Bundestag einen Antrag für ein Verbotsverfahren zu initiieren. Gerade im Osten bekomme man die Partei auf politischem Weg nicht mehr klein, begründete der Christdemokrat gegenüber Zeit Online seinen Vorstoß.

"Je länger wir schweigen, desto mehr Mut werden wir brauchen"

Warum Hendrik Cremer ein AfD-Verbotsverfahren für unverzichtbar hält

Bei Hendrik Cremer vom Deutschen Institut für Menschenrechte in Berlin stößt Wanderwitz damit auf offene Ohren. Der Jurist warnt schon lange eindringlich davor, die AfD zu unterschätzen.

Im Februar ist sein Buch über die Partei erschienen – der Titel: "Je länger wir schweigen, desto mehr Mut werden wir brauchen." Damit will der Jurist zum Ausdruck bringen, für wie gefährlich er die AfD hält. 

Häufig sei immer noch von einer rechtspopulistischen oder von einer nur in Teilen rechtsextremen Partei die Rede. Über ihre Ziele werde auch in Medien relativ selten berichtet, bemängelt Cremer im DW-Interview.

"Die Gewaltbereitschaft wird häufig ausgespart. Es muss also viel, viel deutlicher werden, welcher Kurs sich dort mittlerweile durchgesetzt hat. Das muss benannt werden."

In AfD-Chats ist von "regierenden Verbrechern" die Rede

Der AfD-Experte analysiert in seinem Buch die seit Jahren zunehmende Radikalisierung. Insbesondere verweist er auf Gewaltfantasien in Chatgruppen, denen auch zahlreiche Landtags- und Bundestagsabgeordnete angehörten.

In diesen Foren war von "regierenden Verbrechern" die Rede, und es fanden sich Sätze wie "Ohne Umsturz und Revolution erreichen wir hier keinen Kurswechsel mehr". 

Das vom Oberverwaltungsgericht Münster verkündete Urteil, mit dem die AfD als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestuft wurde, hält Cremer deshalb für überfällig: "Aus meiner Sicht müsste auch der nächste Schritt erfolgen: nämlich die gesamte AfD als rechtsextremistische Bestrebung einzustufen." Bislang ist das nur in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen der Fall, also in drei von 16 Bundesländern.

AfD in Deutschland - sind das die neuen Nazis?

"Brandmauer" mit Löchern

Die von allen anderen Parteien beschworene "Brandmauer" zur AfD habe Löcher, betont Cremer. Das lasse sich besonders auf der kommunalen Ebene beobachten. "Sie ist allerdings absolut erforderlich. Sie ist die Grundvoraussetzung, um der AfD überhaupt effektiv entgegentreten zu können."

Zweifel an einem erfolgreichen Parteiverbotsverfahren könne er nur schwer nachvollziehen, sagt der langjährige AfD-Beobachter. Deshalb plädiert Cremer dafür, sorgfältig einen Antrag zu prüfen und ihn auch zu stellen.

Sein Buch über die Alternative für Deutschland endet so: "Es wird höchste Zeit, die Erkenntnis über die Gefahr, die von der AfD ausgeht, in die Gesellschaft zu tragen. Noch ist es nicht zu spät. Doch die Zeit drängt."

Migrationspakt: Was bringt die neue EU-Asylpolitik?

Nach einem knappen Jahrzehnt zäher Verhandlungen besiegelte der Rat der Europäischen Union, also die Vertretung der 27 Mitgliedsstaaten, an diesem Dienstag (14.5.2024) eine grundlegende Reform der Asylverfahren in der EU. Der sogenannte Migrationspakt, der aus zehn Gesetzen besteht, soll vor allem die Zahlen der Neuankömmlinge senken, Asylverfahren beschleunigen und an die Außengrenzen verlagern. Die Zahl der Asylanträge lag im vergangenen Jahr nach Angaben der EU-Statistikbehörde Eurostat bei 1,14 Millionen. Sie steigt seit vier Jahren stetig an. Zusätzlich wurden seit 2022 etwa vier Millionen Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine in der EU untergebracht.

Wie sollen die Asylverfahren an den Außengrenzen ablaufen?

Asylsuchende und Flüchtlinge sollen bei ihrer Ankunft auf dem Land-, See- oder Luftweg innerhalb von sieben Tagen eindeutig identifiziert und in der erweiterten biometrischen "Eurodac"-Datei registriert werden.

Griechenland | Flüchtlingslager auf Samos
Die nächste neue Norm: Haftähnliche Lager an den EU-Außengrenzen, hier ein erster Prototyp auf Samos, Griechenlandnull Nicolas Economou/NurPhoto/picture alliance

Migranten aus Staaten mit einer Anerkennungsquote von unter 20 Prozent sollen an der Grenze bis zu zwölf Wochen festgehalten werden. In diesen Lagern, die in Griechenland, Italien, Malta, Spanien, Kroatien und Zypern errichtet werden müssen, soll entschieden werden, wer ohne weitere Prüfung in sein Heimatland zurückgeschickt wird. Dies betrifft nur eine Minderheit der Ankommenden. Die Kapazität dieser Lager soll EU-weit 30.000 Plätze betragen.

Migranten aus Staaten mit einer höheren Anerkennungsquote kommen in das normale Asylverfahren. Diese Verfahren, die heute Jahre dauern können, sollen verkürzt werden. Abgelehnte Asylbewerber sollen direkt von den Außengrenzen abgeschoben werden.

Wie werden die Erstaufnahmestaaten an den Außengrenzen entlastet?

Erstaufnahmestaaten sollen einen Teil der anerkannten Asylbewerber oder Migranten, die gute Chancen auf Asyl haben, in andere EU-Mitgliedsländer abgeben können. Zwischen den Mitgliedsstaaten soll eine "verpflichtende Solidarität" herrschen. Staaten wie Ungarn, die keine Menschen aufnehmen wollen, sollen zumindest einen Ausgleich zahlen oder Ausrüstung und Personal in die Erstaufnahmestaaten schicken. Als Summe für diesen Ausgleich wurden 20.000 Euro pro nicht aufgenommenem Migranten genannt. Gesetzlich festgelegt ist dieses Ausgleichssystem aber nicht, sondern muss von den Mitgliedsstaaten von Fall zu Fall ausgehandelt werden. Fühlt sich ein Land überlastet, kann es viele der Regeln lockern und mehr Solidarität einfordern. Wann dieser "Krisenfall" eintritt, entscheiden alle 27 Staaten gemeinsam. Viel Raum also für politischen Streit.

Brüssel Europa Parlament Proteste gegen Migrationspakt
Protest von Menschenrechts- und Flüchtlingsaktivisten während einer Abstimmung zum EU-Asylpakt im EU-Parlament. Die Sitzung wurde kurz unterbrochen.null OLIVIER HOSLET/EPA

Wie sollen die bisherigen Zielländer entlastet werden?

Viele Asylsuchende zieht es bislang aus Griechenland oder Italien direkt nach Deutschland, Österreich, Frankreich, die Niederlande oder Belgien. Das gilt auch für abgelehnte Asylbewerber. Der Erstaufnahmestaat (z.B. Italien) wäre eigentlich verpflichtet, diese Migranten wieder zurückzunehmen. In der Praxis geschieht das aber nicht. Der neue Migrationspakt überarbeitet jetzt noch einmal die Regeln. Anreize zur Binnenmigration, sogenannte Pull-Faktoren, sollen durch EU-weit einheitliche Leistungen und Aufnahmebedingungen abgeschwächt werden.

Werden Abschiebungen von abgelehnten Asylbewerbern einfacher?

Der Pakt sieht vor, Menschen künftig schneller in als sicher deklarierte Herkunfts- oder auch Transitländer abzuschieben. Dazu strebt die Europäische Union mehr Abkommen mit Drittstaaten an, damit diese abgelehnte Migranten wieder aufnehmen. Als Beispiel wird hier oft das jüngste Abkommen mit Tunesien genannt. Gegen Wirtschaftshilfe hat sich Tunesien bereit erklärt, eigene Staatsangehörige wieder aufzunehmen. Menschen aus Afrika südlich der Sahara, die über Tunesien in die EU gewandert sind, will die tunesische Regierung hingegen nicht wieder ins Land lassen. Ein Abkommen mit der Türkei aus dem Jahr 2016 hatte dazu geführt, dass vier Jahre lang weniger syrische Flüchtlinge in Griechenland ankamen. Inzwischen greift dieses Abkommen aber nicht mehr, weil die Türkei keine Syrer mehr aus Griechenland zurücknimmt.

Wie sollen mehrfache Asylanträge verhindert werden?

Die Grenzschützer der EU sollen alle Einreisenden künftig lückenlos erfassen und ihre biometrischen Daten in einer erweiterten Datei speichern, die von allen Behörden in Europa genutzt werden kann. So soll festgestellt werden, ob ein Migrant, der in Griechenland abgelehnt wurde, zum Beispiel in Österreich erneut einen Asylantrag stellt oder durch mehrere andere Länder reist. Dieser Asylsuchende würde dann leichter in das Land der Ersteinreise und schließlich in sein Herkunftsland abgeschoben werden können. Den Versuch, eine verpflichtende Registrierung vorzuschreiben, hat es seit 2015 schon mehrfach gegeben. Die bisherige Datenbank Eurodac, in der nur Fingerabdrücke hinterlegt waren, hatte erhebliche Lücken und technische Mängel.

Johansson: EU member states 'eager to implement this'
EU-Kommissiarin Ylva Johannson drängt darauf, dass Mitgliedsstaaten das neue Recht schnell einführen: "Das ist ein historischer Tag."null DW

Warum bleibt der Migrationspakt umstritten?

Befürworter des Paktes argumentieren, dass verschärfte Regeln und Verfahren, die zu schnelleren Abschiebungen führen, auf Dauer abschreckend wirken. Weniger Menschen würden sich auf den Weg machen, weil die Chancen, auch mit einem abgelehnten Asylantrag oder ohne ordentliches Verfahren in Europa bleiben zu können, geringer würden. Kritiker des Paktes bemängeln, dass das Asylrecht in der EU ausgehöhlt würde und wirklich Schutzbedürftige künftig abgewiesen würden. Das Sterben auf der Flucht über das Mittelmeer würde weitergehen..

Fachkräfte aus Marokko - ein Gewinn für alle?

Wie geht es jetzt weiter?

Nun, da die verschiedenen Gesetze und Verordnungen des Migrationspaktes  Rechtskraft erlangen, wird es vor allem darauf ankommen, ob und wie die Mitgliedsstaaten ihren neuen Verpflichtungen nachkommen. Wird Italien funktionierende geschlossene Grenzlager einrichten? Werden sich die nördlichen und östlichen Mitgliedsstaaten wirklich solidarisch zeigen und Migranten aufnehmen oder zumindest finanzieren? Die Umsetzung der neuen Regeln wird bis zu zwei Jahre in Anspruch nehmen. Es wird sich also erst in einigen Jahren zeigen, ob die Zahl der Asylsuchenden tatsächlich zurückgeht.

Dieser Artikel erschien zunächst am 10.04.2024 und wurde nach der Ratsentscheidung am 14.5. aktualisiert.

Lebenslange Haft für tödliche Messerattacke bei Brokstedt

Im Strafprozess um die tödliche Messerattacke in  Brokstedt in Schleswig-Holstein hat das Landgericht Itzehoe den Angeklagten Ibrahim A. wegen Mordes und versuchten Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Die Kammer sah es als erwiesen an, dass der 34-Jährige am 25. Januar 2023 in einem Regionalzug zwei Menschen erstochen und vier schwer verletzt hat.

Das Gericht verurteilte den Palästinenser auch wegen dreifachen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher sowie schwerer Körperverletzung. Zudem stellte die Große Strafkammer die Schwere der Schuld fest, was bedeutet, dass eine Aussetzung der Strafe zur Bewährung nach 15 Jahren praktisch ausgeschlossen ist.

Auf der Zugfahrt von Kiel nach Hamburg hatte Ibrahim A. ein Küchenmesser gezogen und damit unvermittelt Fahrgäste angegriffen. Eine 17-Jährige und ihr 19 Jahre alter Freund starben. Vier weitere Fahrgäste wurden schwer verletzt. Der Täter wurde schließlich von Fahrgästen überwältigt. Die Tat sorgte weit über Schleswig-Holstein hinaus für Entsetzen. Ibrahim A. bestritt am Anfang der Verhandlung im Juli 2023 die Tat zunächst, räumte sie später aber ein.

Der Angeklagte wird in Handschellen von drei Beamten zu Beginn des Prozess im Juli 2023 zu seinem Platz im Gerichtssaal gebracht
Der Angeklagte wird zu Beginn des Prozess im Juli 2023 zu seinem Platz im Gerichtssaal gebrachtnull Christian Charisius/dpa/dpa-POOL/picture alliance

Gericht folgt Forderung der Staatsanwaltschaft

Bei der Frage der Schuldfähigkeit folgte die Große Strafkammer dem Gutachten des Psychiaters Arno Deister. Der Professor hatte psychotische Symptome und eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) bei dem Angeklagten diagnostiziert, aber keine Psychose. "Ich sehe keine Beeinträchtigung der Einsichtsfähigkeit", hatte er gesagt. Auch liege keine Aufhebung der Steuerungsfähigkeit vor. Das Gericht folgte mit seinem Urteil der Strafforderung von Staatsanwältin Janina Seyfert.

Die Verteidigung hielt dagegen den Angeklagten für psychisch krank und nicht schuldfähig. Der Verteidiger Björn Seelbach plädierte für einen formalen Freispruch und die Unterbringung seines Mandanten in der forensischen Psychiatrie. Für den Fall, dass die Strafkammer keine eingeschränkte Schuldfähigkeit oder Schuldunfähigkeit sehe, forderte er eine Verurteilung zu zehn Jahren wegen Totschlags und schwerer oder gefährlicher Körperverletzung.  

Politische Debatte über Versäumnisse

Der Kriminalfall beschäftigte auch die Politik, weil es Versäumnisse beim Austausch von Informationen zwischen Behörden gegeben hatte. Ibrahim A. war im Gazastreifen aufgewachsen und den Erkenntnissen zufolge 2014 nach Deutschland gekommen. Er lebte zunächst in Nordrhein-Westfalen und zog später nach Kiel.

Bis wenige Tage vor der Tat hatte der Angeklagte wegen einer Körperverletzung in Hamburg in Untersuchungshaft gesessen. Dort und später in der Untersuchungshaft in Schleswig-Holstein war er als renitent aufgefallen. Mehrere Ärzte berichteten vor Gericht von der Verdachtsdiagnose eine Psychose. Am Tag des Angriffs war Ibrahim A. zu einem Termin bei der Ausländerbehörde nach Kiel gefahren. Nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft handelte er aus Frust.

kle/jj (dpa, afp, ARD)

Viele Forschende werden laut Studie angefeindet und bedroht

Portraits in Sträflingskleidung, lautstarke Beschimpfungen, Morddrohungen im Internet - während der COVID-19-Pandemie wurden prominente Virologen wie Christian Drosten wiederholt angefeindet und auch bedroht. Aber dies waren keine Einzelfälle in einer aufgeheizten Ausnahmesituation. Schon seit längerem werden in Deutschland Forschende aus den unterschiedlichsten Fachrichtungen auf verschiedene Arten attackiert. 

Dies belegt die erste repräsentative Umfrage unter deutschen Forschenden, die am Deutschen Zentrum für Hochschul- & Wissenschaftsforschung (DZHW) in Kooperation mit dem KAPAZ-Projektverbund durchgeführt wurde. KAPAZ steht für "Kapazitäten und Kompetenzen im Umgang mit Hassrede und Wissenschaftsfeindlichkeit". Demnach haben 45 Prozent aller Forschenden bereits Anfeindungen erfahren. Und sehr häufig sind diese Angriffe politisch motiviert.

Wissenschaft als Grundlage für umstrittene Entscheidungen

Vor allem in der Corona-Pandemie wurden Forschungsergebnisse öffentlich debattiert, was vermehrt Spannungen erzeugt habe, heißt es in der Studie. Vor allem wenn wissenschaftliche Ergebnisse als Grundlage für gesellschaftlich und politisch umstrittene Entscheidungen dienten. "Die Wut über diese politischen Entscheidungen oder das Gefühl, dass die eigenen menschlichen Handlungsmöglichkeiten begrenzt werden, können sich dann auch in Angriffen gegen Forschende niederschlagen", so Clemens Blümel, der als Forscher am DZHW die Erhebung geleitet hat.

"Die Ergebnisse der Befragung von insgesamt 2600 Wissenschaftler*innen zeigen, dass Anfeindungen gegen Forschende ein ernstzunehmendes Problem sind", so Blümel. "Dabei kommen die Angriffe nicht immer von außen. Auch innerhalb der Wissenschaft selbst gibt es Anfeindungen und abwertendes Verhalten."

Protest gegen Corona-Politik in Berlin. Mann in schwarzem T-Shirt mit Schrift auf dem Rücken "Getestet, geimpft, genesen - jeweils angekreuzt - gesund mit grünem Haken dahinter
Die Corona-Maßnahmen haben die Gesellschaft tief gespalten null Christophe Gateau/dpa/picture alliance

Digitaler Pranger

Nicht nur Virologen werden massiv angegangen. Auch Mediziner und Biologen sowie Geisteswissenschaftler erleben häufig Beleidigungen und Drohungen.

Sehr häufig wird dabei die Kompetenz der Forschenden angezweifelt oder die Forschungsergebnisse werden herabgesetzt und schlecht gemacht. Oftmals sind feindselige Äußerungen offen diskriminierend, rassistisch und sexistisch. Frauen geraten dabei weit häufiger in die Schusslinie als Männer..

Die Beschimpfungen und Bedrohungen finden vor allem in den Sozialen Netzwerken und in digitalen Kanälen statt. Aber zuweilen werden Forschende auch im Alltag, auf offener Straße oder im Büro angegriffen. Häufig aber bleibt es bei verbalen Attacken. Sachbeschädigungen oder gar physische Abgriffe gab es bislang nur sehr selten. Allerdings wurde bei 17 Prozent der Anfeindungen auch körperliche Gewalt angedroht.

Einschüchterung zeigt Wirkung

Laut Umfrage haben die populistischen Kampagnen, Hassreden und Morddrohungen dazu geführt, dass sich einige Forschende aus der öffentliche Kommunikation zurückgezogen haben oder gar nicht mehr an brisanten Themen arbeiten. 

"Kritische Diskurse sind natürlich etwas anderes als Anfeindungen und Diskreditierungskampagnen. Letztere können aber zur Selbstzensur unter Forschenden führen. Im schlimmsten Fall wird dann unter großem Druck zu wichtigen Themen nicht mehr geforscht, etwa im Bereich Klimawandel", so Projektleiterin Nataliia Sokolovska.

Vereinzelt haben die Täter also ihr Ziel erreicht: Sie haben die Reputation von Forschenden beschädigt, haben unliebsame Forschende mundtot gemacht und störende Forschung verhindert.

Kommunikation verbessern

Der Projektverbund will deshalb Maßnahmen entwickeln, wie Forschende besser gegen Angriffe geschützt werden können. Dazu gehören bundesweite Beratungsstellen für Forschende bei konkreten Anfeindungen, Leitlinien für Krisensituationen und praxisnahes Kommunikationstraining.

Die Untersuchung zeigt sehr deutlich, dass vor allem bei der Kommunikation erheblicher Nachholbedarf besteht. Wichtig sei in dem Zusammenhang, dass sehr bewusst entschieden werde, was wie vermittelt wird. Dazu gehört laut Blümel auch, deutlich zu machen, dass der wissenschaftliche Prozess auch von Unwägbarkeiten und Unsicherheiten geprägt ist. Auch Fehler müssten kommuniziert und insgesamt ein "realistisches Bild der wissenschaftlichen Praxis" gezeichnet werden, so Blümel.

 

Deutschland und Schweden wollen militärisch enger kooperieren

"Wir müssen und wollen die Energiewende in Europa voranbringen", betonte Bundeskanzler Olaf Scholz bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit seinem schwedischen Kollegen Ulf Kristersson in Stockholm. Zuvor hatten beide Länder ein Abkommen über ihre strategische Partnerschaft aktualisiert.

Für die Energiewende nehme die Mobilität eine wichtige Rolle ein, sagte Scholz. Daher sei es gut, dass der schwedische Hersteller Northvolt in eine Batteriefabrik in Schleswig-Holstein investiere. "Das zeigt, dass wir in Europa Technologien entwickeln, die für die Zukunft unserer Fahrzeugindustrie von zentraler Bedeutung sind." Mit dem Bau der Gigafactory bei Heide im Landkreis Dithmarschen war Ende März begonnen worden. Die Fabrik soll einen wichtigen Beitrag zur klimafreundlichen Mobilität leisten. Weiter hob Scholz die Potenziale des Ostseeraums im Bereich der Wasserstofftechnologie hervor. "Wir haben viele Vorhaben, die sich auf die Herstellung von grünem Wasserstoff beziehen", sagte er. Auch dafür seien eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit und die nötige Infrastruktur entscheidend.

Mehr Kooperation bei der Rüstung

Auch im Verteidigungssektor und der Weltraumpolitik wollen Schweden und Deutschland enger zusammenarbeiten. Das geht aus einer Vereinbarung zur Innovationspartnerschaft hervor, die der Kanzler und Regierungschef Kristersson in Stockholm unterzeichneten. Darin wird darauf verwiesen, dass beide Staaten über einen starken Rüstungssektor verfügen. Schweden sagt zu, die Rüstungsexport-Richtlinien übernehmen zu wollen, die Deutschland etwa mit Frankreich und Spanien ausgehandelt hat. Dies gilt als Voraussetzung für gemeinsame Rüstungsprojekte, die in der Vereinbarung erwähnt werden, ohne Details zu nennen. Schweden produziert aber etwa einen eigenen Kampfjet. Die Zusammenarbeit mit Schweden gilt als vielversprechend, seit das EU-Land der NATO beigetreten ist.

Was bringt Schwedens Beitritt zur NATO dem Bündnis?

Die Ausweitung der bilateralen Partnerschaft auf den Bereich der Verteidigung biete Möglichkeiten zu Kooperationen in den Bereichen von Unter-Wasser-Technologien und Cyberverteidigung, sagte Kristersson. "Wir müssen unsere Wettbewerbsfähigkeit stärken, um gegen die USA und die asiatischen Länder anzukommen."

Zudem betonten beide Regierungen ihr Interesse an einer engeren Zusammenarbeit etwa bei Satellitenstarts. Dabei wollen deutsche Firmen verstärkt den Raketenstartpunkt Esrange Space Center in Schweden nutzen. Von dort sollen kommerzielle Satelliten ins All geschossen werden. Die neuen Startplätze in der EU gelten als Alternative zu den großen Raketenstartzentren auf anderen Kontinenten. Beide Länder bekennen sich zu dem Ziel, dass die europäische Weltraumaktivitäten auch international wettbewerbsfähig sein sollen. In Esrange solle deshalb mit neuen Satellitenstarts experimentiert werden.

Treffen des Nordischen Rats

Scholz war am Montag zu einem zweitägigen Besuch nach Schweden gereist. Dort hatte er zunächst an einem Treffen des Nordischen Rats teilgenommen und mit den Ministerpräsidenten aus Schweden, Dänemark, Finnland, Island und Norwegen gesprochen. Im Anschluss bezeichnete der Kanzler den NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands als "Sicherheitsgewinn für alle". Die Beitritte seien "eine direkte Konsequenz aus der russischen Aggression gegen die Ukraine und der Rückkehr des russischen Imperialismus nach Europa", sagte Scholz. Die finnische und schwedische Mitgliedschaft im Bündnis stärke die NATO.

Kanzler Olaf Scholz beim Treffen der Regierungschefs der nordischen Länder in Stockholm
Kanzler Olaf Scholz (2. von rechts) beim Treffen der Regierungschefs der nordischen Länder in Stockholm null Pontus Lundah/TT/picture alliance

Schweden und Finnland hatten unter dem Eindruck des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine mit ihrer jahrzehntelangen Tradition der militärischen Blockfreiheit gebrochen und im Mai 2022 den Beitritt zur Militärallianz beantragt. Nach Finnland war Schweden im März in das Militärbündnis aufgenommen worden. Im Juli findet der nächste NATO-Gipfel in Washington statt.

Scholz und nordische Länder sichern Ukraine weitere Hilfe zu

Angesichts der russischen Offensive im Nordosten der Ukraine haben Deutschland und die nordischen Länder der Ukraine weitere Waffenlieferungen zugesichert. "Wir sind geeint in unserer Unterstützung für die Ukraine in ihrem Verteidigungskampf gegen den russischen Angriff", versicherte Kanzler Scholz am Montag. "Wir werden die Ukraine weiter unterstützen - so lange wie nötig." Noch klarer äußerte sich Finnlands Regierungschef Petteri Orpo. Die Lage auf dem Schlachtfeld sei kritisch und es sei an der Zeit, zu reagieren und mehr zu tun. "Wir wollen kein neues Mariupol in Charkiw sehen. Deshalb muss jedes einzelne Land im Westen, in der Europäischen Union sofort alles tun, was es kann."

kle/sti (afp, rtr, dpa)

International Booker Prize-Anwärterin: Jenny Erpenbeck

Bereits 2017 sagte James Wood, der berühmte Kritiker der Zeitung "New Yorker", voraus, dass "diese Schriftstellerin in ein paar Jahren den Literaturnobelpreis bekommen wird". Diese Schriftstellerin: Das ist Jenny Erpenbeck - im Ausland ein Star, dessen Werk mit Preisen überhäuft wurde. In Deutschland allerdings fragt sich so mancher Leser: "Jenny wer?" Unwillkürlich stellt sich die Frage: Warum läuft es in der Heimat nicht so gut für die Autorin?  

Es ist nicht so, dass Jenny Erpenbeck in Deutschland eine Unbekannte wäre - im Gegenteil. Sie hat eine treue Leserschaft, und fast jedes Jahr darf sie sich über einen neuen Literaturpreis freuen. Auch ihr 2021 erschienenes Buch "Kairos", das jetzt für den Booker Prize nominiert ist, wurde schon prämiert. Allerdings wurde dieses international gefeierte Werk weder mit dem renommierten Preis der Leipziger Buchmesse oder dem wichtigen Büchner-Preis noch dem Deutschen Buchpreis geadelt - noch nicht mal nominiert war es. 

"Ostdeutsche" Probleme

Vielleicht stimmt es ja, was Jenny Erpenbeck vermutet: Ihrem Gefühl nach ist die Mauer zwischen der DDR und dem Westen Deutschlands nie wirklich gefallen, eine westliche Kulturhoheit bestimme die Diskurse. 

Jenny Erpenbeck, Jahrgang 1967, ist Ostdeutsche. Als die Mauer fiel, war sie 22. Der Staat, in dem sie aufwuchs, ging unter. Sie fand sich in einem neuen Land wieder: der Bundesrepublik Deutschland - und unter Westdeutschen, die sich wenig für die Geschichte der DDR interessierten.

In ihrem Buch "Kairos" geht um den Niedergang der DDR. Die geringe Resonanz auf das Buch sei kein Zufall, sagte sie gegenüber der Zeitschrift "Die Zeit", denn in den Buchpreisjurys des Kairos-Jahrgangs sei kein einziges Mitglied ostdeutscher Herkunft gewesen. Daher sei ihr Buch wohl nicht berücksichtigt worden. "Ich interessiere mich ja auch nicht für eure Probleme. Das tausendste Buch über die 68er zum Beispiel", sagt sie dem westdeutschen Journalisten. "Obwohl - die sind ja eigentlich noch ganz interessant …"

Der Untergang der bekannten Welt

"Kairos" erzählt von Umbrüchen im Leben. Es ist die Geschichte einer toxischen Liebe vor dem Hintergrund der untergehenden DDR - zwischen einer jungen Frau und einem 34 Jahre älteren Mann, einst Faschist in Nazideutschland, jetzt überzeugter Kommunist. Es ist auch die Geschichte von Kunstschaffenden in der DDR - in einem Staat, in dem die Zensur allgegenwärtig war, mussten sie Kritik "zwischen den Zeilen" verstecken. "Denn Kunst (...) war darüber hinaus vielleicht das einzige Kommunikationsmittel, über das Verständigung innerhalb der Gesellschaft noch möglich war. Wenn man die Zeitung aufgeschlagen hat, war das ja eine ganz unwirkliche Sprache", so Erpenbeck 2022 gegenüber der DW.

Buchcover Kairos von Jenny Erpenbeck
"Kairos" ist ein heißer Anwärter für den Booker Prize

"Kairos" erzählt von Menschen, die den Regimewechsel vom kommunistisch-sozialistischen Regime in einen Staat mit freier Marktwirtschaft erleben. Ein Erdbeben, das ihr Selbstverständnis von Grund auf erschüttert. Die Trennung der Liebenden in "Kairos" versinnbildlicht die Haltlosigkeit, der sie durch den Untergang ihrer Welt ausgesetzt sind. "Was vertraut war, ist im Verschwinden begriffen. Das gute, üble Vertraute", lässt Erpenbeck ihre Protagonistin sagen.

Sie weiß, wie sich der Zerfall der DDR anfühlte, den sie so eindringlich beschreibt. 2018 verfasste sie ein Essay für die Frauenzeitschrift "Emma", darin heißt es: "Von Freiheit war plötzlich viel die Rede, aber mit diesem Begriff Freiheit, frei schwebend in allen möglichen Sätzen, konnte ich wenig anfangen. Reisefreiheit? (Aber wird man die Reisen denn auch bezahlen können?) Oder Meinungsfreiheit? (Und wenn meine Meinung dann niemanden mehr interessiert?) … Die Freiheit war ja nicht geschenkt, sie hatte einen Preis, und der Preis war mein gesamtes bisheriges Leben. Der Preis war, dass das, was sich eben noch Gegenwart genannt hatte, nun Vergangenheit hieß…. Meine Kindheit gehörte von nun an ins Museum."

Eine Familientradition: die Schriftstellerei

25 Jahre ist es her, dass Jenny Erpenbecks Leben sich von Grund auf änderte. Noch in der DDR hatte sie eine Ausbildung zur Buchbinderin absolviert, dann als Requisiteurin gearbeitet, bevor sie ein Studium der Theaterwissenschaft und später Musikregie aufnahm. Doch nicht nur die Bühne hatte es ihr angetan, sondern auch die Schriftstellerei. Die liegt ihr im Blut. Schon ihre Großeltern gehörten der schreibenden Zunft an: Großvater Fritz Erpenbeck, nach dem in Ostberlin eine Straße benannt ist, ebenso wie seine Frau Hedda Zinner. Vor den Nazis floh das kommunistische Paar nach Moskau. Auch ihr Vater John, eigentlich Physiker, veröffentlichte mehrere Bücher. 

Eine Frau sitzt in einem Zimmer voller Bücherregale
Jenny Erpenbeck in ihrem Arbeitszimmernull picture alliance/dpa

Jennys Debüt erschien 1999: "Geschichte vom alten Kind". "Ein Mädchen wird gefunden, niemand weiß, woher es kommt, niemand weiß, wer seine Eltern sind. Niemand, auch das Kind selbst nicht", ist auf dem Klappentext zu lesen. Viele sahen in der Novelle eine Parabel auf DDR-Bürger, die seit dem Ende ihres Staats der DDR eine starke Orientierungslosigkeit verspürten.

Motiv der Vergänglichkeit allgegenwärtig

Immer wieder beschäftigt sich Erpenbeck in ihrem literarischen Werk mit dem Motiv der Vergänglichkeit. In "Heimsuchung" durchleben die Bewohner eines Hauses gleich mehrere Umbrüche: die Weimarer Republik, das Dritte Reich, den Krieg und dessen Ende, die DDR, die Wende und die Zeit danach. 

"Heimsuchung" von Jenny Erpenbeck

Erpenbecks Bestseller  "Gehen, ging, gegangen" über die hoffnungslose Situation von Flüchtlingen in Berlin war 2015 unter den heißen Kandidaten für den Deutschen Buchpreis.

In dem Roman "Aller Tage Abend" stirbt ein Säugling, und Erpenbeck fragt: Was wäre gewesen, wenn das Kind überlebt hätte? Gleich mehrfach erweckt sie es zum Leben: als halbjüdisches Mädchen, als Kommunistin, die vor den Nazis aus Österreich nach Moskau flieht (eine Anspielung auf ihre eigene Großmutter) oder als gefeierte Autorin in der DDR. 

Mit diesem Buch - bzw. der englischen Fassung "The end of Days" - gewann Erpenbeck 2015  zusammen mit der Übersetzerin Susan Bernofsky schon einmal den Booker Prize - nur dass er damals noch "Independent Foreign Fiction Prize" hieß. 

Kairos: der günstigste Zeitpunkt

Jetzt steht Erpenbeck erneut auf der Liste der Nominierten des britischen International Booker Prize. Immerhin rangiert er für Literaturfreunde gleich hinter dem Nobelpreis. Nicht nur der "New Yorker" sieht sie auf dem besten Weg dorthin, in der englischsprachigen Welt ist sie längst ein Literaturstar. In 30 Sprachen wurden ihre Bücher übersetzt, Jenny Erpenbecks Werk ist jetzt in der Welt zu Hause. Sie geht auf Lesereise von Usbekistan über Mexiko bis Indien und ist begeistert, wie ihre Literatur dort angenommen wird.

Eine Frau mit Mikrofon, neben ihr das Buch "Kairos"
Jenny Erpenbeck stellte "Karios" auf der Buchmesse Frankfurt vor null picture alliance/dpa

Am 21. Mai wird in einer feierlichen Zeremonie in der Tate Modern in London bekanntgegeben, wer den mit 50.000 Pfund (ca 58.000 Euro) dotierten International Booker Prize bekommt. Der Preis geht je zur Hälfte an Autorin und Übersetzer. Neben Jenny Erpenbeck stehen auch die Schwedin Kira Josefsson, der Argentinierin Selva Almada, Hwang Sok-yong aus Südkorea, Jente Posthuma aus den Niederlanden und der Brasilianer Itamar Vieira Junior auf der Shortlist. Erpenbeck hat erstmals mit einem neuen Übersetzer zusammengearbeitet, dem in der Literaturbranche bekannten Michael Hofmann. "Der übersetzt eigentlich sonst nur Tote", vertraute sie der Süddeutschen Zeitung augenzwinkernd an.

Den Buchtitel hat Jenny Erpenbeck der griechischen Mythologie entlehnt. "Kairos" ist dort der Gott des günstigen Zeitpunkts. Vielleicht ist das ja ein gutes Omen.

Mai, Maria, Muttertag? - Ein Plädoyer für universale Wertschätzung

Der Muttertag im Mai polarisiert aus unterschiedlichen Gründen. Für die einen eine tolle Gelegenheit, ihre Liebe und Wertschätzung zu ihren Müttern auszudrücken. Für die anderen ein Fest des Kommerzes und Relikt patriarchaler Zeiten. Eine christliche Betrachtungsweise könnte durchaus Wege aus der Polarisierung weisen, obwohl es gerade im Katholizismus eine dominante Mutterfigur gibt, die im Mai traditionell ins Rampenlicht gerückt wird und auf den ersten Blick die beiden Fronten noch verschärft: Maria, die Mutter Gottes. Aber wenn man die Evangelien genau betrachtet, erschließt sich ein anderes Bild. 
 
Vorweg ein Plädoyer für den Muttertag: Es ist einfach schön, seine Liebe und Verbundenheit zur eigenen Mutter auszudrücken; sie wissen zu lassen: «Mama, ich habe dich lieb.». Ob es für solche Liebesbekundungen wirklich den zweiten Sonntag im Mai oder kommerzielle Exzesse braucht, steht auf einem anderen Papier geschrieben. Aber eine Botschaft oder Geste der Liebe und Wertschätzung ist einfach etwas Schönes. Punkt. 
 
Während meiner Studien in Lateinamerika wurde ich aber auch mit problematischen Aspekten von traditionellen Mutterrollen konfrontiert. Dazu gehören ideologische Überhöhungen von Müttern, die die daraus resultierenden übermenschlichen Ansprüche nicht erfüllen können, was oft in Überforderung, aber auch Gewalt und Vernachlässigung ihrer Kinder mündet. Dazu gehören Ungerechtigkeiten wie die soziale Ächtung und Exklusion von alleinstehenden Müttern oder die Geringschätzung von gleichgeschlechtlichen Eltern. Und: Dazu gehört auch das Bild der Mutter als duldsames Frustventil für ihren Partner und die Familie. Viel Idealisierung gegenüber traurigen Realitäten. Man merkt: Hier stimmt etwas nicht. Kein Wunder, wenn jemand sagt: Ich kann keinen Muttertag (mehr) feiern. 
 
Maria, die Mutter Gottes, die besonders in Lateinamerika eine besondere Rolle im Alltag spielt, hat einige dieser problematischen Aspekte untermauert. Sie wurde und wird traditionell als Modell der perfekten Mutter propagiert: Liebevoll, fürsorglich, aufopfernd, aber auch gehorsam, duldsam, schweigsam. Womöglich zweifelt niemand an Maria als Mutter von Jesus von Nazareth. Selbst im Islam gehört dies zum Standardwissen. Doch vermischten sich bei ihr theologische Aussagen mit ihrer biologischen Mutterschaft. Die theologische Aussage, eine junge Frau wird ein Kind empfangen allein durch die Kraft des Heiligen Geistes; denn für Gott ist nichts unmöglich. (vgl. Lukas 1,35-37), bedeutet, dass Jesus von Nazareth sowohl menschlichen als auch göttlichen Ursprungs ist. Es geht also bei ihrer Mutterschaft nicht um Biologie, sondern um Theologie. 
 
Diese theologische Mutterschaft ersetzte man aber im Lauf der Geschichte durch den Fokus auf die biologische Mutterschaft: Die junge Frau aus Nazareth hat Jesus geboren, somit ist ihre Gebärfähigkeit besonders wichtig. Und diese wird zum Ideal für die Frauen erhöht (neben der bereits im frühen Christentum verbreiteten Idealisierung der Jungfräulichkeit – quasi als Gegenmodell). Diese Verschiebung auf die Fruchtbarkeit und Gebärfähigkeit ist keineswegs eine christliche Besonderheit. Aber es ist bemerkenswert, weil gerade die Evangelien diesen biologistischen Fokus an mehreren Stellen hinterfragen. Jesu distanziert sich mehrmals von der Familie und insbesondere seiner Mutter. Nicht etwa aus Geringschätzung, sondern um eine wesentliche Aussage stark zu machen: «Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder? (…) Wer den Willen Gottes tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.» (Markus 3, 33.35). Eine Absage an traditionelle Rollenbilder und in drei Evangelien überliefert –offensichtlich eine wichtige Aussage Jesu. 
 
Wie oben bereits erwähnt spricht nichts dagegen, am zweiten Sonntag im Mai in besonderer Weise seine Liebe und Verbundenheit zu den Müttern auszudrücken. Aber die Evangelien enthalten eigentlich ein Plädoyer für eine universale Wertschätzung gegenüber allen Menschen guten Willens. Wir können bedenkenlos Muttertag feiern. Dabei sollten wir uns jedoch nicht nur auf unsere eigene Mutter fokussieren, sondern den Tag auch aktiv nutzen, um die gesellschaftliche Rolle und Bedeutung der Mutter zu hinterfragen und auf Missstände aufmerksam zu machen. Damit ist letztlich allen Müttern geholfen: Denjenigen, die überfordert sind, denjenigen, die sich als Alleinerziehende in Teilzeitjobs aufopfern, um ihre Kinder durchzubringen, diejenigen, die aufgrund der ganzen unbezahlten geleisteten Carearbeit nicht genug fürs Alter vorsorgen konnten und in Altersarmut leben. 
Aber darüber hinaus wäre es wichtig, allen Menschen stets mit Dankbarkeit, Respekt und Anerkennung zu begegnen. Eine solche Perspektive würde auch allen zu Gute kommen, die aus unterschiedlichen Gründen keinen Muttertag feiern können. Wie kann das gelingen? Ein jesuitisches Prinzip spricht von «Gott suchen und finden in allen Dingen». Dies könnte uns helfen, in der universalen Wertschätzung und Dankbarkeit zu unseren Mitmenschen zu wachsen.  
 
Zum Autor: 
Frater Pascal Meyer SJ, aus Langnau am Albis bei Zürich, seit 2024 wohnhaft und tätig am Canisius-Kolleg Berlin; studierte nach seiner Berufsausbildung und dem Militärdienst Geschichte, Kunstgeschichte, Philosophie und Theologie; seit 2013 ist er Jesuit; in seinen Ausbildungsabschnitten als Ordensmann lernte er zahlreiche Länder und Regionen der Welt persönlich kennen; der Satz "Gott suchen und finden in allen Dingen" inspiriert ihn bei einer Verkündigung des Glaubens. 

Frater Pascal Meyer Katholische Kirche
null Katholische Kirche

Dieser Beitrag wird redaktionell von den christlichen Kirchen verantwortet.

Belarussische Band Irdorath: Für Musik ins Gefängnis

Rechnerisch 144 Menschen je eine Million Einwohner - so viele politische Gefangene gibt es aktuell nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Wjasna in Belarus. Zum Vergleich: In Russland, wo die Repressionen gerade auch stark zunehmen, sind es laut der NGO Memorial vier. Doch viele Geschichten bleiben unerzählt - allein der Kontakt mit unabhängigen Medien könnte zu neuen Strafen führen.

Nadzeya und Uladzimir sind die Köpfe der belarussischen Folk-Band Irdorath. Sie wurden zu zwei Jahren Haft verurteilt, weil sie auf Protesten gegen das Lukaschenko-Regime Musik gespielt hatten. Seit einem Jahr sind sie frei, beide leben heute in Berlin. Erst jetzt findet das Ehepaar Kraft, darüber zu sprechen, was Tausende Belarussen - darunter Kulturschaffende, Oppositionelleunabhängige Journalistenin den letzten Jahren im Land erleiden müssen.

Repressionen lassen auch vier Jahre nach den Protesten nicht nach

Uladzimir und Nadzeya stehen in ihrem kleinen Proberaum in Berlin. Früher war es eine Küche. Sie haben sie renoviert und umgebaut. "Als wir hier zum ersten Mail hereinkamen, sahen wir den rot-grün gefärbten Boden, das mussten wir natürlich sofort ändern", erzählt Uladzimir. Denn Rot und grün sind Farben der belarussischen Staatsflagge und damit für viele Menschen Symbol der Lukaschenko-Diktatur, die vielen Belarussen die Freiheit geraubt hatmanchen gar das Leben.

Vor einem Plakat mit zwei Menschen, die die Faust in den Himmel strecken, steht ein Musiker und spielt Gitarre, umringt von friedlichen Demonstranten.
Friedlicher Protest mit Musik am "Platz des Wandels" in Minsk im Dezember 2020null Nadzeya Buzhan

Rückblick: Als im Jahr 2020 in Belarus wieder Präsidentschaftswahlen anstehen, werden die stärksten Gegner von Lukaschenko, der zu dem Zeitpunkt seit 26 Jahren regiert, verhaftet oder zu den Wahlen nicht zugelassen. Das löst die ersten Protestaktionen im Land aus. Später versammeln sich viele Belarussen hinter Swetlana Tichanowskaja, die anstelle ihres verhafteten Mannes kandidiert. Doch trotz beispielloser Unterstützung der Bevölkerung erreicht sie - nach offiziellen Angaben - nur zehn Prozent der Stimmen.

Ungebrochener Protest

Die Menschen gehen in Massen auf die Straßen, demonstrieren gegen Wahlfälschungen. Auch Kulturschaffende schauen nicht weg. Uladzimir und Nadezhda nehmen an den friedlichen Protesten teil und spielen Musik auf ihren Lieblingsinstrumenten - Dudelsäcke. Sie fordern faire Wahlen und den Stopp der Polizeigewalt gegenüber den Demonstrierenden. Doch die Machthaber greifen immer härter durch. Die Proteste werden weniger sichtbar, die Repressionen hingegen verschärfen sich.

Der Zustand hält sich bis heute, da alle Oppositionspolitiker, politische Aktivisten und Vertreter unabhängiger Medien entweder längst in Haft oder im Exil sind. Mehr noch: Das Regime lässt nicht nach. Das Internet wird durchforstet - auf der Suche nach Menschen, die vor vier Jahren von Meinungsfreiheit Gebraucht machten: sei es durch die Teilnahme an Protesten, kritische Kommentare auf Internetseiten oder auch nur ein Like darunter. Allein im April 2024 wurden im Land mindestens 161 politisch motivierte Gerichtsurteile gefällt, teilt Wjasna mit. Es könnten mehr sein. Die NGO, die ebenfalls aus dem Exil arbeiten muss, geht davon aus, nicht über alle Fälle informiert zu sein.

Politische Gefangene müssen eine Markierung tragen

Nadzeya und Uladzimir werden bei den Demonstrationen nicht sofort verhaftet - aber sie werden beobachtet. Ein Jahr nach den umstrittenen Wahlen feiern sie Nadzeyas Geburtstag mit Freunden, als vermummte Einsatzkräfte hereinplatzen und zu schießen beginnen, wie eine der Freundinnen später erzählt. Sechs Musiker werden festgenommen. Darunter Uladzimir und Nadzeya, die anschließend zu zwei Jahren Haft verurteilt werden - weil sie angeblich "öffentliche Ordnung grob verletzt haben".

Ein Mann und eine Frau sind über einen Stapel Briefe gebeugt.
Briefe, die Nadzeya und Uladzimir während der Haftzeit einander geschrieben habennull DW

"Ich hatte das Gefühl, in der tiefsten Hölle gelandet zu sein", erzählt Uladzimir der DW über ihre Zeit im belarussischen Untersuchungsgefängnis. "Auf einem etwa 20 Quadratmeter Raum leben dort 24 Menschen und mehrere Kolonien an Kakerlaken. Fenster gibt es nicht, es kommt keine frische Luft in den Raum". Aber das sei leichter auszuhalten gewesen als das regelmäßige Drangsalieren der Wächter, sagt Uladzimir.

In belarussischen Gefängnissen müssen Insassen, die "zum Extremismus oder anderer destruktiver Tätigkeit neigen" - sprich politische Aktivisten, Journalisten, Künstler und all die, die etwas "falsch" kommentiert oder gutgeheißen haben - eine gelbe Markierung tragen, um von anderen Gefangenen unterschieden zu werden. Die mit der Markierung werden strenger kontrolliert, öfter durchsucht und schneller bestraft, die prominenten unter ihnen in der Regel auch isoliert.Von vielen hat man seit über einem Jahr nichts mehr gehört.

Wieder frei

Uladzimir und Nadzeya kommen nach zwei Jahren Haft am selben Tag frei. "Wie in einem guten oder schlechten Märchen", sagt Uladzimir. Als die beiden sich wieder treffen, gehen sie zum See und spielen ihre Dudelsäcke. "Das tat gut", erinnert sich Nadzeya.

Ein Mann und eine Frau stehen am Ufer eines Sees und spielen Dudelsack.
Zusammentreffen am See: nach zwei Jahren Haft ist das Paar wieder vereintnull Irdorath

Doch gut geht es ihnen nicht lange. Über die Zeit in Belarus direkt nach der Freilassung wollen sie nicht viel sagen und erzählen nur kurz: "Wir wurden von der Polizei nicht in Ruhe gelassen. In Belarus zu bleiben war keine Option". Zuerst kommt das Paar nach Polen, ein paar Monate später siedeln sie sich nach Berlin über.

"Wir kamen nach Berlin, weil Deutschland mit seinen mittelalterlichen Festivals Zentrum unseres künstlerischen Universums ist", sagt Uladzimir. Irdorath ist seit vielen Jahren in Mittelalterfolk-Kreisen in Deutschland und anderen Ländern Europas bekannt. Sie waren 2017 die erste Band aus Belarus, die beim Wacken Open Air in Deutschland auftrat.

Von Null anfangen

In Berlin muss das Ehepaar fast von Null anfangen. Sie müssen nicht nur die Band neu aufstellen, sondern auch viel üben. "Man will spielen, wie man es vor dem Gefängnis gemacht hat, guckt auf seine Finger - aber es funktioniert einfach nicht. Und so übt man dann wieder stundenlang mit einem Metronom", erzählt Nadzeya.

Eine Frau und ein Mann sitzen in einem Musikraum vor einem Schlagzeug und erzählen.
Irdorath im Interview mit dw.comnull DW

Das Paar zieht sich am Anfang zurück, es ist schwer für sie, in Berlin in der belarussischen Diaspora zu sein, zu oft kommen die Gespräche auf das Thema, das sie meiden möchten, um nicht zu oft an die Zeit im Gefängnis erinnert zu werden. Selbst mit der Familie zu telefonieren sei eine Herausforderung gewesen. "Uns fällt es bis heute noch schwer, mit Menschen zu reden, die nicht im Gefängnis saßen, die nicht Ähnliches erlebt haben", erzählt Uladzimir.

Doch die Musik helfe. Wieder auf der Bühne zu stehen ist seit der Freilassung ihr Hauptziel. "Uns wurde vieles kaputtgemacht, aber wir haben nicht vor, uns damit abzufinden. Kein Regime kann uns unser Lebenswerk wegnehmen", sagt Nadzeya.

Im Mai 2024 hat die Band ihr erstes Konzert seit der Freilassung mit großem Erfolg gespielt. Weitere Auftritte auf Dark Metal- und Gothic-Festivals sind angekündigt. Auf Instagram schreibt die Band: "Wir haben die ersten schweren Schritte gemacht und starten damit in eine neue Ära. Dank Euch machen wir uns auf diesen Weg mit Wärme in unseren Herzen".

Die Latte liegt hoch: In Cannes beginnen die 77. Filmfestspiele

Wie in jedem Frühling feiert die Branche in dem südfranzösischen Küstenort zwölf Tage lang ein Hochfest der Filmkunst, dieses Mal vom 14. bis 25. Mai. Cannes rollt den roten Teppich aus. Stars vieler Länder reisen an, Regisseure, Produzenten, Autoren und natürlich - Lieblingsmotiv der Paparazzi: Schauspielerinnen und Schauspieler.

Zur Eröffnung flimmert - noch außer Konkurrenz - die Filmkomödie "Le deuxième acte" (Festivaltitel: "The Second Act") von Quentin Dupieux über die Leinwand, ein verzwicktes Gefühlsdrama zwischen vier jungen Leuten. Im Hauptwettbewerb dominieren in diesem Jahr französische und amerikanische Produktionen, darunter der Monumentalfilm "Megalopolis" von Francis Ford Coppola. Das futuristische Science-Fiction-Drama mit Anklängen an das Römische Reich handelt von einem Architekten, der New York zu einer Utopie machen will.

Rasoulof: Flucht aus dem Iran

Der iranische Filmemacher Mohammad Rasoulof
Der iranische Filmemacher Mohammad Rasoulofnull Crystal Pictures/xim.gs/picture alliance

Beim Festival von Cannes soll auch der Film "Der Samen der heiligen Feige" von Berlinale-Gewinner Mohammed Rasoulof gezeigt werden. Ein iranisches Berufungsgericht hatte den Regisseur und Regimekritiker wegen "Verschwörung gegen die nationale Sicherheit" zu einer achtjährigen Haftstrafe mit Peitschenhieben und einer hohen Geldstrafe verurteilt. Am vergangenen Wochenende ist Rasoulof jedoch die Flucht aus dem Iran gelungen. "Ich musste mich zwischen dem Gefängnis und dem Verlassen Irans entscheiden. Schweren Herzens habe ich mich für das Exil entschieden", so Rasoulof, der sich derzeit an einem unbekannten Ort in Europa aufhält. Sein Anwalt Babak Paknia bestätigte der Nachrichtenagentur AFP, dass Rasoulof am Filmfestival im Cannes teilnehmen werde. 

 Rasoulof hatte 2020 den Goldenen Bären für seinen Film "Doch das Böse gibt es nicht" verliehen bekommen. Den Preis konnte er nicht entgegennehmen, weil er schon damals den Iran nicht verlassen durfte.

Ein Film über Donald Trump

Zu sehen sind auch das neueste Werk von Giorgos Lanthimos ("Kinds of Kindness"), das drei sehr unterschiedliche Menschen in den USA porträtiert, und "Emilia Perez" von Jacques Audiard, eine Musical-Komödie über einen mexikanischen Drogenboss, der seine Vergangenheit hinter sich lassen und als Frau ein neues Leben beginnen will. Aber auch "The Apprentice", ein Film über die Karriere von Donald Trump im New York der 1980er-Jahre, dürfte einige Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Marvel-Superheld Sebastian Stan spielt den späteren US-Präsidenten, die Oscar-nominierte "Borat"-Entdeckung Maria Bakalova seine Frau Ivana. Regie führt der iranisch-dänische Filmemacher Ali Abbasi ("Border").

Protestierende und Polizisten stoßen bei einer Demonstration aufeinander.
Sergei Loznitsa dokumentierte vor zehn Jahren mit seinem Film "Maidan" die ukrainischen Proteste gegen den russlandfreundlichen Präsidenten Viktor Janukowitschnull Viktor Drachev and Maksym Marusenko/ AFP

Der ukrainische Filmemacher Sergei Loznitsa stellt in Cannes seinen neuen Dokumentarfilm "Invasion" vor - zehn Jahre nach seinem Dokumentarfilm "Maidan", der die ukrainischen Proteste zeigte, die zum Sturz des damaligen kremltreuen Präsidenten Viktor Janukowitsch führten. Nun geht es in "Invasion" um den russischen Angriffskrieg auf sein Land. Er wolle "zeigen, wie der Krieg das Land verändert", so Loznitsa.

Nur vier Filme von Frauen

Was im Blitzlichtgewitter von Cannes unterzugehen droht: Nur bei vier von insgesamt 22 Wettbewerbsfilmen führten Frauen Regie. Bemerkenswert dabei: Die französische Schauspielerin Judith Godrèche stellt ihren MeToo-Kurzfilm "Moi aussi" vor, in dem sie von Opfern sexueller Gewalt erzählt.

Deutsche Filme wurden in diesem Jahr gar nicht eingeladen. Und erstmals gibt es in Cannes auch einen Wettbewerb für sogenannte "immersive" Werke. Sie nutzen Technologien wie virtuelle oder erweiterte Realität, ermöglicht wiederum durch den Einsatz Künstlicher Intelligenz (KI). Der Streit über die Folgen von KI-Nutzung hatte im vergangenen Jahr zu hartenArbeitskämpfen in der US-Filmindustrie geführt, die über Monate blockiert war.

Streiks der Filmarbeitenden drohen

Längster Streik Hollywoods endet nach 118 Tagen

Auch in Cannes könnte es nun zu einem Streik kommen. Die Vereinigung "Sous les écrans la dèche" (Unter den Leinwänden ist Ebbe) droht mit einer empfindlichen Störung des Festivalbetriebs. Der Zusammenschluss von Filmvorführern, Programmgestaltern, Ticketverkäufern und Gästebetreuern beklagt die zunehmende Prekarisierung der filmnahen Berufe. Sie prangert auch die jüngsten Reformen der französischen Arbeitslosenversicherung an.
 

 Dustin Hoffman und Meryl Streep in einer Filmszene aus "Kramer gegen Kramer"
Szene aus "Kramer gegen Kramer" mit Dustin Hoffman und Meryl Streepnull Columbia Pictures/Courtesy: Everett Collection/picture alliance

Die 77. Ausgabe des Festivals dürfte der große Auftritt von Meryl Streep werden. Die amerikanische Schauspielerin wird gleich zu Beginn mit der Goldenen Ehrenpalme für ihr Lebenswerk ausgezeichnet. Mit über 60 Filmen hat sie bald ein halbes Jahrhundert Filmgeschichte geprägt. In Filmen wie "Kramer gegen Kramer", "Jenseits von Afrika" oder "Der Teufel trägt Prada" erlangte Meryl Streep den Nimbus einer Leinwandikone. Die heute 74-Jährige erhielt drei Oscars und 21 Nominierungen. Neben ihr wird auch "Star Wars"-Erfinder George Lucas, der in Cannes auch seinen 80. Geburtstag feiern wird, mit einer Goldenen Ehrenpalme geehrt. Eine weitere Goldene Palme geht an das japanische Animationsstudio Ghlibli.

Schauspielerin Sandra Hüller im Film "Anatomie eines Falls"
Schauspielerin Sandra Hüller im Film "Anatomie eines Falls"null Plaion Pictures/dpa/picture alliance

Vorsitzende der Festival-Jury war in diesem Jahr die Filmemacherin Greta Gerwig ("Barbie"). Doch schon im letzten Jahr hatten Festivalleiter Thierry Frémaux und sein Team eine erfolgreiche Ausgabe hingelegt: So erwies sich Justine Triets Beziehungsdrama "Anatomie eines Falls", auch dank einer überragenden deutschen Hauptdarstellerin Sandra Hüller,als überzeugender Gewinnerfilm, der später auch einen Oscar gewann. "Überhaupt fuhren Filme aus der offiziellen Festivalauswahl", wie die Zeitschrift "Spiegel" unlängst vorrechnete, "rekordverdächtige 26 Oscarnominierungen ein". Oscars gab es auch für Jonathan Glazers Auschwitzfilm "The Zone of Interest" - ebenfalls mit Sandra Hüller und in Cannes gefeiert - sowie Aki Kaurismäkis "Fallende Blätter und "Perfect Days" von Wim Wenders. Die Latte für die Goldene Palme in Cannes 2024 liegt hoch.

Dieser Artikel wurde am 15.05.2024 aktualisisert.

Lieferkettengesetz: Discounter Lidl in der Kritik

Vor einigen Monaten berichteten Mitarbeitende des türkischen Landwirtschaftsunternehmens Agrobay über unrechtmäßige Entlassungen und unmenschliche Arbeitsbedingungen. Sie würden gemobbt und ihnen werde das Recht verweigert, auf die Toilette zu gehen, so ihre Aussagen. Für ihre Rechte gingen sie auf die Straße. Seit über acht Monaten protestieren die ehemaligen Mitarbeiter in der westtürkischen Metropole Izmir.

Mitverantwortlich gemacht wird der deutsche Supermarktgigant Lidl. Die Firma Agrobay ist einer der wichtigsten Lieferanten für Lidl. Nun bereiten sich die Arbeiter von Agrobay auf einen Rechtsstreit gegen den deutschen Konzern vor.

Lidl beendet die Zusammenarbeit

Bis vor kurzem ging die Zusammenarbeit zwischen Lidl und Agrobay unverändert weiter. Nun gab der deutsche Konzern bekannt, dass er diese Zusammenarbeit beendet habe. Auf eine Anfrage der DW antwortete das Unternehmen:

"Mit Rücksicht auf das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz nahmen wir vor einigen Monaten wegen einer Beschwerde über mögliche Verletzungen der geschützten gesetzlichen Positionen unserer Mitarbeiter bei unserem indirekten Lieferanten Agrobay Ermittlungen auf. Nach diesen Ermittlungen und umfassenden Diskussionen mit allen beteiligten Parteien haben wir uns entschieden, unsere geschäftliche Beziehung mit Agrobay zu beenden."

Eine Demonstration der Agrobay-Arbeiterinnen gegen schlechte Arbeitsbedingungen
Die Arbeiter protestieren seit acht Monaten wegen unrechtmäßiger Entlassungen und unmenschlicher Arbeitsbedingungennull Anka

Aus Datenschutzgründen nannte der Konzern keine weiteren Details zu den Ermittlungen. Außerdem betonte Lidl die geringe Bedeutsamkeit der Zusammenarbeit mit Agrobay: "Bisher kauften wir eine relativ kleine Quantität der Waren von Agrobay. Außerdem ist Lidl unseres Wissens vergleichsweise nur ein kleiner Kunde des Lieferanten Agrobay mit Rücksicht auf Beschaffungsvolumen", so das Unternehmen.

Agrobay liefert die meisten der Tomaten, die es in deutschen Lidl-Supermärkten zu kaufen gibt. Die seit 2002 aktive Firma hat eine jährliche Anbaukapazität von 20.000 Tonnen und zählt damit zu einem der größten Hersteller im landwirtschaftlichen Bereich der Türkei. Die Firma exportiert auch nach England, Spanien, Schweden, die Niederlande und Russland.

Unterstützung vom Europäischen Parlament und von Oxfam

Im Gespräch mit der DW bestätigt Umut Kocagöz, Präsident der Landwirtschaftsgewerkschaft Tarim-Sen, dass Lidl die Zusammenarbeit mit Agrobay Mitte April beendet habe. Diese Entscheidung ist allerdings für die ehemaligen Mitarbeiter nicht ausreichend. Damit sei die deutsche Firma nicht aus der Verantwortung, so Kocagöz:

"Die Zusammenarbeit von Lidl mit Agrobay wurde unter den Bedingungen fortgesetzt, über die unsere Arbeiter berichteten. Das zeigt, dass Lidl die notwendigen Maßnahmen nicht rechtzeitig ergriff. Lidl lehnt jetzt die Verantwortung ab, weil der Konzern sagt, dass die Zusammenarbeit beendet wurde. Das ist für uns nicht akzeptabel, weil es das Problem nicht löst. Dieser Schritt ebnet Agrobay den Weg dafür, gegen uns harscher vorzugehen. Deswegen setzen wir auf die Beschwerde in Deutschland, damit wir das Problem durch die Mechanismen innerhalb Deutschlands lösen."

Man habe versucht, mit den Anwälten von Agrobay Gespräche zu führen, bisher sei das aber nicht möglich gewesen, so Kocagöz.

Die türkischstämmige linke Europa-Abgeordnete Özlem Alev Demirel schrieb einen Brief an Lidl, was aus der Sicht von Kocagöz die Entscheidung des Konzerns beeinflusst haben könnte. Auch die Nichtregierungsorganisation Oxfam Deutschland bot der Gewerkschaft ihre Unterstützung an - was die türkischen Arbeiter inspirierte, die Beschwerde beim zuständigen beim Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) einzureichen.

Verstoß gegen das Lieferkettengesetz?

Der Vorwurf der Gewerkschaft: Trotz der aufgedeckten Rechtsverletzungen beendete der Konzern die Zusammenarbeit mit Agrobay nicht rechtzeitig und verstoße damit er gegen das neue deutsche Lieferkettengesetz, so Kocagöz.

Die entlassenen Arbeiter mit ihren Schildern: "Unser Gewerkschaftsrecht kann nicht verhindert werden" und "Agrobay, gib uns unsere Rechte”
Die entlassenen Arbeiter mit ihren Schildern: "Unser Gewerkschaftsrecht kann nicht verhindert werden" und "Agrobay, gib uns unsere Rechte”null Anka

Verstöße gegen das Gesetz können mit Bußgeldern von bis zu 800.000 Euro bestraft werden. Lidl hat fast 12.000 Filialen in 30 Ländern und erzielt einem Umsatz von rund 115 Milliarden Euro (Geschäftsjahr 2022/2023) - was den Konzern zum größten Discounter der Welt macht.

Im Rahmen des Gesetzes hätte Deutschland die Rechte dieser Arbeiter schützen können, habe dies aber nicht getan, beklagen sich die Arbeiter seit Monaten. Das seit Januar 2023 geltende Gesetz schreibt deutschen Unternehmen ab einer bestimmten Größe vor, in ihren Lieferketten sowohl im In- als auch im Ausland Menschenrechte und Umweltvorschriften zu berücksichtigen. Dies hat eigentlich Folgen für die türkischen Unternehmen, die mit Deutschland Handel betreiben - also auch für Agrobay.

Schwere Vorwürfe gegen Lidl

In den vergangenen Monaten führte Lidl Gespräche mit den Arbeitern. "Seit etwa zwei Monaten sind wir im Gespräch mit Lidl. Uns wurde gesagt, dass wir eine Abfindung bekommen würden, falls wir unseren Kampf aufgeben würden. Die Geschäfte mit Agrobay würden dann auch weiterlaufen. Dann gab es eine Unterbrechung unserer Gespräche. Man habe seine Meinung zur Abfindung geändert. Am Ende sagte Lidl uns, dass die geschäftlichen Beziehungen beendet worden seien", so Kocagöz. Lidl habe außerdem die Forderung der Arbeiter abgelehnt, die Beendigung der Zusammenarbeit vor der Presse anzukündigen, so Kocagöz.

Agrobay verklagte außerdem vor einigen Monaten die Arbeiter, die vor dem deutschen Konsulat protestierten. Grund: Sie hätten "die Handelsbeziehungen mit Deutschland beschädigt". Das Gerichtsverfahren läuft noch. Deutschland ist der wichtigste Handelspartner der Türkei und das wichtigste Zielland für türkische Exporte.

Sind die Deutschen faul geworden?

Ein Blick auf die Zahlen der Industriestaatenorganisation OECD kann schon erschrecken. Demnach arbeitete 2022 der durchschnittliche US-Amerikaner mehr als 1800 Stunden pro Jahr, der durchschnittliche Deutsche dagegen nur 1340 Stunden. Den Rückschluss, die Deutschen seien faul geworden, dürfe man daraus allerdings nicht ziehen, meint der Arbeitsmarktexperte Enzo Weber. Er forscht am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), eine Art Thinktank des Bundesagentur für Arbeit. 

"Deutschland hat eine sehr hohe Frauenerwerbsquote im Vergleich zu den meisten anderen Ländern", so Weber. Rund jede zweite Frau arbeitet in Teilzeit. Rein rechnerisch drückt das die durchschnittliche Jahresarbeitszeit nach unten.

Beispiel: Wenn zwei Männer in einem Land zehn Stunden arbeiten, ist die durchschnittliche Arbeitszeit zehn Stunden (10+10):2=10. Arbeiten in einem anderen Land zwei Männer zehn Stunden und eine Frau vier Stunden, dann ist die durchschnittliche Arbeitszeit acht Stunden (10+10+4):3=8.

Deutsche arbeiten mehr, nicht weniger 

"Die Zahlen bedeuten also nicht, dass in Deutschland weniger gearbeitet wird", sagt Weber. "Ganz im Gegenteil, es wird mehr gearbeitet, denn die Alternative wäre ja, dass diese Frauen gar nicht in der Statistik drin wären." Auch die OECD weist darauf hin, dass sich die Daten nur beschränkt zum internationalen Vergleich eignen würden.

In Deutschland haben sich die Zeiten, als Männer Vollzeit im Job waren und Frauen zu Hause, verändert. Inzwischen arbeiten 77 Prozent der Frauen - damit ist der Anteil der Frauen in der Berufswelt in den letzten dreißig Jahren deutlich gestiegen, auch wenn viele in Teilzeit beschäftigt sind.

Frau sitzt an einem Laptop, neben ihr sitzt ein Kind
Viele Frauen arbeiten in Teilzeit, weil sie sich auch noch um ihre Kinder kümmern müssennull Julian Stratenschulte/dpa/picture alliance

Wunsch nach weniger Arbeit ist da

Dabei würden die Deutschen durchaus gerne weniger arbeiten. Das haben Umfragen immer wieder gezeigt. Laut einer Studie des IAB möchten von den Frauen, die in Vollzeit beschäftigt sind, beinahe die Hälfte ihre Arbeitszeit um gut sechs Stunden reduzieren. Bei den Männern würden gerne knapp 60 Prozent um die 5,5 Stunden weniger arbeiten. Diese Wünsche gibt es bereits seit Jahrzehnten und sie haben sich im Zeitverlauf nicht sehr verändert.

Auch Gen Z ist besser als ihr Ruf

Besonders schlecht ist im Hinblick auf die Arbeitszeitwünsche, der Ruf der sogenannten Gen Z, also der Menschen, die in den Jahren 1995 bis 2010 geboren wurden. Sie wollen möglichst viel Freizeit und möglichst hohe Gehälter haben. So ein oft wiederholtes Vorurteil. Enzo Weber kann das nicht bestätigen. Der Mehrheit der Generation Z sei Erfolg im Beruf wichtig. Damit würden sie sich nicht von vorherigen Generationen unterscheiden, meint Weber.

"Ich glaube, alle wollen möglichst viel Freizeit und hohe Gehälter haben. Dagegen kann ich schlecht etwas sagen. Was wir für die Jungen finden: keine ungewöhnliche Entwicklung der Arbeitszeitwünsche, kein ungewöhnlicher Rückgang des beruflichen Engagements, nicht mehr Jobwechsel als junge Leute früher."

X-Tage Woche ermöglichen

Inzwischen haben sich zudem die Lebensmodelle der Deutschen verändert. "Den Alleinverdiener-Haushalt aus der Zeit des Wirtschaftswunders gibt es kaum noch", so Weber. Inzwischen würden in der Regel beide Partner arbeiten und bräuchten daher eine gewisse Flexibilität. "Jeder sollte frei wählen können, in welcher Lebensphase er wie viel arbeitet", meint Weber daher. "Wir brauchen keine 5- oder 4-Tage-Woche, sondern eine X-Tage-Woche und eine Flexibilisierung der Arbeit über die gesamte Lebenszeit." Mit flexibleren Arbeitsmodellen könnten auch Menschen im Ruhestandsalter motiviert werden, doch noch weiter zu arbeiten.

Die Corona-Pandemie habe gezeigt, dass ein flexibles und mobiles Arbeiten funktioniert, meint Weber. Diese Entwicklung ließe sich nicht wieder zurückdrehen. Und es sei sinnvoll, Arbeit so zu gestalten, dass Menschen damit zufrieden sind.

Verhandlungspositionen am Arbeitsmarkt verschoben

Die Forderungen nach kürzerer und flexiblerer Arbeitszeit, sind zudem in Zeiten von Fachkräftemangel und durch die Erfahrungen, die in der Corona-Pandemie gemacht wurden, leichter durchsetzbar als nach der Jahrtausendwende, als es Massenarbeitslosigkeit gab.

Wie aber passt "weniger Arbeiten" zusammen mit dem steigenden Bedarf an Fachkräften und dem Wunsch, keine Wohlstandsverluste zu erleiden? Allein durch die demografische Entwicklung wird erwartet, dass bis 2035 sieben Millionen Menschen weniger auf dem deutschen Arbeitsmarkt sein werden.

Ein Schweißer arbeitet mit Schutzbrille an einem Windrad
Der Fachkräftemangel wird sich in vielen Branchen in den kommenden Jahren noch verschlimmernnull Patrick Pleul/dpa/picture alliance

Produktivität ist ein Schlüsselfaktor 

Ein Hebel, wenn die Zahl der gearbeiteten Stunden nicht steigt oder sogar sinkt, ist, die Qualität der Arbeit, also die Produktivität zu steigern. Enzo Weber ist der Ansicht, dass es keinen Sinn mache, aus den Menschen die maximalen Arbeitszeiten rauszupressen. Er hält es für sinnvoller, die Qualität der Arbeit zu steigern: durch Fortbildung, durch Investitionen in Digitalisierung, KI und durch den ökologischen Umbau der Wirtschaft.

Wichtig sei eine proaktive Qualifizierungspolitik, glaubt Weber. Es dürfe also nicht gewartet werden, bis jemand vom Strukturwandel abgehängt wurde, um dann mit einer Notmaßnahme zu versuchen, ihn zu retten. Vielmehr müssten die Menschen in die Lage versetzt werden, selbst initiativ zu werden und selbst eine aktive Rolle spielen zu können.

Eine Krankenpflegerin schiebt ein Bett durch den Flur
In der Pflege lässt sich die Arbeitsproduktivität nur bedingt steigernnull Marijan Murat/dpa/picture alliance

Produktivitätswachstum hat sich sehr verlangsamt

Im Augenblick sieht es allerdings nicht rosig aus, was die Produktivität angeht. Da herrsche eher Stagnation, beklagt Weber. Zwischen 1997 und 2007 wurde in Deutschland noch ein Produktivitätswachstum von 1,6 Prozent erreicht, so eine Studie des McKinsey Global Institute (MGI). Im Zeitraum 2012 bis 2019 halbierte sie sich aber auf 0,8 Prozent. 

Das liegt unter anderem daran, dass viele Stellen in Bereichen mit geringerer Produktivität, etwa bei personalintensiven Dienstleistungen geschaffen wurden. In der Pflege, Erziehung oder im Bereich Gesundheit sind Produktivitätssteigerungen nur beschränkt möglich. 

Produktivität - warum sie in Deutschland kaum noch wächst

Die gesamtwirtschaftliche Produktivität ist auch gesunken, weil die Konjunktur schwächelt und viele Unternehmen aufgrund des Fachkräftemangels trotzdem ihre Mitarbeiter halten und damit die Arbeitskosten nicht verringert werden. Das senkt die Produktivität. Auch bei den Themen Investitionen in technologische Entwicklung, Digitalisierung und bei der ökologischen Transformation könnte mehr passieren, so der Tenor des Digitalrates der BDA(Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände).

Unabhängig von der Entwicklung der Produktivität gibt es aber auch noch viele ungenutzte potentielle Arbeitskräfte. "Dies betrifft nicht nur die Erwerbstätigkeit von Frauen und die Erhöhung der Arbeitszeit von Menschen in Teilzeit, sondern auch die vielen Migrantinnen und Migranten und Deutsche, die keinen Schul- oder Berufsabschluss haben und denen häufig schon früh viele Chancen genommen werden, ein produktiver Teil im Arbeitsleben sein zu können," meint Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin.

 

Deutsche Wirtschaft verliert Milliarden durch Fachkräftemangel

In der Analyse der Ökonomen vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln heißt es, wenn es genug Fachkräfte geben würde, könnten die Unternehmen in Deutschland voll ausgelastet sein. Die Firmen würden dann im laufenden Jahr rund 49 Milliarden Euro mehr erwirtschaften.

Fast 600.000 Stellen bleiben unbesetzt

Im vergangenen Jahr hätten 570.000 Stellen nicht besetzt werden können, erklärte das Wirtschafts-Institut weiter. "Für die Unternehmen bedeutet das: Ihr Produktionspotenzial bleibt auf der Strecke. Eigentlich könnten sie mehr produzieren, doch dafür fehlen Mitarbeiter."

"Weil die geburtenstarken Jahrgänge, auch Babyboomer genannt, in den kommenden Jahren in Rente gehen, dürfte die Fachkräftelücke in Zukunft noch größer werden", warnte das in Köln ansässige IW. Damit würden dann natürlich auch die Kosten des Fachkräftemangels weiter steigen. Laut Institut der deutschen Wirtschaft wird sich das verloren gegangene Produktionspotenzial 2027 voraussichtlich bereits auf 74 Milliarden Euro erhöhen.

Die Älteren im Betrieb halten

"Um die Fachkräftelücke zu verringern, braucht es vor allem gut qualifizierte Zuwanderer", erklärten die Autoren der Studie. "Besonders effektiv" wäre es zudem, "wenn ältere Beschäftigte länger arbeiten würden". Unternehmen sollten daher versuchen, erfahrene Mitarbeiter "mit passenden Angeboten" länger im Betrieb zu halten.

KI gegen Fachkräftemangel

haz/pg (afp, epd, dpa)

Blutkrankheit Thalassämie jetzt mit Gentherapie behandelbar

Thalassämien und die Sichelzellkrankheit sind weitverbreitete Erbkrankheiten. Etwa sieben Prozent der Weltbevölkerung haben diese erbliche Funktionsstörungen des Blutfarbstoffes. Ausgelöst wird die Erkrankung durch die Mutation in einem einzelnen Gen.

Im gesunden Körper können sich die roten Blutkörperchen (Erythrozyten) problemlos durch die kleinste Blutgefäße hindurch bewegen. Das Hämoglobin, eine Eiweißverbindung in den Erythrozyten, färbt die Blutkörperchen rot und ist vor allem für den Sauerstofftransport verantwortlich.

Genetischer Defekt

Sowohl bei der Thalassämie als auch der Sichelzellkrankheit haben die roten Blutkörperchen aufgrund eines genetischen Defekts eine geringere Funktionsfähigkeit und eine kürzere Lebensdauer. Außerdem werden sie in geringerer Zahl gebildet als bei gesunden Menschen. Bei der Sichelzellkrankheit deformieren sich die roten Blutkörperchen sichelartig, sie sind nicht mehr elastisch genug und bleiben in kleinen Blutgefäßen stecken. Die so verstopften Gefäßwände entzünden sich.

Thalassämie und Sichelzellkrankheit verursachen eine chronische Blutarmut (Anämie), wodurch Organe und Gewebe nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt werden. Dies führt zu Schmerzen und zu einer Schädigung des Gewebes.

Ohne Behandlung kommt es bei Thalassämie und der Sichelzellkrankheit zu einer massiven Leber- und Milzvergrößerung, zu einer Veränderung der Knochenmarksräume und zu Fehlbildungen am Skelett. Kinder bis zum fünften Lebensjahr sterben ohne adäquate Therapie.

Bahnbrechende Therapiemöglichkeit

Als Behandlung kamen bislang nur lebenslange Bluttransfusionen oder eine Stammzelltransplantation infrage. Allerdings ist es sehr schwierig, für jeden Thalassämie-Erkrankten geeignete Spenderzellen zu finden. Insgesamt haben Thalassämie-Erkrankte trotz der beiden Therapieformen eine deutlich reduzierte Lebenserwartung.

Die jetzt in Tübingen mitentwickelte Thalassämie-Gentherapie mit der Genschere CRISPR/Cas9 kann Betroffenen ein weitgehend normales Leben ohne Erkrankung ermöglichen. Weit mehr als 90 Prozent der Teilnehmenden (12-35 Jahre) der Therapie können seit mehr als zwölf Monaten ohne Transfusionen leben. Diese weltweit erste erfolgreiche Gentherapie ist bereits von der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) für Patientinnen und Patienten ab zwölf Jahren zugelassen.

Die Gentherapie kann zwischen wenigen Monaten bis zu einem Jahr dauern. Dabei werden zunächst Stammzellen aus dem Blut entnommen. Mittels Genschere CRISPR/Cas9 werden diese dann so verändert, dass die roten Blutkörperchen wieder das funktionsfähige Hämoglobin des frühen Kindesalters bilden. Dieses fetale Hämoglobin trägt keine Schäden in sich.

Mikroskop-Aufnahme vom CRISPR/Cas9-Verfahren
Mittels Genschere CRISPR/Cas9 werden Stammzellen so verändert, dass roten Blutkörperchen wieder funktionsfähiges Hämoglobin bildennull Gregor Fischer/dpa/picture alliance

Damit die Therapie funktioniert, muss das eigene Knochenmark durch eine Chemotherapie ausgelöscht werden. Anschließend werden die genmodifizierten Stammzellen wieder transplantiert. Sie bilden dann gesunde Blutkörperchen; weitere Bluttransfusionen sind nicht mehr nötig.

Ergänzung zur Stammzellentherapie

Die neue Gentherapie soll die Stammzelltransplantation nicht grundsätzlich ersetzen. "Die Therapie ist vielmehr eine Chance für Erkrankte, für die kein Spender gefunden werden kann oder die aus anderen Gründen keine fremden Stammzellen bekommen können. Auch bei Betroffenen, die schon Stammzellen von einem Spender erhalten haben und danach einen Rückfall erlitten haben, kann sie durchgeführt werden", sagt Professor Peter Lang, der die Stammzelltransplantationen in der Tübinger Klinik für Kinder- und Jugendmedizin leitet.

Gemeinsam haben die Forschenden aus 15 Kliniken in den USA und Europa, darunter auch das Universitätsklinikum Tübingen sowie Düsseldorf, die Ergebnisse der Studie im New England Journal of Medicine veröffentlicht. "Unsere Gentherapie ist ein fantastisches Beispiel dafür, dass Gentherapien wirksam sind und im klinischen Alltag angewendet werden können", betont Thalassämie-Spezialist Lang.

Weitverbreitete Erbkrankheit

Thalassämien kommen vor allem in Indien, Pakistan, Bangladesch, Afghanistan, im Süden Chinas und Südostasien, auf der Arabischen Halbinsel, im Irak, Iran, in West- und Nordafrika sowie in der Schwarzmeerregion vor. In Europa trifft man sie vor allem in den Mittelmeerländern und der Türkei an.

Erstaunlicherweise entspricht die Verteilung grob dem historischen Malariagürtel. Betroffene dieser Erbkrankheit sind zumindest vor Malariainfektionen geschützt, denn Thalassämien können den Plasmodien-Parasiten besser widerstehen, weil einfach mehr Blutzellen hergestellt werden - wenn auch mit weniger Hämoglobin.

Quellen:

Exagamglogene Autotemcel for Transfusion-Dependent β-Thalassemia, April 2024 

Sommerwärme für den Winter: Welche Speicher gibt es?

Einige saisonale Wärmespeicher sind schon in Betrieb. In Marstal in Dänemark zum Beispiel wird ein großes Wasserbecken im Sommer mit solarthermischen Kollektoren aufgeheizt. Dieser Speicher deckt im Winter die  Hälfte des Heizbedarfsder rund 2000 Einwohner. Immer mehr Varianten solcher Wärmespeicher werden derzeit gebaut, nicht nur in Europa. Welche Techniken gibt es und wie funktionieren sie?

Große Wasserbecken als Speicher: Praktisch für Fernwärme

Für Erdbecken-Wärmespeicherwerden große Gruben im Boden ausgehoben und mit Folien abgedichtet. Bei rund einem Hektar Fläche werden dann etwa etwa 70.000 Kubikmeter Wasser eingefüllt.

Das Wasser wird auf bis zu 90 Grad erwärmt durch solarthermische Anlagen,Abwärme aus Fabriken oder Müllverbrennungsanlagen. Eine gedämmte Abdeckung sorgt dafür, dass im Jahr nur rund zehn Prozent der gespeicherten Wärme verloren geht. Im Winter fließt das warme Wasser aus dem großen Speicher ins Fernwärmenetz und heizt Wohnungen. 

Bisher gibt es sechs große Erdwärmespeicher in Dänemark, einen in Tibetund drei werden derzeit in Deutschlandund Polengebaut. Das Interesse an der Speichertechnik wächst.

Neben Becken an der Erdoberfläche können beispielsweise auch stillgelegte unterirdische Kohlebergwerke als Wasser-Wärmespeicher genutzt werden. Im Ruhrgebiet in Deutschland wird schon ein Grubenwärmespeicher in einem alten Bergwerksschachterprobt.

Vor- und Nachteile: Große Erdbeckenspeicher speichern günstig überschüssige Wärme für den Winter. Sie eignen sich gut für Fernwärmenetze. Die Baukosten sind relativ niedrig, allerdings braucht man genug Platz für die Becken.

Energieeffizienz: Hoch. Nur rund zehn Prozent der Wärme geht pro Jahr verloren. 

Wo einsetzbar? Überall.

Großer Wärmetank: Speicher direkt im Haus

Auch große Wassertanks in Gebäuden können Wärme über Monate speichern. Dafür werden beim Neubau in die Gebäudemitte Stahltanks mit bis zu 260 Kubikmeter eingebaut. Sie können mehrere Stockwerke hochsein und sind sehr gut isoliert.

Im Vergleich zu den Erdwärmespeichern sind die Investitionskosten rund zehn Mal höher. Denn Stahltanks sind teurer und die Gebäude müssen speziell dafür gebaut werden. Ein Speicher mit 50 Kubikmeter kostet inklusiver großer Solaranlage etwa 170.000 Euro.

 

Neubausiedlung mit großen Solarthermiekollektoren auf dem Dach. Frankfurt am Main
Sehr günstig wohnen in Frankfurt: Solare Wärme wird hier in großen Wassertanks im Haus für den Winter gespeichertnull DW/G. Rueter

Dieser Gebäudekomplex (Foto) in Frankfurt hat mehrere Tanks für insgesamt 50 Kubikmeter Wasser. Durch die Solarthermieanlage auf dem Dach werden die Speicher im Sommer auf bis zu 80 Grad aufgeheizt. Im Winter werden damit 56 Wohnungen mit Wärme versorgt.Als zusätzliche Heizung gibt es noch eine Wärmepumpe.

Vor- und Nachteile: Wärmespeicher im Haus sind praktisch, gut isoliert und sparen zusätzliche Leitungen. Die Gebäude können so weitgehend nur mit der Sonnenkraft beheizt werden. Das Heizen wird so sehr preiswert. Doch die Mehrkosten schrecken viele Bauherren ab.

Energieeffizienz: Sehr hoch: Der Wärmespeicher ist mitten im Haus und es geht kaum Wärme verloren.

Wo einsetzbar:  In neuen Gebäuden weltweit.

Erdwärmespeicher am Gebäude: Gut für Wärmepumpen

Statt in Wasser kann auch Erdreich die Wärme speichern. Das geht auch bei bestehenden Gebäuden. Dazu werden Wasserrohre in der Erde verlegtund das Erdreich an den Seiten und nach oben gedämmt.

Im Sommer wird die Erde durch heißes Wasser aus einer Solarthermieanlage aufgewärmt. Im Winter nutzt dann eine Wärmepumpe diese gespeicherte Erdwärme zum Heizen.

Mehrfamilienhaus in Berlin aus den 1920er Jahren. Unten in der Erde befinden sich Rohre. Die sind grafisch eingezeichnet.
Die Erdwärme-Speicherung vor einem alten Berliner Mietshaus (schematische Darstellung) funktioniert auch im kalten Winter. Diese Speicher können nachträglich gebaut werdennull BWP/eTank

Dieser Berliner Wohnkomplex aus den 1920er Jahren (Foto) heizt mit einem solchen Erdwärmespeicher. 

Vor- und Nachteile: Der Einbau ist nachträglich möglich. Neben dem Haus wird allerdings etwas Platz gebraucht, um Rohre in die Erde zu verlegen: Etwa 40 Quadratmeter Fläche reicht für ein Einfamilienhaus, entsprechend mehr Platz braucht man für größere Gebäude.

Energieeffizienz: Hoch. Wärmepumpen arbeiten auch an sehr kalten Wintertagen sehr effizient mit dieser Erdwärme. 

Wo einsetzbar? Überall wo es genügend Platz neben dem Gebäude gibt.

Saisonaler Speicher mit Wasserstoff: Eine Option für Stadtwerke

Auch mit Hilfe von Wasserstoff kann Wärme gespeichert werden. Die Technik gibt es bereits in einigen Gebäuden. Der Wasserstoff kann zum Beispiel durch überschüssigem Solarstrom erzeugt werden. In Mitteleuropa etwa produzieren Photovoltaikanlange im Sommer bis zu sieben Mal mehr Strom als im dunklen Winter. 

Mit überschüssigen Solarstrom wird im Sommer in einer Elektrolyse Wasserstoff erzeugt. Der wird in Druckflaschen gespeichert. Im Winter wird der Wasserstoff dann per Brennstoffzelle wieder zu Strom und Wärme, um Gebäude zu versorgen.

In Zukunft könnte Wasserstoff knapp neun Prozent im deutschen Fernwärmenetz ausmachen, das zeigen langfristige Szenarien, die im Auftrag der Bundesregierung berechnet wurden. Gespeichert werden soll der Wasserstoff dann vor allem in großen unterirdischen Salzkavernen. Derzeit wird dort noch Erdgas für den Winter gespeichert.

Gewerbehaus für Bad und Heiztechnik. Auf dem Dach und an der Fassade sind Solarkollektoren. Das energieautarke Haus bei Bonn nutzt Wasserstoff als saisonaler Energiespeicher.
Wasserstoff als Speicher: Mit Solarstom vom Firmendach wird im Wasserstoff erzeugt. Im Winter wird der für Strom und Heizung genutztnull Josef Küpper Söhne GmbH

Vor- und Nachteile:  Für Energiesysteme und Stadtwerke kann Wasserstoff in Kombination mit anderen Speichern eine gute Ergänzung sein, um den Strom- und Wärmebedarf das ganze Jahr über klimaneutral zu decken. Doch für einzelne Häuser sind solche Anlagen sehr teuer, etwa 550.000 Euro kostete der Einbau in diesem  Gebäude bei Bonn (Foto). 

Energieeffizienz: Schlecht bis gut. Bei der Umwandlung von Strom zu Wasserstoff und der Rückgewinnung zu Strom im Winter entsteht rund 40 Prozent Abwärme. Diese Abwärme sollte zeitnah verwendet werden, um Energieverluste zu verringern. Andere saisonale Speicher-Systeme sind meist effizienter.

Wo einsetzbar? Überall.

Fazit

Saisonale Energiespeicher werden für die klimaneutrale Wärme- und Stromversorgung zunehmend wichtig. Sie nutzen effizient überschüssige Energie und sparen so Wärme- und Stromkosten.

Wasser- und Erdwärmespeicher funktionieren bereits gut. Auch die saisonale Speicherung mit Wasserstoff läuft an. Bisher wird grüner Wasserstoff allerdings nur in kleineren Mengen erzeugt. Für die künftige Wasserstoffnutzung soll im großem Umfang weltweit eine neue Infrastruktur aufgebaut werden.

Redaktion: Anke Rasper

Quellen:

Homepage zu Saisonalspeichern  https://www.saisonalspeicher.de/

Erdbeckenspeicher: Wie funktionieren sie und wo werden sie eingesetzt? https://www.aalborgcsp.com/business-areas/thermal-energy-storage-tes/pit-thermal-energy-storage-ptes

Wie erreichen wir die Energiewende konkret? https://jenni.ch/fachbuecher.html

 

Als Tourist nach Deutschland - diese Visa-Regeln gelten

Deutschland ist das ganze Jahr über ein attraktives Reiseziel. Mit seinen vielen mittelalterlichen Burgen, spannenden Städten, einer reichen Geschichte und dem größten Bierfest der Welt, dem Oktoberfest, bietet Deutschland für jeden etwas. Außerdem ist das Land dieses Jahr Gastgeber der UEFA-Fußball-Europameisterschaft 2024. Es gibt also viele gute Gründe, nach Deutschland zu reisen.

Letztes Jahr reisten besonders viele niederländische Touristen nach Deutschland. Für sie, wie alle anderen EU-Bürger auch, gelten keine besonderen Einreisevoraussetzungen.

Einreise nach Deutschland als EU-Bürger

Denn alle EU-Bürger können sich innerhalb der EU frei bewegen. Sie können in jeden Mitgliedstaat ihrer Wahl einreisen und sich dort bis zu drei Monate aufhalten, sofern sie einen gültigen Personalausweis oder Reisepass haben.

Einreise als Schweizer Staatsbürger

Zwar ist die Schweiz kein EU-Mitglied, doch ihre Staatsbürger können dennoch ohne Weiteres im europäischen Staatenverbund reisen. Ein Visa ist für Deutschland also nicht erforderlich.

Im Vorjahr zählten Schweizer nach den Niederländern zur größten Gruppe der Deutschland-Urlauber. 

Das Berliner Olympiastadion aus der Vogelperspektive
Zur Fußball-Europameisterschaft werden viele internationale Besucher nach Deutschland reisen. Hier das Berliner Olympiastadionnull Paul Zinken/dpa/picture alliance

Einreise als US-Bürger

Letztes Jahr kamen außerdem viele US-Bürger nach Deutschland, um dort ihren Urlaub zu verbringen. Für sie ist die Einreise nach Deutschland ebenfalls sehr einfach. Mit einem gültigen US-Reisepass können sie in jeden Staat des europäischen Schengen-Raums (keine Kontrollen an den Binnengrenzen) einreisen und sich dort bis zu 90 Tage innerhalb eines Zeitraums von 180 Tagen aufhalten - das gilt auch für Deutschland. Wichtig aber ist, dass der Reisepass noch mindestens drei Monate nach dem geplanten Ausreisedatum aus Deutschland gültig ist.

Visa in einem Reisepass
Nicht jeder, der nach Deutschland reist, braucht ein Visumnull Thomas Trutschel/photothek/picture alliance

Einreise als britischer Staatsangehöriger

Mit dem Ausscheiden Großbritanniens aus der EU im Jahr 2020 änderte sich vieles im Verhältnis zum europäischen Staatenverbund. Dennoch dürfen britische Staatsbürger weiterhin problemlos den Schengen-Raum bereisen und sich dort maximal 90 Tage innerhalb eines Zeitraums von 180 Tagen aufhalten. 

Einreise als chinesischer Staatsbürger

Weiterhin erfreut sich Deutschland auch großer Beliebtheit bei chinesischen Touristen.

Diese müssen allerdings ein Schengen-Visum für die Einreise beantragen - Deutsche hingegen sind seit 2023 vorübergehend für kurze China-Reisen von der Visumspflicht befreit.

Schloss Neuschwanstein bei Füssen im Allgäu
Für viele ausländische Deutschland-Besucher ist Schloss Neuschwanstein ein Mussnull Wilfried Wirth/imageBROKER/picture alliance

Für ein Schengen-Visum müssen chinesische Staatsbürger unter anderem folgende Dokumente vorlegen: Zwei biometrische Passfotos, einen aktuellen Reisepass, Nachweis über Reiseversicherung und ausreichende finanzielle Mittel, Aufschlüsselung der Reiseroute sowie Unterbringung.

Ein Schengen-Visum kostet 80 Euro und wird meist nach einer Bearbeitungszeit von 15 bis 30 Tagen ausgestellt.

Alle weiten Anmeldeformalitäten lassen sich hier nachlesen.

Welche Staatsbürger benötigen noch ein Visum für Deutschland?

Indische und indonesische Bürger beispielweise müssen auch ein Schengen-Visum beantragen, wenn sie Urlaub in Deutschland machen wollen.

Eine komplette Liste aller Staaten mit Visumspflicht ist hier abrufbar.

DFB-Team ohne Mats Hummels und Leon Goretzka zur Fußball-EM

"Super-Truppe! Könnte von mir sein, ist aber unser Kader", sagte Bundestrainer Julian Nagelsmann am Ende das Videos, in dem bei der Pressekonferenz des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) der vorläufige Kader für die Fußball-Europameisterschaft in Deutschland vorgestellt wurde. Damit wollte er betonen, dass er und sein Trainerteam gemeinsam die Spieler ausgesucht hatten, die am besten für die Mannschaft und ein erfolgreiches Abschneiden passen.

27 Spieler wurden berufen. Am 7. Juni ist der Tag, an dem Nagelsmann seine endgültige Auswahl, die maximal 26 Spieler umfassen darf, benennen muss. Einen Spieler muss der Bundestrainer vor dem Turnier also noch aussortieren.

Angeführt wird das Aufgebot von Kapitän Ilkay Gündogan. Mit Manuel Neuer, Toni Kroos und Thomas Müller gehören ihm noch drei Weltmeister von 2014 an. Ein weiterer, Mats Hummels von Borussia Dortmund, fand genau wie Leon Goretzka vom FC Bayern keine Berücksichtigung.

"Anfang der Woche hatte ich mit beiden längere Gespräche", sagte Nagelsmann. "Natürlich sind beide sehr enttäuscht. Am liebsten würde man alle mitnehmen, aber ich muss meine Entscheidungen treffen im Sinne der Mannschaft. Ich habe versucht, es zu begründen. Es waren keine 'bösen Gespräche', aber es gibt angenehmere." Auch der verletzte Münchener Serge Gnabry wird nicht mit zum Turnier genommen. 

Ungewöhnliche Nominierungs-Kampagne vorab

Die Bekanntgabe durch Nagelsmann auf der Pressekonferenz am Donnerstag war lediglich der Abschluss einer ungewöhnlichen Nominierungskampagne. Der DFB hatte in den Tagen zuvor die Namen zahlreicher EM-Fahrer vorab durch Prominente, Fans, Influencer und Medien verkünden lassen. Das erzeugte Aufmerksamkeit und sollte die Vorfreude auf das erhoffte Sommermärchen 2.0 steigern. Der Großteil des Kaders war bis zum Mittwochabend schon öffentlich. Allerdings gab es auch einige Falschmeldungen, bei denen man zunächst nicht wusste, ob sie tatsächlich vom DFB autorisiert und initiiert waren, bis das offizielle Dementi vom Verband kam.

Der DFB-Tross wird sich in der übernächsten Woche zum Trainingslager versammeln. Es findet vom 26. bis 31. Mai in der Nähe der Stadt Weimar im Bundesland Thüringen statt. Allerdings stehen von den 27 nominierten Spielern gleich mehrere zum Start nicht zur Verfügung. Die Dortmunder Nico Schlotterbeck und Niclas Füllkrug spielen am 1. Juni in London noch im Finale der Champions League. Dort treffen sie auf ihre Nationalmannschaftskollegen Toni Kroos und Antonio Rüdiger von Real Madrid. Auch Florian Wirtz, Jonathan Tah und Robert Andrich von Bayer 04 Leverkusen werden nach dem DFB-Pokalfinale gegen den Zweitligisten 1. FC Kaiserslautern am 25. Mai und der Saison-Abschlussfeier des neuen deutschen Meisters am Tag darauf leicht verspätet ins Trainingslager reisen.

"Es ist immer besser, dass Spieler mit Erfolgen zur Nationalmannschaft kommen", sagte Nagelsmann. "Natürlich wäre es einfacher, wenn alle von Anfang an da wären, aber ich traue uns zu, alle zu integrieren."

Die deutsche Mannschaft bestreitet vor dem EM-Auftakt noch zwei Testspiele. Am 3. Juni geht es in Nürnberg gegen die Ukraine. Vier Tage später steht in Mönchengladbach die EM-Generalprobe gegen Griechenland auf dem Programm. Das Turnier startet für Nagelsmann und sein Team dann mit dem Eröffnungsspiel am 14. Juni in München gegen Schottland.

Der deutsche EM-Kader in der Übersicht:

Tor: Manuel Neuer (FC Bayern), Marc-André ter Stegen (FC Barcelona), Alexander Nübel (VfB Stuttgart), Oliver Baumann (TSG Hoffenheim)

Abwehr: Jonathan Tah (Bayer Leverkusen), Antonio Rüdiger (Real Madrid), Robin Koch (Eintracht Frankfurt), Nico Schlotterbeck (Borussia Dortmund), Joshua Kimmich (FC Bayern), Benjamin Henrichs, David Raum (RB Leipzig), Waldemar Anton (VfB Stuttgart)

Mittelfeld und Angriff: Toni Kroos (Real Madrid), Ilkay Gündogan (FC Barcelona), Florian Wirtz, Robert Andrich (beide Bayer Leverkusen), Kai Havertz (FC Arsenal), Pascal Groß (Brighton & Hove Albion), Niclas Füllkrug (Borussia Dortmund), Deniz Undav, Chris Führich, Maximilian Mittelstädt (alle VfB Stuttgart), Thomas Müller, Jamal Musiala, Leroy Sané, Aleksandar Pavlovic (alle FC Bayern), Maximilian Beier (TSG Hoffenheim)

asz/ck (SID, dpa)

EURO 2024: "Wir brauchen ein neues Sommermärchen - für uns selbst"

"40 Jahre Selbstzweifel sind von einem ganzen Land abgefallen", befand der Soziologe Thomas Druyen 2006 nach dem "Sommermärchen" der Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland: Vier Wochen lang hatten Hunderttausende Fans das Land gefühlt in eine einzige Fanmeile verwandelt und das DFB-Team, den Fußball und auch ein Stück weit sich selbst gefeiert. "Es war nicht nur deutscher Patriotismus, sondern es war schon eine Form des Weltbürgertums, weil man sich gemeinsam freute. Man freute sich nicht gegen jemanden und für etwas, sondern die Freude hat einen Selbstzweck bekommen", sagte Druyen damals in einem Interview, das der bekannte deutsche Filmregisseur Sönke Wortmann führte.

18 Jahre später hat DW-Sport mit dem Wissenschaftler noch einmal über das Sommermärchen gesprochen - mit Blick auf die bevorstehende Europameisterschaft in Deutschland (14. Juni bis 14. Juli).

DW: Wie nachhaltig war aus Ihrer Sicht das Sommermärchen 2006?

Thomas Druyen: Der Fußball ist eine der wenigen Wettbewerbe, in denen selbst Niederlagen Emotionalität nicht oder nur ganz selten in Hass umschlagen lässt. Dieser Sport ist zudem begnadet, weil er Regeln hat, die alle Welt akzeptiert. Die Kraft des Fußballs hat 2006 dazu geführt, dass ein skeptisches, nicht risikoaffines, sondern sicherheitsfanatisches Volk wirklich die Arme öffnete und ein großes Fest feierte. Es war für mich, wie für Millionen andere Menschen, eine Sternstunde in meinem Leben. Die Erinnerung daran ist nachhaltig, im Sinne einer Sehnsucht. Nachhaltig ist auch die internationale Akzeptanz, was unsere Menschlichkeit angeht. Ich bin viel in der Welt unterwegs, und mich hat noch nie jemand bedauert, dass ich aus Deutschland komme. Erschreckend ist allerdings zu beobachten, wie weit wir aktuell von diesem verbindenden Gemeinschaftserlebnis und -gefühl von 2006 entfernt sind. Das ist eine durchaus desaströse Entwicklung. Vielleicht war es wirklich ein Sommermärchen und keine Sommerwirklichkeit.

Soziologe Thomas Druyen im Porträt
Prof. Thomas Druyen: "Vielleicht Sommermärchen und keine Sommerwirklichkeit"null Stefan Zeitz/IMAGO

Nach 2006 haben viele gedacht, von nun an sei Deutschland unwiderruflich das weltoffene Land, als das es sich vier Wochen lang präsentiert hatte. Ist die damalige Heim-WM verklärt worden?

Ich glaube, dass diese Naivität ein Kennzeichen unserer Kultur ist. Wir erleben einen Sieg unserer Lieblingsmannschaft und meinen, dass war die Wende. Wir erleben etwas Schönes im Privatleben oder Beruf und meinen, es bleibt so. Diese gewisse Gutgläubigkeit war damals ein Teil der Euphorie. Wir haben gedacht, das bleibt so. Aber wir haben nicht erkannt, dass man dafür etwas leisten muss. So eine Atmosphäre kann man nicht einfach aus dem Hut zaubern. Vor allen Dingen nicht, wenn es einem nicht gut geht. Wir müssen nach den Kriterien fragen, die dieses wünschenswerte Ereignis möglich gemacht haben. Denn so eine positive Stimmung verbessert das Leben - und entlastet auch die Psychotherapeuten.

Wir haben jetzt einige ähnliche Voraussetzungen wie 2006: ein Team, dem man bis vor Kurzem nichts zutraute, ein relativ neuer Trainer, der auch vor drastischen Schritten nicht zurückschreckt. Für wie wahrscheinlich halten Sie ein neues Sommermärchen bei der anstehenden Heim-EM?

Nichts würde ich uns mehr wünschen. Nichts würde ich aber im Moment mehr ausschließen, weil die gesellschaftlichen Bedingungen nicht dazu passen und auch nicht unsere Bereitschaft, über uns selbst hinauszuwachsen. Unsere Gesellschaft ist tief frustriert. Aus so einer Stimmung heraus loszulassen, ist - wenn überhaupt - nur möglich, wenn Deutschland ins Endspiel kommt. Eine Euphorie kann nicht aufkommen, wenn die eigene Mannschaft ausscheidet. Die sportliche Krise der Nationalelf in den letzten Jahren war ein Spiegelbild unserer seelischen Verfassung. Der Fußball durchlief die gleichen Probleme wie unsere Gesellschaft. Die lange Erfolglosigkeit hatte auch psychische Gründe. Selbst tolle Spieler kamen in der Mannschaft nicht zurecht.

Bastian Schweinsteiger, Philipp Lahm und Torsten Frings (l.-r.) bejubeln Lahms Tor zum 1:0 im Vorrundenspiel gegen Costa Rica.
Bastian Schweinsteiger, Philipp Lahm, Torsten Frings (l.-r.) und Co. begeisterten 2006 die Fansnull Florian Eisele/Pressefoto ULMER/picture-alliance

Ukrainekrieg, Nahostkonflikt, andere ungelöste Probleme - viele Menschen in Deutschland sind verunsichert und in einer eher depressiven Grundhaltung. Wie kann man es schaffen, die Freude wieder wie 2006 zum Selbstzweck zu erheben?

Unsere Position in der Welt, der Zustand unseres Landes, etwa der Medizin, unsere technischen Möglichkeiten stehen international immer noch sehr weit oben. Ja, wir haben etwa zehn Prozent der Bevölkerung, deren Situation wirklich anders werden sollte oder muss. Aber in den meisten anderen Gesellschaften sind es dreißig oder vierzig Prozent. Wir haben faktisch eine deutlich bessere Position, als sie empfunden wird. Es hat also mit Wahrnehmung zu tun. Wenn wir unsere Sorgen 90 Minuten lang ausblenden können und uns einfach nur gemeinsam am Fußballspiel erfreuen, in der Familie oder beim Public Viewing, bedeutet das ein Stück Lebensqualität. Gerade weil die Voraussetzungen jetzt so schlecht sind, sollte es für uns ein Ansporn sein zu sagen: "Mensch, jetzt lass‘ doch mal los! Wir feiern gemeinsam." Es ist eine historische Gelegenheit, die emotionale Sackgasse zu überwinden, in der wir uns gerade befinden. Nehmen wir das Beispiel Borussia Dortmund. Die Bundesliga-Saison verlief eher enttäuschend. Aber jetzt steht der BVB im Champions-League-Endspiel. Was für eine Euphorie, was für eine Freude! Da werden auch viele Leute Seite an Seite stehen, die sich vorher nicht mochten.

Im Gegensatz zu 2006 gibt es heute im Bundestag die AfD, eine rechtspopulistische, in Teilen rechtsextremistische Partei. Sehen Sie die Gefahr, dass diese Szene ein neues Sommermärchen für sich instrumentalisieren könnte?

Wenn es ein Sommermärchen geben sollte, hätte es eine einigende Kraft. Keine Gruppe könnte es für sich in Anspruch nehmen, weder rechts noch links. Das Gemeinschaftsgefühl würde die Menschen wieder einander näherbringen und nicht auseinandertreiben. Die Nationalmannschaft ist eine diverse Gruppe, in der viele kulturelle Elemente vertreten sind. Wenn man sie feiert, widerspricht man rassistischen Argumentationen. Deshalb sehe ich nicht die Gefahr, dass ein großer Erfolg von den Rechten instrumentalisiert werden kann. Anders sieht es aus, wenn es in die Hose geht und das DFB-Team früh ausscheidet. Dann würde dies sicherlich als Beleg für eine Gesellschaft angeführt, die nicht mehr funktioniert.

Torwarttrainer Andreas Köpke, Teamchef Jürgen Klinsmann, Co-Trainer Joachim Löw und Teammanager Oliver Bierhoff (l.-r.) bei der WM-Feier auf der Fan-Meile am Brandenburger Tor.
Euphorie um DFB-Team 2006: Torwarttrainer Andreas Köpke, Teamchef Jürgen Klinsmann, Co-Trainer Joachim Löw und Teammanager Oliver Bierhoff (l.-r.)null picture-alliance/dpa

Studien haben gezeigt, dass das Sommermärchen 2006 zu einem deutlichen Imagegewinn Deutschlands geführt hat. Hat das Land einen solchen Schub wieder nötig?

Der Imageschub damals war gewaltig, geradezu exponentiell. Wir haben ihn nach den Jahrzehnten zuvor auch gebraucht und verdient. Dieses Image ist danach nicht nennenswert eingebrochen. Es gibt zwar durchaus einige Menschen auf der Welt, die uns wieder als hartherzig bezeichnen würden. Aber im Gros ist unser Image auf einer viel besseren Ebene als vorher. Das liegt auch daran, dass Deutschland überall auf der Welt helfend unterwegs ist und Hoffnungslosen eine Perspektive bietet. Darauf sollten wir stolz sein. Deshalb würde ich sagen: Jetzt brauchen wir ein Sommermärchen für uns selbst und nicht, um unsere Reputation in der Welt aufzubessern.

Brauchen wir auch gutes Wetter? 2006 hatten wir während der WM in Deutschland vier Wochen lang Sonnenschein.

Natürlich entwickelt sich Euphorie nur selten unter dem Regenschirm oder wenn man sogar durchnässt ist. Wir brauchen schönes Wetter, auf keinen Fall Regen. Man sieht, von wie vielen Faktoren ein Sommermärchen abhängt. Noch besser wäre es allerdings , wenn wir alle in der Lage wären, uns emotional so einzustellen, dass wir auch gemeinsam im Regen feiern können.

 

Thomas Druyen, geboren in Viersen nahe Düsseldorf, ist ein deutscher Soziologe. Der Professor leitet seit 2015 das von ihm gegründete Institut für Zukunftspsychologie und Zukunftsmanagement an der Sigmund-Freud-Privatuniversität in Wien und ist Präsident der opta data Zukunfts-Stiftung in Essen. Der 66-Jährige bekennt sich zu seiner Fußballleidenschaft.

Das Interview führte Stefan Nestler.

FIFA führt Klub-WM der Frauen ein

Der Fußball-Weltverband FIFA richtet in gut anderthalb Jahren erstmals eine Klub-Weltmeisterschaft für Frauen-Teams aus. Die Premiere mit 16 Teams soll im Januar und Februar 2026 und danach alle vier Jahre stattfinden. Das beschloss das FIFA-Council, das höchste Gremium des Verbands, bei seiner Sitzung in der thailändischen Hauptstadt Bangkok. Als deutscher Vertreter war Bernd Neuendorf dabei, der Präsident des Deutschen Fußball-Bunds (DFB).

Zudem soll es in Jahren, in denen keine Klub-WM ausgerichtet wird, einen weiteren internationalen Wettbewerb für Vereine geben. Weitere Details sollen noch folgen. In der kommenden Saison 2024/25 startet auch die CONCACAF, der Fußballverband Nord- und Mittelamerikas sowie der Karibik, als letzter der sechs Kontinentalverbände einen Vereinswettbewerb nach dem Vorbild der europäischen Champions League

Das Council verabschiedete den internationalen Spielkalender für Fußballerinnen von 2026 bis 2029. Dabei wurde die Zahl der Abstellungsfenster für Länderspiele von sechs auf fünf verringert. Dies solle den Spielerinnen mehr Gelegenheiten für Pausen geben und den Reisestress verringern.

Entscheidung über Frauen-WM 2027 am Freitag

Die Entscheidungen seien "ein wichtiger Meilenstein, um das Frauen-Spiel auf das nächste Level zu heben", sagte FIFA-Präsident Gianni Infantino. Bei den Männern findet die Klub-WM vom kommenden Jahr an mit 32 statt wie bisher sieben Mannschaften statt.

Am Freitag (17. Mai) entscheidet der FIFA-Kongress in Bangkok über die Vergabe der Frauen-Weltmeisterschaft 2027. Die beiden verbliebenen Kandidaten sind Brasilien sowie das europäische Trio aus Deutschland, Belgien und den Niederlanden.

sn/asz (dpa, sid)

Kommt es tatsächlich zum Gruppen-Coming-out im Profifußball?

Was ist Sports Free?

Es handelt sich dabei um eine Initiative, die sich für die Sichtbarkeit und die Akzeptanz von queeren Athletinnen und Athleten im Profisport einsetzt. Urheber der Initiative ist Diversero, eine weltweite Community für Vielfalt und gegen Mobbing. Kopf und Mit-Initiator der "Sports Free"-Kampagne ist Marcus Urban.

Wer ist Marcus Urban?

Urban war 2007 der erste ehemalige Fußballspieler in Deutschland, der sich als homosexuell outete. Damals hatte er seine Laufbahn als aktiver Leistungssportler allerdings schon lange beendet. Urban, geboren 1971 in der damaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR), war einer der talentiertesten Nachwuchsfußballer seines Landes. Er spielte als Mittelfeldspieler mit dem FC Rot-Weiß Erfurt aus dem Bundesland Thüringen in der höchsten Liga für DDR-Jugendmannschaften und für mehrere Junioren-Nationalmannschaften der DDR.

Ex-Fußballer Marcus Urban im Porträt
"Es lebt sich leichter, wenn man frei lebt", sagt Ex-Fußballer Marcus Urban, der sich 2007 selbst geoutet hatnull Reto Klar/Funke Foto Services/IMAGO

Fast wäre er Anfang der 1990er Jahre Profi geworden, verzichtete aber auf eine Laufbahn als Berufsfußballer, weil ihm der Druck, seine Homosexualität verstecken zu müssen, zu groß war.

Was ist beabsichtigt?

Für den 17. Mai 2024, den Internationalen Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transfeindlichkeit (IDAHOBIT), stellt die Initiative eine Plattform zur Verfügung, auf der Profisportlerinnen und -sportler sich öffentlich zu ihrer Homosexualität oder ihrem Queersein bekennen können.

"Wir organisieren ein Gruppen-Coming-out und fordern die Gesellschaft auf, über die Werte der Inklusion nachzudenken", heißt es auf der Internetseite. Der Termin wurde bereits im November 2023 angekündigt. "Wir bauen eine Art digitale Bilderwand", erklärte Urban kürzlich in einem Interview mit dem Magazin "stern". "Dort können Spieler, Trainer, Schiedsrichter oder andere Personen aus dem Umfeld des Profifußballs ihre Geschichte teilen."

Anschließend soll der 17. jedes weiteren Monats weltweit als "Sports Free Day" gefeiert werden, um das Bewusstsein für die Herausforderungen zu schärfen, denen sich queere Sportlerinnen und Sportler stellen müssen. Besonderes Augenmerk liegt am 17. Mai jedoch auf schwulen Profifußballern.

"Es ist eine kleine Revolution", sagte Urban im April im Gespräch mit der DW und hoffte auf eine "Kettenreaktion". "Für viele Kinder, Jugendliche und Erwachsene weltweit wird das sehr wichtig. Für sie gibt es dann neue Vorbilder."

Welche Ängste herrschen bei schwulen Fußballern?

Homophobie ist im Fußball der Männer immer noch weit verbreitet. Es gibt zahlreiche schwulenfeindliche Fangesänge, zudem fallen auf dem Platz auch unter den Spielern oft abwertende Kommentare, wie: "Was war das für ein schwuler Pass?" oder "Du spielst wie ein Schwuler!"

Im Dortmunder Stadion hängt ein Transparent mit der Aufschrift "Gemeinsam gegen Homophobie".
Homophobie ist im Männerfußball ein Dauerthema - auch wenn viele Klubs und Fangruppen sich seit Jahren dagegen positionierennull RHR-FOTO/TK/IMAGO

Marcus Urban und seinen Mitstreitern zufolge haben viele homosexuelle Spieler daher eher Angst vor den Reaktionen auf dem Platz und in der Kabine als durch die Fans von den Rängen.

Zudem seien viele Spieler der Überzeugung, "dass sie nach einem Coming-out in Ungnade fallen würden in der Branche", erklärte Urban. Sie versteckten sich daher, führten ein Doppelleben, teilweise mit Scheinfreundinnen für die Öffentlichkeit und träfen sich nur im Geheimen mit anderen Männern.

Welche Fußballprofis haben sich bereits geoutet?

Neben Urban war Ex-Nationalspieler Thomas Hitzlsperger in Deutschland der prominenteste. Allerdings offenbarte sich Hitzlsperger im Jahr 2014 ebenfalls erst nach dem Ende seiner aktiven Karriere. Einen aktiven Profifußballer, der sich outete, gab es in Deutschland bisher noch nicht.

Ohnehin haben sich weltweit nur sehr wenige aktive Profis öffentlich zu ihrer Homosexualität bekannt. Der erste war 1990 der Engländer Justin Fashanu - ein tragischer Fall. Fashanu schlug Hass und Ablehnung entgegen. Er nahm sich 1998 das Leben, nachdem ein 17-Jähriger ihn der Vergewaltigung beschuldigt hatte.

Spielszene Jakub Jankto für Tschechien gegen Schweden
Tschechiens Nationalspieler Jakub Jantko (l.) ist einer der wenigen aktiven Profis, die sich geoutet habennull Jonas Ekstromer/dpa/AP/picture alliance

Nach Fashanus Outing dauerte es lange, bis US-Fußballer Collin Martin 2018 bekanntgab, schwul zu sein. Ihm folgten 2021 der Australier Josh Cavallo (Oktober 2021), Jake Daniels aus England (Mai 2022) und der Tscheche Jakub Jankto (Februar 2023). Zudem gibt es in anderen Ländern einige aktive Spieler im halbprofessionellen, oberen Amateurbereich, die sich geoutet haben.

Was sagen Kritiker zum geplanten Gruppen-Outing?

Sie befürchten, dass die Initiative Urbans keine nachhaltige Wirkung haben werde, sondern nur ein kurzes Schlaglicht auf die Problematik werfe, ohne tatsächlich etwas an der Situation zu ändern, dass Homophobie weit verbreitet ist. "Es ist eine Ablenkung, weil es Menschen das Gefühl vermittelt, dass das Problem angegangen wird und sich etwas verändert - obwohl das in der Realität ja nicht so ist", bemängelte der australische Verhaltensforscher Erik Denison im Deutschlandfunk (DLF). Er forscht seit Jahren zu Homophobie im Sport.

Kritik gibt es auch vom Deutschen Fußballbund (DFB), der nicht in die Initiative eingebunden ist. "Das fehlt mir leider bei der Kampagne, dass da ein breiteres Bündnis aufgebaut wurde, was das Ganze mit unterstützt", sagte Christian Rudolph ebenfalls im DLF. Er leitet beim DFB die Anlaufstelle für geschlechtliche und sexuelle Vielfalt.

Von den 36 Profivereinen aus der 1. und 2. Liga haben sich mit dem VfB Stuttgart, Hannover 96, dem VfL Osnabrück, dem SC Freiburg, Borussia Dortmund, der TSG Hoffenheim, Union Berlin und dem FC St. Pauli bislang erst acht Klubs zur Unterstützung der "Sports Free"-Initiative bekannt.

Was ist für den 17. Mai zu erwarten?

Das ist schwer vorauszusagen. Jedoch steigt die Skepsis, ob es tatsächlich zum erhofften Gruppen-Outing prominenter Fußballprofis kommt, je näher der Termin rückt. Auch Initiator Marcus Urban dämpfte zuletzt die Erwartungen und ruderte ein wenig zurück.

"Aktive Profifußballer halten sich noch zurück", sagte er im "stern"-Interview und gab zudem zu, selbst gar keinen direkten Kontakt zu schwulen Profis zu haben, auch nicht per SMS oder Kurznachrichten. "Es gibt eine Vernetzung, aber sie findet im Verborgenen statt." Er müsse "mühsam" über Dritte kommunizieren. "Die Spieler sind extrem vorsichtig. Keiner traut sich aus der Deckung." Es herrsche "höchste Vorsicht", so Urban.

Daher muss sich erst zeigen, ob die Kampagne erstmal nur große mediale Aufmerksamkeit erzeugt hat, oder ob sie tatsächlich einen nachhaltigen Effekt haben wird und eine Verbesserung der Situation homosexueller Fußballprofis bewirkt.

Wer richtet die Fußball-Weltmeisterschaft der Frauen 2027 aus?

In wenigen Tage ist es so weit. Beim FIFA-Kongress am 17. Mai in Thailands Hauptstadt Bangkok entscheiden die 211 FIFA-Mitglieder, welches Land die nächste Fußball-Weltmeisterschaft der Frauen austragen wird. Es ist das erste Mal, dass eine Frauen-WM von einem FIFA-Kongress vergeben wird. Über die bisherigen neun WM-Ausrichter seit der ersten Auflage im Jahr 1991 hatten erst das FIFA-Exekutivkomitee und dann bei der WM 2023 das FIFA-Council entschieden. Bei der letzten WM in Australien und Neuseeland waren erstmals 32 Teams in einer WM-Endrunde mit dabei. Und das soll auch bei der kommenden Weltmeisterschaft 2027 so bleiben. Bei dem Turnier im vergangenen Jahr hatte die spanische Nationalmannschaft den Titel geholt.

Welche Bewerberländer gibt es?

Ursprünglich hatten sich drei Bewerber um die Vergabe der Frauen-Weltmeisterschaft 2027 bemüht. Doch Ende April zogen sich die USA und Mexiko, die das Turnier gemeinsam ausrichten wollten, zurück. Damit sind nur noch zwei Kandidaten im Rennen. Deutschland bewirbt sich mit den Niederlanden und Belgien um den Zuschlag. Einzig verbliebener Konkurrent für die europäische Bewerbung ist Brasilien.

DFB-Sportdirektorin Nia Künzer trägt ein rosafarbendes T-Shirt und schaut nach rechts.
Nia Künzer ist seit Januar 2024 die erste DFB-Sportdirektorin für den Frauenfußballnull Oliver Kaelke/DeFodi Images/picture alliance

Spielorte in Deutschland sollen Gelsenkirchen, Dortmund, Düsseldorf und Köln sein. Letztmals hatte Deutschland 2011 die Fußball-WM der Frauen ausgetragen. "Ich glaube, dass wir eine WM bieten können mit hervorragender Infrastruktur und Organisation, mit kurzen Wegen zu den Spielorten und der Aussicht auf einen sehr guten monetären Gewinn, der wieder in die weltweite Entwicklung des Frauenfußballs fließen wird", sagte DFB-Sportdirektorin Nia Künzer.

Wie groß sind die Chancen der europäischen Bewerbung?

Doch die gemeinsame Bewerbung von Deutschland, den Niederlanden und Belgien hat einen Rückschlag erlitten. Im Evaluationsbericht der FIFA erhielt das Trio aus Europa 3,7 von 5 möglichen Punkten, Mitbewerber Brasilien kam auf 4,0 Punkte. Bei der Risikoanalyse schnitt das Konzept der drei europäischen Verbände in fast allen Punkten besser oder gleichwertig ab. Beim Unterpunkt Stadien, vertragliche Rahmenbedingungen und unterstützende Dokumente von staatlicher Seite hatte Brasilien jedoch die Oberhand.

Vor der Skyline der thailändischen Hauptstadt Bangkok liegen im Vordergrund verschiedene Boote im Wasser.
Beim FIFA-Kongress in Bangkok fällt am 17. Mai die Entscheidung über die Vergabe der Frauen-WM 2027null Zoonar.com/sanga/Imago Images

Es gebe eine "Reihe rechtlicher Risiken", die Regierungen würden geforderte Garantien "nicht gewährleisten", so der Bericht. Für die FIFA bestehe die Gefahr, "mit erheblichen operativen und finanziellen Problemen konfrontiert zu werden".

Obwohl der Bericht nur eine Empfehlung für die abstimmenden FIFA-Mitglieder darstellt und Männer-Weltmeisterschaften in der Vergangenheit oftmals entgegen der besten Bewertung vergeben wurden, geht Brasilien nun als Favorit in die Abstimmung. Der erste FIFA-Evaluationsbericht für eine Frauen-WM überhaupt wurde für das Turnier 2023 erstellt. Damals folgte das FIFA-Council der Empfehlung und vergab das Turnier an Australien und Neuseeland.

Ist eine WM in Europa überhaupt noch möglich?

Am Rande des DFB-Pokalfinals der Frauen machte Bundesinnenministerin Nancy Faeser Werbung für die europäische Bewerbung. Für die SPD-Politikerin war das ausverkaufte Spiel, das der VfL Wolfsburg für sich entscheiden konnte, ein starkes Zeichen. "Wir wären bereit für eine WM im Herzen Europas, die Frauen und Frauenfußball fördert, die nachhaltig ist und die Fans in den Mittelpunkt stellt", sagte Faeser.

Nach ihren Worten würde eine Heim-WM die Aufmerksamkeit für den Frauen-Fußball in Deutschland weiter steigern. Trotz des Rückschlags durch den Evaluationsbericht der FIFA hoffen die Niederlande, Belgien und Deutschland noch auf ein positives Ende, wenn in Bangkok die Entscheidung fällt. "Darauf warten wir alle gespannt", sagte Faeser.

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