FIFA gibt Fußball-WM der Frauen 2027 an Brasilien

Deutschland und seinen Partnern bleibt die Austragung der Frauen-WM 2027 verwehrt. Die Mitgliedsländer des Fußball-Weltverbandes FIFA stimmten beim Kongress in Thailands Hauptstadt Bangkok am Freitag mehrheitlich für den Konkurrenten Brasilien. Damit wird erstmals eine Frauen-WM in Südamerika stattfinden.

Deutschland hatte die WM im Jahr 2011 zuletzt alleine ausgerichtet. Unter dem Motto "Breaking New Ground" hatte sich der Deutsche Fußball-Bund gemeinsam mit Belgien und den Niederlanden beworben. Die USA und Mexiko hatten ihre gemeinsame Bewerbung für 2027 Ende April zurückgezogen, zuvor hatte dies bereits Südafrika getan.

Bei der abschließenden Präsentation hatte Bernd Neuendorf, der Präsident des Deutschen Fußballbundes (DFB), "die bislang kommerziell erfolgreichste Frauen-WM" und das "kompakteste Turnier" versprochen. Man wolle, die "größte Feier des Frauenfußballs in der Geschichte" organisieren. Seine Versprechungen reichten aber offenbar nicht, um die Mehrheit der Kongressmitglieder zu überzeugen.

"Glückwunsch an Brasilien, das war ein fairer Wettbewerb", sagte Neuendorf. "So ist es im Sport, man kann gewinnen und verlieren. Ich glaube, wir haben alles gegeben." Die Entscheidung habe keine Auswirkungen auf die Bemühungen in den drei Ländern, den Frauenfußball zu stärken. "Den Weg werden wir weitergehen", sagte Neuendorf. Brasiliens Verbandschef Ednaldo Rodrigues äußerte, er sei "euphorisch", er dankte seinem Team. "Ich fühle eine Menge Emotionen, wir wussten, dass es schwer werden würde. Aber wir wussten, dass wir vereint erfolgreich sein würden." Brasilien werde die "beste WM" liefern.

Schlechte Benotung durch die FIFA

Schon einige Tage zuvor hatten die deutschen WM-Hoffnungen einen Dämpfer erlitten: Im Evaluierungsbericht der FIFA hatte Brasilien 4,0 von 5 möglichen Punkten erhalten, die Europäer kamen lediglich auf 3,7. Es gebe bei einer Vergabe an Deutschland, Belgien und die Niederlande eine "Reihe rechtlicher Risiken", hieß es im Bericht. Für die FIFA bestehe die Gefahr, "mit erheblichen operativen und finanziellen Problemen konfrontiert zu werden".

Gianni Infantino und Bernd Neundorf im Gespräch auf der Tribüne bei der Fußball-WM in Katar
Gelten nicht als Freunde: FIFA-Präsident Gianni Infantino (l.) und DFB-Präsident Bernd Neuendorf (r.)null Federico Gambarini/dpa/picture alliance

Der Hintergrund der Benotung scheint klar: Der Weltverband zielt wieder einmal auf maximale Erlöse ab. Schon in der Vergangenheit war es der FIFA ein Dorn im Auge, wenn sie ihre Forderungen im Hinblick auf staatliche Unterstützung und Steuererleichterungen nicht wie gewünscht durchsetzen konnte. Der Bericht stellte jedoch nur eine Empfehlung dar und war in der Vergangenheit nicht immer ein sicherer Indikator für die letztliche Vergabe.

Ohnehin haben Neuendorf und FIFA-Präsident Gianni Infantino nicht das innigste Verhältnis. Neuendorf hatte sich in den vergangenen Monaten immer wieder mal verhalten kritisch gegenüber Infantino und dessen Plänen geäußert. Auch die Unterstützung bei dessen letzter Wiederwahl im November 2023 hatte Neuendorf lange offen gelassen und letztlich nicht für den Schweizer gestimmt, der dennoch mit großer Mehrheit gewonnen hatte. Allerdings wurden keine Stimmen ausgezählt, sondern per Applaus abgestimmt. 

Nächste Chance erst 2035?

Die letzten Bemühungen der deutschen Delegation im Kampf um den WM-Zuschlag fruchteten nicht mehr: Neuendorf und DFB-Sportdirektorin Nia Künzer hatten in den vergangenen Tagen noch einmal kräftig die Werbetrommel gerührt und sich prominente Unterstützung aus der Politik geholt. Neben Bundeskanzler Olaf Scholz waren Belgiens Premierminister Alexander De Croo und Mark Rutte, Ministerpräsident der Niederlande, eingespannt worden.

Mit der gescheiterten Bewerbung könnte sich die Chance auf eine Heim-WM für den DFB nun für viele Jahre erledigt haben. FIFA-Boss Infantino pflegt vor dem Männerturnier 2026 immer engere Kontakte in die USA, die nach dem Rückzug im aktuellen Bewerbungsprozess als Kandidat für die Frauen-WM 2031 gelten. Die nächste Chance für den DFB ergibt sich damit womöglich erst 2035. 

asz/sn (SID, dpa)

Massive Überschwemmungen in Brasilien: Was lief falsch?

Als die Regenfälle einsetzten, befand sich Roberlaine Ribeiro Jorge gerade auf einer Dienstreise in Europa und den USA. Bei seiner Rückkehr fand der Universitätsprofessor seinen Heimatbundesstaat Rio Grande do Sul in einem bedauernswerten Zustand vor. "Unterwegs dachte ich erst: 'Wieder einmal eine Starkregen-Phase'. Aber solche Ausmaße hatte ich mir nicht vorstellen können", sagt der Experte für Wasserressourcen und Umwelthygiene. "Ich arbeite ja in dem Bereich, aber die Dimensionen haben mich geschockt."

Die seit mehreren Wochen andauernden Überschwemmungen sind die schlimmsten in der Geschichte von Rio Grande do Sul im Süden Brasiliens. An die 150 bestätigte Todesopfer gibt es mittlerweile und fast noch einmal so viele Vermisste. Hunderttausende Menschen mussten wegen der Überschwemmungen ihre Häuser verlassen, das öffentliche Leben ist weitgehend lahmgelegt. Insgesamt sind mehr als zwei Millionen Menschen von der Naturkatastrophe betroffen - und es regnet weiter.

Blick von oben auf das kreisrunde Fußballstadion Beira-Rio
Auch das Fußballstadion Beira-Rio in Porto Alegre, der Landeshauptstadt von Rio Grande do Sul, steht unter Wassernull Diego Vara/REUTERS

Extremwetterereignisse wie Hitzewellen und Starkregen kommen in Brasilien, auch im Süden des Landes, immer wieder vor, allein in den vergangenen Monaten gab es eine ganze Reihe. Die Erderwärmung verstärkt Wetterextreme bekanntermaßen; bekannt ist auch, dass sie derzeit in der Region durch das Klimaphänomen El Niño noch verstärkt werden. Deshalb stellt sich die Frage: Hätte man besser vorbereitet sein müssen?

"Wir brauchen einen besseren Zivil- und Katastrophenschutz"

Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva selbst hat bereits Defizite beim Katastrophenschutz eingeräumt. Auf eine Katastrophe von diesem Ausmaß sei das Land "nicht vorbereitet" gewesen, sagte Lula am Montag. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Quaest glaubt auch eine Mehrheit der Brasilianerinnen und Brasilianer, dass die Tragödie hätte verhindert werden können.

Aber wo liegen die Versäumnisse genau? Meteorologische Warnungen, dass es zu starken Regenfällen kommen würde, habe es etwa fünf Tage vorher gegeben, erklärt Gean Michel, Professor am Institut für Hydraulikforschung an der Bundesuniversität Rio Grande do Sul (UFRGS). Doch bis zum tatsächlichen Einsetzen des Starkregens am 29. April sei wenig passiert - und auch die längerfristige Vorbereitung auf Extremwetterereignisse sei mangelhaft gewesen.

"Dafür gibt es absolut keine Rechtfertigung", findet Michel. "Wir brauchen einen besseren Zivil- und Katastrophenschutz." Nachdem Brasilien 2011 die bislang schlimmste Flutkatastrophe seiner Geschichte mit über 500 Toten erlebt hatte, wurde der Katastrophenschutz zwar 2012 in einem nationalen Gesetz verankert. "Doch es hapert an der Umsetzung", bemängelt der Experte für Umweltkatastrophen. Gerade in kleinen Gemeinden bestehe das Zivilschutzsekretariat oft nur aus einer Person, die wenig bis gar keine Erfahrung im Katastrophenrisikomanagement habe - und nach vier Jahren beginne das Ganze von vorne, wenn der Posten wieder neu besetzt wird.

Deiche, Schleusen und Pumpen nicht instandgehalten

Auch in baulicher Hinsicht haben sich während der aktuellen Katastrophe in Rio Grande do Sul Probleme offenbart: Eigentlich vorhandene Strukturen zum Schutz vor Hochwasser, unter anderem Deiche, Schleusen und Pumpen, wurden über Jahrzehnte nicht ordentlich instandgehalten oder erneuert. "In Porto Alegre hätten sie Hochwasser von bis zu sechs Metern standhalten sollen", erklärt Roberlaine Jorge, der an der Bundesuniversität Pampa doziert. "Aber die Systeme haben schon bei dem erreichten Pegel von 5,35 Metern versagt."

So hätten etwa die Pumpen das Wasser nicht aus der Stadt pumpen können, weil sie überflutet wurden und unter Wasser nicht mehr funktionieren. Dabei ist die Technologie längst weiter: Im Reisanbau etwa, ein großer Wirtschaftsfaktor in Rio Grande do Sul, sind mittlerweile Pumpen im Einsatz, die sich in einer Art Schlauchboot befinden und bei steigendem Pegel mit nach oben steigen.

Vier Männer stehen mit dem Pferd und in Schutzkleidung auf einem Hausdach, das bis über die Dachkante von Hochwasser umgeben ist
Das gerettete Pferd "Caramelo", das tagelang auf einem Hausdach ausgeharrt haben soll, ist für viele Brasilianer zum Symbol für die Tragödie, aber auch für Hoffnung gewordennull Corpo Bombeiros Rio Grande do Sul/picture alliance/dpa

Der Experte hält zudem Veränderungen im Bereich der Städteplanung für notwendig. Viele Menschen würden, oft auch entgegen der Vorschriften, zu nah am Wasser leben. Ingenieure, Architekten und Umweltschützer müssten sich verstärkt fragen, wie Verstädterung und Bodenversiegelung zukünftig besser gehandhabt werden könnten.

Umdenken notwendig

Nicht zuletzt müsse sich auch im Bewusstsein der Bevölkerung etwas ändern, ist Jorge überzeugt: "Viele Menschen sind leider gestorben, weil sie zu lange ausgeharrt haben. Wir müssen verstehen, dass unser Leben wichtiger als andere ist, als ein Auto, ein Haus." Gean Michel spricht von einer "Präventionskultur", die etwa in Japan angesichts vieler Erdbeben und Tsunamis sehr ausgeprägt sei, in Brasilien aber noch in den Kinderschuhen stecke. Die Bevölkerung müsse mehr darüber wissen, wie sie Risiken verringern könne und sich in bestimmten Situationen zu verhalten habe.

Ein Gabelstapler transportiert Hilfsgüter zu einem Flugzeug
Hilfsgüter werden in ein Flugzeug der brasilianischen Luftwaffe geladennull Eraldo Peres/AP Photo/picture alliance

Einen alleinigen Hauptverantwortlichen für die verheerenden Überschwemmungen will Michel nicht ausmachen. Aber "auf Bundesebene hätte mehr investiert werden sollen. Nach dem Schock von 2011 wurde einige Jahre mehr Geld ausgegeben, aber vor allem die Regierungen Temer und Bolsonaro reduzierten die Investitionen wieder stark. Auf Landesebene hätte es einer besseren Organisation bedurft. Und auf kommunaler Ebene hätte man die Anforderungen besser umsetzen müssen."

Dass der Starkregen in Rio Grande do Sul so viel Schaden anrichten konnte und so viele Menschenleben gekostet hat, ist letzten Endes dem Zusammenspiel vieler verschiedener Komponenten geschuldet. Bleibt die Hoffnung, dass die Umweltkatastrophe zu einem nachhaltigen Umdenken in der Politik führt statt zu einem - wie oftmals in der Vergangenheit - nur vorübergehenden.

Lateinamerika: Mehr Marktwirtschaft wagen

Javier Milei will aus Argentinien ein "Mekka des Westens" machen, José Raúl Mulino gewann die Wahlen in Panama mit "La Promesa de Chen Chen" (Das Versprechen: chen chen en tu bolsillo - money in your pocket). Und in Ecuador will Daniel Noboa, der aus einer Unternehmerfamilie stammt, das krisengeschüttelte Land wieder in die wirtschaftliche Erfolgsspur zurückführen. Was sie eint, ist - trotz aller länderspezifischen Unterschiede - die Überzeugung, dass die Marktwirtschaft den Schlüssel zum ökonomischen Aufschwung bereithält.

Die Wahlerfolge des Trios in den letzten sechs Monaten fallen in eine Zeit, in der vor allem die klassisch sozialistisch-autokratisch regierten Länder Venezuela und Kuba in einer tiefen Wirtschaftskrise stecken, die zu einem Massenexodus in das kapitalistische Ziel schlechthin führt: die USA. Auch Bolivien gerät in zunehmend unruhige wirtschaftliche Zeiten.

Mulino setzt auf ein altbewährtes Konzept

In Panama hat Wahlsieger Mulino das Konzept übernommen, das während der Präsidentschaft von Ricardo Martinelli von 2009 bis 2014 als ökonomisch erfolgreich galt.  "Mulino setzt wie seinerzeit Martinelli auf Anreize für unternehmerische Initiative und die Akquise von großen Investitionen aus dem Ausland. Damit sollen vor allem infrastrukturelle Großprojekte finanziert und realisiert werden", sagt Winfried Weck von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Panama-Stadt im Gespräch mit der DW. Martinelli war eigentlich der Kandidat der Partei Realizando Metas RM, wurde aber wegen Geldwäsche und Korruption verurteilt, so dass Mulino für ihn einsprang.

Ricardo Martinelli (M), frühere Präsident von Panama, schüttelt den Sicherheitsbeauftragten vor seinem Haus in Panama-Stadt die Hand.
Ricardo Martinelli, der frühere Präsident von Panama, steht unter Hausarrestnull Arnulfo Franco/AP/dpa/picture alliance

Infrastrukturprojekte sollen Aufschwung bringen

Dazu zählen der Bau einer Eisenbahnverbindung von Panama-Stadt nach David, der zweitgrößten Stadt des Landes in der Nähe der Grenze zu Costa Rica, sowie einer vierten Brücke über den Panama-Kanal. Außerdem sind Universitäten, mehrere Hospitäler und möglicherweise neue Metrolinien für die Hauptstadt geplant. "Mit der Schaffung eines unternehmerfreundlichen Umfelds auch für ausländische Investoren kann dies durchaus gelingen. Die Wahlkampagne war ganz deutlich darauf ausgerichtet, den Menschen Panamas Geld zu versprechen. 'La Promesa de Chen Chen' stellte die zentrale Wahlkampfaussage dar, an der Mulino von der Bevölkerung nun gemessen werden wird", prognostiziert Weck.

Erste Anzeichen der Erholung in Argentinien

Was in Panama gelingen könnte, dürfte in Argentinien deutlich schwieriger werden. Zwar gelang es der neuen Regierung um den radikal-marktliberalen Präsidenten Javier Milei in den ersten sechs Monaten, die Inflation von 25,5 Prozent im Dezember auf 8,8 Prozent im April zu drücken. Aufs Jahr gerechnet liegt die Rate dennoch bei horrenden knapp 290 Prozent und gehört damit zu den höchsten der Welt. Aber immerhin bieten Banken erstmals seit längerer Zeit wieder Immobilienkredite an, die auf sehr großes Interesse in der Bevölkerung stoßen. Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) zeigt sich mit der Entwicklung zufrieden und hat eine weitere Kredittranche freigegeben.

Argentiniens Präsident Javier Milei
Vorerst scheinen seine knallharten Maßnahmen zu wirken: Argentiniens Präsident Javier Mileinull Matías Baglietto/picture alliance

Doch trotz der ersten zarten positiven Indizien warnt Lateinamerika-Experte Christian Hauser von der Fachhochschule Graubünden in der Schweiz vor übertrieben Erwartungen. "In Lateinamerika und besonders in Argentinien hat es immer wieder wellenförmige Entwicklungen gegeben. Es gab Boomzeiten und tiefe Wirtschaftskrisen, deshalb gilt es die weitere Entwicklung abzuwarten." Für Hauser ist es wichtig, dass Länder wie Argentinien ihre Wirtschaftspolitik langfristig ausrichten: "Es muss ein ordnungspolitischer Rahmen geschaffen werden, in dem sich ein gesunder Wettbewerb entwickeln kann. Dabei gilt es, den Aufbau von mittelständischen Unternehmen zu fördern und nicht vor allem nach den großen internationalen Konzernen zu schauen", fordert Hauser. Denn der Mittelstand sei entscheidend für die ökonomische Basis eines Landes.

EU-Mercosur-Abkommen könnte regelbasierten Handel ermöglichen

In diesem Zusammenhang wäre auch der Abschluss des EU-Mercosur-Abkommens, über das seit zwei Jahrzehnten verhandelt wird, ein deutliches Zeichen für beide Weltregionen. "Denn dann würden sich demokratische Länder und Regionen auf eine regelbasierte Zusammenarbeit verständigen, was auch geopolitisch ein starkes Signal wäre." Allerdings müssten dann sowohl die Lateinamerikaner als auch die Europäer in den Verhandlungen Kompromisse eingehen. "Im Moment gibt es ein Zeitfenster, das genutzt werden sollte. Aber das hat es in der Vergangenheit auch schon gegeben", ist Hauser zurückhaltend. Der nächste Anlauf dürfte nach den Europawahlen unternommen werden. Ausgang ungewiss.

Südbrasilien und die zahlreichen Umweltdesaster

Die schweren Regenfälle im Süden Brasiliens haben bislang mindestens 83 Todesopfer gefordert. Weitere 111 Menschen werden vermisst, teilte der Zivilschutz des brasilianischen Bundesstaates Rio Grande do Sul am Montag (06.05.) mit.

Mindestens 345 der 497 Gemeinden des Bundesstaates sind von den massiven Regenfällen und Überschwemmungen, die vor einer Woche begonnen haben, betroffen. Im ganzen Bundesstaat sind mehr als 121.000 Obdachlose bei Verwandten oder Freunden untergebracht, weitere 19.000 in Notunterkünften. Hunderttausende Häuser sind ohne Wasser oder Strom.

Das historische Zentrum der 1,4-Millionen-Einwohner-Landeshaupststadt Porto Alegre, die am Fluss Guaíba liegt, ist völlig überflutet. Der Guaiba erreichte nach Angaben der örtlichen Behörden einen neuen Höchststand von 5,32 Metern – weit über dem bisherigen Rekordwert von 4,7 Metern aus dem Jahr 1941.

Der Gouverneur von Rio Grande do Sul, Eduardo Leite, verglich die Situation mit einem "Kriegsszenario" und bezeichnete die Überschwemmungen als die schlimmste Katastrophe in der Geschichte des Bundesstaats. Er forderte einen "Marshallplan" mit großen Investitionen, um den Wiederaufbau vorantreiben zu können.

Überschwemmte Gegend in Canoas-RS
Überflutete Häuser in der Stadt Canoas, in der Metropolregion Porto Alegrenull Amanda Perobelli/REUTERS

An Sonntag hatte sich Präsident Luiz Inácio Lula da Silva vor Ort in Rio Grande do Sul persönlich ein Bild von den Rettungsarbeiten gemacht. Gemeinsam mit Gouverneur Leite und den Präsidenten der beiden Parlamentskammern besuchte er das Katastrophengebiet und sagte den Betroffenen die Hilfe der Regierung zu.

Blockierte Kaltfronten

Zwar waren die Behörden auf intensive Niederschläge während der gesamten Woche vorbereitet, so der Meteorologe Marcelo Seluchi von der brasilianischen Behörde für die Überwachung und Warnung vor Naturkatastrophen, Cemaden. Allerdings hatte man nicht mit Wassermassen in dem verzeichneten Ausmaß gerechnet.

Die zentrale Region von Rio Grande do Sul ist von zwei sich überschneidenden klimatischen Phänomenen getroffen worden. Zum einen sorgte im Zentrum Brasiliens ein Hochdruckgebiet für eine für den Monat  Mai außergewöhnliche Hitzewelle.

Diese verhinderte, dass die aus dem Süden kommenden Kaltfronten vorankamen. Durch die Blockade der Kaltfronten staute sich das gesamte Wasser über Rio Grande do Sul und verursachte stundenlange Regenfälle. Hinzu kamen noch die Nordwinde, die über die so genannten fliegenden Flüsse Feuchtigkeit aus dem Amazonasgebiet herantragen.

"Wahrscheinlich gibt es auch den Einfluss von El Niño, der jetzt im Mai nachlässt. Die Hitzewellen sind deswegen immer noch stark", sagt der Klimaexperte Tércio Ambrizzi, von der Universität von São Paulo (USP).

Für Seluchi könnte kein Ort auf der Welt einer solchen Situation standhalten. "Vielleicht sollte es Notfallpläne geben, Präventionspläne, die während der Trockenzeit erstellt werden. Aber das macht man nicht von einer Woche auf die andere. Das ist es, was fehlt", sagte er.

Vorausgesagte Tragödie

Die aktuellen Überschwemmungen sind bereits die vierte Klimakatastrophe in Rio Grande do Sul in weniger als zwölf Monaten.  2023 gab es Überschwemmungen im Juni, September und November, die insgesamt 80 Todesopfer forderten.

Laut Umweltschützerin Miriam Prochnow, von der Nichtregierungsorganisation Apremavi, werden Warnungen vor extremen Wetterereignissen von den Behörden in Rio Grande do Sul nicht ernst genommen.

"Die Städte ignorieren die Tatsache, dass dies bei der Stadtplanung berücksichtigt werden sollte. Sie denken nicht daran, die Menschen aus den Risikogebieten umzusiedeln, sondern erlauben die Besiedlung von Gebieten, in denen es bereits Hochwasserereignisse gegeben hat. Sie ignorieren einfach die Klimakrise", so Prochnow gegenüber der DW.

Die Geografin Karina Lima, die an der Bundesuniversität von Rio Grande do Sul über Wetterextreme und Klimawandel forscht, weist darauf hin, dass der Bundesstaat in einer Zone liegt, die stark von El Niño und La Niña beeinflusst wird. La Niña symbolisiert ein gegenüber El Niño völlig diametrales Wettergeschehen, welches mit einer Verstärkung der normalen tropischen Passat-Ostwinde einhergeht.

"Mathematische Modelle sagen seit langem voraus, dass in Rio Grande do Sul der Trend zu steigenden durchschnittlichen jährlichen Niederschlägen und zu extremen Niederschlägen anhalten wird. Im Bundesstaat, der so anfällig für Extremereignisse ist, müsste mehr in Prävention investiert werden", sagt Lima.

Überschwemmungen in Rio Grande do Sul
Mit Schlamm bedeckte Autos in der Stadt Encantado, Rio Grande do Sulnull Diego Vara/REUTERS

Für den Umweltschützer Clóvis Borges, Geschäftsführer der nichtstaatlichen Gesellschaft für Wildtierforschung und Umwelterziehung (SPVS), hat Rio Grande do Sul schon vor vielen Jahrzehnten seine Widerstandsfähigkeit gegenüber Klimaextremen verloren.

"Es war der erste brasilianische Bundestaat, der sein gesamtes Territorium mit landwirtschaftlichen Nutzflächen überzog. Naturbelassene Flächen wurden praktisch vernichtet", sagt Borges und weist darauf hin, dass in Rio Grande do Sul nur noch sieben Prozent des ursprünglichen Waldes vorhanden sind.

"Ein wesentlicher Teil der Todesfälle und des wirtschaftlichen Schadens, den wir jetzt erleben, ist auf die Nichteinhaltung der Umweltvorschriften zurückzuführen. Wenn die politische Klasse dies weiterhin verdrängt, werden wir noch härtere Zeiten erleben", sagt Borges.

"Wir müssen die Leugnung des Klimawandels bekämpfen, denn die Katastrophen werden immer schlimmer", sagt der Umweltschützer Heverton Lacerda von der Umwelt-NGO Agapan. "Die derzeitigen Regierungen, sowohl im Bundesstaat als auch in der Hauptstadt und anderen Städten im Landesinneren, haben Klimaleugner an ihrer Spitze. Das zeigt sich dann auch in der Politik, die sie machen", so Lacerda gegenüber der DW.

Lacerda führt als Beispiel einen Gesetzentwurf eines Bundesabgeordneten an, der im vergangenen März vom Abgeordnetenhaus in der brasilianischen Hauptstadt Brasília verabschiedet wurde.

Das Gesetz erlaubt die Abholzung der einheimischen Vegetation, die nicht zu den Wäldern gehört. Dazu gehören die Pampa, da Pantanal sowie Teile des Cerrado, Feuchtsavannen im Inland Südost-Brasiliens. Damit könnte die Vegetation eines Gebietes, das doppelt so groß ist wie der Bundesstaat Rio Grande do Sul, verschwinden. Das Gesetz muss noch vom Senat, dem Oberhaus des brasilianischen Parlaments, verabschiedet werden.

Der Text wurde aus dem Portugiesischen adaptiert. 

Das Wirtschaftswunder von Guyana

Die einen nennen Guyana das Dubai Südamerikas, die anderen sprechen vom südamerikanischen Wirtschaftswunder. Tatsache ist: Guyana darf im laufenden Jahr mit Wirtschaftswachstumsraten von bis zu 25,4 Prozent rechnen und steht damit an der Spitze der wirtschaftlichen Entwicklung Lateinamerikas. So jedenfalls steht es im jüngsten Bericht der UN-Abteilung für wirtschaftliche und soziale Angelegenheiten (Department of Economic and Social Affairs - DESA).

So etwas weckt Begehrlichkeiten. Zuletzt vor allem vom Nachbarn Venezuela, der sich die öl- und rohstoffreiche Region Essequibo per Annexion einverleiben will. Die sozialistische Regierung von Machthaber Nicolas Maduro hat bereits neue Landkarten veröffentlicht, die ein Groß-Venezuela inklusive der Region Essequibo zeigen.

Rasant wachsende Erdölindustrie

Hinter dem Wirtschaftswachstum steckt vor allem die rasant wachsende Erdöl- und Erdgas-Industrie Guyanas. "Guyana hat sich für private Akteure mit umfassenden Kompetenzen entschieden, um diese Art von Projekten durchzuführen", sagte William Clavijo von der Universität Rio de Janeiro jüngst der Zeitung El Mostrador. Guyanas Weg stehe damit in diametralem Gegensatz zu der Strategie, die Venezuela verfolge.

Beamter einer venezolanischen Anti-Korruptionseinheit mit dem festgenommenen Ex-Ölminister des Landes, Tareck El Aissami
Korruptionsverdacht: Festnahme des Ex-Ölministers von Venezuela, Tareck El Aissami, am 9. April null Venezuelan Public Prosecutor's Office/AFP

Venezuelas staatlicher Ölkonzern PDVSA erlebte in den letzten zwei Jahrzehnten einen kontinuierlichen Abstieg. Fachkräfte wurden durch linientreues Personal ersetzt, dass über das "richtige" Parteibuch, aber nicht über die notwendige Kompetenz verfügt. Hinzu kommen Fälle von Korruption und Misswirtschaft. Das Duell Planwirtschaft gegen Markwirtschaft hat derzeit Guyana klar gewonnen.

Denn Guyana geht den gegensätzlichen Weg: die dort tätigen Ölunternehmen setzen auf Fachkräfte mit Knowhow und Erfahrung im Geschäft. Dem US-amerikanischen Ölkonzern ExxonMobil gelang vor fast zehn Jahren eine der größten Ölentdeckungen der jüngeren Geschichte. Allein im sogenannten Stabroek-Block werden bis zu elf Milliarden Barrel Öl (ein Barrel entsprechen 159 Liter) vermutet. Seitdem kennt die Entwicklung des Landes nur eine Richtung: nach oben.

"Einerseits möchte Guyana natürlich weiterhin seine Ölvorkommen ausbeuten, ohne dass ein internationaler Konflikt droht. Andererseits hat die venezolanische Regierung einen jahrhundertealten Konflikt als politisches Ablenkungsmanöver für ihren gescheiterten Versuch genutzt, die mangelnde Unterstützung der Bevölkerung zu überwinden", sagt Carolina Jiménez Sandoval, Präsidentin des Washington Office on Latinamerica (WOLA) im Gespräch mit der DW. "In jedem Fall sollten beide Länder Konfliktlösungsmechanismen nutzen, um ihre Differenzen friedlich beizulegen."

Guyana verändert die Marktlage

Neben der politischen Komponente hat der wirtschaftliche Aufschwung Guyanas natürlich auch wirtschaftliche Auswirkungen. Zuletzt gab es durch die geopolitischen Konflikte wie dem russischen Überfall auf die Ukraine oder den Angriff der Hamas auf Israel und dessen Gegenreaktion im Gaza-Streifen Turbulenzen auf dem Ölmarkt, weil Sanktionen oder Verschiebungen am Ölmarkt die Karten neu mischten. Ein neuer Player, der zudem dem Westen zugetan ist, könnte die Märkte mittelfristig beruhigen und mehr Versorgungssicherheit garantieren.

Einwohner von Georgetown warten am Stabroek Markt auf eine Fähre
Einwohner von Georgetown warten am Stabroek Markt auf eine Fährenull Matias Delacroix/AP Photo/picture alliance

Schon jetzt Venezuela überflügelt

Guyana mit seinen gerade mal knapp über 800.000 Einwohnern hat schon jetzt eine höhere Pro-Kopf-Produktion als Saudi-Arabien. ExxonMobil teilte mit, dass die Ölproduktion Guyanas von 380.000 Barrel pro Tag im Jahr 2023 auf 640.000 Barrel pro Tag im Januar 2024 steigen wird. Die Ziele sind ehrgeizig: Guyana will nach eigenen Angaben bis 2027 insgesamt 1,2 Millionen Barrel pro Tag fördern.

Zum Vergleich: Das ölreichste Land der Welt Venezuela kommt gerade mal auf 700.000 bis 800.000 Barrel pro Tag und dürfte schon bald von Guyana überholt werden. Laut Experteneinschätzung verfügt Venezuela über nachgewiesene Reserven von fast 300 Milliarden Barrel. Neben den katastrophalen Managementfehlern in Caracas tragen allerdings auch die US-Sanktionen zum schlechten Ergebnis der venezolanischen Ölindustrie bei.

Besonders bitter ist für den Nachbarn, dass Guyana bei den Devisen bringenden Exporten Venezuela bereits abgehängt hat. Nach lokalen Medienberichten übertraf Guyana im Februar mit Ausfuhren von 621.000 Barrel Öl erstmals Venezuelas Exporte von 604.000 Barrel. Unterdessen drückt Guyanas Präsident Irfaan Ali zu Beginn des Jahres bei einer großen Erdöl- und Erdgas-Messe im heimischen Georgetown aufs Tempo: "Es ist nun der Moment, auch unser Gas zu fördern", sagte der Präsident. "Es gibt ein Fenster der Gelegenheit bis zum Ende des Jahrzehnts, um auch das Gas zu kommerzialisieren."

Mit Pfeil und Bogen vom Amazonas nach Paris

Die brasilianische Bogenschützin Graziela Santos ist eine Ausnahmeathletin. "Ich bin die erste indigene Frau im brasilianischen Bogensportteam", sagt sie. "Das ist ein historischer Meilenstein für uns alle." Als erste Indigene überhaupt möchte Santos für Brasilien bei den Olympischen Spielen starten. Das Ticket nach Paris wäre für sie aber mehr als die Verwirklichung eines persönlichen Traums. Es wäre gleichzeitig auch eine Auszeichnung für ein Förderprojekt im Amazonas, das junge indigene Athleten unterstützt.

Als Graziela Santos vom Projekt der Stiftung Nachhaltiger Amazonas (FAS) erfährt, ist sie noch auf der Schule. "Von dem Dorf, in dem wir wohnten, waren es fünf Stunden mit dem Boot nach Manaus. Damals gab es nur eine Grundschule", erinnert sich die Brasilianerin im Gespräch mit der Deutschen Welle. Sie hörte davon, dass die FAS ein Bogenschießsportprojekt aufbaute und nach interessierten Talenten suchte. "Dieser Sport stammt ja aus unserer alten Kultur, denn wir benutzen Pfeil und Bogen seit langer Zeit. Aber vor dem Projekt wusste ich nicht, dass es das Bogenschießen gibt", erinnert sich Graziela Santos.

Bogenschützin Graziela Santos im Porträt
Im Juni steht für Graziela Sontas und ihr Team die entscheidende Olympia-Qualifikation annull Tobias Käufer

Heute, mit 28 Jahren, gehört sie der Nationalmannschaft ihres Heimatlandes an und trainiert im Leistungszentrum der Bogenschützen in Marica im Bundesstaat Rio de Janeiro. Santos gehört zum indigenen Volk der Karapãna und stammt aus der Gemeinde Kuana am Fluss Cuieiras, etwa 80 Kilometer von Manaus entfernt. In der indigenen Sprache trägt sie den Namen Yaci ("Mond"). In Brasilien leben heute etwa 1,7 Millionen Indigene, das entspricht 0,8 Prozent der Gesamtbevölkerung. Auch ihr Bruder Gustavo Santos ist Mitglied der brasilianischen Nationalmannschaft.

Großes Potential bei indigenen Athleten

Dass Graziela Santos eine Chance auf Olympia hat, liegt an ihrem Talent, am Trainingsfleiß, an den Trainern und der Unterstützung durch die FAS. Denn die suchte damals gezielt nach indigenen Talenten. Zwischen dem traditionellen Pfeil und Bogen und dem Olympischen Bogenschießen gibt es allerdings einige Unterschiede, die es erstmal zu bewältigen galt.

"Es gibt natürlich Gemeinsamkeiten, aber es gibt auch einige prägnante Unterschiede", erklärt Santos. "Beim Bogenschießen haben wir eine ganze Reihe von Ausrüstungsgegenständen, die Klingen, die Sehnen, den Stabilisator, das Visier, damit wir ein besseres Ergebnis erzielen können."

Santos ist überzeugt, dass Indigene ein Potential mitbringen, das noch gar nicht richtig erschlossen ist: "Wir machen alles. Wir laufen, wir schwimmen, wir schießen mit Pfeil und Bogen, wir jagen, wir fischen. Wir haben eine großartige motorische Koordination." Und deshalb könnten Indigene vom Land bei entsprechendem Willen und Anstrengung so manche Sportart auch schneller erlenen als Menschen aus der Stadt, sagt Santos.

Der Traum vom eigenen Leistungszentrum

In den nächsten Wochen entscheidet sich nun, ob es tatsächlich klappt mit dem großen Ziel Olympia. Schon jetzt aber haben Graziela, ihr ebenfalls aktiver Bruder Gustavo und die Stiftung ein Zeichen gesetzt. In einer brasilianischen TV-Show des bekannten Moderators Luciano Huck gewannen Aktivisten der FAS vor einem Millionenpublikum Geld, mit dem sie ihren Traum verwirklichen wollen: den Aufbau eines Trainingsleistungszentrums für Bogenschießen im Amazonasgebiet.

Indigene Bogenschützin Graziela Santos beim Training
Graziela Santos lebt und trainiert in Rio de Janeiro, tausende Kilometer entfernt von ihrem Heimatdorf im Amazonasgebietnull Tobias Käufer

"Ich bin überzeugt, dass es ein erfolgreicher Weg ist, in indigene Sportler zu investieren", sagt Santos. "Wir kommen aus Dörfern und Gemeinden, die weit von Manaus entfernt sind. Und wir haben nicht die finanziellen Mittel, um nach Manaus zu fahren und dort das ganze Jahr über zu leben, die Materialien zu bezahlen und uns in einem guten Trainingslager zu halten und uns wie Hochleistungssportler zu ernähren."

Das Leistungszentrum in der Region aber würde die Möglichkeit bieten, Erfahrungen an andere junge Menschen vor Ort weiterzugeben. "Der Bau wird dazu führen, dass große Talente entdeckt werden, die wir in unserem Volk haben, und es ist wichtig, dass diese jungen Menschen ihre Heimat nicht früh verlassen, sondern in der Nähe ihrer Familien bleiben", sagt Santos und prophezeit: "Wir werden mehr Hochleistungssportler haben, die indigene Völker repräsentieren."

Vorbild für andere Indigene

Zunächst einmal gilt aber die ganze Konzentration der Qualifikation für Olympia. Die nächste Chance für ein Olympiaticket gibt es in der Türkei: "Wir müssen unter die letzten vier Teams kommen", sagt Santos. "Darauf bereiten wir uns intensiv vor, nehmen an internationalen Wettbewerben teil. Diese Wettkämpfe im Ausland sind sehr wichtig für uns, um mit dem Druck umzugehen und uns immer mehr zu verbessern."

Graziela Santos fühlt sich als eine Pionierin und ein Beispiel für andere indigene Frauen. "Mein Beispiel zeigt, dass wir fähig sind, hier zu sein", sagt sie. "Wir können unsere Ziele wählen und beweisen, dass wir sie auch eines Tages erreichen werden."

Proteste in Argentinien: Wie angezählt ist Präsident Milei?

Die Motorsäge ist das Symbol seiner Politik: Präsident Javier Milei will den argentinischen Staat und seine Ausgaben auf ein Minimum zurechtstutzen. Mit dieser Devise war er in den Wahlkampf gezogen, so hat er die Wahl im November 2023 gewonnen, und so verfährt er nun auch.

Nach 15 Jahren defizitärer Haushaltspolitik und drei Staatspleiten in 25 Jahren hat sich die argentinische Wählerschaft mehrheitlich auf die offen angekündigte Rosskur eingelassen. Doch nun scheint der Rückhalt zu bröckeln. Am Dienstag sind in Argentinien landesweit Hunderttausende auf die Straße gegangen, um gegen die radikale Sparpolitik zu protestieren.

Historische Massendemonstrationen

Allein in der argentinischen Hauptstadt versammelten sich nach Polizeiangaben rund 100.000 Demonstranten, die Universität von Buenos Aires sprach von mehr als 500.000. Die tatsächliche Zahl dürfte wie so oft in der Mitte liegen.

Wird das demokratische Establishment zerlegt?

Hinzu kamen Kundgebungen in vielen weiteren Universitätsstädten verstreut über das ganze Land, darunter Tucuman, Cordoba, Corrientes und Ushuaia. Sogar vor dem argentinischen Konsulat in Barcelona (Spanien) solidarisierten sich Menschen mit den Demonstranten auf der anderen Seite des Atlantiks. Einige Medien zählen die Proteste zu den größten seit 20 Jahren.

Ein Warnschuss für Milei

Proteste gegen die Regierung von Javier Milei gibt es praktisch seit Beginn seiner Amtszeit Anfang Dezember. Viele davon seien "bedeutende Demonstrationen" gewesen, sagt Facundo Cruz, Politologe von der Universität Buenos Aires: "Aber sie gingen alle von bestimmten politischen Sektoren aus."

Im Januar etwa rief die größte Gewerkschaft des Landes CGT einen Generalstreik aus. Die CGT ist eng mit der peronistischen "Unión por la Patria" (Einheit für das Vaterland) verbunden. Die größte Oppositionspartei hat unter anderem mit Cristina Fernandez de Kirchner an der Spitze in den letzten 20 Jahren Argentiniens Politik dominiert.

In dieser Woche aber, sagt Cruz, sei es anders gewesen: "Diese Demonstration war sektorübergreifend. In vielen Landesteilen waren sogar Menschen dabei, die die Regierung gewählt haben und sich in Umfragen weiterhin für sie aussprechen würden."

Streit um die Hochschulfinanzierung

Maßgeblich für die Beteiligung über das gesamte politische Spektrum hinweg, sagt Cruz, sei der Grund für den Protest: Die Regierung hatte das Budget der öffentlichen Universitäten nominal auf dem Vorjahresniveau belassen. Nach einer Inflation von 280 Prozent in den vergangenen zwölf Monaten bedeutet dies eine reale Kürzung von rund 65 Prozent.

Argentinien, Buenos Aires, Demonstranten mit einem großen Banner: "Zur Verteidigung der öffentlichen Universitäten"
"Zur Verteidigung der öffentlichen Universitäten" - Hunderttausende signalisierten Präsident Milei, wovor sein Sparkurs haltmachen sollnull Cristina Sille/dpa/picture alliance

"Für die argentinische Gesellschaft unterschied sich Argentinien vom Rest Lateinamerikas immer dadurch, dass die kostenlose öffentliche Bildung ein Garant der sozialen Mobilität war", erklärt die argentinische Politologin Mariana Llanos vom Hamburger GIGA Institut für Lateinamerika-Studien. "Die Argentinier können sich mit vielen Einschnitten arrangieren, aber die Bildung ist ein sehr sensibles Thema." Milei habe sich mit diesen drastischen Einsparungen ein Eigentor geschossen.

Wie beliebt ist Milei nach fünf Monaten im Amt?

Dass viele Argentinier, wie Llanos sagt, zu Opfern bereit seien, um Staatshaushalt und Wirtschaft wieder auf sichere Füße zu stellen, zeige sich auch in Mileis Zustimmungswerten: Selbst nach massiven Einschnitten und einer Entlassungswelle im öffentlichen Dienst sprechen sich weiterhin rund 50 Prozent der Argentinier für den ultraliberalen Reformkurs der Regierung aus.

Argentinien: Wann kommt die Dollarisierung?

Allerdings drückt nahezu die ganze übrige Hälfte auch ihre Ablehnung aus. Unschlüssig gegenüber Milei haben sich in Umfragen selten mehr als fünf Prozent der Befragten geäußert. Ein deutliches Zeichen für die Spaltung der argentinischen Gesellschaft, sagt Politologe Cruz.

Historisch fragil ist Mileis Position in der Legislative: Von den 329 Sitzen im argentinischen Kongress hat Mileis Partei "La Libertad Avanza" (Die Freiheit kommt voran) gerade einmal 45 inne (14 Prozent). Die Opposition sei geteilt, sagt Politologin Llanos. Mit der einen Hälfte könne Milei verhandeln, mit der anderen nicht.

Kann sich Milei im Amt halten?

Auch deshalb spekulieren Beobachter seit seiner Amtsübernahme darüber, wie lange sich der unkonventionelle Politiker wohl im Amt halten wird. Facundo Cruz sieht derzeit allerdings niemanden, die bereit und in der Position wäre, Mileis schwieriges Erbe anzutreten. Der amtierende Präsident hat eine grassierende Inflation und hohe Arbeitslosigkeit von seinen Vorgängern geerbt. Zudem gebe es in der Opposition keinen Konsens über einen politischen Gegenvorschlag, so Cruz. Solange die Zustimmung für ihn in der Bevölkerung so hoch bleibe wie bisher, sehe er daher nicht, dass Milei demnächst aus dem Amt gejagt werden könne.

Argentinien La Plata | Präsidentschaftskandidat Javier Milei mit Kettensäge
Im Wahlkampf zeigte Javier Milei die symbolische Motorsäge, mit der er den Staat zurechtstutzen willnull Marcos Gomez/AG La Plata/AFP

Ähnlich schätzt Brian Winter, Chefredakteur des US-Politikmagazins "America's Quarterly", die aktuelle Situation ein. Er gibt aber zu bedenken: "Ein Präsident der kein Peronist ist, kann sich nie sicher sein. Insbesondere, wenn er den Haushalt derart zusammenkürzt." Bei den Protesten vom 23. April sei es allerdings nicht um Mileis grundsätzlichen Kurs gegangen, so Winter, sondern darum, wo gekürzt werden soll. Und wo eben nicht.

Für Mariana Llanos sind die drastischen Einsparungen im Bildungssektor ein großer und vor allem vermeidbarer politischer Fehler, der einen Wendepunkt markieren könnte: "Milei ist ein intelligenter Mann. Vielleicht wird er den Fehler auf irgendeine Weise korrigieren."

Was sind die Gründe für die Massenproteste in Kolumbien?

Ob es 250.000 Protestierende gewesen waren oder sogar doppelt so viele, die gegen die Regierung von Präsident Gustavo Petro auf die Straße gingen - für Stefan Reith waren die Demonstrationen "zahlenmäßig massiv" und "gingen weit über das rechte Lager hinaus". Reith ist Leiter des Kolumbien-Büros der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS), die der Christlich-Demokratischen Union nahe steht. "Viele Teilnehmer kamen aus der politischen Mitte und der Mittelschicht", erklärt er im DW-Gespräch. Der Protest sei "als Aufforderung der Bürger an die Regierung zu verstehen, zuzuhören, nachzudenken und den Diskurs und ihre Reformagenda zu mäßigen".

Die Demonstrationen vom Sonntag richteten sich unter anderem gegen die geplante Verstaatlichung des Gesundheitssektors. Aber auch Petros Bestrebungen eines "totalen Friedens" mit bewaffneten Guerillagruppen lehnen die Demonstranten ab.

Kolumbiens Sicherheitslage ist ein Problem

"Kolumbien ist ein Land, in dem Demonstrationen nicht ungewöhnlich sind, aber diese war eine der größten", sagte Gabriel Cifuentes, politischer Analyst und Co-Direktor der Beratungsfirma Greystone Consulting Group Latam. Nach Ansicht des Experten tragen Faktoren wie die "heikle Sicherheitslage, Friedensverhandlungen mit den zahlreichen bewaffneten Gruppen ohne sichtbare Ergebnisse und ein immer noch nicht eingelöstes Versprechen auf Veränderung" zur Unzufriedenheit bei.

Eine Frau im Trikot der Fußball-Nationalmannschaft Kolumbiens fordert auf einem Plakat die Absetzung des Präsidenten
Einige der Demonstrierenden fordern den Rücktritt von Präsident Petronull Juancho Torres/Anadolu/dpa/picture alliance

"Die wachsende Unsicherheit im Kontext der Friedensverhandlungen" ist auch für Stefan Reith ein wichtiger Faktor. "Viele Menschen kritisieren, dass die Regierung in den Verhandlungen mit den verschiedenen bewaffneten Gruppen Zugeständnisse macht, ohne dass sich die illegalen Akteure wirklich zu etwas verpflichten."

Kolumbien litt 52 Jahre lang unter einem Bürgerkrieg zwischen linken Rebellen, rechten Paramilitärs und dem Militär. 220.000 Menschen kamen ums Leben, Millionen wurden vertrieben. Zwar hat sich die Sicherheitslage nach dem Friedensabkommen zwischen der Regierung und der FARC-Guerilla verbessert, allerdings werden noch immer Teile des südamerikanischen Landes von illegalen Gruppen kontrolliert.

Vielen in Kolumbien gehen die Reformpläne zu weit

Der Analyst Cifuentes betont im DW-Gespräch zudem die allgemeine Unzufriedenheit mit den Reformplänen des Präsidenten. Er sagt, die Vorschläge der Regierung würden "heikle Themen wie das Gesundheitswesen berühren, und das in einem Land, in dem das System zwar Mängel aufwies, aber mehr oder weniger gut funktionierte".

Allzu optimistische Versprechungen hätten Erwartungen geweckt, die nicht erfüllt wurden und zu großen Frustrationen führten. So sei die Klientelpolitik immer noch allgegenwärtig, die wirtschaftliche Situation praktisch unverändert und die öffentliche Ordnung habe sich nicht verbessert, sagt Cifuentes. "Es hat den Anschein, als sei der Wandel eher eine narrative Strategie als eine Tatsache."

Dies würde den Rückgang der Umfragewerte für die Regierung und insbesondere für Präsident Petro erklären. Die Umfragen zeigen, dass die Unterstützung bei etwa 35 Prozent liegt, wobei die Mittelschicht, die den Präsidenten anfangs unterstützte, jetzt zunehmend auf Distanz geht. Die Umfragen, so KAS-Leiter Reith, zeigen "die schwächsten Ergebnisse seit dem Regierungswechsel im August 2022". Seiner Meinung nach gibt es neben der natürlichen Abnutzung eines Mandats auch andere Gründe für diesen Popularitätsverlust: "Die Vertreter der Mittelschicht und der politischen Mitte, die durchaus die Notwendigkeit sozialer Reformen sehen, lehnen radikale Kürzungen ab und bevorzugen gemäßigtere und konsensfähigere Maßnahmen."

Kritik an der Reaktion von Präsident Gustavo Petro

Präsident Gustavo Petro reagierte prompt und warf den Protestierenden vor, sie wollten einen "sanften Staatsstreich". Für den 1. Mai kündigte der Präsident Demonstrationen zugunsten der Regierung an, an denen er selbst teilnehmen werde. "Es geht nicht darum, das Land zu spalten, es ist bereits gespalten. Es geht auch darum, der Stimme des Volkes Gehör zu verschaffen", schrieb er auf X.

"Die unmittelbare Reaktion von Präsident Petro auf die Demonstrationen war praktisch die gleiche wie die seiner Vorgänger in solchen Fällen", erklärt Reith: "Verharmlosung der Zahlen, Infragestellung der legitimen Gründe und Anliegen der Proteste, und die Diffamierung der Teilnehmer, in diesem Fall als diejenigen, die sich nach offener Repression, militärischen Massakern und der Ermordung junger Menschen sehnen."

Der Analyst Cifuentes sieht es ähnlich. Die Reaktion des Präsidenten sei "verständlich, wenn man bedenkt, dass sie auf seine Basis abzielt. Aber angesichts der Realität des Landes war sie ungeschickt und kurzsichtig". Der Präsident müsse einsehen, so der kolumbianische Analyst, "dass es nicht um die unmittelbaren Schlagzeilen und Reaktionen geht, sondern dass sein politisches Projekt und das Erbe der ersten linken Regierung in Kolumbien auf dem Spiel steht".

Mode und Umwelt: Zara, H&M und die Abholzung in Brasilien

Bevor sie in den Schaufenstern von Modegiganten wie Zara und H&M landen, hinterlassen Hosen und Hemden, Shorts und Shirts aus Baumwolle eine Spur aus Abholzung, Land Grabbing und Menschenrechtsverletzungen in Brasilien.

Obwohl viele dieser Kleidungsstücke laut Kennzeichnung aus nachhaltiger Produktion stammen sollen, belegt eine ausführliche Studie der britischen NGO Earthsight: Es gibt eine enge Verbindung zwischen europäischen Textilmarken und dem Anbau in Brasilien, dem viertgrößten Baumwollproduzenten weltweit. Earthsight hat Satellitenbilder und Versandlisten analysiert, in Archiven recherchiert und die Anbaugebiete besucht - und die Reise von 816.000 Tonnen Baumwollen im Detail nachvollzogen.

Dem Bericht nach wurde der Rohstoff eigens für acht asiatische Unternehmen hergestellt, die zwischen 2014 und 2023 rund 250 Millionen Artikel für den Einzelhandel herstellten. Viele dieser Firmen, so die Untersuchung, belieferten unter anderem Marken wie H&M und Zara.

"Es ist schockierend, diese Verbindung zu bekannten Markennamen zu sehen, die sich offenbar nicht besonders anstrengen, die Lieferketten zu kontrollieren. Also zu wissen, woher die Baumwolle kommt und welche Auswirkungen das hat", sagt Rubens Carvalho, Chef der Recherchegruppe Abholzung bei Earthsight, gegenüber der DW.

Deutschland Köln | Textilkette H&M | Skandal um Bio-Textilien
Alles Bio? Schon vor Jahren wurde H&M vorgeworfen, seine Linie Organic Cotton enthalte gentechnisch veränderte Baumwollenull Oliver Berg/dpa/picture alliance

Das Problem liegt in der Herkunft: Baumwolle für den Export wird vor allem im Westen des brasilianischen Bundesstaates Bahia angebaut, einer Region, die zu den tropischen und besonders biodiversen Feuchtsavannen gehört, den Cerrados. Die Vegetation wird hier oft illegal gerodet, um Platz zu schaffen für den Anbau von Nutzpflanzen. Die abgeholzte Fläche habe sich hier in den vergangenen fünf Jahren verdoppelt, so das brasilianische Nationale Institut für Weltraumforschung INPE.

Abholzung und Land Grabbing

Die Baumwolle, so der Report, wird vor allem von zwei großen Agrarkonzernen angebaut: SLC Agrícola und Horita. SLC Agrícola ist nach eigenen Angaben für elf Prozent von Brasiliens Baumwollexporten verantwortlich und einer der größten brasilianischen Sojaproduzenten. Die Earthsight-Studie schätzt, dass die SLC-Landwirtschaftsbetriebe in den vergangenen zwölf Jahren ein Cerrado-Gebiet zerstört haben, das 40.000 Fußballfeldern entspricht. Im Jahr 2020 sei SLC Agrícola zum größten Abholzer der Ökoregion erklärt worden, so der US-amerikanische Thinktank Chain Reaction Research.

2021 verpflichtete SLC sich und seine Zulieferer zu einer Null-Abholzung-Politik. Ein Jahr später fand das gemeinnützige Beratungsunternehmen Aidenvironment heraus, dass auf Grundstücken mit Baumwollanbau 1365 Hektar der Cerrados zerstört wurden. Und fast die Hälfte davon befand sich in einem Schutzgebiet.

Brasilien: Kampf gegen Regenwald-Abholzung

Als wir SLC Agrícola mit diesen Vorwürfen konfrontierten, antwortet der Konzern der DW, bei SLC geschähen "alle Umwandlungen natürlicher Vegetation im Rahmen der Gesetze". Zu Aidenvironments Anschuldigungen sagte das Unternehmen, die Zerstörung von Cerrado-Gebiet sei geschehen durch "ein natürliches Feuer, nicht um neue Flächen für die Produktion zu schaffen".

Der andere Konzern, dessen Gebaren der Earthsight-Bericht analysiert, ist Horita. Der Vorwurf hier: Gewalttätige Landstreitigkeiten mit traditionellen indigenen Gruppen. Eine Nachfrage der DW bei Horita blieb unbeantwortet.

Brasilien Baumwolle und Europas Einzelhandel

Für seinen Bericht hat Earthsight den weiteren Weg der Baumwolle recherchiert. Er führte vor allem nach Indonesien, Bangladesch und Pakistan, nach China, Vietnam und in die Türkei. Nachvollziehbar waren die Spuren zu acht Bekleidungsherstellern in Asien.

Diese Zwischenhändler sind: PT Kahatex in Indonesien, die Noam Group und die Jamuna Group in Bangladesch, sowie Nisha, Interloop, YBG, Sapphire und Mtmt in Pakistan. Sie liefern ihre Produkte an Marken wie Zara und H&M, so der Bericht. Und dort tragen sie oft ein Ökosiegel.

 

"Die Baumwolle, die wir mit dem Missbrauch von Landrechten und Umwelt in Bahia in Verbindung bringen konnte, ist zertifiziert als Better Cotton", so die Earthsight-Studie. "Das System konnte offensichtlich nicht verhindern, dass diese Baumwolle besorgte Verbraucher erreicht."

Das Ökosiegel Better Cotton haben die Modeindustrie und Naturschutzorganisationen wie der WWF 2009 eingeführt, um den sicheren Ursprung der Rohstoffe zu garantieren. Der Initiative zufolge gibt es in Brasilien 370 zertifizierte Agrarbetriebe in Kooperation mit dem heimischen Baumwollherstellerverband, Abrapa.

Fehlende Kontrolle über Lieferketten

Die Better Cotton Initiative hat der DW auf Nachfrage mitgeteilt, dass sie gerade eine umfassende unabhängige Prüfung der beteiligten Landwirtschaftsbetriebe abgeschlossen habe. Es brauche jetzt Zeit, die Ergebnisse zu analysieren und gegebenenfalls Änderungen vorzunehmen.

"Die (in der Studie) angesprochenen Punkte belegen den dringenden Bedarf an staatlicher Unterstützung, um die aufgedeckten Probleme anzugehen und sicherzustellen, dass gesetzliche Regelungen fair und wirkungsvoll umgesetzt werden", so die E-Mail von Better Cotton.

Auch die Bekleidungskette H&M hat reagiert. "Die Ergebnisse des Berichts sind äußerst besorgniserregend", heißt es in einer E-Mail an die DW, und das Thema werde sehr ernst genommen. "Wir sind im Gespräch mit Better Cotton bezüglich des Resultats der Untersuchung und der nächsten Schritte, die die Standard überprüfen und stärken sollen", so das Unternehmen weiter.

Fast Fashion zerstört Umwelt

Auch Zara hat der DW mitgeteilt, dass man "die Vorwürfe gegen Better Cotton äußerst ernst" nehme. Der Zertifizierer müsse das Ergebnis seiner Ermittlungen so bald wie möglich mitteilen. Am 10. April - einen Tag vor der angekündigten Veröffentlichung des Earthsight-Reports - forderte der Zara-Mutterkonzern Inditex von Better Cotton mehr Transparenz. Inditex schickte der Initiative einen auf den 8. April datierten Brief, in dem es Aufklärung über das Zertifizierungsverfahren verlangte. Inditex kauft Baumwolle nicht direkt bei Zulieferern, doch die Unternehmen, die sie herstellen, werden durch Zertifizierer wie Better Cotton geprüft.

Es gehe nicht nur um die Hersteller in Brasilien - auch europäische Unternehmen müssten zur Verantwortung gezogen werden, sagt Rubens Carvalho von Earthsight. Das sei Teil der Lösung, um die Abholzung und die Menschenrechtsverletzungen in rohstoffproduzierenden Ländern wie Brasilien zu beenden. "Der europäische Markt für Baumwolle ist noch immer kaum reguliert. Der Konsum muss reguliert und von den negativen ökologischen und menschlichen Auswirkungen entkoppelt werden", so Rubens Carvalho. "Wir brauchen strenge Vorschriften, die Verstöße bestrafen. Das erhöht den Druck auf die Produzenten."

Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.

Historisches Duell um die Präsidentschaft in Mexiko

Nach einer Blitzumfrage des Instituts Massive Caller unmittelbar nach der ersten TV-Debatte scheinen die Präsidentschaftskandidatinnen Claudia Sheinbaum und Xochitl Gálvez der jeweiligen Konkurrentin kaum Wähler abgejagt zu haben. Sie hätten vielmehr drei Viertel der Zuschauer der TV-Debatte in ihrer vorgefassten Meinung bestärkt.

Claudia Sheinbaum, ehemalige Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt, ist enge Vertraute des amtierenden Präsidenten Andrés Manuel López Obrador, genannt AMLO. Die studierte Physikerin wurde am 18. Februar dieses Jahres zur offiziellen Präsidentschaftskandidatin der Morena-Partei gekürt und führt die Umfragen an.

An zweiter Stelle liegt Senatorin Bertha Xóchitl Gálvez Ruiz. Die Systemanalytikerin tritt für das Oppositionsbündnis Fuerza y Corazón por México an, in dem sich konservative (PAN), Mitte-Rechts- (PRI) und Linksparteien (PRD) zusammengeschlossen haben.

Mexiko | Aufnahme von der ersten TV-Debatte im mexikanischen Wahlkampf mit den drei Favoriten: Claudia Sheinbaum (li), Jorge Alvarez (mi) und Xóchitl Gálvez (r)
Dem Kandidaten Jorge Alvarez Maynez (Mitte) kam während der ersten TV-Debatte im mexikanischen Wahlkampf eher eine Statistenrolle zunull Quetzalli Nicte-Ha/REUTERS

Größte Wahlen in Mexikos Geschichte

Bei den Mega-Wahlen am 2. Juni sind nach Angaben des Nationalen Wahlinstituts (INE) 98 Millionen Mexikanerinnen und Mexikaner aufgefordert, ihre Stimme abzugeben. Mexikos Präsident López Obrador darf nach sechs Jahren Amtszeit nicht erneut antreten.

Zum ersten Mal in der Geschichte Mexikos konkurrieren zwei Frauen um das höchste Amt in einem der größten Länder Lateinamerikas. Neben dem Präsidentenamt werden auch der Kongress, die Regierungen von neun Bundesstaaten sowie mehr als 20.000 öffentliche Ämter neu gewählt.

Statistenrolle für männlichen Kandidaten

In der TV-Debatte konfrontierten sich Sheinbaum und Gálvez Ruiz über weite Strecken mit persönlichen Korruptionsvorwürfen. Der dritte Bewerber, Jorge Alvarez Maynez von der kleinen Mitte-Links Partei Movimiento Ciudadano, versuchte sich als alternative Option zwischen den beiden ideologisch klar abgegrenzten Polen zu positionieren, spielte aber eher eine Statistenrolle.

Umfragen zufolge wollen am Wahltag 51 Prozent für Sheinbaum stimmen, 34 Prozent für Gálvez und sieben Prozent für Maynez. Zwischen 20 und 30 Prozent der Wahlberechtigten sind aber noch unentschieden oder antworteten nicht.

Vor dem Wahltermin soll es noch zwei weitere Debatten geben. Dabei kommen dann heiklere Themen wie die Sicherheitsstrategie und die Wirtschaftspolitik zur Sprache. In der ersten Debatte ging es vor allem um Soziales und Korruptionsbekämpfung.

López Obrador empfängt Biden in Mexiko-Stadt

Viele Vorschläge verpuffen

"Die knapp zweistündige Fernsehdebatte wirkte mit sieben Themen über weite Strecken steif und überfrachtet", sagte Florian Huber von der Heinrich-Böll-Stiftung in Mexiko der DW. "Die kurzen Zeitfenster für Antworten ließen kaum Raum für einen echten Schlagabtausch zwischen den Teilnehmenden."

Ähnlich sieht das die Generaldirektorin der Beraterfirma Consultores y Marketing Político, Gisela Rubach: "Während der Debatte kamen insgesamt 52 Reformvorschläge auf den Tisch", sagt sie. "Doch alles blieb wegen der kurzen Zeit oberflächlich, und kaum ein Zuschauer dürfte sich auch nur an fünf dieser Reformvorschläge erinnern", kritisierte sie im Radiosender Imagen.

Beliebte Sozialprogramme

Die 61-jährige Claudia Sheinbaum präsentierte sich als treue Gefolgsfrau von López Obrador und verwies auf ihre Erfahrung der vergangenen sechs Jahre als Hauptstadtbürgermeisterin von Mexico City.

Mexikos Präsident Andres Manuel Lopez Obrador mit einem Buch unter dem Arm neben der Flagge Mexikos
Beim Volk beliebt: Mexikos Präsident Andres Manuel Lopez Obrador darf nach sechs Jahren im Amt nicht mehr antretennull Mexico Presidency/REUTERS

López Obrador erfreut sich noch immer großer Beliebtheit. Etwa 65 Prozent der Bevölkerung stehen hinter ihrem linken Staatschef. Grund dafür könnte die von ihm vorangetriebene Ausweitung staatlicher Sozialprogramme sein.

So erhalten Menschen über 65 Jahre alle zwei Monate umgerechnet etwa 250 Euro Rente, Personen mit Behinderungen 150 Euro und alleinerziehende Mütter gut 80 Euro.  Zudem verdoppelte López Obrador den Mindestlohn.

Die wirtschaftliche Entwicklung des Landes verläuft nach Angaben der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD überraschend positiv. Für 2024 wird mit einem Wirtschaftswachstum von 2,5 Prozent gerechnet, 2023 lag die Rate bei 3,1 Prozent.

Die Staatsverschuldung liegt bei knapp 50 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP), die Arbeitslosigkeit bei rund drei Prozent. Zum Vergleich: In den USA summieren sich die öffentlichen Schulden auf 124 Prozent des BIP.

Mexiko, Maravatio | Die mexikanische Polizei führt Fahrzeugkontrollen in der Stadt Maravatio durch. Dort wurden am 27. Februar zwei Bürgermeisterkandidaten erschossen
Ausufernde Gewalt im Wahlkampf: Am 27. Februar wurden in der Stadt Maravatio zwei Bürgermeisterkandidaten erschossen null Enrique Castro/AFP/Getty Images

Ausufernde Kriminalität

Trotz der positiven wirtschaftlichen Entwicklung bietet die Bilanz von López Obrador viele Angriffsflächen. Mexikanische Hochschulen leiden unter Finanznot. In der Energiepolitik setzt AMLO trotz des Klimawandels auf den Ausbau fossiler Energien.

Einen schweren Rückschlag erlitt er bei seinem Versuch, den staatlichen  Mineralölkonzern Pemex zu retten. Die dafür notwendige Verfassungsänderung scheiterte an der fehlenden Zweidrittelmehrheit im Parlament.

Beim Thema öffentliche Sicherheit ist die Lage verheerend. Nach Angaben des mexikanischen Statistikamtes ENEGI wurden 2022 in Mexiko täglich 85 Morde verübt. 2021 waren es 91 Fälle täglich.

Und als ob das nicht genug wäre, wurde dieser Tage das 140.000-Einwohner-Städtchen Colima in einer Studie zur gewalttätigsten Stadt der Welt gekürt. Unter den zehn gefährlichsten Städten weltweit sind allein neun aus Mexiko.

Dieser Artikel wurde am 9. April erweitert und aktualisiert.

Streit um Essequibo: Venezuela und Guyana vor einem Krieg?

Die Spannungen zwischen Guyana und Venezuela schienen nachgelassen zu haben. In dem mehr als ein Jahrhundert alten Konflikt geht es um das Gebiet Essequibo, eine umstrittene Region von 160.000 Quadratkilometern, die reich an Erdöl und anderen Ressourcen ist. Sie wird von Guyana verwaltet - und von beiden Ländern beansprucht.

Im Dezember hatte Venezuela in einem Referendum über die Annexion Essequibos abstimmen lassen. Nach Regierungsangaben hatten die Teilnehmenden mit großer Mehrheit dafür votiert, Essequibo solle zu Venezuela gehören. Der Streit war dadurch wieder aufgeflammt, doch kurz danach einigten sich der venezolanische Präsident Nicolás Maduro und sein guyanischer Kollege Irfaan Ali darauf, auf Gewalt zu verzichten und eine Lösung im Einklang mit internationalem Recht zu suchen.

Venezuela erklärt Essequibo per Gesetz zum eigenen Bundesstaat

Diese Vereinbarung hielt jedoch nicht lange. Am 3. April verabschiedete Venezuela ein Gesetz, das die Region Essequibo zum 24. venezolanischen Staat erklärt. Präsident Nicolás Maduro beschuldigte bei der Gelegenheit auch die USA, "geheime Militärbasen" im Nachbarland einzurichten. Guyana werde nicht von Präsident Irfaan Ali, sondern vom US-Militär, dem US-Geheimdienst CIA und dem US-amerikanischen Ölkonzern ExxonMobil regiert.

Guyana reagierte scharf und verkündete, dass es "die Annexion oder Besetzung eines Teils seines souveränen Territoriums nicht dulden wird" und das neue Gesetz als "flagrante Verletzung der Grundprinzipien des Völkerrechts" sieht. Gemäß eines internationalen Schiedsspruchs aus dem Jahr 1899 gehört das Gebiet "Guayana Esequiba" zum damaligen Britisch-Guayana, das heute die Republik Guyana ist.

Die Sorge steht im Raum, dass der Streit zu einem bewaffneten Konflikt eskaliert. Der venezolanische Politologe Ángel Medina, ein ehemaliger Abgeordneter der venezolanischen Nationalversammlung, winkt ab: "Es liegt eindeutig nicht im Interesse eines der beiden Länder, Krieg zu führen", sagt er. "Für Venezuela wegen der Krise, in der es sich befindet. Und für Guyana wegen seiner Wachstumsaussichten."

Guyanas Ölreichtum: Ein Weg zum Wohlstand?

Während Venezuela seit Jahren in einer schweren politischen und wirtschaftlichen Krise steckt, ist die Wirtschaft Guyanas derzeit eine der am schnellsten wachsenden der Welt. Ángel Medina erwartet, dass der Konflikt künftig wieder diplomatisch ausgetragen wird.

Venezuelas Präsident Maduro instrumentalisiert den Streit um Essequibo

Hinter Maduros Manöver könnte auch eine innenpolitische Taktik stehen, vermutet Ricardo de Toma, ein auf den Essequibo-Konflikt spezialisierter Politologe. Denn das jüngst verabschiedete Gesetz verbietet allen, die sich in dem Territorialstreit gegen die Regierungslinie aussprechen, für ein gewähltes Amt zu kandidieren. Das gibt dem Regime eine weitere Möglichkeit, die Opposition auszuschalten.

Doch das Gesetz hat für die gesamte Zivilgesellschaft "eine Reihe von äußerst gefährlichen Lesarten", warnt de Toma. "Es erlaubt der Regierung, außergewöhnliche Maßnahmen zu ergreifen, ein ordnungsgemäßes Verfahren zu umgehen und sogar autoritäre Praktiken anzuwenden, um das postulierte nationale Interesse zu verteidigen."

Venezuela, Caracas: An einer Wand hängt ein Poster mit einem Portraits von Nicolás Maduro
Übergroß: Venezuelas Präsident Nicolás Maduro auf einem Plakat in Caracasnull Juan Barreto/AFP/Getty Images

Außerdem ist Wahlkampf in Venezuela. Und Maduro habe weder wirtschaftlich noch politisch viel vorzuweisen, argumentiert Victor Mijares, Professor für internationale Studien an der Universidad de los Andes in Bogotá, Kolumbien, und Mitarbeiter am German Institute for Global and Area Studies (GIGA). "Er braucht eine Botschaft, und in diesem Fall ist das der Nationalismus, der sich seit Jahrhunderten als sehr wirksame Botschaft erwiesen hat."

Riskanter Schachzug von Maduro

Diese Eskalation des Konflikts kann aber auch auf Maduro zurückfallen. Denn seit April 2023 befasst sich der Internationale Gerichtshof (IGH) mit dem Fall Essequibo. Gerade hat Venezuela dem Gericht Dokumente eingereicht, um seine Ansprüche auf das Gebiet zu bekräftigen. Und dort, glaubt Mijares, könnte die aggressive Haltung Venezuelas für seine Verhandlungsposition kontraproduktiv sein und seinen Anspruch aus rechtlicher Sicht schwächen. Denn Maduro sende die Botschaft, dass er das Urteil des IGH ignoriere, noch bevor es ergangen sei.

Venezuela: Nicolás Maduro hält ein geöffnetes Buch hoch, neben ihm Elvis Amoroso, der klatscht
Umstrittenes Referendum: Präsident Nicolás Maduro und Politiker Elvis Amoroso präsentieren das Votum für eine Annexion Essequibosnull Federico Parra/AFP/Getty Images

Victor Mijares erkennt ein Muster, das die Präsidentschaft von Nicolás Maduro ebenso auszeichne wie die seines Vorgängers Hugo Chavez: "Der Chavismo opfert oft die historischen und langfristigen Interessen Venezuelas für die unmittelbaren Interessen der Regierungspartei oder des Führers."

Guyanas Regierung nutzt den Konflikt, um sich zu profilieren

Eines ist deutlich: Das aggressive Vorgehen Venezuelas kommt Guyana zugute. Die ehemalige britische Kolonie kann Maduros Anschuldigungen, das Nachbarland beherberge US-Militärbasen in Essequibo, lässig zurückweisen. Es kann sich als ein Land präsentieren, so Ricardo de Toma, das unweigerlich seine Armee stärken und Kooperationsabkommen mit den Vereinigten Staaten unterzeichnen muss. Es positioniert sich als Verbündeter der USA in der Karibik.

In beiden Fällen - in Venezuela wie in Guyana - werde "der Nationalismus, die Souveränität, als Fahne benutzt, die Regierungen intern zu stärken", fasst der Politikwissenschaftler Ángel Medina zusammen. "Es handelt sich um völlig unterschiedliche Regierungen, die sich aber in ihren Praktiken sehr ähnlich sind."

Tech-Milliardär Elon Musk legt sich mit Brasiliens Justiz an

Ganz besonders hat Elon Musk es auf Alexandre de Moraes abgesehen, einen der zehn Richter am brasilianischen Verfassungsgericht(Supremo Tribunal Federal, STF).

"Warum fordern Sie so viel Zensur in Brasilien?", fragte er den Verfassungsrichter in einem Post am vergangenen Wochenende auf seiner Online-Plattform X, ehemals Twitter. 

Kurz danach warf er Moraes in einem weiteren Post vor, die brasilianische Verfassung zu verletzen und die Bevölkerung zu hintergehen. Er forderte: "Moraes sollte zurücktreten oder seines Amtes enthoben werden. Schande über Dich, Alexandre".

Damit nicht genug. Musk kündigte auch an, er werde sich über die Verordnungen der brasilianischen Justiz hinwegsetzen und die gesperrten Konten im Netzwerk wieder freischalten. 

Moraes hatte die Plattform X angewiesen, bestimmte Konten zu sperren - darunter auch die eines Bloggers und zweier Kongressabgeordneter. Schon seit längerem geht das Gericht gegen "digitale Milizen" vor, die Desinformation und Hetze im Netz verbreiten. Im Zuge der Ermittlungen ordnete Moraes die Schließung mehrerer Konten von Verdächtigen an. 

Justiz ermittelt gegen Musk

"Wir heben alle Restriktionen auf", so Musk. "Dieser Richter hat hohe Strafen verhängt, er hat damit gedroht, unsere Mitarbeiter zu verhaften und den Zugang zu X in Brasilien zu blockieren. Wir werden wahrscheinlich unsere Niederlassung in Brasilien schließen müssen, aber die Prinzipien sind wichtiger als der Gewinn."

Die Reaktion von Moraes ließ nicht lange auf sich warten. Er ordnete an, dass die Bundespolizei Ermittlungen gegen Musk wegen Behinderung der Justiz und Anstiftung zu Straftaten einleitet. 

Außerdem verfügte er, dass nun im Rahmen der Untersuchungen zur Existenz sogenannter antidemokratischer digitaler Milizen und deren Finanzierung auch gegen Musk ermittelt werde. 

Brasilien |Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro (links) trifft Elon Musk bei einer Veranstaltung in Sao Paulo im Mai 2022
Freudige Begrüßung: Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro (links) trifft Elon Musk bei einer Veranstaltung in Sao Paulo im Mai 2022 null Kenny Oliveira/BRAZIL'S MINISTRY OF COMMUNICATION/AFP

"Mythos der Freiheit"?

Die Konfrontation zwischen Musk und Moraes sorgt für eine neue Polarisierung in Brasilien. Während die New York Times den Richter auf ihrem Titel als "Verteidiger der Demokratie" feierte, bezeichnete Brasiliens Ex-Präsident Jair Bolsonaro Musk als "Mythos der Freiheit".

Bolsonaro rief seine Anhänger dazu auf, am 21. April an der Copacabana in Rio de Janeiro "für die Freiheit auf die Straße zu gehen". Bolsonaros Sohn Eduardo, Abgeordneter im brasilianischen Parlament, kündigte an, er wolle im Auswärtigen Ausschuss eine Anhörung zu den "Twitter Files und Zensur in Brasilien" mit Experten einberufen.

Porträtaufnahme von Verfassungsrichter Alexandre de Moraes
Verfasungsrichter Alexandre de Moraes: Für die einen "Verteidiger der Demokratie", für die anderen ein "Diktator, der die Verfassung bricht"null EVARISTO SA/AFP

Streit um interne Twitter-Daten

Hinter dem Begriff "Twitter Files" verbirgt sich die Veröffentlichung ausgewählter interner X-Dokumente, die zwischen Dezember 2022 und März 2023 in dem Netzwerk veröffentlicht wurden. Musk übergab diese einigen Journalisten, darunter auch dem US-amerikanischen Autor Michael Shellenberger.

Der Klimaschutzskeptiker bezeichnet sich selbst als "libertären Aktivisten" und verteidigt kontroverse Positionen. Shellenberger wurde bereits mehrfach wegen der Veröffentlichung falscher Daten zu Umweltfragen angegriffen.

In einem Post auf X behauptete ernun, Brasilien stehe "am Rande einer Diktatur". "Das brasilianische Verfassungsgericht kann den Zugang zu Twitter jederzeit kappen. Es ist keine Übertreibung zu behaupten, dass Brasilien am Rand einer Diktatur steht, die von einem totalitären Verfassungsgericht ausgeht, das sich in den Händen des Richters Alexandre de Moraes befindet", schreibt er.

"Einseitige Zensur"

Shellenberger beschuldigt das höchste brasilianische Gericht, mehrere Rechtsverstöße begangen zu haben. So habe Moraes das Netzwerk verpflichtet, persönliche Daten von Nutzern herauszugeben, weil sie Hashtags veröffentlicht hätten, die Moraes "nicht gefielen".

Moraes habe außerdem Zugang zu den internen Daten des sozialen Netzwerks angefordert, was gegen die Richtlinien der Plattform verstoße. Er habe eine "einseitige Zensur" von Beiträgen brasilianischer Parlamentarier vorgenommen sowie versucht, das Netzwerk zur Bekämpfung von Anhängern des ehemaligen Präsidenten Jair Bolsonaro einzusetzen.

Der brasilianische Jurist Fernando Boscardin, der an der "School of Law" der Universität Miami unterrichtet, widerspricht. Es gehe Shellenberger nicht um freie Meinungsäußerung. "In Wirklichkeit will er die Regulierung von Social Media Plattformen nach europäischem Vorbild verhindern".

Gesetz gegen Fake News

In Brasilien steht laut Medienberichten nun die Abstimmung über ein Gesetz gegen Fake News im Kongress bevor. Der erste Entwurf stammt bereits aus dem Jahr 2020. Er war aufgrund des Widerstands der Tech-Konzerne und der Vertreter rechter Parteien mehrmals zurückgezogen worden, zuletzt im Mai 2023.

Aufgrund dieser Verzögerung erließ Brasiliens Oberstes Wahlgericht TSE am 27. Februar dieses Jahres mehrere Resolutionen mit Vorschriften für die bevorstehenden Kommunalwahlen am 6. Oktober. Diesen sehen vor, dass Wahlgerichte über "effiziente Instrumente verfügen, um Verzerrungen bei Parteienwerbung, Hatespeech, antidemokratischen Äußerungen oder bei dem Gebrauch von Künstlicher Intelligenz zu bekämpfen".

Bildkombo Brasilien Elon Musk Alexandre de Moraes
Machtkampf der Männer: US-Milliardär Elon Musk (links) hat den brasilianischen Verfassungsrichter Alexandre de Moraes (rechts) zum Rücktritt aufgefordertnull Slaven Vlasic/Getty Images/La Nacion/Ton Molina/picture alliance/dpa

"Verstoß gegen nationale Souveränität"

Für die von der brasilianischen Tageszeitung O Globo befragten Fake-News-Experten gehen die jüngsten Äußerungen Elon Musks eindeutig zu weit. "Wenn ein Verstoß gegen die Verfassung vorliegen sollte, dann müsste Musk dies vor Gericht klären lassen", erklärt Juristin Yasmin Curzi, Professorin an der Universität Fundação Getulio Vargas in Rio de Janeiro.

Und sie fügt hinzu: "Die Ankündigung, sich über gerichtliche Anordnungen hinwegzusetzen, ist ein Verstoß gegen die nationale Souveränität".

Venezuelas Opposition ringt um Chancen bei Präsidentenwahl

Buchstäblich Minuten vor Ende der Frist ist es der Oppositionskoalition in Venezuela gelungen, einen Kandidaten für die Präsidentenwahl am 28. Juli 2024 zu melden. Im Januar hatte der Oberste Gerichtshof  den Ausschluss der eigentlichen Spitzenkandidatin des Wahlbündnisses PUD (Plataforma Unitaria Democratica, deutsch.: Demokratische Einheitsplattform), Maria Corina Machado, bestätigt. Diesen Montag dann konnte sich ihre designierte Ersatzkandidatin Corina Yoris "aus technischen Gründen" nicht für die Wahl registrieren.

Letztlich gelang es der PUD, nach einer Fristverlängerung am Dienstag vor Ostern den ehemaligen Diplomaten Edmundo Gonzalez Urrutia als Kandidaten gegen Amtsinhaber Nicolas Maduro zu melden. Daneben hat Venezuelas oberste Wahlbehörde CNE zwei weitere oppositionelle Kandidaten bestätigt.

Wer sind die Oppositionskandidaten in Venezuela?

Die eiligst erfolgte Registrierung von Gonzalez ist laut PUD lediglich als vorläufige Kandidatur zu betrachten. Ziel sei es nach wie vor, Oppositionsführerin Machado aufzustellen. Bis zu zehn Tage vor den Wahlen sei dies rechtlich möglich.

Venezuela | Die venezolanische Oppositionsführerin Maria Corina Machado mit ihrer Ersatzkandidatin Corina Yoris zwischen Anhängern vor einer Reihe Pressemikrofone
Erst am vergangenen Wochenende (22.03.2024) hatte Maria Corina Machado (l.) ihre Ersatzkandidatin Corina Yoris (r.) vorgestelltnull Pedro Rances Mattey/Anadolu/picture alliance

Das war auch der Plan, als die PUD zunächst Corina Yoris als Ersatz nominieren wollte. Die 80-jährige emeritierte Philosophieprofessorin gilt als eloquent, aber als politisch vollkommen unerfahren.

Der zweite Ersatzkandidat Gonzalez sitzt immerhin im Führungsgremium der mit der PUD verbundenen MUD (Mesa de la Unidad Democratica, deutsch: Koalition der demokratischen Einheit). Jedoch ist auch er der Öffentlichkeit in Venezuela wenig bekannt. Oppositionsführerin Machado versprach nach Gonzalez' Registrierung, für ihre eigene Teilnahme weiterzukämpfen.

Drei Kandidaturen: Risikostreuung oder Spaltung?

Ebenfalls kurz vor Ablauf der Meldefrist hat sich der ehemalige Abgeordnete und Ex-Vizepräsident der Wahlkommission, Enrique Márquez, als unabhängiger Oppositionskandidat registriert. Für mehr Wirbel sorgte jedoch die Anmeldung von Manuel Rosales.

Der heutige Gouverneur des bevölkerungsreichsten Bundesstaats Zulia war 2006 als Präsidentschaftskandidat des Oppositionsbündnisses erfolglos gegen den damaligen Amtsinhaber Hugo Chavez angetreten. Dessen Sozialistische Einheitspartei (PSUV) regiert bis heute das Land - seit Chavez' Tod 2013 mit Nicolas Maduro an der Spitze.

Rosales' Partei Un nuevo tiempo (deutsch: Eine neue Zeit) ist eigentlich Teil der Anti-Maduro-Koalition PUD und hatte erst Machados und dann Yoris' Kandidatur bis zuletzt unterstützt. Sich selbst habe er lediglich aus demselben Grund registriert wie Gonzalez: um der PUD die Teilnahmen an der Wahl zu sichern. Allerdings war dies offenbar nicht abgesprochen. Kurz nach Bekanntwerden warf Oppositionsführerin Machado ihm Verrat vor.

Vorwürfe gegen Venezuelas "regimetreue Opposition"

Machados Vorwurf lasse durchblicken, dass sie Rosales einer sogenannten "regimetreuen Opposition" zurechnet, sagt Victor M. Mijares von der kolumbianischen Universidad de los Andes in Bogotá. Darunter versteht man oppositionelle Kräfte, die aufgrund ihrer nicht-konfrontativen Haltung den Anschein von Parteienvielfalt vermitteln, aber keine Bedrohung für eine autoritäre Regierung darstellten. "In Venezuela genießen diese Kräfte gewisse politische Vorteile, die sich etwa im Zugang zu Posten wie Bürgermeister oder Gouverneur äußern", so Mijares.

Politiker Manuel Rosales (M.) umringt von politischen Gefährten nach der Stimmabgabe beim Plebiszit der venezolanischen Regierung über eine Annexion von Teilen des Nachbarlandes Guyanas (03.12.2023)
Gouverneur Rosales (im Dezember): Verdankt er sein Amt einer relativen Regimetreue?null ose I.B. Urrutia/Eyepix/aal/IMAGO

In einem vehementen Dementi verwahrte sich Rosales diesen Mittwoch gegen Behauptungen in sozialen Medien, seine Kandidatur sei mit Nicolas Maduro abgesprochen. Doch - gewollt oder nicht - auch Günther Maihold vom Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin meint, Rosales' Kandidatur sei im Interesse der Regierung: "Als Gouverneur dürfte er eigentlich überhaupt nicht kandidieren. Die von der Regierungspartei kontrollierte Wahlkommission lässt es aber zu, um die Opposition zu spalten."

Die stärkste Kandidatin ist kaltgestellt

Andererseits gilt Maria Corina Machado selbst in Oppositionskreisen als radikal. Auch deshalb wohl stand die rechts-liberale Politikerin jahrelang im Schatten gemäßigterer, eher linksliberaler Führungsfiguren wie Enrique Capriles, Leopoldo Lopez und Juan Guaido.

Spätestens im Oktober 2023 aber setzte sich Machado eindeutig an die Spitze der Opposition. Bei den Vorwahlen der PUD erhielt sie rund 90 Prozent der mehr als zwei Millionen abgegebenen Stimmen. Und das, obwohl ihr Regierungsbehörden zu diesem Zeitpunkt bereits bereit ein 15-jähriges Ämterverbot auferlegt hatten. Einer der Vorwürfe: Sie sei in ein "Korruptionskomplott" des früheren Parlamentspräsidenten Juan Guaidó verwickelt gewesen.

Venezuela | Maria Corina Machado im weißen T-Shirt vor der venezolanischen Flagge spricht energisch gestikulierend in ein Mikrofon (23.01.2024)
Oppositionsführerin Machado (im Januar in Caracas): rechts-liberal und radikal?null Gabriela Oraa/AFP/Getty Images

"Das hat Machados Position deutlich gestärkt", sagt Politologe Maihold. "Noch vergangene Woche habe ich mit Oppositionellen gesprochen, die wirklich an ihre Chance glaubten, die Wahl mit Machado zu gewinnen - wenn sie denn frei und demokratisch verlaufen würde."

Welche Wahlchancen hat die Opposition in Venezuela?

Doch genau dies ist nicht zu erwarten. Die Machthaber von der Sozialistischen Einheitspartei und ihre Verbündeten hätten im Grunde gar keine andere Wahl, als eine demokratische Abstimmung zu verhindern, meint Politologe Mijares. "Nicolas Maduro und seine Regierungskoalition befinden sich in einer Situation, in der es keine gangbare Option ist, von der Macht abzulassen, weil dies letztlich ein existenzielles Risiko darstellen würde." Die Opposition wirft dem Regime Korruption und Menschenrechtsverletzungen massiven Ausmaßes vor, die sie im Falle einer Redemokratisierung des Landes kaum ungeahndet lassen würden.

Unter all den Stolpersteinen, die die Regierung der Opposition in den Weg legt, hält Lateinamerika-Experte Günther Maihold den Ausschluss der Anführerin Machado für den entscheidenden. Machthaber Maduro genieße nur noch die Unterstützung von maximal 30 Prozent der Venezolaner. Dies seien vor allem Parteigänger, Militärs und deren Angehörige - Wähler also, die handfeste Vorteile von seiner Regentschaft haben.

"Der Wahlerfolg der Opposition hängt deshalb im Wesentlichen davon ab, wie viele Wähler sie mobilisieren kann", sagt Maihold. Aber nur einer Führungsfigur wie Machado könne es vermutlich gelingen, eine demokratische Mehrheit auf sich zu vereinen.

Brasiliens Fußball in der Krise - das Ende des schönen Spiels

Es sind traurige Tage für den brasilianischen Fußball. Die Olympia-Auswahl verpasste gerade die Qualifikation für Paris 2024, die Nationalmannschaft Brasiliens, die "Selecao", liegt in der südamerikanischen WM-Qualifikation nur auf Rang sechs. Für den Rekordweltmeister mit fünf Titeln eine indiskutable Bilanz. Mit Dorival Junior saß am Samstag (23. März) beim 1:0-Erfolg im Freundschaftsspiel in England nun der dritte Trainer innerhalb von zwei Jahren auf der Bank der Nationalmannschaft. Es scheint, als habe der Rekord-Weltmeister seine Fußball-Identität verloren.

"Heute gibt es nicht mehr diesen brasilianischen Fußball", sagt Ex-Profi Grafite, der 2009 in der Bundesliga mit dem VfL Wolfsburg Deutscher Meister wurde. Das klassische "Jogo bonito" - das "schöne Spiel", für das frühere brasilianische Weltstars wie der Ende 2022 verstorbene Pelé bewundert wurden - sei nicht mehr erkennbar, findet Grafite, der seit seinem "Tor des Jahres 2009" gegen den FC Bayern in Deutschland so etwas wie Legendenstatus genießt. Damals tanzte der Brasilianer im Strafraum mehrere Bayern-Spieler aus, um den Ball schließlich mit der Hacke ins Tor zu befördern. Heute begleitet Grafite in seinem Heimatland als Experte für den Sender Globo die aktuelle Entwicklung des Fußballs. 

Mehrere hundert Transfers ins Ausland pro Jahr

Vor wenigen Monaten verstarb der legendäre Mario Zagallo, der als Spieler und Trainer Weltmeister mit Brasilien wurde. Bereits nach der Heim-WM 2014, bei der die Selecao im Halbfinale gegen den späteren Weltmeister Deutschland mit 1:7 untergegangen war, hatte Zagallo vor einem Ausverkauf der einheimischen Talente gewarnt. Der brasilianische Fußball drohe deswegen seine Identität zu verlieren, so Zagallo.

Vor gut 20 Jahren wurde in Europa die Regel aufgehoben, nach der die Vereine nur eine beschränkte Zahl internationaler Spieler einsetzen durften. Damals setzte eine massive Verkaufswelle ein, die bis heute anhält. Inzwischen verliert Brasilien jedes Jahr Hunderte Fußballer in alle Welt.

Brasilianische Betreuer tragen den jubelnden Pelé wird nach dem Sieg im WM-Finale 1970 auf den Schultern.
Pelé - hier nach dem WM-Triumph 1970 - galt als Inbegriff des Jogo bonitonull AP Photo/picture alliance

"Das beeinträchtigt den Aufbau der Identität des brasilianischen Fußballs", findet auch David "Dere" Gomes. Der Historiker beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit der Geschichte des Fußballs von Rio de Janeiro. Den talentiertesten Spielern, die in der Lage sind, ein Spiel auf brasilianische Art zu entscheiden, werde die Zeit genommen, ihr Talent im eigenen Land zu entwickeln, meint Gomes. Die brasilianische Fußball-Identität bestehe aber aus der Fähigkeit, etwa mit Dribblings Spiele zu entscheiden.

Top-Transfers verdecken Substanzverlust

Ex-Fußballprofi Grafit im Einsatz als Experte für den brasilianischen TV-Sender Globo
Der Ex-Wolfsburger Grafite fürchtet um die Identität des brasilianischen Fußballsnull Globo

Meist stehen nur die Top-Transfers von Ausnahmetalenten wie 2018 Vinicius Junior oder jetzt Endrick zu Real Madrid im Fokus. Doch mit vielen eher unbeachteten Spielerverkäufen verliert die brasilianische Liga kontinuierlich an Substanz und an Qualität sowohl in der Breite als auch in der Spitze. Zu vergleichen ist das mit der Ausbeutung von Rohstoffen. Nur dass es hier kein Kupfer, Erdöl oder Lithium ist, das sich die reichen Industrieländer abholen, sondern fußballerisches Talent.

"Es ist normal, dass sich brasilianische Spieler an den Stil des europäischen Fußballs anpassen, aber Brasilien hat damit nicht Schritt gehalten", sagt Grafite. Fußballer, die in Brasilien spielen, hätten eine anderen Rhythmus und eine andere Geschwindigkeit als jene, die in Europa im Einsatz seien, so der 44-Jährige. Dort habe das Spiel einfach eine andere Dynamik. Diese beiden Identitäten prallten dann bei einer Copa America oder einer WM innerhalb der Nationalmannschaft aufeinander und führten zu Abstimmungsproblemen, sagt Grafite: "Das konnte man bei der letzten WM recht gut beobachten." Beim Turnier in Katar Ende 2022 war Brasilien im Viertelfinale an Kroatien gescheitert. 

Erfolge der Premier League auf Kosten anderer

Die englische Premier League gilt derzeit weltweit als das Maß aller Dinge im Vereinsfußball. "Wie kann aber die Premier League die größte Liga der Welt sein, wenn England weder die besten Spieler hat noch eine Tradition vieler WM-Triumphe?", fragt Historiker Gomes und gibt die Antwort selbst: "Das funktioniert nur durch den Import von Spielern. Von Talenten aus Lateinamerika und Afrika. Und Brasilien ist eine der größten Fundgruben für diese Talente. Stellen Sie sich vor, wie stark eine brasilianische Fußballliga wäre, die heute Spieler hätte, die in England ihr Geld verdienen, wie Douglas Luiz, Lucas Paquetá, João Gomes, Bruno Guimarães, Richarlison - oder in anderen europäischen Ligen, wie Vinícius Junior oder Rodrygo."

Fußball-Historiker David "Dere" Gomes
Fußball-Historiker David "Dere" Gomes fordert Reformennull Tobias Käufer/DW

Es sei sehr schwierig, diese Entwicklung zu stoppen - vor allem, wenn es sich um einen globalen Markt handele, auf dem jedes Jahr Milliarden Euro bewegt würden, glaubt Dere Gomes: "Um in Brasilien eine starke Liga aufzubauen, wären ein gutes Vereinsmanagement und finanzielles Fairplay nötig. Außerdem etwas, das die Abhängigkeit der Vereine von großen Umsätzen verringert." Auch die Politik sei gefordert. "Wir brauchen eine Gesetzgebung, die die ausbildenden Vereine schützt."

Der Artikel wurde nach dem Spiel der Brasilianer in England aktualisiert.

Wem gehört der Milliarden-Schatz der San José?

Gold, Silber, Smaragde - mehrere Milliarden Euro soll der Schatz der San José heute wert sein. Das Wrack liegt in 600 Metern Tiefe vor der kolumbianischen Küste. Kolumbien will den Schatz nun bergen, obwohl noch gar nicht geklärt ist, wem der Schatz eigentlich gehört. Die Rechtslage ist kompliziert. Und da noch viele Wracks mit großen Kostbarkeiten an Bord auf ihre Entdeckung warten, ist der Rechtsstreit richtungsweisend. 

Viele Verlierer an einem Tag

Um im "spanischen Erbfolgekrieg" den seit 1701 tobenden Krieg mit England, zu finanzieren, wollen die Spanier im Juni 1708 insgesamt 344 Tonnen Gold- und Silbermünzen sowie 116 Kisten mit Smaragden ins Mutterland bringen. Diese Kostbarkeiten hatten die Spanier in ihren amerikanischen Kolonien zusammengerafft.

Sicherheitshalber wurde der gewaltige Schatz auf mehrere Schiffe verteilt, so auch auf die mit 64 Kanonen bestückte Galeone San José, das Hauptschiff der spanischen Silberflotte. Eskortiert wurde die San José von zwei weiteren Galeonen und mehr als einem Dutzend Kriegsschiffen. Schließlich wurden voll beladene spanische Schiffe regelmäßig von englischen oder niederländischen Freibeutern überfallen.

Rund 30 Kilometer vor dem Hafen von Cartagena, das heute zu Kolumbien gehört, lauerten vier britische Kriegsschiffe den Spaniern auf. In der fast zehnstündigen Seeschlacht fing die San José Feuer. Bevor die Engländern die wertvolle Fracht rauben konnten, explodierte die Pulverkammer und in kürzester Zeit sank das Schiff mitsamt der kostbaren Ladung und Besatzung. 578 Menschen kamen ums Leben, es gab nur elf Überlebende. Der Schatz war für alle verloren. Eine Galeone konnten die Engländer kapern, die andere kehrte in den Hafen Cartagena zurück.

Das Gold der San José: verschollen, aber nicht vergessen

Die Erinnerung blieb, aber der kostbare Schatz lag mehr als 270 Jahre lang irgendwo vor der kolumbianischen Küste verborgen. Kolumbien selber war nicht in der Lage, nach dem Schatz zu suchen. Und so finanzierte 1979 ein US-amerikanischer Geschäftsmann eine private Schatzsuche. Vorab schloss seine private Firma Sea Search Armada (SSA) einen Vertrag mit dem kolumbianischen Staat, der ihnen im Erfolgsfall einen satten Anteil an dem Schatz zusichern sollte.

Und tatsächlich konnten die Schatzsucher das Wrack bald lokalisieren und erste, qualitativ noch bescheidene Filmaufnahmen machen. Doch statt Ruhm und Geld gab es nur Verhaftungen und Ärger. Kolumbien erkannte den Fund nicht an, die Firma habe illegal nach dem Schatz gesucht und überhaupt sei ja nicht klar, ob es sich bei dem Wrack auch tatsächlich um die San José handele.

Überwucherte Spanische Galeone San Jose im Karibischen Meer
Mehr als 300 Jahre gehört das Wrack der San José den Algen und Muschelnnull COLOMBIAN PRESIDENCY/AFP

Juristisches Tauziehen um einen Schatz auf dem Meeresgrund

Die US-Firma klagte wegen Vertragsbruchs, ein jahrelanger Rechtsstreit folgte. Im Jahr 2007 gab zunächst ein kolumbianisches Gericht der Bergungsfirma SSA recht. Allerdings klagte Kolumbien in den USA gegen das Urteil und gewann 2011 den Prozess. Denn laut internationalem Seerecht gehören alle Schätze bis zu 12 Seemeilen vor der Küste dem jeweiligen Land. Aber war dieses US-Gericht überhaupt zuständig?

Laut UNESCO-Konvention zum Schutz von Gütern auf dem Meeresgrund gehört ein solcher Fund eigentlich dem Herkunftsland, in diesem Fall also dem Schiffbesitzer Spanien. Eigentlich. Aber Kolumbien hat diese UNESCO-Konvention nicht unterzeichnet.

2015 beauftragte Kolumbien seinerseits eine US-amerikanische Bergungsfirma, die Ende November das Wrack nahe der Halbinsel Barú orten und anhand der markanten Kanonen auch zweifelsfrei identifizieren konnte. Auf den Video-Aufnahmen sind zwischen den Wrackteilen sehr deutlich die mit Delfinen und Pferden geschmückten Kanonen, Gold- und Silbermünzen und andere Kostbarkeiten wie chinesisches Porzellan zu sehen.

Viele erheben Anspruch auf den Schatz

Kolumbiens Staatspräsident Santos reklamierte den Fund für sein Land, nach der Bergung solle der Schatz in einem Museum in Cartagena ausgestellt werden. Aber auch Spanien und die Bergungsfirma SSA beanspruchen die Kostbarkeiten weiterhin für sich. Zudem fordert auch Bolivien einen Teil des Schatzes für das indigene Volk der Qhara Qhara, denen das Gold und Silber sowie die Smaragde einst geraubt worden seien.

Detail einer Kanone der Spanischen Galeone San Jose im Karibischen Meer
An den markanten Pferden und Delphinen auf den Kanonen wurde das Wrack identifiziertnull COLOMBIAN PRESIDENCY/AFP

Sehr viel Geld, sehr viele Interessen. Aber was steht wem zu? Hat Spanien nur Anspruch auf die Wrackteile, also auf das Holz und die Kanonen, oder auch auf die zusammengeraffte Ladung? Spielt es eine Rolle, dass das geraubte Gold und Silber zu Münzen verarbeitet wurde? Ändert dies etwas an dem Anspruch, den Kolumbien oder die Indigenen auf das geraubte Gold oder Silber erheben?

Was ist außerdem mit dem chinesischen Porzellan, das ursprünglich sicherlich nicht aus den spanischen Besitzungen stammt? Und was ist mit dem Vertrag zwischen der Bergungsfirma SSA und Kolumbien?

Komplizierte Rechtslage

Das Sprichwort "Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand" soll verdeutlichen, dass Verlauf und Ausgang eines Gerichtsverfahrens oftmals unkalkulierbar sind. Denn selbst wenn man Recht hat, bedeutet dies nicht, auch Recht zu bekommen.

Aus heutiger moralischer Sicht scheint es unverständlich, warum Spanien für seine einstigen Plündereien in Südamerika auch noch belohnt werden sollte. Oder warum Kolumbien möglicherweise einen Vertrag gebrochen hat oder internationale Abkommen einfach nicht anerkennt, gleichzeitig aber andere internationale Gesetze für sich in Anspruch nimmt.

Chinesisches Porzellan der Spanischen Galeone San Jose im Karibischen Meer
Das feine chinesische Porzellan hat die Jahrhunderte unter Wasser unbeschadet überstandennull COLOMBIAN PRESIDENCY/AFP

Aber vor Gericht geht es eben nicht um Moral, sondern um Recht. Gerichte entscheiden in jedem einzelnen Fall auf der Grundlage der vorgelegten Beweise, Zeugenaussagen, Argumente und des geltenden Rechts. Und da der vorliegende Fall kompliziert ist und es um sehr viel Geld geht, wird der Rechtsstreit vermutlich noch Jahre weitergehen. Zumal nicht wirklich klar ist, welches Recht denn nun gilt und welche Instanz den Fall letztendlich entscheiden kann. Der Internationale Seegerichtshof (International Tribunal for the Law of the Sea, ITLOS) offenbar nicht.

Entscheidet Den Haag über den Schatz der San José?

Die US-Bergungsfirma SSA hat deshalb den Ständigen Schiedshof in Den Haag, den Permanent Court of Arbitration angerufen. Diese Schiedsinstanz ist aber kein internationales Gericht, sondern bietet nur die Strukturen, um eine Streitigkeit durch ein Schiedsgericht beizulegen. 

Ebenfalls in Den Haag ist der Internationale Gerichtshof (International Court of Justice, ICJ), das wichtigste Rechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen. Allerdings ist der ICJ für Rechtsstreitigkeiten zwischen Staaten zuständig. Und beim San José-Schatz handelt es sich nicht um einen Rechtsstreit zwischen Staaten. Deshalb kann der Internationale Gerichtshof möglicherweise auch keinen Fall verhandeln, der auch zwischen privaten Unternehmen oder nichtstaatlichen Akteuren wie Bergungsfirmen und indigenen Völkern stattfindet. 

Es liegt noch viel Gold auf dem Meeresgrund 

Während alle Beteiligten gespannt auf ein Urteil warten, schafft Kolumbien mit der Bergung neue Fakten. Es könnten noch Jahre vergehen, bis es ein verbindliches Urteil gibt, das dann auch für viele andere Wracks und Schiffe gelten könnte.

Nötig wäre es, denn mittels neuer Ortungsmethoden ist die Schatzsuche heutzutage deutlich sicherer, effizienter und lukrativer geworden. Und alleine vor der kolumbianischen Küste sollen noch mehr als zweihundert Wracks liegen.

Dieser Artikel wurde erstmals am 22.03.2024 veröffentlicht und am 28.03. aktualisiert.

Haiti: Frankreichs historische Mitschuld

Armut, politisches Chaos und eine hohe Kriminalitätsrate prägen das mittelamerikanische Haiti seit Jahrzehnten. Doch jetzt befindet sich der Inselstaat in einer regelrechten Gewaltspirale.

Am 29. Februar hatte Interims-Premierminister Ariel Henry Neuwahlen angekündigt - für August 2025. Weil Henrys Amtszeit eigentlich in diesem Februar enden sollte, verstanden gewalttätige Gangs die Ankündigung als Aufruf zum Angriff. Sie attackierten den Nationalpalast und Gefängnisse, wobei über 3000 Gefangene freikamen

Haitis Premierminister Ariel Henry spricht vor Studierenden an der United States International University (USIU) in der kenianischen Hauptstadt
Rückkehr vorerst unmöglich: Premier Henry wurde in Nairobi von den Unruhen auf Haiti überraschtnull Andrew Kasuku/AP Photo/picture alliance

Nun kontrollieren die Banden große Teile der Hauptstadt. Zehntausende Bewohner sind aus Port-au-Prince geflohen. Henry, der gerade in Nairobi für eine kenianische Einsatzgruppe in Haiti warb, sitzt seitdem im US-Territorium Puerto Rico fest. Doch die Ursachen der aktuellen Krise liegen womöglich tiefer. Denn die ehemalige Kolonialmacht Frankreich trage eine historische Mitschuld, sagen Experten.

Der einzig erfolgreiche Sklavenaufstand

1804 schrieb Haiti Geschichte, weil es als erstes lateinamerikanisches Land die Unabhängigkeit erlangte - durch den einzigen erfolgreichen Sklavenaufstand überhaupt. Frankreich stellte 1825 harte Bedingungen, um das Land als unabhängig anzuerkennen: Haiti sollte den ehemaligen Kolonialherren 150 Millionen Francs zahlen, etwa das Dreifache des damaligen haitianischen Bruttoinlandsproduktes. Zudem mussten Importzölle für französische Produkte halbiert werden.

"Die Sieger zahlten den Besiegten paradoxerweise Reparationen, auch aus Angst vor einer erneuten Militärinvasion", sagt Jean-Claude Bruffaerts der DW. Er ist einer der Autoren des Buches "Haiti - Frankreich. Die Ketten der Schulden".

Haitis doppelte Schulden

Um die Schulden zu begleichen, musste sich Haiti sogar Geld zu hohen Zinsen bei französischen Banken leihen. Ökonomen nennen das "Doppel-Schulden". Erst um 1950 herum hatte Haiti alle Verbindlichkeiten abgetragen.

Eine von Müll übersäte Straße in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince in einer Aufnahme von Juli 2021
Eine Straße in Port-au-Prince (Archiv)null Ricardo Arduengo/REUTERS

"Dieses Geld fehlte für dringend benötigte Infrastruktur wie Straßen, Schulen und Krankenhäuser. Außerdem brauchte Haiti den Schutz durch eine Armee, was weiteres Geld verschlang. Das hat die Wirtschaftsentwicklung des Landes erheblich gebremst", erklärt Bruffaerts. Die fehlenden Investitionen in die Infrastruktur machen sich noch heute bemerkbar. "In vielen Teilen der Insel gibt es keine Straßen, die Gesundheitsversorgung ist mangelhaft, und ein Großteil der Schulen hat keinen Strom."

Sklaverei "schafft Nährboden für Instabilität"

Länder, die sich von der Sklaverei befreiten, hätten ohnehin Schwierigkeiten, sich als homogene Gesellschaft zu verstehen, meint Myriam Cottias. Sie ist Direktorin des Pariser Internationalen Forschungszentrums für Sklaverei und dessen Hinterlassenschaften. "Sklaverei schafft einen Nährboden für politische Instabilität, und die durch sie verursachte Spaltung der Gesellschaft verschwindet nicht einfach", sagt die Historikerin zu DW. "Auch in Haiti gibt es noch heute eine korrupte Elite und ein größtenteils sehr armes Volk."

Einfachste Gebäude schmiegen sich zwischen Bäumen an einen Hang
Eine Armensiedlung am Rande der Hauptstadt Port-au-Princenull Rebecca Blackwell/AP/picture alliance

Jean Fritzner Étienne, Haitianer und auf die Kolonialzeit spezialisierter Historiker an der Universität Paris 8, fügt hinzu, dass Haitis Schulden die hierarchischen Machtstrukturen verfestigt hätten. "Dabei hatten sich die Haitianer von der Französischen Revolution inspirieren lassen, die 1789, also kurz vorher stattfand", wundert er sich gegenüber DW. "Nur haben die Franzosen die Prinzipien ihrer eigenen Revolution - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Menschenrechte - nicht außerhalb der eigenen Grenzen angewandt."

Die USA hätten die Wahrnehmung Haitis als unterlegenes Land weiter verstärkt, meint Étienne. Sie besetzten die Insel von 1915 bis 1934. "Von 1957 bis 1986 unterstützten sie die brutale Diktatur von François und später Jean-Claude Duvalier, genannt 'Papa Doc' und 'Baby Doc'", sagt Étienne. "Und bis heute mischen sie sich in interne Angelegenheiten ein."

Erstattung "steht nicht zur Debatte"

Erst der ehemalige Präsident Jean-Bertrand Aristide verlangte im April 2003 von der französischen Regierung die Rückzahlung der einst Haiti auferlegten Schulden. Damals standen fast 22 Milliarden Dollar im Raum. Rund ein Jahr später wurde Aristide gestürzt, in einem von Frankreich und den USA organisierten Staatsstreich. Auf die Frage der DW, ob geplant sei, die Schulden zu erstatten, antwortete das französische Außenministerium jüngst in einer Pressekonferenz, dies stehe "aktuell nicht zur Debatte".

Haiti Proteste in Port-au-Prince
Jean-Bertrand Aristide ist für viele Haitianer - auch 20 Jahre nachdem er aus dem Amt geputscht wurde - ein Hoffnungsträgernull Odelyn Joseph/AP Photo/picture alliance

Experten erwarten nicht, dass Frankreich das Geld zurückzahlt. "Keine ehemalige Kolonialmacht würde das machen. Es würde eine Kettenreaktion auslösen. Alle Ex-Kolonien würden dann Ansprüche erheben", sagt Laurent Giacobbi. Er ist Forscher für Geopolitik in Lateinamerika und der Karibik am Französischen Institut für Internationale und Strategische Fragen (Iris).

Haitianer sollen entscheiden, wie es weitergeht

Frédéric Thomas fordert dennoch einen neuen Denkansatz. Er ist Politologe und Spezialist für Haiti am unabhängigen Forschungszentrum Centre Tricontinental im belgischen Löwen. "Die ehemaligen Kolonialmächte haben noch immer eine koloniale Sichtweise auf Haiti", meint er im Gespräch mit der DW. "Man findet, das Land sei unregierbar und rechtfertigt so eine internationale Einmischung." Die internationale Gemeinschaft habe auch zur aktuellen Lage direkt beigetragen - und nach dem Mord an Präsident Jovenel Moïse im Juli 2021 den von Anfang an unbeliebten Henry unterstützt.

"Um den Teufelskreis der Gewalt und des Chaos zu unterbrechen, muss jetzt endlich die haitianische Bevölkerung entscheiden, wie es weitergeht", sagt Thomas. "Man sollte mithilfe der sogenannten Montana-Gruppe - mit Vertretern von Zivilgesellschaft, Kirche und Gewerkschaften - eine Übergangsregierung bilden und dann entscheiden, ob und wie man internationale Truppen im Land stationiert."

Ehemalige Schulden "sollte Frankreich in Infrastruktur investieren"

Die Montana-Gruppe könnte tatsächlich Mitglieder einer Übergangsregierung stellen. Das Komitee soll einen neuen Übergangspremierminister ernennen und Neuwahlen ausrufen. Wann genau diese Regierung zustande kommt, ist unklar. Erst danach will Henry offiziell zurücktreten.

Auch Autor Bruffaerts hofft, dass die internationale Gemeinschaft nun die Haitianer über ihre Zukunft entscheiden lassen wird. "Frankreich sollte zudem zumindest einen Teil des Geldes, welches Haiti ihr gezahlt hat, in Infrastruktur auf der Insel investieren", sagt er. Um Haiti zu helfen, sich endlich wirtschaftlich zu entwickeln.

Wie die Welt Haiti destabilisiert hat

100 Tage Milei: Rückschläge und Hoffnung für Argentinien

Steigende Armut, sinkende Inflation: Die ersten 100 Tage des neuen argentinischen Präsidenten Javier Milei geben Anlass zu Sorge und Hoffnung zugleich. Das Sozialobservatorium der Katholischen Universität (UCA) hat einen Anstieg der Armut in Argentinien registriert.

Auf den ohnehin hohen Armutssockel von rund 45 Prozent kam noch einmal eine Steigerung auf nun 57 Prozent. Das Kinderhilfswerk Unicef erwartet einen Anstieg der Kinder- und Jugendarmut von 62 auf 70 Prozent. Das ist das wohl größte Problem der neuen libertär-konservativen Regierung: die wachsenden sozialen Spannungen machen sie angreifbar.

Eine Frau und zwei Kinder durchsuchen einen riesigen grünen Müllcontainer in Buenos Aires
Eine Familie sucht in Müllcontainern in Buenos Aires nach Lebensmittelnnull Tobias Käufer/DW

Erste finanzpolitische Erfolge

Dem gegenüber stehen erste finanzpolitische Erfolge. Die Inflation ging von rund 25 Prozent im Dezember auf rund 20 Prozent im Januar auf nun 13,2 Prozent im Februar herunter. Das Portal Perfil (eine überregionale argentinische Wochenzeitung) prognostizierte jüngst eine weitere Reduzierung bis Juli auf etwa sieben Prozent. Die "kräftige Verlangsamung" der Inflation sei "das Ergebnis der Arbeit der nationalen Regierung zur Durchsetzung einer strengen Haushaltsdisziplin", ließ Milei die Entwicklung kommentieren. Doch auch 13,2 Prozent sind erst einmal ein harter Schlag für die Bevölkerung.

"Der wichtigste Erfolg ist der Rückgang der Inflation, der bisher die Erwartungen übertrifft", sagt der in Buenos Aires ansässige Wirtschaftsberater Carl Moses im Gespräch mit der DW. "Trotz der schweren Rezession sind die Kurse von argentinischen Aktien und Anleihen kräftig gestiegen. Das passt zur Stimmungslage in der Bevölkerung, die besser ist, als man angesichts der noch dramatisch weiter verschlechterten wirtschaftlichen und sozialen Lage erwarten würde."

Ein Polizist, links im Bild, mit Helm, Schutzschild und Schlagstock drängt einen Demonstranten mit Schutzbrille und Atemmaske (re) heftig zurück. Im Bildhintergrund sind weitere Demonstranten mit Transparenten zu sehen
Proteste gegen Mileis Politik - hier am 1. Februar in Buenos Airesnull Luciano Gonzalez/Anadolu/picture alliance

Reformen bleiben stecken

Bislang konnte Milei aber seine ambitionierten Wirtschaftsreformen nicht durchsetzen. Teils herbe Niederlagen in Kongress (wo Mileis Partei La Liberdad Avanza keine Mehrheit hat) und im Senat lassen die Reformprojekte stagnieren, sagt Moses: "Es fehlen bisher allerdings wirkliche Reformen, die eine dauerhafte Besserung möglich machen würden. Der kurzfristig erreichte Ausgleich der Staatsfinanzen, auf den die Regierung so stolz ist, beruht bisher auf der realen Entwertung von Renten und Löhnen sowie anderen provisorischen Maßnahmen, die man nicht auf Dauer durchhalten kann."

Wirtschaftswissenschaftler Agustín Etchebarne von der Stiftung Libertad y Progreso aus Buenos Aires fordert im Gespräch mit der DW nun eine Umsetzung der Reformen: "Dieser Prozess der wirtschaftlichen Anpassung und Transformation ist unerlässlich, um die Grundlagen für ein nachhaltiges Wachstum und langfristige Stabilität zu schaffen. Wir gehen davon aus, dass sich die Wirtschaft in der zweiten Jahreshälfte erholen wird."

Harte Sparmaßnahmen

Die Milei-Regierung versucht, den von den Vorgänger-Regierungen übernommenen, hoch verschuldeten, Staatshaushalt mit knallharten Sparmaßnahmen zu sanieren. Die nach offiziellen Angaben defizitär arbeitende staatliche Nachrichtenagentur TELAM soll geschlossen werden, beim Nationalen Radio wurden unzählige Zeitverträge nicht verlängert. Staatliche Institutionen wurden geschlossen, den Provinzregierungen die Gelder gekürzt.

Javier Milei, umgeben von seinen Anhängern, hält mit beiden Händen eine Kettensäge in die Höhe
Im Wahlkampf hatte Milei bisweilen auch eine Kettensäge dabei null Marcos Gomez/AG La Plata/AFP

"Es gibt kein Geld", hatte Milei zu Beginn seiner Amtszeit den Zustand der Staatskasse beschrieben. Trotz der harten Maßnahmen und der steigenden Armutsrate ist die Zustimmung für Milei vergleichsweise stabil, auch wenn der Präsident in den Umfragen zuletzt einige Punkte verlor. Bislang kommt Milei zugute, dass er ein "schweres erstes Jahr" ankündigte - und dieses 'Versprechen' auch einhält. Der eine Teil der Bevölkerung ist überzeugt, dass sich diese Opfer lohnen, die andere Hälfte sieht die Entwicklung mit großer Sorge.

Sozialorganisationen üben Kritik

Scharfe Kritik am Kurs der Regierung kommt aus dem Lager der Sozialorganisationen und der Opposition. Die katholische Kirche im Heimatland von Papst Franziskus lenkt den Blick auf die Bedürftigen. Armenpriester berichten, die Zahl der Menschen, die bei Armenspeisungen um Hilfe bitten, hätte sich spürbar vergrößert. Der spanisch-stämmige Armenpriester "Paco" Olveira wirft Milei ein gezieltes Vorgehen gegen die traditionell eng mit dem lange regierenden Peronismus verbundenen Sozialbewegungen vor:

"Die Idee der Regierung ist es, alle gemeinschaftlichen, sozialen und politischen Organisationen zu zerstören." Emilio Pérsico von der peronistischen Bewegung Evita vermutet, dass angesichts der gestiegenen Armut die Präsidentschaft vorzeitig enden könnte: "Es wäre ein Wunder, wenn Javier Milei vier Jahre durchhält."

Für mehr Gleichberechtigung in Perus Kaffeebranche

Carolina Peralta füllt die Espressomaschine mit frischen Kaffeebohnen auf, kurz darauf übertönt ein Rattern das Quatschen der Gäste und der Duft von frisch gemahlenem Kaffee strömt durch den Raum. Es dauert nicht lange, bis ein Kunde an die Theke tritt und beginnt, die Karte zu scannen. "Welchen Kaffee hättest du gerne?", fragt Carolina, "den von Lidia oder den von Consuelo?" 

Lidia und Consuelo sind nur zwei von etwa ein Dutzend Frauennamen, die im Café "Florencia y Fortunata" in der peruanischen Stadt Cusco in großen Lettern auf den Behältern der Kaffeebohnen stehen, auf den Papierverpackungen, die sich im Regal hinter der Theke aneinanderreihen oder auf den Karten, die auf dem Tresen liegen.  

"Unsere Mission ist es, weibliche Kaffeeproduzentinnen in Peru sichtbarer zu machen", sagt die 27-jährige Carolina, die das Café 2021 gegründet hat. 

Das Café Florencia y Fortunata in Cusco
Das Café Florencia y Fortunata in Cusco zieht sowohl Touristen als auch Einheimische annull Hernán Martín/DW

"Wo sind die Frauen in der Kaffeebranche?"

Nachdem die junge Peruanerin Accounting an einer Business-Universität in Lima studiert hat, arbeitete sie bei einer großen Pharmafirma. Für den Job musste sie viel durch Peru reisen. "Ich hatte schon immer ein Faible für Cafés und habe die Reisen genutzt, um Kaffee an den unterschiedlichsten Orten zu trinken", erzählt Carolina.  

Dabei fiel ihr auf, dass die Kaffeekultur in Peru stark männlich geprägt ist. In den Cafés wurde fast ausschließlich von dem Kaffeeproduzenten, dem Röster, dem Barista gesprochen. "Ich fragte mich: Wo sind die Frauen in dieser Branche?" 

Und so begann Carolina auf eigene Faust zu verschiedenen Kaffeeplantagen in Peru zu fahren, vor allem in ihrer Heimatregion Cusco sowie in Cajamarca.

"Dort habe ich Muster gesehen, die sich wiederholt haben", berichtet sie. Natürlich würden Frauen auf den Plantagen arbeiten. Sie seien in vielen Familienbetrieben sogar das Rückgrat der Produktion, weil sie sich neben der Arbeit auch noch um die Organisation sowie um die Kinder und Tiere kümmern. "Die Frauen bringen alles zum Laufen", meint Carolina. 

 Blanca Flor Quispe Rubio auf ihrer Plantage in Cajamarca
Blanca Quispe ist eine der Produzentinnen, die ihren Kaffee jetzt unter ihrem eigenen Namen verkauftnull Carolina Peralta

Frauen auf den Kaffeeplantagen: viel Arbeit, wenig Sichtbarkeit  

Doch am Ende werde der Kaffee, für den die Frauen hart arbeiten, unter dem Namen von Männern verkauft. Carolina berichtet von Frauen, darunter Blanca Quispe (Foto), die zwar ihre Betriebe leiten, jedoch für ihren Kaffee zunächst den Namen ihres Vaters oder ihres Mannes wählten. So gebe es mehr Anerkennung und die Verkaufszahlen fielen besser aus.  

Um das zu ändern, machte Carolina einen Plan: Ein Café eröffnen, in dem Kaffee von Frauen verkauft wird, um so die Gleichberechtigung in der Kaffeebranche zu fördern. Dafür kündigte sie ihren Job und zog zurück in ihre Heimatstadt Cusco.

Das Café lief zunächst nicht gut an  

In ihrem Viertel Magisterio eröffnete sie ihr Café unter dem Namen "Florencia y Fortunata", die Namen ihrer beiden Großmütter.  

Doch der Anfang verlief holprig. Zum einen sind es die Cusqueños gewohnt, starken, destillierten Kaffee zu trinken. Mit Cappuccino oder Flat White konnten sie wenig anfangen. "Zum anderen gab es in meinem Viertel wenig Verständnis für das Konzept des Cafés", erzählt Carolina. Die Kundschaft blieb aus. 

Gründerin Carolina Peralta vor ihrem Café im Zentrum Cuscos.
Carolina Peralta ließ sich nicht unterkriegen und eröffnete eine Filiale im Stadtzentrumnull Hernán Martín/DW

Neuanfang im Zentrum von Cusco  

So verlegte die Unternehmerin ihr Café ins Stadtzentrum, nur wenige Meter von der Plaza Mayor, dem Hauptplatz, entfernt. "Hier sind wir auf mehr Neugier und Offenheit gestoßen", berichtet Carolina. Mit Erfolg. Immer mehr Kunden kamen, um den Kaffee von Consuelo, Lidia, Sonia oder Blanca zu probieren. 

Cusco ist eine Stadt, die unter anderem wegen der Nähe zum Weltwunder Machu Picchu viele Touristen anzieht. Auch Carolinas Café besuchen Reisende aus aller Welt. Peruanischer Kaffee ist insbesondere im westlichen Ausland sehr beliebt. Doch über strukturelle Probleme wie die Diskriminierung der Frauen wissen die wenigsten Bescheid. 

Es kämen aber auch viele Menschen aus Peru - sogar etwas mehr Männer als Frauen, so Carolina. "Ich finde es toll, wie sich das Café für Frauen einsetzt", sagt die 40-jährige Kundin Rosalina Susano zwischen zwei Schlucken von ihrem Eiskaffee. "Außerdem ist der Kaffee ausgezeichnet und ich habe mich mit der ganzen Atmosphäre, mit der Musik und mit den Leuten direkt verbunden gefühlt."

Die Kundin Rosalina Susano sitzt an einem der Tische und trinkt einen Eiskaffee.
"Ich liebe das Konzept des Cafés", sagt Kundin Rosalina Susano null Hernán Martín/DW

Mehr weibliche Baristas in Perus Cafés  

Rosalinas Kaffee wurde von Rosana Mantilla zubereitet. Die 29-Jährige kommt aus Venezuela und ist Barista und Servicechefin des Cafés. "In Lateinamerika findet man nur sehr wenige weibliche Baristas hinter den Theken", sagt sie. Frauen werden hauptsächlich im Service eingestellt, während die Männer an den Espressomaschinen arbeiten. "Aber in Peru gibt es langsam aber sicher mehr weibliche Baristas." Das ist zumindest ihr Eindruck, denn offizielle Statistiken gibt es dazu nicht. 

Rosana zaubert mühelos ein feines Muster in den Milchschaum eines Cappuccinos. "Ich denke, dass wir, egal ob Frau oder Mann, dieselbe Arbeit gleich gut erledigen können", meint sie. Das gelte sowohl für die Arbeit als Barista als auch für die Kaffeeproduktion.  

 Die Barista Rosana Mantilla serviert einen Cappuccino.
Rosana Mantilla liebt ihren Job als Barista im Café Florencia y Fortunatanull Hernán Martín/DW

Kaffeepackung mit eigenem Namen ist wie eine Trophäe 

Carolina hat vor kurzem eine zweite Filiale eröffnet - wieder in ihrem Heimatviertel Magisterio, in dem es anfangs nicht gut lief. Mittlerweile sind die Menschen auch hier offener und besuchen das Café. Außerdem nutzt Carolina das zweite Café als Röstlabor, um mit verschiedenen Kaffeesorten zu experimentieren.  

Bald möchte Carolina eine weitere Filiale im neuen Flughafen von Cusco eröffnen, der momentan gebaut wird. "Ich denke, dass Flughäfen ein großartiges Schaufenster sind", sagt Carolina. "So könnten wir den Kaffee unserer Produzentinnen bei Menschen aus aller Welt bekannt machen."

Auch bei den Produzentinnen spricht sich Carolinas Engagement herum. "Anfangs sind wir zu den verschiedenen Kaffeeplantagen gereist und haben die Frauen gefragt, ob sie ihren Kaffee direkt an uns verkaufen wollen", erzählt Carolina. Mittlerweile kämen Produzentinnen von selbst im Café vorbei und brächten Proben mit. 

"Wenn die Frauen ihre erste Packung, auf der ihr Name steht, in den Händen halten, ist das wie eine Trophäe für sie", berichtet Carolina. "Sie sind stolz darauf, dass sie ihren Kaffee unter ihrem Namen verkaufen können - ohne Unsicherheiten oder Diskriminierung."

Haiti: Wenn Gangs die Regierung ersetzen

"Anfang der Woche hatte sich die Lage etwas beruhigt", berichtet Antoine Jeune aus Haitis Hauptstadt Port-au-Prince. Er ist Landesbüroleiter der Diakonie Katastrophenhilfe, dem humanitären Hilfswerk der deutschen Evangelischen Kirchen. Die relative Ruhe hätten viele Menschen genutzt, um einige grundlegende Besorgungen zu erledigen. Doch inzwischen sei die Gewalt wieder aufgeflammt.

Am Donnerstag dann, drei Tage nach der Rücktrittserklärung von Interimspräsident Ariel Henry, zogen Berichten zufolge wieder bewaffnete Gruppen plündernd und brandschatzend durch Port-au-Prince. Sie steckten öffentliche und private Gebäude in Brand - darunter das Privathaus des Polizeichefs von Haiti und das Zentralgefängnis, aus dem Angreifer vergangene Woche mehrere Tausend Häftlinge befreit hatten.

Port-au-Prince: Eine geschäftige Straßenszene mit vielen Menschen und mehreren Vans
Port-au-Prince am Dienstag: eine Verschnaufpause gibt Gelegenheit für Besorgungennull Odelyn Joseph/AP/picture alliance

Seit Anfang März überziehen bewaffnete Gruppen vor allem die Hauptstadt, in der etwa ein Viertel der elf Millionen Haitianer lebt, mit einer Welle der Gewalt. Prominentester Rädelsführer ist Jimmy Cherizier, Spitzname "Barbecue". Der ehemalige Polizist leitet die mächtige Bande G9, die aus einem Bündnis ehemals konkurrierender Banden hervorgegangen ist.

Wer regiert Haiti nach der Rücktrittserklärung des Präsidenten?

Ariel Henry hat seinen Rücktritt für den Fall erklärt, dass es gelingt, eine Übergangsregierung zu bilden. Allerdings kann er sein Amt derzeit ohnehin nicht ausüben: Zum einen befindet er sich nach einer Auslandsreise noch auf der Nachbarinsel Puerto Rico, weil die Rebellen seine Rückkehr durch Angriffe auf den Flughafen verhindern.

Zum anderen kontrollieren die Gangs Berichten zufolge mittlerweile 80 Prozent des haitianischen Territoriums. Seit die Regierung am 4. März den Ausnahmezustand über Port-au-Prince verhängt hat, sind Ministerien und andere staatliche Einrichtungen, von denen Regierungsgewalt ausgehen könnte, verwaist. Einzig Polizei und Militär versuchen noch, die Ordnung aufrechtzuhalten und die seit Donnerstag verhängte Ausgangssperre zu überwachen.

Zwei Soldaten mit Sturmgewehren, zwei weitere Männer gehen über die Straße
Zwei Soldaten patrouillieren nahe dem Flughafen: Die Sicherheitskräfte versuchen der Lage zumindest an einigen strategischen Punkten Herr zu werdennull Odelyn Joseph/AP/picture alliance

Doch allem Anschein nach sind die mächtigsten Männer in Haiti derzeit Gangsterbosse: Eine handlungsfähige, staatliche Autorität gebe es derzeit nicht, sagt Günther Maihold, Politikwissenschaftler am Lateinamerika-Institut der FU Berlin. "Die beiden dominierenden Gangs haben die faktische Gewalt über das Land."

Wer ist Barbecue und was will er?

Jimmy "Barbecue" Cherizier wurde Ende 2018 aus dem Polizeidienst entlassen, nachdem ihm die Beteiligung an mehreren tödlichen Gewaltexzessen vorgeworfen wurde. In den folgenden Jahren setzte er sich an die Spitze der bewaffneten Gruppe G9, mit vollem Namen "Revolutionäre Kräfte der G9 und Alliierte". Die hat sich nun offenbar mit ihren Erzfeinden der Gang "G-PEP" zu der Bewegung "Vivre Ensemble" (dt.: zusammen leben) vereint, um die Regierung des völlig verarmten Karibikstaates stürzen.

Bandenchef Jimmy "Barbecue" Cherizier mit Kopfhörern, Handy und Maschinenpistole
Stilisiert sich als wohlwollender Revolutionär: Jimmy "Barbecue" Cherizier während eines Telefoninterview mit der Pressenull REUTERS

In verschiedenen Interviews hat sich Cherizier als Revolutionär stilisiert, der dem Land eine gerechtere Zukunft mit freier Bildung, Essen und Arbeit für alle verspricht. Tatsächlich sind die Gangs seit langem mit wirtschaftlichen und politischen Eliten des Landes verbandelt. Der Lateinamerikaexperte Maihold geht davon aus, dass sie versuchen werden, im Schulterschluss mit ihnen die Macht zu übernehmen. Dass "Barbecue", der sich mit ehemaligen karibischen Diktatoren wie Kubaner Fidel Castro und dem Haitianer Francois Duvalier vergleicht, das Wohl des Volkes im Sinn hat, glaubt er allerdings nicht: "Cherizier ist in eine Vielzahl illegaler Geschäfte verstrickt. Ich kann nicht erkennen, dass er sich nun plötzlich von einem Saulus zu einem Paulus, von einem Warlord zu einem Lord wandelt."

Wie geht es der haitianischen Bevölkerung?

Auch was Antoine Jeune von der Realität in Port-au-Prince berichtet, spricht dagegen, dass Cherizier humanitäre Absichten verfolgt: "Jedes Mal, wenn man das Haus verlässt, um zu arbeiten oder sich zu versorgen, geht man das Risiko ein, überfallen oder entführt zu werden oder in eine Schießerei zwischen der Polizei und den örtlichen Sicherheitskräften zu geraten."

Wie die Welt Haiti destabilisiert hat

Gleichzeitig hätten zwei von drei Haushalten Einkommenseinbußen durch die Unruhen, so Jeune, und die ohnehin unzureichende Versorgungslage verschlechtere sich weiter. Folglich stiegen die Lebensmittelpreise in für viele Menschen kaum bezahlbare Höhen. Einige Grundnahrungsmittel wie schwarze Bohnen seien gar nicht mehr verfügbar, weil Hafen und Flughafen in dem importabhängigen  Land durch die Revolte blockiert sind.

Wie könnte es weitergehen in Haiti?

Die Vereinbarung zwischen Henry und den Oppositionsparteien sieht vor, dass eine Übergangsregierung die Ordnung im Land wiederherstellen und binnen eines halben Jahres Wahlen abhalten soll. So soll erstmals seit dem Mord an Präsident Jovenel Moise im Juli 2021 eine demokratische legitimierte Regierung an ihre Stelle treten.

Jamaika CARICOM Treffen in Kingston: US-Außenminister Antony Blinken, Guyanas Präsident Irfaan Ali und Jamaicas Primierminister Andrew Holness bei einer Pressekonferenz
In einer Sondersitzung der CARICOM haben sich die haitianischen Parteien auf Bedingungen für die Bildung einer Übergangsregierung geeinigtnull Andrew Caballero-Reynolds via REUTERS

Der Beschluss kam unter Vermittlung der Karibischen Gemeinschaft CARICOM zustande. Doch der Politologe Maihold hält das für ein allzu hehres Ziel: "Wie soll man unter solchen Umständen eine freie, faire und geheime Wahl abhalten? Selbst, wenn es eine zeitnahe Einigung gäbe, hängt doch alles von der Sicherheitslage ab."

Wie die Sicherheit im Land wiederhergestellt werden könnte, wissen auch die Experten nicht. Die Vereinten Nationen hatten bereits im Oktober eine Eingreiftruppe genehmigt. Allerdings sind Blauhelme in Haiti aufgrund schlechter Erfahrungen äußerst unbeliebt. Aber Kenia wollte in Absprache mit Interimspräsident Henry und mit Geld aus den USA 1000 Polizisten in den Karibikstaat entsenden. Doch das ist bisher an einem innerkenianischen Rechtsstreit und mangelnder Zustimmung für die Finanzierung im US-Kongress gescheitert. Dabei hätten die USA und Kanada ein Interesse an Stabilität in Haiti, um die Migration von dort zu verlangsamen und das Wachstum des dort ansässigen Drogenumschlags zu unterbinden. 

Brasiliens Aufschwung an der Seite Chinas und Russlands

Seit einigen Monaten ist Marcio Pochmann der neue Chef des brasilianischen Statistik-Instituts IBGE. Und der von Staatspräsident Luiz Inacio Lula da Silva ausgewählte Wirtschaftswissenschaftler kann seinem Chef gleich zu Beginn seiner Amtszeit mit erfreulichen Zahlen dienen: Mit 2,9 Prozent Wirtschaftswachstum schaffte Brasilien 2023 mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 2,17 Billionen US-Dollar das Comeback in die Top Neun der größten Volkswirtschaften weltweit.

Die Wirtschaft des größten lateinamerikanischen Landes konnte damit an den Aufschwung aus dem Vorjahr noch unter dem umstrittenen Vorgänger Jair Bolsonaro anknüpfen: 2022 lag das Wachstum sogar bei 3,0 Prozent. Der ehemalige Präsidentschaftskandidat Ciro Gomes kommentierte deshalb beim US-Nachrichtensender CNN bissig: Lula habe einfach "nichts" an Bolsonaros Wirtschaftspolitik geändert.

Der brasilianische Präsident Luiz Inacio Lula da Silva trifft in Berlin auf Unterstützer. Lula lächelt. Im Hintergrund sind jubelnde Frauen zu sehen, die Lula-Schilder in die Luft halten.
Brasiliens Präsident Lula da Silvas hatte sich dazu entschieden, sein Land trotz geopolitischer Konflikte weiterhin an der Seite Pekings und Moskaus zu platzieren. Die Entscheidung zahlt sich jetzt ökonomisch aus.null Ricardo Stuckert/PR

Agrarwirtschaft und China als Motor des Aufschwungs

Dass Brasiliens Wirtschaft wächst, liegt zunächst an der enorm effizienten Agarindustrie: Bei der Soja- und Maisproduktion verzeichnete die Land- und Viehwirtschaft vergangenes Jahr einen Rekordanstieg von 15,1 Prozent. Brasiliens wirtschaftlicher Erfolg hängt aber auch von Lula da Silvas Entscheidung ab, sein Land in den aktuellen geopolitischen Konflikten weiterhin an der Seite Pekings und Moskaus zu platzieren. Das zahlt sich nun ökonomisch aus.

"Brasiliens internationaler Handel ist heute ohne China nicht mehr denkbar", sagt Professor Roberto Goulart von der Universität Brasilia im Gespräch mit der DW. "Es ist das wichtigste Zielland für brasilianische Exporte. Im Jahr 2023 wurden Waren im Wert von 104 Milliarden Dollar nach China geliefert. Das ist dreimal so viel wie in die USA."

China habe in den vergangenen zehn Jahren auch seine Investitionen in Brasilien erhöht und seine Präsenz in der brasilianischen Wirtschaft diversifiziert: Automobile, Energie und Landwirtschaft seien die Sektoren, denen die Chinesen die größte Aufmerksamkeit schenkten, so Goulart. "Russland wiederum ist für Brasilien wirtschaftlich wichtig, weil es Düngemittel exportiert", sagt Goulart mit Blick auf die brasilianische Agrarindustrie.

Gruppenfoto beim 15. BRICS-Gipfel in Johannesburg. Von links nach rechts: Brasiliens Präsident Luiz Inacio Lula da Silva, Chinas Präsident Xi Jinping, der südafrikanische Präsident Cyril Ramaphosa, der indische Premierminister Narendra Modi und der russische Außenminister Sergej Lawrow posieren für das Gruppenfoto.
Vier Präsidenten, ein Außenminister: Gipfel der BRICS-Staaten in Johannesburg (Südafrika) im August 2023 ohne Russland Präsident Putin, der vorsichtshalber seinen Außenminister Lawrow (rechts) schicktenull Prime Ministers Office/ZUMA Press/picture alliance

Aufgrund des europäischen Embargos wegen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine ist Brasilien zum drittgrößten Importeur von fossilen Brennstoffen aus Russland geworden. Vor allem russischer Dieselkraftstoff ist ein wichtiges Importgut geworden. "Schließlich sollte man nicht vergessen, dass Brasilien, Russland und China Mitglieder der BRICS und Partner der Neuen Entwicklungsbank sind, deren Haupttätigkeitsbereich die Infrastruktur ist", sagt Goulart. BRICS steht für einen Schwellenländerbund aus Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika, der sich zunehmend für neue Mitglieder öffnet.

Rückschläge trüben das Bild

Rückschläge wie beim staatlichen Ölkonzern Petrobras, der jüngst massiv an Börsenwert verlor, trüben zwar das Bild. Tatsächlich weist aber viel daraufhin, dass Brasilien zu einem Motor des Aufschwungs in Lateinamerika werden kann. Fast im Wochentakt gibt es Milliarden-Investitionszusagen der internationalen Automobilindustrie, die Brasilien als Zukunftsmarkt betrachten. Das wird mittelfristig seine Wirkung nicht verfehlen, auch wenn sich Brasilien wieder deutlich mehr Staatsausgaben leistet und damit den Haushalt belastet.

Montagelinie im Werk des Fiat Chrysler-Konzerns in Betim (Brasilien)
Die internationale Automobilindustrie sieht Brasilien als Zukunftsmarkt. Dadurch zieht Brasilien aktuell viele internationale Investitionen an.null Pedro Vilela/Getty Images

Brasilien ist nach allen Seiten offen

Wirtschaftswissenschaftler Felipe Rodrigues von der Universität Federal Fluminense (UFF) sieht Brasilien noch aus einem anderen Grund gut aufgestellt. Denn das Land zeige sich nach allen Seiten offen. "Brasiliens Handel mit China ist sehr ausgeprägt, aber Brasilien ist eben auch immer noch ein Handelspartner der Vereinigten Staaten." Allerdings habe die Handelsbilanz mit den USA rein rechnerisch einen Verlust, mit China aber einen Überschuss von 51 Milliarden Dollar erbracht, rechnet Rodrigues vor.

Zudem drängt das Land im Rahmen des südamerikanischen Staatenbündnisses Mercosur auch auf einen Abschluss eines Freihandelsvertrages mit der Europäischen Union. Den kann Brüssel zwar derzeit nicht liefern, doch Brasilia hält sich jede Option offen und treibt auch Verhandlungen mit weiteren asiatischen Ländern wie Japan voran.

Haiti im Chaos: Wie es dazu kam und wer es beenden könnte

Premierminister Ariel Henry hat sich nach Angaben der karibischen Staatengemeinschaft Caricom zum Rücktritt bereiterklärt. Es werde ein siebenköpfiger Präsidialrat für den Übergang hin zu Wahlen in Haiti gegründet, der einen neuen Interims-Premierminister bestimmen werde, teilte Guyanas Präsident Mohamed Irfaan Ali am Montag (Ortszeit) nach einem Treffen der Regierungschefs karibischer Staaten in Jamaika mit. Mächtige kriminelle Banden, die große Teile Haitis und fast die gesamte Hauptstadt Port-au-Prince kontrollieren, hatten Henrys Rücktritt gefordert. Und damit dürften sie jetzt eines ihrer Ziele erreicht haben.

"Kriminelle haben das Land übernommen. Es gibt keine Regierung," Das waren die Worte von Bharrat Jagdeo, Vizepräsident von Guyana vor der Caricom-Dringlichkeitssitzung. 

In dem Karibikstaat greifen Bandenmitglieder seit Tagen staatliche Institutionen wie Polizeistationen, Regierungsgebäude und Gefängnisse an. Berichten zufolge liegen Leichen auf den Straßen; mehrere Hunderttausend Menschen sollen innerhalb des Landes auf der Flucht sein. In der Region um die Hauptstadt Port-au-Prince gilt der Ausnahmezustand und eine nächtliche Ausgangssperre. Allerdings zeigt die Polizei laut Berichten kaum noch Präsenz und lässt damit Plünderungen und Selbstjustiz mehr oder weniger freien Lauf. Schon im vergangenen Jahr schätzten die Vereinten Nationen, 80 Prozent der Hauptstadt seien unter der Kontrolle der Banden. Deutschland, die EU, die USA und andere Länder haben ihr Botschaftspersonal aus Sorge um dessen Sicherheit abgezogen.

Wie konnte sich die Lage so zuspitzen?

Die Zeichen stehen auf Eskalation - spätestens seit dem 7. Februar: Dieses Datum hatten verschiedene politische und gesellschaftliche Gruppen gemeinsam mit Premierminister Ariel Henry für den Amtsantritt einer neuen Regierung gesetzt. Allerdings hatte Henry gar keine Wahlen abhalten lassen. Stattdessen brachte er Ende Februar eine neue Übergangsperiode bis August 2025 ins Gespräch.

Verstärkt hat den aktuellen Unmut sicherlich, dass Henry dies nicht in Port-au-Prince verkündete, sondern auf einem Caricom-Gipfel in Guyana. Von dort reiste er nach Kenia; seit dem 05. März befindet er sich in Puerto Rico.  

Haiti | Proteste in Port-au-Prince: Ein Mann trägt einen symbolischen Sarg in US-Farben mit dem Bild von Premier Henry darauf
Schon länger gab es Wut gegen Premierminister Ariel Henry und gegen Einmischung aus den USA, Kanada und Frankreich - hier bei einer Demonstration im Oktober 2022null Joseph Odelyn/AP Photo/picture alliance

Während Henrys Abwesenheit hat sich die Lage zusehends verschlechtert: Anfang März stürmten Bandenmitglieder zwei Gefängnisse und verhalfen dort rund 4500 Insassen zum Ausbruch.

Wer heizt die Lage weiter an - und wer ist Gang-Boss "Barbecue"?

Zum Ernst der Lage trägt auch bei, dass einst rivalisierende Banden sich verbündet haben. Allen voran zu nennen ist ein Zusammenschluss aus neun vormals eigenständigen Gangs namens "G9 Familie und Verbündete". Er wird angeführt von Jimmy Chérizier, Spitzname "Barbecue". Der frühere Polizist wird von Beobachtern immer wieder als einer der de facto mächtigsten Männer in Haiti angeführt. Dem Magazin "New Yorker" nannte Chérizier im vergangenen Jahr unter anderem Fidel Castro und Malcolm X als Vorbilder. "Ich mag auch Martin Luther King, aber er kämpfte nicht gerne mit Waffen, aber ich schon."

Trauerzug: Barbecue und weitere Männer in weiß gekleidet mit einem Bild von Moise
Der Gangboss Jimmy Cheriziér alias "Barbecue" bei der Trauerfeier für den ermordeten Präsidenten Jovenel Moise 2021null Joseph Odelyn/AP Photo/picture alliance

Was ist die Vorgeschichte?

Die frühere französische Kolonie Haiti nimmt das westliche Drittel der Karibikinsel Hispaniola ein; im Osten liegt die einst spanisch beherrschte Dominikanische Republik. Die Bevölkerung beider Inselstaaten stammt zu großen Teilen von der afrikanischen Westküste, die im Auftrag der Kolonialherren verschleppt und versklavt wurden.

Die Unabhängigkeit von Frankreich errang Haiti 1804 nach einer Revolution, die aus einem jahrzehntelangen Sklavenaufstand hervorging. Es ist das einzige Land der westlichen Hemisphäre, das die Kolonialherrschaft unter der Führung ehemaliger afrikastämmiger Sklaven abstreifte. Allerdings gab es seitdem viele von Gewalt und Instabilität geprägte Perioden, in denen die verschiedenen Ethnien um die Vorherrschaft rangen.

Wie die Welt Haiti destabilisiert hat

Ab Mitte des 20. Jahrhunderts propagierte der Diktator François Duvalier die Entmachtung der ethnisch gemischten Elite des Landes zugunsten der schwarzen Mehrheitsbevölkerung. Unter seiner Führung stiegen auch Banden, die rücksichtslos und gewaltsam agierten, zu einer mächtigen Parallelgewalt neben der Staatsmacht auf.

Als weiteres Schlüsselereignis gilt das verheerende Erdbeben von 2010 mit mehreren Hunderttausend Todesopfern: Der schwache Staat konnte dessen Folgen kaum abfangen - und so konnten die Banden ihren Machtradius über ihre angestammten Viertel hinaus ausdehnen.

Haiti nachdem Erdbeben 2010 ein Straße liegt voller Betontrümmer
Große Teile Haitis lagen nach dem Erdbeben vom 14. Januar 2010 in Schutt und Aschenull Juan Barreto/AFP/Getty Images

Der Unmut der Bevölkerung nahm zu - und richtete sich 2019 zunehmend gegen den Präsidenten Jovenel Moïse, dem Korruption vorgeworfen wurde. Infolge der Proteste wurden anstehende Wahlen nicht abgehalten und Moïse regierte zunehmend per Dekret. Im Juli 2021 wurde Moïse von Unbekannten in seiner Amtsresidenz ermordet. Seitdem steht der von ihm gerade erst als Premierminister auserkorene Ariel Henry an der Spitze des Staates - in Personalunion auch als Übergangspräsident. Seit dem Mord an Moïse, der bis heute nicht aufgeklärt ist, gerät die öffentliche Ordnung noch stärker unter Druck. Henry wandte sich deshalb an die internationale Gemeinschaft. Im Oktober 2023 beschloss der UN-Sicherheitsrat die Entsendung einer multinationalen Sicherheitstruppe unter Führung Kenias.

Was sind die Startschwierigkeiten bei der UN-Eingreiftruppe?

Der kenianische Präsident William Ruto hatte schon Monate vor dem Beschluss des UN-Sicherheitsrates den Vorschlag unterbreitet, bis zu 1000 Sicherheitskräfte zu entsenden. Doch dabei handelte es sich nicht um Soldaten, sondern um Polizisten. Beobachter in Nairobi äußern Zweifel, dass deren Ausbildung und Ausrüstung für den Kampf mit den teils schwer bewaffneten Banden in Haiti taugt.

Ein knappes Dutzend Polizisten in Tarnanzügen und Schutzausrüstung auf einer irdenen Straße im Kibera-Viertel in Nairobi
Kenianische Polizisten beim Einsatz gegen wütende Demonstranten im vergangenen Juli - könnten sie auch mit schwer bewaffneten Banden fertig werden?null Brian Inganga/AP Photo/picture alliance

Schwerer wiegt jedoch ein juristisches Argument: Im Januar stellte ein kenianisches Gericht klar, dass der nationale Sicherheitsrat nur Soldaten ins Ausland entsenden darf - und keine Polizisten. Das Gericht ließ jedoch das Schlupfloch offen für eine Polizeimission, wenn ein Entsendeabkommen mit dem betreffenden Land existiert. Zur Unterzeichnung eines ebensolchen Abkommens war Haitis Regierungschef Henry Anfang März nach Nairobi gereist. Doch die kenianische Opposition hat bereits eine neue Klage angekündigt.

Auch die Finanzierung der Mission ist noch nicht in trockenen Tüchern: Die Regierung von US-Präsident Joe Biden wollte bis zu 200 Millionen Dollar zur Verfügung stellen. Ob die Republikaner im Kongress dieses Vorhaben jedoch mitten im Wahlkampf unterstützen, ist fraglich. Und so ist weiter offen, in welcher Form die internationale Gemeinschaft Haitis Hilferuf beantworten wird.

Versorgungskrise: Kubas Regierung muss UN um Hilfe bitten

Der brasilianische Befreiungstheologe Frei Betto war dieser Tage in Havanna. Nach seinem Besuch, bei dem er unter anderem mit Kubas Präsident Miguel Díaz-Canel zusammentraf, zeigte er sich alarmiert. Betto war früher Verbindungsmann zwischen der katholischen Kirche und der Regierung Kubas unter Fidel Castro, den er mehrere Tage lang für den berühmt gewordenen Gesprächsband Fidel y la religión interviewte. Heute arbeitet er mit der FAO, der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen zusammen, um Kubas Lebensmittelproduktion zu steigern. Er habe Kuba noch nie in einer so schwierigen Situation gesehen, sagte er gegenüber einem brasilianischen Journalisten.

Dazu passt eine Meldung der spanischen Nachrichtenagentur EFE, die in der vergangenen Woche für Aufsehen sorgte. Kuba hat das UN-Welternährungsprogramm, kurz WFP, um Hilfe gebeten, da das Land Schwierigkeiten hat, weiterhin subventionierte Milch an Kinder unter sieben Jahren zu verteilen. Zum ersten Mal überhaupt hat die Regierung ein solches Ersuchen an die UNO gerichtet. Das WFP ist seit 1963 auf Kuba tätig und hat die Insel vor allem nach großen Naturkatastrophen wie Wirbelstürmen mit Nahrungsmitteln unterstützt.

Magermilchpulver schon angekommen

Die UN-Behörde bestätigte eine offizielle Anfrage Ende vergangenen Jahres; man habe bereits mit der Lieferung von Milchpulver auf die Insel begonnen. Von der kubanischen Regierung gab es keine offizielle Bestätigung. Laut EFE hat das WFP bereits 144 Tonnen Magermilchpulver auf die Insel geschickt, das sind knapp sieben Prozent des landesweiten Bedarfs für die Grundversorgung. Dieser liegt nach offiziellen Angaben bei 2000 Tonnen Milchpulver pro Monat.

Kinder unter sieben Jahren und Menschen mit speziellen Diäten aufgrund chronischer Krankheiten erhalten in der Regel über die Libreta de abastecimiento, eine Art Rationierungsheft, eine monatliche Menge Milch zu einem stark subventionierten Preis. Über die Libreta werden auch andere Grundnahrungsmittel wie Reis, Bohnen, Speiseöl oder Hühnchen gleichmäßig an alle Kubaner verteilt. Kuba gibt dafür jährlich 1,6 Milliarden US-Dollar aus - viel Geld für die chronisch leere Staatskasse.

Kuba Entladung eines Bananenlasters in der Altstadt von Havanna
Einiges, wie Bananen, gibt es regelmäßig zu laufen. Aber viele können sich das nicht leisten. null L. F. Postl/blickwinkel/picture alliance

Zudem kommt es immer mal wieder zu Verzögerungen oder Problemen mit der Bereitstellung von Milch, da sich die Verfügbarkeit staatlich gelieferter Milch in den letzten Monaten verschlechtert hat. Einige Provinzen haben die Liefermengen reduziert; in einigen Fällen wurde die Milchlieferung durch Sirup oder vitaminisierte Instant-Soda ersetzt. Die Ministerin für Binnenhandel, Betsy Díaz Rodríguez, nannte "Schwierigkeiten beim Kauf von Milchpulver im Ausland" sowie interne Versorgungs- und Verarbeitungsprobleme der nationalen Milchindustrie als Gründe.

Hauptursache des Übels ist der Mangel an Devisen

"Die ökonomische Situation ist im Fall Kubas sehr komplex und das ist auf den Mangel an Devisen zurückzuführen", sagt der unabhängige kubanische Ökonom Omar Everleny Pérez gegenüber der DW. Viele der grundlegenden Lebensmittel könnten seiner Meinung nach in Kuba hergestellt werden, aber aufgrund vieler Mängel im kubanischen Landwirtschaftsmodell werden sie nicht im Land produziert und müssten größtenteils importiert werden.

Doch diese Importe gestalten sich wegen des Devisenmangels aufgrund des Einbruchs des Tourismus und der Verschärfung der US-Sanktionen sowie gestiegener Lebensmittel- und Energiepreise infolge des russischen Krieges in der Ukraine schwierig. Die Versorgungskrise auf der Insel hat sich zugespitzt. Dank neuer Lieferungen aus Brasilien könne die Milchversorgung im Laufe des Monats März sichergestellt werden, erklärte Kubas neuer Minister für die Lebensmittelindustrie, Alberto López Díaz, Ende vergangener Woche.

Kuba, Havanna | Autofahrer an einer Tankstelle
Benzin ist zum März um 400 Prozent teurer gewordennull Ramon Espinosa/AP/picture alliance

Milchpulver aber ist nicht das einzige Grundnahrungsmittel, das die Kubaner beunruhigt. Auch die Versorgung mit Weizenmehl für die staatliche Herstellung bereitet Probleme. Die Regierung hat vor wenigen Tagen angekündigt, dass sie bis Ende März nicht in der Lage sein wird, die Versorgung mit subventioniertem Brot zu gewährleisten. Berichten zufolge haben einige Provinzen die Brotausgabe eingeschränkt. Pérez erinnert daran, dass zuletzt auch die Stromabschaltungen wieder zugenommen haben - wegen des Mangels an Treibstoff.

Der Staat muss sich nicht um alles kümmern

Die schwierige Versorgungslage ist keineswegs neu. Insgesamt ist das Warenangebot aktuell viel besser als beispielsweise noch vor einem Jahr. Die neuen kleinen und mittleren Privatunternehmen importieren immer mehr Lebensmittel. Das große Problem für einen breiten Teil der Bevölkerung sind die Preise. Die Inflation ist weiterhin sehr hoch. Gleichzeitig steckt der Staat in Zahlungsnöten und hat Probleme die Grundversorgung über die Libreta zu gewährleisten, die für viele Kubaner eine wichtige Hilfe ist.

Für Pérez liegt ein Problem darin, dass der Staat allumfassend sein wolle. "Nirgendwo auf der Welt sind Bäckereien im Besitz des Staates." Die kleinen und mittleren Privatunternehmen hätten Weizen und Brot, sagt er: "Wenn es wirklich einen Mangel gibt, dann müssen wir uns die Ursachen ansehen: Warum gibt es einen Mangel? Es ist ein Mangel an Devisen, es sind Fehler im Wirtschaftsmodell. Ich glaube, dass sich der Staat auf die grundlegenden strategischen Bereiche des Landes konzentrieren sollte."

in Tourist, der inmitten der Coronavirus-Pandemie eine Mund-Nasen-Bedeckung trägt, geht am Strand (April 2021)
Der Tourismus ist eine wichtige Einnahmequelle des Staates. Doch vom Einbruch während der Corona-Pandemie hat sich der Sektor bis heute nicht wirklich erholt. null Ramon Espinosa/AP/dpa/picture alliance

Ende des Jahres hat die Regierung ein Maßnahmenpaket zur makroökonomischen Stabilisierung inklusive Subventionsabbau sowie Sprit- und Energiepreiserhöhungen angekündigt, um das gewaltige Staatsdefizit und die schwere Wirtschaftskrise in den Griff zu bekommen. Am vergangenen Freitag wurde die drastische Preiserhöhung für Benzin um über 400 Prozent umgesetzt, die unter Verweis auf einen angeblichen  "Cyber-Sicherheitsvorfall in den IT-Systemen" zunächst um einen Monat verschoben worden war. Auch soll die Grundversorgung über die Libreta neu aufgestellt werden - von einem Modell, das Produkte subventioniert, zu einem Modell, das sozial schwache Gruppen finanziell unterstützt.

Mit dem privaten Sektor zu besseren Zeiten

Die Bitte um Unterstützung an das WFP ist vor diesem Hintergrund vielleicht als Pragmatismus der kubanischen Regierung zu sehen, um den Staatshaushalt zu entlasten und Handlungsspielraum für die geplanten Reformen zu schaffen. Ein solches Ersuchen an die UNO hat im Fall Kubas aber immer auch eine politische Ebene. Die Regierung in Havanna dürfte befürchten, dass das Gesuch von rechten US-Medien und Exilkubanern in Miami instrumentalisiert wird.

Pérez schaut trotz allem verhalten optimistisch in die Zukunft. "Die Wirtschaftskrise in Kuba ist immer noch kompliziert, wir haben es nicht geschafft, aus dem Loch herauszukommen, obwohl wir nicht schlechter dastehen als in den vergangenen Jahren." Aber es gäbe eine Vision, dass sich der Tourismus erholen werde und dass es Verträge für wichtige medizinische Dienstleistungen geben werde. "Ich glaube, dass es kurzfristig etwas eng wird, aber wenn die politischen Verantwortlichen richtig ansetzen, hat der private Sektor immer noch einen Raum, der perfekt abgedeckt werden kann, und es muss nicht der Staat sein."