Das Schweizer Bundesstrafgericht hat den gambischen Ex-Innenminister Ousman Sonko wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt. Sonko wurde wegen einer Reihe von Straftaten schuldig gesprochen, die er zwischen 2000 und 2016 unter dem Regime des ehemaligen gambischen Diktators Yahya Jammeh begangen hatte. Die Staatsanwaltschaft hatte in dem Prozess in Bellinzona in der Südschweiz eine lebenslange Haft gefordert. Der heute 55-Jährige - auch als "Folterkommandant von Gambia" tituliert - kann gegen das Urteil Berufung einlegen.
Sonko befindet sich seit Januar 2017 in Schweizer Haft, nachdem er nach seiner Entlassung aus der Regierung des westafrikanischen Landes Asyl beantragt hatte. Er wurde nach dem Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit angeklagt, das es Ländern erlaubt, mutmaßliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Völkermord zu verfolgen - unabhängig davon, wo sie begangen wurden.
"Die Verurteilung von Ousman Sonko, einer der Stützen des brutalen Regimes von Yahya Jammeh, ist ein wichtiger Schritt auf dem langen Weg zur Gerechtigkeit für Jammehs Opfer", sagte der US-Anwalt für Menschenrechte, Reed Brody. Er betreut Opfer von Jammehs Herrschaft und verfolgte den Prozess in der Schweiz. "Dieses Urteil bestätigt, dass Gerechtigkeit keine Grenzen kennt und dass die 'universelle Gerichtsbarkeit' zu einem mächtigen Instrument geworden ist, um Tyrannen und Folterer zur Rechenschaft zu ziehen", sagte Brody in einer Erklärung.
Die Anwälte der Kläger hatten erklärt, es bestehe kein Zweifel daran, dass Sonko während der gesamten Zeit von Jammehs repressivem Regime zum inneren Kreis gehörte. Jammeh regierte Gambia von 1994 bis 2016 mit eiserner Hand. Sonko wurde von der Schweizer Staatsanwaltschaft beschuldigt, "systematische und allgemeine Angriffe im Rahmen der von den gambischen Sicherheitskräften gegen alle Regimegegner durchgeführten Repressionen unterstützt, daran teilgenommen und sie nicht verhindert zu haben".
Die Anklage umfasste neun Fälle von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Sonko wurde vorgeworfen, "vorsätzlich getötet, gefoltert, vergewaltigt und Personen in schwerwiegender Weise unrechtmäßig ihrer Freiheit beraubt" zu haben. Es traf vor allem Oppositionelle, Journalisten und als Putschisten verdächtige Personen. Sonko soll die Verbrechen zunächst in der Armee, dann als Generalinspekteur der Polizei und schließlich als Innenminister von 2006 bis 2016 begangen haben. Die Anklage wegen Vergewaltigung stellte das Gericht allerdings ein.
Seine Anwälte argumentierten hingegen, dass er nicht wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt werden könnte. Bei den mutmaßlichen Straftaten habe es sich um isolierte Handlungen gehandelt, für die Sonko ihrer Meinung nach keine Verantwortung tragen könne.
Im Jahr 2022 stimmte die gambische Regierung den Empfehlungen einer Kommission zu, die die während der Jammeh-Ära verübten Gräueltaten untersuchte. Die Behörden erklärten sich bereit, 70 Personen strafrechtlich zu verfolgen. Darunter ist auch der Ex-Diktator selbst, der aber schon 2017 nach Äquatorialguinea ins Exil gegangen war. Im April verabschiedete Gambias Parlament dann Gesetzentwürfe zur Einrichtung eines Sonderstaatsanwalts, der die von der Kommission ermittelten Fälle verfolgen soll, und zur Schaffung eines Sondergerichts.
sti/kle (afp, ap, rtr, epd)
Nur schwer auszuhalten sind einige der Szenen, die der Film schildert. In leicht abstrahierten Zeichnungen stellen sie die Exekution eines Mannes dar, der zuvor von einer Eliteeinheit der bangladeschischen Armee abgeholt worden war. Es ist die Ermordung eines Oppositionspolitikers, die im Film "Inside Bangladesh's Death Squad" von Chris Caurla, Naomi Conrad, Arafatul Islam und Birgitta Schülke minutiös nachgezeichnet wird.
Die Dokumentation, die von DW Investigations in Zusammenarbeit mit DW Bengali und dem Exilmedium Netra News produziert wurde, weist einer Elite-Einheit in Bangladesch zum ersten Mal gezielte Exekutionen und Folter nach. In Taipei wird sie nun mit dem Human Rights Press Award ausgezeichnet, einem der renommiertesten Journalistenpreise in Asien.
"Investigativer Journalismus braucht Mut, Ausdauer und journalistische Exzellenz. Das DW Team hat dies eindrücklich gezeigt. Ich bin stolz, dass die DW für diesen qualitativ hochwertigen Journalismus steht. Ich gratuliere herzlich”, sagt DW-Chefredakteurin Manuela Kasper-Claridge.
Das Rapid Action Battalion (RAB) wurde von der Regierung nach dem 11.September 2001 als Anti-Terror-Einheit mit Unterstützung westlicher Partnerländer gegründet. Mit den Jahren wuchs der Kreis derer, die ins Visier der Eliteeinheit gerieten. Neben militanten Islamisten verschwanden auch mutmaßliche Kriminelle und Oppositionspolitiker nachdem sie von der Truppe abgeholt wurden. Gerüchte über Exekutionen durch die Eliteeinheit kursieren schon länger.
Das DW-Team konnte sie nun zum ersten Mal nachweisen. Detailliert schildert der Film das Vorgehen der Truppe bei solchen Exekutionen, die im Nachhinein meist als Schießereien unter Kriminellen vertuscht werden. Das Team konnte erstmals ehemalige Offiziere der Truppe sprechen, die die Verbrechen bestätigten. Mit Hilfe von Dokumenten und Zeugenaussagen konnten sie Verantwortliche bis an die Spitze des Staates identifizieren.
"Die vielen mutigen Menschen – Quellen und andere – die uns vor Ort geholfen haben, diese Geschichte zu erzählen, haben diese Auszeichnung mindestens genauso verdient ", sagt Autorin Birgitta Schülke.
Film, Onlinetext und Social Media Beiträge erreichten zusammen an die 10 Millionen User, einen Großteil davon in der Landessprache Bengalisch. In Bangladesch selbst ist die Pressefreiheit eingeschränkt. Inländische Medien berichten kaum über die hunderten gezielten Tötungen, die der Einheit angelastet werden. "Diese Auszeichnung zeigt, dass es wichtig ist, dass wir als internationale Medien die Geschichten erzählen können, die Journalisten und Journalistinnen dort in Gefahr bringen würden", sagt Autorin Naomi Conrad.
Auf dem Pressefreiheits-Index ist Bangladesh in den letzten Jahren massiv zurückgefallen. "In einer solchen Situation berichten lokale Medien kaum über schwere Menschenrechtsverletzungen oder die Vergehen der Mächtigen", pflichtet ihr Co-Autor Arafatul Islam bei. "Investigationen Internationaler Medien wie unsere RAB-Doku sind deshalb wichtig, um diese Vergehen ans Licht zu bringen."
Sie kamen ganz in Schwarz: Journalisten, Techniker und Verwaltungsangestellte der öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalt der Slowakei RTVS. Sie trugen am Donnerstag vergangener Woche (25.04.2024) ihren Sender symbolisch zu Grabe. Auch mehrere Online-Beiträge veröffentlichten sie an diesem Tag ganz ohne Farbe, nur in Schwarz-Weiß.
Damit protestierten sie gegen einen Beschluss der Regierung von Ministerpräsident Robert Fico vom Vortag, der nichts weniger bedeutet als die Auflösung von RTVS. In- und ausländische Journalistenverbände sowie die Europäische Rundfunk-Union EBU laufen dagegen Sturm. In der Slowakei gehen tausende Menschen seit Wochen gegen das geplante Mediengesetz auf die Straßen. Der Gesetzentwurf sieht auch schon einen neuen Namen für das Nachfolge-Medium vor: STVR.
Was wie eine harmlose Umsortierung der Buchstaben aussieht, verrät in Wirklichkeit die Stoßrichtung des Gesetzesvorhabens. Der Sender soll Staatsrundfunk werden. Das S für die Slowakei am Ende der Buchstabenreihe des alten Namens sei eine "Herabwürdigung der Nation", argumentiert Martina Simkovicova von der Nationalpartei und Ressortchefin im Kulturministerium. Deshalb müsse der Name der Nation zukünftig nach vorn gerückt werden. Der Griff nach den unabhängigen Medien ist im 5,5-Millionen-Staat Slowakei der jüngste politische Vorstoß des Populisten Fico, der seit Herbst vergangenen Jahres erneut als Ministerpräsident amtiert.
Der Gesetzentwurf nach ungarischem Vorbild kam unmittelbar vor dem Internationalen Tag der Pressefreiheit (03.05.). Der Tag erinnert an Verletzungen der Medienfreiheit und an die grundlegende Bedeutung freier Berichterstattung als Existenzgrundlage von Demokratien. Medien, die Ficos Politik kritisch gegenüberstehen, waren dem Premier schon lange ein Dorn im Auge. Er und seine nur noch dem Namen nach sozialdemokratische Partei Smer-SD, verfolgen einen offen nationalistischen Kurs. Zu seiner Dreiparteien-Regierung zählt auch die ultrarechte slowakische Nationalpartei (SNS). Fico und andere Regierungsmitglieder bedienen sich unverhohlen einer aggressiven Rhetorik. RTVS sei "antislowakisch" und betreibe "illegale" Aktivitäten, wobei unklar bleibt, was damit gemeint ist. Aussagen wie diese spiegeln das Gegenteil dessen wider, was die Mehrheit der slowakischen Bevölkerung denkt. Sie hält RTVS seit Jahren für das vertrauenswürdigste Medium des Landes. Fico, der zum vierten Mal Regierungschef ist, wirft dem Sender hingegen vor, "zu regierungskritisch" zu sein.
Das geplante neue Mediengesetz ist der Hebel, um den Chef des Rundfunks, Lubos Machaj, loszuwerden. Der Generaldirektor von RTVS ist erst seit 2022 im Amt und zusammen mit seinem Führungsteam für fünf Jahre gewählt. Er soll aber durch einen Nachfolger abgelöst werden, den ein neunköpfiges Gremium bestimmt. Dies besteht aus vier Mitgliedern der Regierung und fünf aus dem Parlament, in dem die Fico-Koalition eine knappe Mehrheit stellt. Der Neue auf dem Chefstuhl soll, wenn er im Amt ist, das Lied der Regierung singen. Ohne die Auflösung von RTVS wäre das nicht möglich.
Bislang sei ihm nichts vorgelegt worden, was den Vorwurf belege, nicht objektiv zu berichten, so Machaj in einem Interview. Schon längst habe "die aktuelle Regierungsnomenklatur damit begonnen, alternative Medien zu bevorzugen".
In der Tat: Ministerien wurden angehalten, den Sender zu boykottieren. Nicht nur RTVS steht unter Beschuss, sondern auch private Medien, die es wagen, regierungskritisch zu berichten. Dazu zählen die Zeitungen Dennik N und SME sowie das Portal Aktuality.
Für Letzteres arbeitete der Investigativ-Journalist Jan Kuciak. Er hatte bis 2018 zu Verstrickungen der damaligen Fico-Regierung mit der Italienischen Mafia recherchiert. Seine Enthüllungen über kriminelle Machenschaften kosteten ihn und seine Verlobte das Leben. Sie wurden am 21.02.2018 von Auftragskillern ermordet. Mutmaßlicher Auftraggeber war der slowakische Geschäftsmann Marian Kocner.
Was folgte, waren tiefe öffentliche Erschütterung und ein politisches Erdbeben. Die Slowakei erlebte damals die größten Massendemonstrationen gegen die Regierung. Fico geriet unter Druck und musste zurücktreten - eine Zäsur, aber nicht sein politisches Ende.
Der Mord an Jan Kuciak geriet zwischen 2020 und 2023 durch die Pandemie, den Krieg gegen die Ukraine, die Energiekrise und die Inflation mehr und mehr in den Hintergrund. Insbesondere Russlands Angriff auf die Ukraine führte zu einer tiefen Spaltung der slowakischen Bevölkerung, die sich in etwa zu gleichen Teilen als prowestlich und als prorussisch bekennt.
Eine aktuelle Ergebung zur Pressefreiheit des "Committee for Editorial Independence", einer Arbeitsgruppe des tschechischen Medienunternehmen Economia, sieht die Slowakei inzwischen als das Problemland Nummer Eins unter den vier Visegrad-Staaten (Polen, Slowakei, Tschechien, Ungarn) . 65 Prozent der für die Studie Befragten gaben an, dass sie um die Medienfreiheit in ihrem Land fürchteten. Noch vor zwei Jahren hatten sich weniger als die Hälfte Sorgen gemacht. Die Slowakei, seit 20 Jahren EU- und NATO-Mitglied, ist nicht nur medienpolitisch auf dem Weg in die internationale Isolation. Außenpolitisch hat das Land seit Amtsbeginn Ficos prorussische Töne angeschlagen und die staatliche Militärhilfe für den östlichen Nachbarn Ukraine gestoppt.
Mit einer umstrittenen Justizreform und der Auflösung der Sonderstaatsanwaltschaft gegen Korruption legte die Regierung Anfang des Jahres nach. Ein Geschenk für alle in Korruption Verstrickten, so die Opposition.
Die Konsequenzen der Reform sind eine geringere Strafen für Korruptionsdelikte und verkürzte Verjährungsfristen, eine Maßnahme, auf die die EU mit einer Protest-Resolution reagierte. Der geografisch und historisch engste Partner der Slowakei, Tschechien, ging noch einen Schritt weiter. Die gemeinsamen Regierungssitzungen Prags und Bratislavas sind vorerst ausgesetzt.
Jetzt also wird die Axt an die Pressefreiheit angelegt. Das geplante Mediengesetz soll bis Juni im Parlament mit der knappen Mehrheit der Regierungskoalition verabschiedet werden - noch vor der Sommerpause. Man werde die Medienentwicklung in der Slowakei beobachten und den Gesetzestext genau analysieren, heißt es dazu mahnend aus Brüssel.
Rusudan Djakeli hat in den vergangenen Tagen so gut wie keinen Abend zu Hause verbracht. Stattdessen steht sie fast jeden Abend auf der Straße, meist vor dem Parlament in Georgiens Hauptstadt Tiflis. Vor dem Gebäude im Zuckerbäckerstil an der belebten Rustaveli Avenue protestiert sie gegen die Regierung, zusammen mit tausenden, manchmal zehntausenden anderen.
"Ich bin hier, um mein Land zu verteidigen", sagt die 30-Jährige, denn ihre Heimat sieht sie in großer Gefahr. Grund dafür ist ein Gesetz, das die Regierung gerade durchs Parlament bringen will. Es sieht vor, dass sich Nichtregierungsorganisationen und Medien, die zu mehr als 20 Prozent aus dem Ausland finanziert werden, künftig registrieren müssen. "Russland greift uns an", sagt Rusudan, "nicht direkt, aber indirekt". Damit ist sie nicht allein: Auf vielen Bannern ist zu lesen: "No to Russian law" - "Nein zum russischen Gesetz". Wie aber kommen die Demonstranten auf diesen Vergleich, den die georgische Regierung zurückweist?
Viele Georgier glauben, dass die Regierungspartei "Georgischer Traum" vom Kreml beeinflusst wird. Ihr Gründer und Ehrenvorsitzender Bidsina Iwanischwilli, der sein Milliarden-Vermögen in den 90er Jahren in Russland erwirtschaftet hat, verbreitete erst Anfang der Woche Verschwörungstheorien, die viele an die Rhetorik des russischen Präsidenten erinnern: Von einer "globalen Kriegspartei" war da die Rede, die "entscheidenden Einfluss in der NATO und in der EU habe".
Die Demonstranten sehen in dem Vorhaben außerdem Parallelen zu einem Gesetz, das 2012 in Russland verabschiedet wurde. "Sie wollen unserer Rechtssystem an das Moskaus anpassen, dieser Entwurf ist eine Kopie des russischen Gesetzes", sagt Rusudan Djakeli.
Tatsächlich hatte das russische Parlament damals bestimmt, dass sich Organisationen als "ausländische Agenten" bezeichnen müssen, sobald sie Geld aus dem Ausland erhalten. Der Entwurf der georgischen Regierung sieht eine Registrierung als "Organisation, die ausländische Interessen vertritt" vor, sofern mehr als 20 Prozent des Budgets aus anderen Ländern kommen.
"Das russische Gesetz war eine Stufe schärfer", sagt Marcel Röthig, Leiter des Regionalbüros Südkaukasus der Friedrich-Ebert-Stiftung, "aber beide Gesetze haben einen ähnlichen, verleumderischen Charakter." Das Argument der Regierung, dass mit der neuen Regelung mehr Transparenz geschaffen werde, weist Röthig zurück: "Eine Umweltschutzorganisation, die sich für Naturschutz einsetzt und dafür eine Zuwendung von einem ausländischen Partner bekommt, soll auf einmal ausländische Interessen vertreten. Oder ein freies Medium, das niemandes Interessen vertritt, wird dann auf einmal als Interessenvertreter ausländischer Mächte bezeichnet."
Dabei ist die Medienlandschaft in Georgien schon jetzt gespalten, in Sender, die regierungsnah sind und Steuergelder bekommen einerseits und in unabhängige, oft klamme Sender, andererseits. Wer frei berichtet, hat kaum Einnahmen durch Werbung und ist deshalb auf Geldgeber beispielsweise aus der EU oder den USA angewiesen. Ohne diese finanzielle Unterstützung müssten mehrere kritische Medien in Georgien ihre Arbeit wohl aufgeben.
Viele Demonstranten befürchten außerdem, dass die Regierung versuchen könnte, NGOs zu diskreditieren, die sich für Rechte für Minderheiten, etwa der LGBTQ-Community, einsetzen. Schon mehrfach haben Abgeordnete des "Georgischen Traums" von "LGBTQ-Propaganda" gesprochen, vor der man vor allem Jugendliche schützen müsse. Es gibt auch Befürchtungen, dass das Gesetz nur ein erster Schritt ist – und die Regierung im Laufe der Zeit die Maßnahmen immer weiter verschärft, so wie es der Kreml getan hat. Mittlerweile hat Moskau zahlreiche NGOs aufgelöst, etwa die Menschenrechtsorganisation "Memorial".
"In Russland haben wir das erlebt: Diese Gesetze waren damals der Anfang der Abwicklung der russischen Zivilgesellschaft", sagt Marcel Röthig. "Man vergiftet damit die Atmosphäre, denn Menschen, die sich zivilgesellschaftlich engagieren, haben möglicherweise Angst, stigmatisiert zu werden."
Einen wesentlichen Unterschied aber gibt es zwischen der Situation in Georgien heute und der in Russland damals: Die Kaukasus-Republik hat die Perspektive, der EU beizutreten. Im vergangenen Jahr hat Georgien den Status eines Beitrittskandidaten erhalten. Das Gesetz würde konkrete Verhandlungen zur Aufnahme wohl vorerst unmöglich machen, doch in Umfragen sagen mehr als 80 Prozent der Georgier, dass sie den Beitritt wollen. Deshalb gehen Menschen wie Rusudan Djakeli jeden Abend auf die Straße. Und sie plant, das weiterhin zu tun – bis das Gesetz vom Tisch ist.
Burkina Faso hat weitere internationale Medien suspendiert. Nachdem vergangene Woche schon die britische BBC und der US-Sender Voice of America suspendiert worden waren, sind jetzt auch die Deutsche Welle (DW), die französischen Medien TV5 Monde und "Le Monde" sowie die britische Zeitung "The Guardian" betroffen.
International riefen die jüngsten Entscheidungen Kritik hervor. "Die Sperrung bedeutet für die Menschen vor Ort, dass ihnen wichtige Möglichkeiten genommen werden, sich unabhängig zu informieren", sagte DW-Programmdirektorin Nadja Scholz - und betonte, dass die DW über Burkina Faso stets ausgewogen und faktenbasiert berichte. Aus Washington und London kam eine gemeinsame Regierungserklärung: "Eine gut informierte Öffentlichkeit bedeutet für eine Gesellschaft eine Stärkung, keine Schwächung." Die beiden Regierungen äußerten auch ihre "schwere Sorge" über die Tötung von Zivilisten im Antiterror-Kampf.
Grund für die Sperrung der Medien war die Berichterstattung über einen Bericht von Human Rights Watch. Darin wird die Armee Burkina Fasos beschuldigt, im Kampf gegen islamistische bewaffnete Gruppen auch Zivilisten zu töten. "Wir sind nicht überrascht über die jüngste Eskalation, denn sie folgt einem Muster von Unterdrückung und Feindseligkeit gegenüber Medien und insbesondere ausländischen Medien", sagt Muheeb Saeed, Leiter des Programms für Meinungsfreiheit bei der Media Foundation for West Africa (MFWA).
Seit Burkina Fasos Militärführung im September 2022 durch einen Staatsstreich die Macht übernommen hat - den zweiten in jenem Jahr - , hat sie die Verbreitung zahlreicher Medien verboten, darunter France 24, Radio France International und Jeune Afrique. Außerdem wurden im April 2023 zwei französische Journalisten ausgewiesen. Inzwischen halten sich keine ausländischen Journalisten mehr in dem westafrikanischen Land auf.
Das Regime nimmt auch lokale Medien ins Visier. So schlossen die Behörden etwa Radio Omega, einen der beliebtesten Radiosender des Landes, im vergangenen Jahr vom Sendebetrieb aus. Der Sender hatte zuvor ein Interview ausgestrahlt, das als "beleidigend" für die neue Militärführung im benachbarten Niger angesehen wurde.
Analysten sehen mehrere Gründe für das harte Vorgehen der Junta gegen die Pressefreiheit. Hauptziel sei, die Kritik an der Militärführung zu unterdrücken, wonach diese unfähig sei, den Terrorismus im Land effektiv zu bekämpfen.
Wie auch weitere Länder in der Sahelzone hat Burkina Faso große Probleme, den islamistischen Terror auf seinem Staatsgebiet einzudämmen. Die aktiven Terrorgruppen sind gut vernetzt, sie stehen in Verbindung mit Al-Kaida und dem sogenannten "Islamischen Staat".
Der Präsident von Burkina Faso, Ibrahim Traoré, ein Hauptmann der Armee, hatte die vorherige Militärjunta mit der Begründung gestürzt, diese habe es nicht geschafft, die Gewalt einzudämmen. Er versprach, den Aufstand zu zerschlagen, warb für eine engere Zusammenarbeit mit Russland und beendete ein Abkommen mit Frankreich. Das Kontingent von mehreren hundert französischen Soldaten zog sich Anfang 2023 komplett aus Burkina Faso zurück, nachdem Traoré den Spezialeinheiten dafür eine Frist gesetzt hatte.
Gleichzeitig ist Burkina Faso seit Traorés Machtübernahme im globalen Terrorismus-Index auf den ersten Platz vorgerückt. Dem Index zufolge stieg die Zahl der durch Terror verursachten Todesfälle im Jahr 2023 im Vergleich zum Vorjahr um mehr als zwei Drittel: Fast 2000 Menschen wurden im betreffenden Zeitraum Opfer von Terrorattacken. Auf das westafrikanische Land entfallen jetzt fast ein Viertel aller terroristischen Todesfälle weltweit.
"Der Krieg gegen die Rebellen in Burkina Faso wird sowohl auf dem Schlachtfeld als auch auf ideologischer Ebene geführt", so Saeed zur DW. "Auf der ideologischen Ebene gibt es viel Propaganda, die darauf abzielt, alle Bürger auf Linie zu bringen. Die Regierung reagiert mit Repression auf jedwede Kritik."
Nach Aussage der Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen (RSF) verfolgt die Junta mit ihrem harten Vorgehen gegen die Medien auch das Ziel, Menschenrechtsverletzungen zu vertuschen, die die Armee bei ihren Antiterroroperationen begeht.
"Während sie versucht, die bewaffneten Terroristen zurückzudrängen, begeht ihre reguläre Armee meistens auch viele Menschenrechtsverletzungen", sagt Sadibou Marong, Leiter des Westafrika-Büros von RSF, der DW. "Die Junta will nicht, dass unabhängige Medien diese schrecklichen Menschenrechtsverletzungen aufdecken."
In dem Bericht von Human Rights Watch, der als Auslöser für die jüngsten Mediensperren gilt, wird der Armee von Burkina Faso vorgeworfen, im Februar 2024 mindestens 223 Dorfbewohner ermordet zu haben.
Ähnliche Massaker von Sicherheitskräften wurden auch von anderen Menschenrechts- und Medienorganisationen dokumentiert. Unter der von Traoré geführten Junta stieg die Zahl der getöteten Zivilisten von 430 im Jahr 2022 auf 735 im Jahr 2023, wie aus Zahlen des Armed Conflict Location and Event Data Project, einer in den USA ansässigen gemeinnützigen Organisation, hervorgeht.
Das harte Durchgreifen gegen internationale Medien werde es den lokalen Medien noch schwerer machen, ihre Arbeit auszuüben, sagen sowohl Reporter ohne Grenzen als auch die Media Foundation for West Africa voraus.
"Internationale Medienorganisationen sind im Allgemeinen einflussreicher und verfügen über ein gewisses Maß an diplomatischer Macht", so Saeed von der MFWA. "Wenn also selbst die internationalen Medien angegriffen, ausgewiesen und suspendiert werden, ist das eine Warnung für die lokalen Medien, sich anzupassen oder ein ähnliches Schicksal zu erleiden."
Lokale Journalisten seien extrem vorsichtig geworden und Selbstzensur sei weit verbreitet, sagen sowohl Saeed als auch Marong von RSF: Vielfach würden die Medien allein die offiziellen Presseerklärungen der Militärregierung als Grundlage für ihre Berichterstattung über die Sicherheitskrise nutzen.
"Journalisten ziehen es vor, auf die offizielle Darstellung, die offizielle Presseerklärung der Regierung zu warten", sagt Marong. "Das ist kein unabhängiger Journalismus."
Saeed berichtet von einem Fall, in dem mindestens vier lokale Zeitungen "Wort für Wort" identisch über dieselbe Geschichte berichteten. "Das bestätigt die Theorie, dass das Militärregime den Medien vorschreibt, was sie zu schreiben haben, und dass die Medien nicht einmal das Recht haben, irgendeine Änderung an der Mitteilung vorzunehmen, die sie vom Militär erhalten, nicht einmal ein Komma."
Aus dem Englischen adaptiert von Philipp Sandner.
Mehr als 1,1 Millionen Menschen sind vor dem Krieg in der Ukraine nach Deutschland geflüchtet - darunter geschätzt mehrere Tausend Roma, Angehörige der größten Minderheit Europas. Während Geflüchtete aus der Mehrheitsgesellschaft unbürokratisch versorgt und herzlich willkommen geheißen wurden, erlebten die meisten Roma ein ganz anderes Deutschland: sehr bürokratisch und wenig hilfsbereit, misstrauisch, abwertend, rassistisch.
Zu diesem Ergebnis kommt die Melde- und Informationsstelle Antiziganismus (MIA) in ihrem Monitoringbericht "Antiziganismus gegen ukrainische Roma-Geflüchtete in Deutschland". Antiziganismus ist eine Form des Rassismus, die sich gegen Sinti und Roma richtet oder gegen Menschen, die man dafür hält.
Roma-Familien, die vor dem Krieg in der Ukraine flüchten, haben in Deutschland denselben Anspruch auf Unterstützung wie ihre ukrainischen Landsleute. "Aber diese Willkommenskultur ist nicht für Roma da", sagt MIA-Geschäftsführer Guillermo Ruiz der DW: "Wir haben vom ersten Tag an beobachten können, wie ukrainische Roma in allen Formen diskriminiert worden sind." Rund 220 Meldungen seien dazu bei MIA eingegangen.
Roma erleben demnach systematische Diskriminierung: in Flüchtlingsunterkünften, von der Polizei, die ihre Herkunft infrage stelle, von Bahn-Mitarbeitern, die sie aus Wartebereichen, Bahnhöfen oder dem Zug drängten, Schulbehörden, die Roma-Kindern monatelang keinen Unterricht ermöglichen, von Sozialarbeitern oder Ehrenamtlichen, die anderen Ukrainern engagiert helfen. "Das hat uns sehr geschockt", sagt Ruiz. Einige Roma-Familien seien so schlecht behandelt worden, dass sie zurückreisten ins Kriegsgebiet. Es gebe immer noch Hinweise aus ganz Deutschland auf rassistische Diskriminierungen.
Gemeindevertreter in Bayern hätten gesagt: "Wir können weiter gerne ukrainische Geflüchtete aufnehmen, aber keine Roma." Ein Landrat äußerte sinngemäß, dass sie "Geflüchtete aufnähmen, nicht aber Hunde und Roma". Besonders erschreckende Aussagen, betont Ruiz, weil sie von deutschen Behörden ausgingen. "Deutschland hat eine historische Verantwortung für diese Minderheit."
MIA fordert, dass Deutschland dieser Verantwortung nachkommt, wie es der Bundestag am 14.12.2023 beschlossen hat, und betont: "Geflüchtete Roma müssen von der Bundesregierung als besonders schutzwürdige Gruppe anerkannt werden."
In Europa sind bis zu einer halben Million Sinti und Roma dem Völkermord durch das nationalsozialistische Deutschland zum Opfer gefallen. "Die ukrainischen Roma-Geflüchteten sind Nachkommen von Holocaust-Überlebenden", sagt Ruiz. Während der deutschen Besatzung wurde nach Schätzungen fast die Hälfte der ukrainischen Roma ermordet.
Kränze für die Ermordeten niederzulegen reiche nicht, mahnte Mehmet Daimagüler, Antiziganismusbeauftragter der Bundesregierung, am Internationalen Roma-Tag am 8. April. Er kritisierte den deutschen Umgang mit der Minderheit: "Wir achten die Toten und verachten ihre Nachkommen."
Renata Conkova ist jeden Tag im Einsatz für die Nachkommen der Verfolgten. Die 44-Jährige unterstützt geflüchtete ukrainische Roma bei Behörden und Ärzten, in der Schule und bei der Wohnungssuche. Als Romni in der Slowakei hat sie selbst Diskriminierung erlebt. Seit drei Jahren arbeitet sie in Thüringen für RomnoKher, eine Interessenvertretung für Menschen mit Roma-Hintergrund.
RomnoKher bietet Workshops an, in denen geflüchtete Roma erfahren, wie das Leben in Deutschland funktioniert. In einem Monitoring stellt Renata Conkova fest, ob Krankheiten vorliegen, Impfungen fehlen oder wie der Bildungsstand ist. Sie organisiert Alphabetisierungskurse für Kinder und Eltern. Das Interesse an Bildung sei groß.
In der Ukraine seien viele Roma an den Rand der Gesellschaft gedrängt worden, lebten in extremer Armut am Rand der Städte, teils ohne Strom- und Sanitärversorgung. Viele berichteten, dass sie am Schulbesuch gehindert worden seien, sagt Conkova, das habe zu Analphabetismus über Generationen gesorgt. Der MIA-Bericht verweist auf Ausgrenzung bis hin zu antiziganistischer Gewalt in den 2010er Jahren.
Auch in Deutschland ist Rassismus für Roma-Geflüchtete Alltag, beobachtet Conkova: Einer Familie sagt man im Restaurant, da sei kein Platz für sie - alle Tische sind frei, keiner reserviert. Eine Frau muss in einem Textildiscounter ihre Handtasche öffnen: "Euer Volk klaut so gern." Als man nichts findet, entschuldigt sich keiner bei ihr. Ukrainische Roma erlebten, dass bei Behörden eingereichte Unterlagen mehrfach verloren gehen und sie ohne finanzielle Unterstützung dastehen.
Bis heute seien uralte antiziganistischer Vorurteile gegen die Minderheit verbreitet, sagt Guillermo Ruiz, da sei die Rede von Kriminalität, Kinderraub oder Handel mit Kindern und Frauen. "Antiziganismus ist leider immer noch Normalität in Deutschland." Im MIA-Bericht finden sich Beispiele falscher Beschuldigungen. In einem Ort wurde behauptet, die Minderheit sei beteiligt an Schlägereien. Der Polizeichef wies die Aussage als falsch zurück.
Verbreitet würden Vorurteile durch Medienberichte, aber auch bei Versammlungen "besorgter Bürger" aus dem rechten bis rechtsextremen Spektrum, die teils durch die AfD organisiert werden, sagt MIA-Geschäftsführer Ruiz. Man bespreche das sogenannte "Roma-Problem". Er habe einen Bürgermeister gefragt, warum seine Bürger sich Sorgen machten: "Was machen die Roma, wo ist das Problem?" Der Bürgermeister sagte: "Sie sind einfach da."
Mehrfach erlebt Renata Conkova, wie ukrainische Dolmetscherinnen rassistisch über Geflüchtete sprechen: "Das sind nur Zigeuner, die können nichts." Unter der abwertenden Fremdbezeichnung wurden Sinti und Roma von den Nazis verfolgt und ermordet, das Z wurde ihnen in Auschwitz in die Haut tätowiert.
Andere ukrainische Geflüchtete weigern sich, mit Roma an einem Tisch zu sitzen. Kein Einzelfall, hat MIA festgestellt: In Köln demonstrierten geflüchtete Ukrainer für ihre Unterbringung getrennt von ukrainischen Roma, ähnliche Berichte kommen aus vielen Bundesländern. In einem Fall seien Roma-Familien so eingeschüchtert worden, dass sie sich nicht mehr aus ihrem Zimmer trauten.
Wo vermittelt wird, geschehen manchmal kleine Wunder, wie Renata Conkova berichtet: Die Kinder einer Roma-Familie schauen aus dem 3. Stock neugierig zum gegenüberliegenden Haus, wo Kinder in einem Swimmingpool plantschen. Das haben sie noch nie gesehen. Der Vater aus dem Nachbarhaus aber bedroht die Roma-Familie mit einer Waffe.
Als eine Integrationshelferin und Renata Conkova den Mann ansprechen, stellt sich heraus, dass er aus lauter Angst vor Pädophilen verhindern wollte, dass irgendjemand seine Kinder beobachtet. Über Roma hat er nur Schlechtes gehört.
Als er von den Problemen der Familie gegenüber erfährt, fragt er: "Warum hat mir das niemand erklärt?" Die Kinder dürfen mit seinen Kindern spielen. Er erklärt den Nachbarn die komplizierte Mülltrennung in Deutschland und zeigt der Mutter, wo sie günstig einkaufen kann. Viele Menschen wüssten nichts über die Minderheit, sagt Conkova. "Es ist nicht jeder Rassist."
Die Meldestelle MIA fordert Fortbildungen und Sensibilisierung für Antiziganismus bei Behörden und Helfern, ebenso wie das Ende der Benachteiligung von ukrainischen Roma in allen Lebensbereichen.
Am Internationalen Roma-Tag hat Bundesfamilienministerin Lisa Paus Hetze gegen die Minderheit klar verurteilt: "Jeder Fall ist einer zuviel." Sie rief dazu auf, antiziganistische Vorfälle zu melden: "Stellen Sie sich an die Seite von Sinti und Roma!"
Menschenrechtsaktivisten, Abgeordnete des Europaparlaments und ehemalige politische Gefangene in Belarus haben dringende Fragen an das "Forest Stewardship Council". Die Organisation mit Hauptsitz in Deutschland bietet ein internationales Zertifizierungssystem für nachhaltige Waldwirtschaft an. Das FSC-Siegel gilt in diesem Bereich weltweit als Marktführer.
In einem offenen Brief an die Organisation wollen die Unterzeichner wissen, wieso Möbel, die in belarussischen Gefängnissen hergestellt wurden, jahrelang das FSC-Prüfsiegel bekommen konnten.
Dem FSC wird vorgeworfen, jahrelang die Augen vor Zwangsarbeit belarussischer Gefangener verschlossen zu haben. Damit sei dem Regime von Machthaber Alexander Lukaschenkos geholfen worden, Geld zu verdienen. "Das FSC-Siegel diente dazu, die Tür zum Handel mit der EU zu öffnen", heißt es in dem Brief, in dem die Unterzeichner Aufklärung fordern.
Der FSC bezeichnet sich auf seiner Website als die verlässlichste Organisation für die Absicherung wichtiger Umwelt- und Sozialstandards im Wald, und das FSC-Gütesiegel ist inzwischen zu einem Inbegriff für "ethischen" Konsum geworden. Die Zertifikate werden anhand mehrerer Kriterien ausgestellt. So darf es unter anderem bei der Produktion keine Menschenrechtsverstöße geben. Ein FSC-Siegel steigert ganz klar die Wettbewerbsfähigkeit.
Laut Daten von Eurostat wurden von Januar bis November 2023 belarussische Holzmöbel im Wert von mehr als 103 Millionen Euro in die Europäische Union importiert. Zu den größten Abnehmern zählen Polen, Deutschland und die Niederlande sowie die baltischen Länder und Rumänien. Die Möbelproduktion ist nicht Teil der Sanktionen der EU, die gegen Belarus in Kraft sind. Ein ein großer Teil dieser Möbel wurde für den EU-Markt als ethisch vertretbar zertifiziert, noch bevor der FSC Belarus verließ. "Obwohl der FSC im März 2022 Belarus aus anderen Gründen verlassen hat, hat er es versäumt, seine früheren Fehler dort einzugestehen oder anzusprechen", heißt es in dem Brief an den FSC.
Dass der FSC Gefängnisarbeit in Belarus mehr als neun Jahre lang beschönigt hat, wurde durch eine im November 2022 veröffentlichte Untersuchung der britischen Non-Profit-Organisation "Earthsight" aufgedeckt. Demnach wurden in Belarus auch nach der vom herrschenden Regime gefälschten Präsidentenwahl im August 2020 weiterhin FSC-Zertifikate ausgestellt - ungeachtet der dortigen massenhaften Repressionen von Regimegegnern, der Zunahme politischer Gefangener und dokumentierter Folter .
Der FSC beabsichtigt allerdings nicht, die Ausstellung von Zertifikaten für belarussische Haftanstalten zu untersuchen. Auf DW-Anfrage betont die Organisation, angemessene Arbeitsbedingungen würden zu den Grundsätzen der Zertifizierung gehören. Zudem sei der FSC "zutiefst besorgt über die Menschenrechtsverletzungen in Belarus als Folge von Gewalt und Repression seit 2020".
Doch erst im März 2022 hatte der FSC die Risiken bewertet. Damals machte die bereits auch über belarussisches Territorium laufende russische Invasion der Ukraine Prüfungen unmöglich, weshalb beschlossen wurde, alle ausgestellten Zertifikate zu annullieren. Der FSC betont jedoch, bereits im Jahr 2021 seien für belarussische Haftanstalten ausgestellte Zertifikate annulliert worden. Der Grund seien Bedenken bezüglich Menschenrechtsverletzungen sowie Sicherheitsrisiken für Experten, die Prüfungen durchführen. Gleichzeitig heißt es, dass "bei den jährlichen Kontrollen in den Gefängnissen keine Verstöße festgestellt wurden". Weil Zwangsarbeit nicht in allen Haftanstalten ein Problem sei, könnten Gefängnisse eine FSC-Zertifizierung beantragen.
FSC-Vertreter hätten belarussische Aktivisten gar nicht kontaktiert, um sich über die Lage der Menschenrechte in Haftanstalten zu informieren, beklagt Pawel Sapelko, Anwalt des belarussischen Menschenrechtszentrums "Viasna". Schließlich würden die Gesetze Zwangsarbeit in belarussischen Gefängnissen erlauben. Laut dem Strafvollzugsgesetz ist jeder, der zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, zur Arbeit verpflichtet. Ausgenommen davon sind in Belarus nur Behinderte und Rentner. "Bei Verweigerung wird der Gefangene zunächst in eine Strafzelle gesteckt, dann kann er wegen böswilligen Ungehorsams gegenüber der Gefängnisleitung angeklagt und mit bis zu zwei weiteren Jahren Gefängnis bestraft werden", erläutert Sapelko.
Das bestätigt ein ehemaliger Häftling, der ungenannt bleiben möchte und in der Region Brest eine Haftstrafe verbüßte: "Wenn man ins Gefängnis kommt, wird man nicht gefragt, ob man arbeiten will oder nicht. Man muss es einfach. Die Leitung der Haftanstalt entscheidet, wohin man kommt und wie man bezahlt wird." Vom Lohn würden Zahlungen für Unterkunft und Verpflegung in Haft sowie für ausstehende Gerichtskosten abgezogen. So bekämen die Häftlinge zumeist nur zehn bis 15 Rubel im Monat - umgerechnet weniger als fünf Euro. Ferner müssen Gefangene ihre Familien bitten, ihnen Arbeitskleidung zu besorgen - auch Handschuhe für die Holzverarbeitung. Solche Bedingungen können nach Ansicht von Pawel Sapelko als Zwangs- oder sogar als Sklavenarbeit bezeichnet werden. Alle Gefangenen, auch politische, seien davon betroffen.
Der Europaabgeordnete und Mitvorsitzende der Europäischen Grünen, Thomas Waitz, hat sich dem Appell an den FSC angeschlossen. Der Möbelhandel sei weiterhin die größte unsanktionierte Kategorie der belarussischen Exporte in die EU, heißt es auf seiner Website. "Diese Exporte stützen ein Regime, das in einen Krieg verwickelt und in politischer Unterdrückung verwurzelt ist."
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk
Zana Avdiu kennt sich aus mit Hass: mit dem leisen, vorwurfsvollen, der sie wie ein Raunen verfolgt, wenn sie durch Prishtina geht; und dem lauten, wütenden, der im Netz und im Fernsehen immer wieder über sie hereinbricht. Zana Avdiu, 30 Jahre alt, ist Aktivistin und setzt sich für Frauenrechte in ihrem Heimatland Kosovo ein. Worum es auch geht - häusliche Gewalt, Sexismus, Macho-Kultur, Patriarchat, das traditionelle Familienbild der kosovarischen Gesellschaft - Zana Avdiu hat eine Meinung. Und keine Scheu, sie bei Talkshows im Fernsehen oder auf ihrer Facebookseite mit ihren 32.000 Followern zu teilen.
Als letztens etwa in Kosovo ein Gesetzesentwurf debattiert wurde, der Frauen auch ohne Partner Zugang zu künstlicher Befruchtung ermöglichen soll, schrieb Avdiu auf Facebook: "Frauen brauchen keine Männer, um schwanger zu werden." In den empörten Kommentaren, die sich schon bald unter ihrem Beitrag stapelten, wurde Avdiu unter anderem zur "Feindin der kosovarischen Gesellschaft" erklärt; fünf Kommentare brachte sie zur Anzeige.
Avdiu weiß, dass sie mit Aussagen wie dieser provoziert. Die Provokation ist Teil des Prozesses, hat sie gelernt. Provokation, Debatte, und dann vielleicht irgendwann einmal: Veränderung - so ihre Hoffnung. Nur wenn darüber geredet werde, könne man die tiefverwurzelten patriarchalen Denkmuster der kosovarischen Gesellschaft aufbrechen, glaubt Avdiu. Also redet sie.
Zana Avdiu arbeitet tagsüber als Wirtschaftsjuristin, in ihrer Freizeit engagiert sie sich für Frauenrechte, vernetzt etwa Frauen, die Gewalt erlebt haben, mit Polizei und Hilfsorganisationen, postet auf den sozialen Medien. Sie ist gerade einmal 27, als sie regelmäßig in abendliche Fernsehsendungen eingeladen wird. Für den kosovarischen Fernsehsender T7 kommentiert sie seitdem in der Talkshow "Pressing" aktuelle politische Geschehnisse. Meist ist sie die einzige Frau in einer Männerrunde.
Die Quoten sind gut, auch wegen der Kontroversen, die Avdius Auftreten auslöst. Äußerlich wirkt sie mit den manikürten Fingernägeln und dem freundlichen Lächeln auf den Lippen auf manche unbedarft. Doch geht das Wort an sie, stellt sie harte Thesen in den Raum, feuert ihre Argumente dazu ab, gespickt mit Fakten, die das Gesagte untermauern sollen. "Mehr als 69 Prozent der Frauen in Kosovo erleben Gewalt", sagt sie dann etwa, oder "In Europa werden 88 Prozent der Autounfälle von Männern verursacht, in Kosovo dürfte die Zahl noch höher sein".
Kritik gibt es von Anfang an: "Natürlich war mein junges Alter der Punkt, an dem mich viele angegriffen haben. Aber mehr noch als wegen des Alter werde ich angegriffen, weil ich eine Frau bin", sagt Avdiu.
Frauen sind in der kosovarischen Öffentlichkeit zwar immer stärker präsent - immerhin ein Drittel des aktuellen Regierungskabinetts sind Politikerinnen und mit Vjosa Osmani ist bereits die zweite Frau Präsidentin des Landes. Doch für Avdiu gibt es bei alldem ein großes Aber. "Die Frauen in Kosovo zählen nicht, haben keine Bedeutung" sagt die Feministin. "Sie bekommen kein Erbe, keine Sicherheit, keine Wertschätzung, keinen Wohlstand. Das ist das Schicksal von Frauen in Kosovo." Daran etwas zu ändern, das hat Avdiu sich zur Aufgabe gemacht.
Bekannt wurde Zana Avdiu weit über die Grenzen Kosovos hinaus durch einen Vorfall bei der Fußballweltmeisterschaft 2022 in Katar, beim Spiel Serbien gegen die Schweiz. Der Kapitän der Schweizer Fußball-Nationalmannschaft war damals - und ist bis heute - Granit Xhaka; seine Eltern sind Kosovo-Albaner, die vor Xhakas Geburt in die Schweiz auswanderten. Während des WM-Spieles im Dezember 2022 kommt es in der 66. Minute zu einem Wortgefecht zwischen Granit Xhaka und der serbischen Bank. Beleidigungen werden ausgetauscht und Xhaka greift sich demonstrativ in den Schritt.
Auf Facebook und in einer kosovarischen Sportsendung kritisiert Avdiu im Anschluss an das Spiel Xhakas Verhalten. Sie findet die Geste unreif, übergriffig - und vergleicht das Verhalten Xhakas mit dem eines "Straßenjungen".
Noch während der TV-Diskussion wird Ragip Xhaka, Vater des Nationalspielers, live in die Sendung geschaltet, er droht Avdiu, sie werde sich "verantworten" müssen für ihre Kritik und sie solle auf ihre Familie aufpassen. "Wenn es so weit ist, wird es schon zu spät sein, das garantiere ich mit meinem Leben. Du kennst die Familie Xhaka nicht." Avdiu lässt die Tirade Xhakas über sich ergehen, lächelt steif. Doch Xhakas Wutanfall ist nur der Anfang. Mehr als 11.000 Hasskommentare und Drohungen ergießen sich in den nächsten Tagen über die Aktivistin, 200 davon übergibt sie der Polizei für weitere Ermittlungen.
Für Avdiu ist im Nachhinein klar: "Das Problem war, dass eine Frau einen Mann kritisiert hat. Es ging nicht um Patriotismus oder die Bewahrung einer starken nationalistischen Identität [gegenüber dem ehemaligen Kriegsgegner Serbien, Anm. d. Red.]." Sie glaubt: Für Männer ist die Meinung einer Frau die größte Gefahr für die patriarchalische Gesellschaft. Diese Stimme wollten sie zum Schweigen bringen, so Avdiu.
Die Drohungen in den darauffolgenden Monaten reichten von Anfeindungen bis zu Lynchjustiz. Sie änderten Zana Avdius Leben. "Etwa einen Monat lang stand ich unter Polizeischutz" erzählt sie. Bis heute meidet Avdiu öffentliche Orte und nimmt keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr - obwohl sie sonst dafür plädiert, so wenig wie möglich das private Auto zu nutzen. Aber, das hat Avdiu in diesen Monaten gelernt: Manchmal steht die Sicherheit über Prinzipien. "Diese Zeit hat meinen Alltag völlig verändert", erinnert sie sich heute.
Als die Deutsche Welle Zana Avdiu zum Interview in einem Café in Prishtina trifft, stehen auf einmal fünf Männer neben dem Tisch, stacheln sich gegenseitig auf, versuchen, Avdiu mit sexistischen Kommentaren zu provozieren. Avdiu kontert gelassen, widmet sich dann wieder ihrem Kaffee und dem Gespräch. Die ungefragten Kommentare, die derben Beleidigungen, sie sind mit den Jahren zu einem ständigen Hintergrundrauschen in ihrem Leben geworden.
Zana Avdiu weiß, es geht gar nicht so sehr um sie als Person. Es geht darum, was sie verkörpert: Kritik an einer Gesellschaft, in der vor allem Männer den Ton angeben. "Ich bin hier, um diese Mentalität zu bekämpfen, die Gewalt akzeptiert, die Unterdrückung akzeptiert, die Herrschaft akzeptiert - diese Mentalität einer patriarchalischen und konservativen Gesellschaft", sagt sie.
Seit November 2023 hostet Zana Avdiu eine eigene TV-Sendung auf T7, Zanat. Es ist eine Talkrunde, wie sie Avdiu selbst zu Hunderten besucht hat. Doch ein entscheidendes Detail ist anders: Die Diskussionsteilnehmer sind vor allem Frauen. Avdiu sitzt in ihrer Mitte, moderiert, ruft auf, heizt ein. Sie sieht zufrieden aus.
Redaktion: Astrid Benölken
Georgien will Teil der Europäischen Union werden - aber ohne das zu übernehmen, was Regierungsvertreter LGBTQ+-"Propaganda" und "pseudoliberale Werte" nennen. In der vergangenen Woche hat die Regierungspartei Georgischer Traum einen entsprechenden Verfassungszusatz vorgeschlagen, um "den Wert der Familie und Minderjährige zu schützen".
Nach den Worten von Mamuka Mdinaradze, Mehrheitsführer des Georgischen Traums im Parlament, soll die Verfassungsänderung die Ehe ausschließlich als "Vereinigung eines alleinstehenden genetischen Mannes und einer alleinstehenden genetischen Frau" erlauben. "Falls jemand uns gleichgeschlechtliche Ehen aufzwingen will", so Mdinaradze, "dann werden wir sagen: Das verbietet unsere Verfassung."
Beobachter vermuten, dass die Änderungen erst später im Jahr verabschiedet werden, wahrscheinlich nach den Wahlen im Oktober. Falls sie angenommen werden, beträfen sie nicht nur gleichgeschlechtliche Ehen. Dann wäre auch jede Versammlung mit einem Bezug zu LGBTQ+ gegen das Gesetz. Verboten wären auch alle geschlechtsangleichenden Maßnahmen und Adoptionen durch gleichgeschlechtliche Paare.
Kritiker wie Oppositionspolitiker und zivilgesellschaftliche Gruppen verurteilen die Gesetzesinitiative als populistisch. Einige Beobachter glauben, dass die Regierungspartei konservative Einstellungen instrumentalisiert, um bei der Parlamentswahl im Oktober mehr Stimmen zu erringen. Das hat auch Konsequenzen für die Opposition.
"Die Opposition gerät in eine äußerst schwierige Lage. Falls sie für die Rechte von LGBTQ+ eintritt, könnte ihr das bei den Wahlen schaden, denn die georgische Gesellschaft ist ziemlich konservativ", sagt Kornely Kakachia, Professor für Politikwissenschaft und Direktor des Thinktanks Georgian Institute of Politics in der georgischen Hauptstadt Tiflis, der DW.
Ob der Georgische Traum die Gesetzesnovelle mit seiner Mehrheit im Parlament durchbringen kann, sei schwer zu beurteilen, meint der Verfassungsrechtler Vakhushti Menabde. "Sie haben nicht genug Abgeordnete, um die Verfassung zu ändern. Aber ich kann nicht ausschließen, dass sie einige Oppositionspolitiker für sich gewinnen." Mit Sorge sieht Menabde vor allem, dass eine solche Verfassungsänderung die georgische Gesellschaft spalten und Konflikte zwischen gesellschaftlichen Gruppen befeuern könnte.
Die Vorschläge aus Tiflis ähneln den Gesetzen, die Moskau jüngst erlassen hat, um LGBTQ+ zu unterdrücken. Kritiker werfen dem seit Februar regierenden Ministerpräsidenten Irakli Kobachidse vor, sein Land an Russland weiter annähern zu wollen.
So wollte Georgien Russland bereits mit einem sogenannten "Ausländische-Agenten"-Gesetz nachahmen. Danach müssen Organisationen, die mehr als 20 Prozent ihrer Finanzierung aus dem Ausland bekommen, sich als "ausländische Agenten" registrieren lassen. Faktisch, so sagen Menschenrechtsaktivisten, werden solche Gesetze gegen Oppositionsgruppen und zivilgesellschaftliche Initiativen eingesetzt. Nach heftigen und teils gewalttätigen Protesten im vergangenen Jahr hat die Regierung in Tiflis das georgische "Ausländische-Agenten"-Gesetz aufgehoben.
Die jetzt vorgeschlagene Verfassungsänderung in Sachen LGBTQ+ sehen viele Kritiker als eine Neuauflage des "russischen Gesetzes". Denn: "Tatsache ist, dass kein Staat der Welt ein Interesse an antidemokratischen Entwicklungen in Georgien hat - außer Russland", so Paata Zakareishvili, ehemaliger georgischer Minister für Versöhnung und bürgerliche Gleichstellung, im Sender Radio Free Europe/Radio Liberty. "Darum sehe ich das natürlich als ein russisches Gesetz."
Trotz des Bestrebens, in die Europäische Union aufgenommen zu werden, neigt die georgische Gesellschaft zu konservativen Werten. Die Georgische Orthodoxe Kirche gehört beispielsweise zu den bedeutendsten Institutionen im Land und spielt eine entscheidende Rolle in Politik und Gesellschaft.
Laut einer Umfrage der UN-Frauenrechtskommission im Jahr 2022 finden zwar 56 Prozent der Befragten, dass LGBTQ+-Rechte gewahrt werden müssen. Sie sagen aber auch, dass "Mitglieder der Community ihre Lebensweise nicht anderen aufzwingen" sollten.
Im Juli 2023 griffen rechtsextreme Gegendemonstranten die Tbilisi Pride an, das LGBTQ+-Festival. Dutzende Menschen wurden verletzt, darunter auch Journalisten. Die Parade musste abgesagt werden. Die Organisatoren der Tbilisi Pride werfen dem Innenministerium und antiwestlichen Gruppierungen vor, koordinierte Angriffe inszeniert zu haben.
"Als EU-Beitrittskandidat wird von Georgien erwartet, seine Gesetze mit EU-Recht in Einklang zu bringen", teilte die EU-Delegation in Georgien der DW in einem Statement mit. Die Delegation repräsentiert die EU in Georgien und soll die gegenseitigen Beziehungen stärken. "Das Beitrittskandidatenland muss stabile Institutionen haben, um den Respekt vor den Menschenrechten zu garantieren sowie den Respekt vor und den Schutz von Minderheiten" - das seien die Voraussetzungen für eine EU-Mitgliedschaft.
Im vergangenen Dezember machten die Staats- und Regierungschefs der EU Georgien zum Beitrittskandidaten - der sehnlichst erwartete Startschuss, um Mitglied des Staatenbundes zu werden. Die EU-Kommission legte neun Bedingungen fest, um Georgien näher an die EU zu bringen. Dazu gehören: Die politische Spaltung des Landes angehen, die Menschenrechte besser wahren und äußere Einmischung in die Innenpolitik verhindern. Die jetzt vorgeschlagene Verfassungsänderung scheint mit diesen Bedingungen nicht übereinzustimmen.
Die Regierung in Tiflis versuche eben, eine Balance zwischen zwei gegensätzlichen Zielen zu finden, meint Kornely Kakachia vom Georgian Institute of Politics. "Um an der Macht zu bleiben, muss die Regierungspartei einerseits auf EU-Kurs bleiben, weil das mehr als 80 Prozent der Georgier unterstützen. Gleichzeitig haben sie schon angefangen, Brüssel ihre Bedingungen zu diktieren: Sie wollen wie Ungarns Regierungschef Viktor Orbán sein." Orbán pflegt gute Beziehungen zu Kreml-Chef Wladimir Putin und hat die EU-Unterstützung für die Ukraine seit Beginn des russischen Angriffskriegs mehrfach blockiert. "Aber", ergänzt der Politikwissenschaftler Kakachia: "Ungarn ist bereits Mitglied der EU."
Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.
Vor ziemlich genau zehn Jahren, am 18. März 2014, besetzten rund 200 Studierende in Taipeh das Parlament Taiwans. Sie wollten damit ein Handelsabkommen der amtierenden konservativen Regierung mit der benachbarten Volksrepublik China verhindern.
Dieser Deal im Hinterzimmer war ohne Diskussion im Parlament beschlossen worden. In den Augen der Demonstrierenden hätte das Abkommen die ökonomische Unabhängigkeit des kleinen Inselstaats aufs Spiel gesetzt und Taiwan in die Fänge Pekings getrieben.
Bis zum 10. April dauerte die friedliche Blockade des Parlaments, die am Ende von Erfolg gekrönt war. Denn das Abkommen kam nicht zustande.
Mehr noch, bei der darauf folgenden Präsidenten- und Parlamentswahl am 16. Januar 2016 wurde die konservative Kuomintang KMT abgewählt. Seitdem regiert bereits in der dritten Amtszeit in Folge ein Staatsoberhaupt von der liberalen Fortschrittspartei.
Die "Sonnenblumen-Bewegung", wie die Proteste gegen das Handelsabkommen genannt wurden, ist die Geburtsstunde eines neuen demokratischen Bewusstseins auf Taiwan. Es war prägend für das Selbstverständnis einer ganzen Generation.
Etliche der Protagonisten gingen nach der Sonnenblumen-Bewegung zuerst ins Ausland, um zu studieren und dann, nach ihrer Rückkehr, in die Politik des Landes. Sie engagierten sich entweder in der Liberalen Fortschrittspartei oder in der 2015 neu gegründeten New Power Party.
Die Sonnenblume wurde zum Symbol des erfolgreichen demokratischen Protestes, nachdem ein Blumenhändler die Studierenden mit 1000 Blumen, die er vor das Parlamentsgebäude liefern ließ, ermutigte, nicht von ihren Protesten abzulassen.
Auch im benachbarten Hongkong kam es im Jahr 2014 zu Protesten von Studierenden. Sie richteten sich gegen die chinesische Zentralregierung unter dem gerade erst im Jahr 2013 ins Amt gekommenen Xi Jinping.
Die Welt setzte damals noch große Hoffnung in den neuen mächtigen Mann Chinas und glaubte, dass Xi den langsamen Reformkurs seines Landes fortsetzen würde. Doch am Beispiel Hongkong wurde schnell deutlich, dass diese Hoffnungen nicht erfüllt werden würden.
Vom 28. September bis zum 15. Dezember 2014 gingen bis zu 100.000 Menschen auf die Straße, um gegen Xis Vorhaben zu protestieren, dass nur noch solche Kandidaten in der semi-autonomen Metropole zur Wahl aufgestellt werden durften, die Peking vorher abgesegnet hätte.
Die Proteste erhielten den Namen "Regenschirm-Bewegung". Namensgeber waren die vielen aufgespannten Regenschirme, mit denen sich die jungen Demonstrierenden gegen das von der Polizei versprühte Pfefferspray, das sie auseinander treiben sollte, schützten.
Sonnenblumen und Regenschirme - schon in den Namen und im Umgang mit den beiden Bewegungen zeigt sich der himmelweite Unterschied zwischen dem totalitären China und dem demokratischen Taiwan.
In Taipeh widersetzte sich die Polizei vor zehn Jahren der Weisung des KMT-Premierministers, den Plenarsaal räumen zu lassen. In Hongkong hingegen verabschiedete das unter Pekings Kontrolle stehende Parlament zum zehnjährigen Jubiläum der Sonnenblumen-Bewegung am 19. März eine Erweiterung des "Sicherheitsgesetzes".
Dazu gehören neue "Straftatbestände" wie "Aufruhr" und "Einmischung von außen". Die Maßnahme ist als reiner Einschüchterungsterror zu verstehen, denn mittlerweile sitzen die Demokratiedemonstranten, wie der bereits 2014 bekannt gewordene Joshua Wong, lange Strafen ab.
Etliche Menschen sind ins Ausland geflohen. Dort will Diktator Xi sie mit Hilfe von Kopfgeldjägern aufspüren, nach China überführen und dort ins Gefängnis werfen lassen.
Die Demokratiebewegungen in Taiwan und Hongkong zeigen, wohin eine Welt steuern würde, in der China das Sagen hat: In der ehemals quirligen, lebendigen Stadt, die beliebt war in Ost und West, ist Resignation eingekehrt. Wer Hongkong verlassen kann, der tut es.
Im demokratischen Taiwan hingegen, von dem Peking behauptet, dass es ein Teil der Volksrepublik sei, wurde am 13. Januar erfolgreich und frei gewählt. Der bisherige Vizepräsident Lai Ching-te von der Liberalen Fortschrittspartei wird im Mai als Staatsoberhaupt vereidigt.
Für China ist die Existenz einer funktionierenden und prosperierenden Demokratie vor der Haustür eine Gefahr. Denn die Taiwaner könnten die chinesische Bevölkerung auf dem Festland eines Tages dazu inspirieren, auch in Freiheit leben zu wollen.
Die Taiwaner haben dank der Sonnenblumen-Bewegung vor zehn Jahren ihre Demokratie erhalten können. Ihr Einsatz ist Inspiration für alle in der Welt, die sich zusammentun und gegen Totalitarismus und das Wiedererstarkten eines menschenfeindlichen Faschismus wehren - sei er chinesischer, russischer oder anderer Prägung.
Wenn es um Asylsuchende geht, redet sich der 91-jährige Lord Dubs leicht in Rage. "Beschämend" sei der Plan der britischen Regierung, Flüchtende nach Ruanda zu schicken, er schade dem guten Ruf Großbritanniens. Wie es sich anfühlt, Familie und Heimat hinter sich zu lassen, weiß Alfred Dubs, denn er selbst fuhr im Alter von sechs Jahren mit dem Kindertransport von Prag nach London, um dem Holocaust zu entkommen. Heute sitzt er für die oppositionelle Labour-Partei im Oberhaus, dem House of Lords, und setzt sich für Flüchtlinge ein.
Bisher haben sich die Lords geweigert, das sogenannte "Ruanda-Gesetz" zu verabschieden, und es damit verzögert. Unter anderem deshalb, weil es gegen internationales Recht verstoße. Doch schlussendlich werden sie nachgeben, schätzt Dubs, schließlich stellten die Konservativen auch im Oberhaus die größte Gruppe. Und der Kampfgeist der zumeist älteren Lords würde inzwischen schwächeln.
Premierminister Rishi Sunak hat es zur Priorität erklärt, "die Boote zu stoppen". Fast 30.000 Menschen kamen im vergangenen Jahr zumeist in kleinen Schlauchbooten über den Ärmelkanal. Ihnen, und all den anderen Flüchtenden, die seit Anfang 2022 "irregulär" das Land erreicht haben, könnte bald die Abschiebung nach Ruanda drohen. Ungeachtet ihrer Herkunft und ohne Prüfung ihres Asylantrages sollen sie in das ostafrikanische Land verfrachtet werden und dann dort statt in Großbritannien ihre Asylanträge stellen.
Boris Johnson hatte vor zwei Jahren als erster Premier ein Flugzeug chartern lassen, das eine kleine Gruppe Flüchtlinge nach Kigali bringen sollte - trotz heftiger Proteste vieler Menschenrechtsorganisationen. 140 Millionen Pfund haben die Briten bereits an Ruanda überwiesen, aber bisher hat noch kein einziger hiesiger Flüchtling ruandischen Boden betreten.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte machte Johnson in letzter Minute einen Strich durch die Rechnung. Auch das oberste britische Gericht erklärte den Plan zunächst für rechtswidrig, denn Ruanda sei kein sicheres Drittland. Hier hat die Regierung nachgebessert und ein neues Abkommen mit dem ostafrikanischen Land geschlossen, in dem der ruandische Staat versichert, niemanden in sein Herkunftsland abzuschieben.
Premierminister Sunak argumentiert, die Unterbringung von Flüchtlingen in britischen Hotels koste täglich sechs Millionen Pfund; von den Ruanda-Abschiebungen erhofft er sich eine abschreckende Wirkung. Wenn das Gesetz nicht durchkomme, würden noch mehr Menschen auf der gefährlichen Überfahrt ihr Leben verlieren, warnte der zuständige Minister Lord Sharpe seine Kollegen im Oberhaus. Die Lords sollten dem "Willen des Volkes" nicht entgegenstehen, appellierte Rishi Sunak - er glaubt, durch seine scharfe Asylpolitik bei einigen Wählern punkten zu können.
Aber werden Schutzsuchende durch so ein Gesetz wirklich abschreckt? Die Meinungen gehen auseinander. Jacqueline McKenzie ist Menschenrechts-Anwältin in London, vertritt unter anderem einen Iraker, der nach Ruanda deportiert werden sollte, bevor das der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Eilentscheidung verhinderte.
Der Mann saß bereits gefesselt im Bus auf dem Rollfeld, das Flugzeug im Blick. Für ihn sei das traumatisch gewesen, berichtet die Anwältin. Inzwischen habe er nachweisen können, dass er Opfer von Menschenhandel gewesen sei und nun dürfe er rechtmäßig in Großbritannien bleiben. An eine abschreckende Wirkung glaubt McKenzie nicht: "Wir reden doch schon seit Jahren über Ruanda - und die Leute kommen immer noch."
Nikolai Posner ist da nicht ganz so sicher. Er arbeitet für die französische Flüchtlingsorganisation Utopia 56 und ist immer wieder in der nordfranzösischen Hafenstadt Calais, in der viele Migranten ihre riskante Reise antreten. Als der Plan vor zwei Jahren das erste Mal bekannt geworden sei, habe es weniger Überfahrten gegeben, "bis die Schmuggler ihre Preise senkten" - das könnte auch jetzt wieder der Fall sein. Mit vielen anderen, die in der Flüchtlingshilfe arbeiten, verlangt auch er mehr sichere und legale Fluchtrouten.
Wer sich auf die gefährliche Reise von Frankreich an die südenglische Küste wagt, hat oft Familie in Großbritannien. Und die meisten haben einen Anspruch auf Asyl: Sie kommen aus Ländern, in denen Krieg oder Verfolgung an der Tagesordnung ist - aus dem Iran, Irak, aus Afghanistan - und die überwiegende Mehrheit der Anträge wurde bisher angenommen.
Sollte das Gesetz in den kommenden Tagen verabschiedet werden, bleiben weiterhin Unsicherheiten, wann die ersten Flüge nach Ruanda abheben könnten. Beamtenverbände fordern eine erneute rechtliche Klärung, weil die neuen Regelungen ihrer Meinung nach weiterhin gegen internationale Gesetze verstoßen. Auch die Anwältin McKenzie geht davon aus, dass weiterhin vor Gerichten gerungen wird.
Doch Premierminister Sunak scheint entschlossen, die ersten Menschen so schnell wie möglich abzuschieben. Er hat das Thema Migration zur Chefsache erklärt - wenn es nach ihm geht, dann vergehen nur wenige Tage, bis der erste Flieger nach Kigali startet. Bei dem Gedanken laufen Lord Dubs Schauer über den Rücken: Schließlich sei Großbritannien eines der Gründungmitglieder des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, und Unterzeichner der Genfer Flüchtlingskonvention. Dass sein Heimatland, das ihn als Kind so großherzig aufgenommen hat, jetzt "so ein schlechtes Beispiel" abgebe, dagegen wird er weiterhin kämpfen, so gut er kann.
Carolina Peralta füllt die Espressomaschine mit frischen Kaffeebohnen auf, kurz darauf übertönt ein Rattern das Quatschen der Gäste und der Duft von frisch gemahlenem Kaffee strömt durch den Raum. Es dauert nicht lange, bis ein Kunde an die Theke tritt und beginnt, die Karte zu scannen. "Welchen Kaffee hättest du gerne?", fragt Carolina, "den von Lidia oder den von Consuelo?"
Lidia und Consuelo sind nur zwei von etwa ein Dutzend Frauennamen, die im Café "Florencia y Fortunata" in der peruanischen Stadt Cusco in großen Lettern auf den Behältern der Kaffeebohnen stehen, auf den Papierverpackungen, die sich im Regal hinter der Theke aneinanderreihen oder auf den Karten, die auf dem Tresen liegen.
"Unsere Mission ist es, weibliche Kaffeeproduzentinnen in Peru sichtbarer zu machen", sagt die 27-jährige Carolina, die das Café 2021 gegründet hat.
Nachdem die junge Peruanerin Accounting an einer Business-Universität in Lima studiert hat, arbeitete sie bei einer großen Pharmafirma. Für den Job musste sie viel durch Peru reisen. "Ich hatte schon immer ein Faible für Cafés und habe die Reisen genutzt, um Kaffee an den unterschiedlichsten Orten zu trinken", erzählt Carolina.
Dabei fiel ihr auf, dass die Kaffeekultur in Peru stark männlich geprägt ist. In den Cafés wurde fast ausschließlich von dem Kaffeeproduzenten, dem Röster, dem Barista gesprochen. "Ich fragte mich: Wo sind die Frauen in dieser Branche?"
Und so begann Carolina auf eigene Faust zu verschiedenen Kaffeeplantagen in Peru zu fahren, vor allem in ihrer Heimatregion Cusco sowie in Cajamarca.
"Dort habe ich Muster gesehen, die sich wiederholt haben", berichtet sie. Natürlich würden Frauen auf den Plantagen arbeiten. Sie seien in vielen Familienbetrieben sogar das Rückgrat der Produktion, weil sie sich neben der Arbeit auch noch um die Organisation sowie um die Kinder und Tiere kümmern. "Die Frauen bringen alles zum Laufen", meint Carolina.
Doch am Ende werde der Kaffee, für den die Frauen hart arbeiten, unter dem Namen von Männern verkauft. Carolina berichtet von Frauen, darunter Blanca Quispe (Foto), die zwar ihre Betriebe leiten, jedoch für ihren Kaffee zunächst den Namen ihres Vaters oder ihres Mannes wählten. So gebe es mehr Anerkennung und die Verkaufszahlen fielen besser aus.
Um das zu ändern, machte Carolina einen Plan: Ein Café eröffnen, in dem Kaffee von Frauen verkauft wird, um so die Gleichberechtigung in der Kaffeebranche zu fördern. Dafür kündigte sie ihren Job und zog zurück in ihre Heimatstadt Cusco.
In ihrem Viertel Magisterio eröffnete sie ihr Café unter dem Namen "Florencia y Fortunata", die Namen ihrer beiden Großmütter.
Doch der Anfang verlief holprig. Zum einen sind es die Cusqueños gewohnt, starken, destillierten Kaffee zu trinken. Mit Cappuccino oder Flat White konnten sie wenig anfangen. "Zum anderen gab es in meinem Viertel wenig Verständnis für das Konzept des Cafés", erzählt Carolina. Die Kundschaft blieb aus.
So verlegte die Unternehmerin ihr Café ins Stadtzentrum, nur wenige Meter von der Plaza Mayor, dem Hauptplatz, entfernt. "Hier sind wir auf mehr Neugier und Offenheit gestoßen", berichtet Carolina. Mit Erfolg. Immer mehr Kunden kamen, um den Kaffee von Consuelo, Lidia, Sonia oder Blanca zu probieren.
Cusco ist eine Stadt, die unter anderem wegen der Nähe zum Weltwunder Machu Picchu viele Touristen anzieht. Auch Carolinas Café besuchen Reisende aus aller Welt. Peruanischer Kaffee ist insbesondere im westlichen Ausland sehr beliebt. Doch über strukturelle Probleme wie die Diskriminierung der Frauen wissen die wenigsten Bescheid.
Es kämen aber auch viele Menschen aus Peru - sogar etwas mehr Männer als Frauen, so Carolina. "Ich finde es toll, wie sich das Café für Frauen einsetzt", sagt die 40-jährige Kundin Rosalina Susano zwischen zwei Schlucken von ihrem Eiskaffee. "Außerdem ist der Kaffee ausgezeichnet und ich habe mich mit der ganzen Atmosphäre, mit der Musik und mit den Leuten direkt verbunden gefühlt."
Rosalinas Kaffee wurde von Rosana Mantilla zubereitet. Die 29-Jährige kommt aus Venezuela und ist Barista und Servicechefin des Cafés. "In Lateinamerika findet man nur sehr wenige weibliche Baristas hinter den Theken", sagt sie. Frauen werden hauptsächlich im Service eingestellt, während die Männer an den Espressomaschinen arbeiten. "Aber in Peru gibt es langsam aber sicher mehr weibliche Baristas." Das ist zumindest ihr Eindruck, denn offizielle Statistiken gibt es dazu nicht.
Rosana zaubert mühelos ein feines Muster in den Milchschaum eines Cappuccinos. "Ich denke, dass wir, egal ob Frau oder Mann, dieselbe Arbeit gleich gut erledigen können", meint sie. Das gelte sowohl für die Arbeit als Barista als auch für die Kaffeeproduktion.
Carolina hat vor kurzem eine zweite Filiale eröffnet - wieder in ihrem Heimatviertel Magisterio, in dem es anfangs nicht gut lief. Mittlerweile sind die Menschen auch hier offener und besuchen das Café. Außerdem nutzt Carolina das zweite Café als Röstlabor, um mit verschiedenen Kaffeesorten zu experimentieren.
Bald möchte Carolina eine weitere Filiale im neuen Flughafen von Cusco eröffnen, der momentan gebaut wird. "Ich denke, dass Flughäfen ein großartiges Schaufenster sind", sagt Carolina. "So könnten wir den Kaffee unserer Produzentinnen bei Menschen aus aller Welt bekannt machen."
Auch bei den Produzentinnen spricht sich Carolinas Engagement herum. "Anfangs sind wir zu den verschiedenen Kaffeeplantagen gereist und haben die Frauen gefragt, ob sie ihren Kaffee direkt an uns verkaufen wollen", erzählt Carolina. Mittlerweile kämen Produzentinnen von selbst im Café vorbei und brächten Proben mit.
"Wenn die Frauen ihre erste Packung, auf der ihr Name steht, in den Händen halten, ist das wie eine Trophäe für sie", berichtet Carolina. "Sie sind stolz darauf, dass sie ihren Kaffee unter ihrem Namen verkaufen können - ohne Unsicherheiten oder Diskriminierung."
Sie hetzen gegen Homosexuelle, verurteilen das Recht auf Abtreibung und predigen gegen Transidentität: Christlich-fundamentalistische Kirchen aus den Vereinigten Staaten gewinnen zunehmend an Einfluss in Gesellschaft und Politik in Afrika. Die Hintergründe dieser mächtigen Netzwerke recherchiert Haley McEwen, Soziologin an der Universität Göteborg.
"Christlich-rechte Gruppen in den USA sind seit Anfang der 2000er Jahre in der US-Außenpolitik sehr aktiv", sagt sie im DW-Interview. Schon in den 1970-er Jahren hätten sich viele von ihnen etabliert und später ihren Einfluss auf internationaler Ebene vergrößert. Zu dieser Zeit seien sie auch in afrikanischen Staaten, insbesondere in Uganda, Nigeria, Kenia, Ghana und Südafrika, sowie in den Gremien der Vereinten Nationen tätig geworden.
Den Vorstoß sieht McEwen als eine "Reaktion auf die Fortschritte der internationalen Frauenbewegung bei der Anerkennung der sexuellen und reproduktiven Gesundheit und Rechte im Rahmen der UN".
Die konservativen Aktivisten, die sich als "pro-familiär" bezeichnen, sind laut McEwen jedoch ausschließlich daran interessiert, eine bestimmte Art von Familie zu schützen und zu verteidigen: die heterosexuelle, monogame, verheiratete Kernfamilie. Die Pro-Familien-Bewegung stelle Homosexualität und Geschlechtervielfalt als fremde Importe dar, die afrikanische Gesellschaften bedrohten.
Irungu Houghton, Direktor von Amnesty International in Kenia, betont aber: Der Hass, der durch diese rechten Gruppen geschürt werde, sei nicht in der kenianischen bzw. afrikanischen Geschichte begründet. Er schaffe jedoch die Voraussetzungen für die Gewalt und die Übergriffe gegen die LGBTQ-Gemeinschaften - also Gruppen und Menschen, die sich als lesbisch, schwul, bisexuell, transgender oder queer identifizieren.
"Homosexualität wird von einer Minderheit diskret praktiziert, ist aber seit mindestens einem Jahrhundert Teil der afrikanischen Tradition und Kultur. Wie sonst wäre es zu erklären, dass die Kolonialisierung in den 1930-er Jahren Gesetze zur Kriminalisierung von Sex zwischen Männern erließ", sagt Houghton im DW-Interview.
Das Hauptziel der US-Netzwerke ist laut McEwen, afrikanische politische Führer für die Unterstützung ihrer Politik bei den Vereinten Nationen (UN) zu gewinnen. Zum Beispiel durch Beratung und Training, damit sie in ihren Ländern und auch bei internationalen UN-Versammlungen an vorderster Front für angeblich familienfreundliche Agenden eintreten.
"Einflussnahme findet auch durch Finanzierung afrikanischer Organisationen statt, die sich vor Ort für diese Familienpolitik und gegen LGBTQ-Rechte und eine umfassende Sexualerziehung einsetzen." Die afrikanische Pro-Familien-Bewegung habe sich zunehmend selbst entwickelt, aber der Erfolg afrikanischer Kampagnen hänge nach wie vor weitgehend von ausländischen Investitionen ab, behauptet McEwen.
Die unabhängige internationale Medienplattform "openDemocracy" mit Sitz in London gibt in ihrer Untersuchung 2020 an, dass mehr als 20 amerikanische christliche Gruppen seit 2007 mindestens 54 Millionen US-Dollar in Afrika ausgegeben hätten. Die Organisationen sind für ihren Kampf gegen LGBTQ-Rechte und gegen den Zugang zu sicherer Abtreibung, Verhütungsmitteln und umfassender Sexualaufklärung bekannt.
Zum Beispiel die rechte Organisation "Family Watch International", die laut openDemocracy 2023 mehrere Schulungen zu Anti-LGBTQ-Gesetzen für afrikanische Politiker und andere Gruppen einberufen oder finanziert hat.
So auch in Uganda. Dort hätte der Einfluss dieser ultra-konservativen Gruppe aus Arizona bis hin zu einem neuen Gesetz gegen Homosexuelle gereicht, sagt Frank Mugisha, einer der bekanntesten Verfechter von LGBTQ-Rechten in Uganda und Direktor der Organisation Sexual Minorities Uganda (SMUG).
"Es sind schon viele Prediger nach Uganda gekommen, einer von ihnen war Lou Engle aus Kansas City. Er hat vergangenes Jahr mit Politikern an der Sprache für das neue Gesetz gegen Homosexuelle gearbeitet und dafür gebetet, dass es angenommen wird", sagt Mugisha im DW-Interview.
Ugandas Präsident Yoweri Museveni unterschrieb im Mai 2023 eine veränderte Version seines international scharf kritisierten Anti-Homosexuellen-Gesetzes - ohne jedoch von harten Strafen gegen gleichgeschlechtliche Beziehungen abzurücken. Homosexuellen droht die Todesstrafe, LGBTQ-Aktivistengruppen können mit bis zu 20 Jahren Haft bestraft werden.
SMUG hatte geklagt, ohne Erfolg. Die Gruppe hat sich in den USA registriert, da die ugandische Regierung es nicht zu zuließ. Sie arbeitet in Uganda - trotz der Gefahr für ihre Mitglieder: "Diese Leute gehen in unsere Gemeinden, wo wir leben", so Mugisha. "Sie rufen 'Werft den Teufel raus, kämpft gegen Sodomie!' Wir sind also ständig der Gewalt und hasserfüllten Drohungen ausgesetzt." Seine Kollegen seien bereits geflohen, aber er wolle bleiben: "Ich habe hier noch viel zu tun."
Die US-Netzwerker seien extrem und gingen sehr systematisch vor, sagt Mugisha. Nur zwei Tage nach der Unterzeichnung des Gesetzes durch Präsident Museveni hatte das Gründerehepaar von Family Watch International, Greg und Sharon Slater, in Entebbe eine Konferenz mit Parlamentariern zahlreicher afrikanischer Länder veranstaltet, um das Momentum zu nutzen, wie Mugisha sagt.
Ugandas Nachbarland Kenia habe kurz darauf mit einem Gesetzesentwurf nachgezogen, sagt der Aktivist: Der Entwurf eines Gesetzes zum Schutz der Familie liegt vor. Es zielt darauf ab, Homosexualität zu kriminalisieren und eine aufklärende Sexualerziehung zu verbieten.
In Kenia, aber auch in Uganda und Ghana, sieht AI-Direktor Houghton ebenso einen "direkten Zusammenhang" zwischen dem Aufkommen von Hassgesetzen und den Interessen der US-Kirchengruppen. Sie zielten darauf ab, viele Errungenschaften im Bereich der Sexualerziehung und der Rechte auf sexuelle und reproduktive Gesundheit zunichte zu machen.
2023 hätte es zwölf Hasskundgebungen in den Straßen von Mombasa, Malindi und Nairobi gegeben. Der Nationalen Kommission für Menschenrechte wurden 1250 Fälle von Menschenrechtsverletzungen genannt. "Das muss unterbunden werden, das es sich um Vorfälle handelt, die nach unserem Recht strafbar sind."
In Ghana verabschiedete das Parlament erst vor zwei Wochen ein Gesetz, das die Strafen für einvernehmliche gleichgeschlechtliche Handlungen verschärft und Personen und Organisationen, die sich für die Rechte von LGBTQ-Menschen einsetzen, kriminalisiert. Damit der Gesetzentwurf in Kraft treten kann, müsste Präsident Nana Akufo-Addo ihn allerdings noch unterzeichnen. Ob und wann das passieren wird, ist offen.
Diese Entwicklung, die auch in anderen afrikanischen Ländern zu beobachten ist, findet laut McEwen nicht in einem Vakuum statt: Gesetze gegen Homosexualität gebe es in Ungarn, in Russland oder auch in Großbritannien und den USA. Ihr Fazit: "Wir dürfen Afrika nicht als homophoben Kontinent abstempeln, nur weil es dort diese Gesetze gibt."
Fünf politische Häftlinge sind seit 2021 in belarussischen Gefängnissen gestorben. Menschenrechtsaktivisten führen das auf die unmenschliche Behandlung zurück. So hätten die Betroffenen keinen Zugang zu schneller und guter medizinischer Versorgung erhalten. Drei von ihnen hätten bereits vor ihrer Inhaftierung mit schweren gesundheitlichen Problemen zu kämpfen gehabt.
Dem Gesetz nach muss auch in Belarus auf den Gesundheitszustand eines Festgenommenen geachtet werden. Nach Angaben der belarussischen Justiz waren im Jahr 2010 zehn Prozent der Beschwerden erfolgreich, worauf die Inhaftierung der Gefangenen aufgehoben wurde. Im Jahr 2021 war das nur noch bei 1,3 Prozent der Beschwerden der Fall. Heute werden auch Menschen mit Behinderungen, Schwangere, ältere Menschen und auch solche, die an Diabetes, Krebs und anderen chronischen Krankheiten leiden, in Untersuchungshaft genommen.
Ermittler würden häufig den Gesundheitszustand eines Angeklagten ausnutzen, um "nützliche" Aussagen aus ihm herauszupressen, sagt der ehemalige Leiter des medizinischen Dienstes bei der Abteilung für Strafvollzug des belarussischen Innenministeriums, Wassilij Sawadskij. Sollte der Betroffene bestimmte Papiere nicht unterschreiben, werde ihm mit einer Verschlimmerung seines Gesundheitszustands gedroht.
In fast allen Fällen werden Personen, die aus politischen Gründen verfolgt werden, ungeachtet ihres Gesundheitszustands in Untersuchungshaft genommen. Ein ehemaliger belarussischer Anwalt, der ungenannt bleiben möchte, führt folgendes Beispiel an: "Ein aus politischen Gründen verfolgter Mandant musste operiert werden. Er konnte vor Schmerzen nicht mehr schlafen und wurde trotzdem in ein Untersuchungsgefängnis gesteckt. Dabei dürfen die Haftbedingungen keinesfalls Leben und Gesundheit gefährden. Der Ermittler sagt: 'Ich bin kein Arzt.' Und die Ärzte verweisen auf den Ermittler, weil er die Entscheidung getroffen hatte, die Person in Isolationshaft zu nehmen."
Es sei sehr schwierig gewesen, eine Operation durchzusetzen, berichtet der Anwalt weiter. Danach sei es dann zu Komplikationen gekommen. "Der Mandant wurde auf einer Trage zum Verhör gebracht. Auf dem Boden liegend wurde er vernommen und zudem auch noch gefilmt. Der Ermittler sah in diesem eindeutig unmenschlichen Umgang allerdings nichts Außergewöhnliches."
Der Anwalt des belarussischen Menschenrechtszentrums "Viasna", Pawel Sapelko, weist darauf hin, dass in Belarus Folter systematisch gegen politische Gefangene angewandt werde, unabhängig von einer Behinderung oder einer schweren Krankheit. Dies habe zum Tod von fünf politischen Gefangenen in Haft geführt.
Verurteilte würden vom Justizsystem in Belarus isoliert und nicht resozialisiert, erläutert ein weiterer ehemaliger belarussischer Anwalt, der auch ungenannt bleiben möchte. Zudem erhalte eine bisher nicht verurteilte Person, die ein weniger schweres Verbrechen begangen hat, gleich eine harte Strafe. Gerichte würden mildernde Umstände wie schwere Krankheiten und sogar Behinderungen häufig ignorieren.
Für politische Gefangene, so der Gesprächspartner weiter, gebe es die Anordnung, noch härtere Strafen zu verhängen. Als Beispiel nennt er den Fall von Nikolaj Klimowitsch, der eine Behinderung hatte. Weil er eine Karikatur des belarussischen Machthabers Alexander Lukaschenko mit einem Like versehen hatte, wurde er zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Dabei hatten der Angeklagte und sein Anwalt während des Prozesses beteuert, dass eine Haftstrafe aus gesundheitlichen Gründen nicht zu bewältigen sei. Zwei Monate später verstarb Klimowitsch im Gefängnis.
Auch in Belarus sollte eine Haftentlassung aus medizinischen Gründen möglich sein. Dafür gibt es eine entsprechende Liste von Erkrankungen wie Tuberkulose, Krebs oder Diabetes. Die Entscheidung müsse dann eine Sonderkommission fällen, erläutert Wassilij Sawadskij. Danach entscheide ein Gericht. Es habe das Recht, eine Haftentlassung aus medizinischen Gründen zuzulassen, sei aber nicht dazu verpflichtet. Eine Garantie gebe es nicht, selbst wenn Ärzte eine Inhaftierung als lebensbedrohlich einstuften. In der Praxis kämen betroffene Gefangene nur in Ausnahmefällen frei, beispielsweise wenn sie bereits Krebs im Endstadium hätten und zum Sterben nach Hause geschickt würden.
Aber selbst unter solch extremen Umständen gelingt es nicht jedem, aus der Haft entlassen zu werden. So starb 2018 die ehemalige Richterin Jelena Melnikowa in einer Strafkolonie. Sie wurde 2016 wegen Annahme von Bestechungsgeldern zu 13 Jahren Haft verurteilt. Melnikowa sollte zur Behandlung in eine onkologische Klinik gebracht werden, doch sie starb einen Tag vor ihrer Haftentlassung.
Das Oberste Gericht von Belarus stellt keine Daten darüber zur Verfügung, wie viele Personen aus medizinischen Gründen aus der Haft entlassen wurden. Unter politischen Gefangenen sind solche Fälle jedenfalls unbekannt.
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk
Mitglieder der gambischen Nationalversammlung haben einen Gesetzesvorschlag zur Aufhebung eines nationalen Gesetzes zum Verbot der weiblichen Genitalverstümmelung (FGM, "Female Genital Mutilation") vorgelegt. Das kleine westafrikanische Land hatte FGM, auch Beschneidung genannt, bereits im Jahr 2015 ausdrücklich unter Strafe gestellt.
Doch die Praxis ist nach wie vor weit verbreitet: In Gambia sind etwa 73 Prozent der Mädchen und Frauen zwischen 15 und 49 Jahren beschnitten. Fast ein Drittel dieser Frauen waren jünger als fünf Jahre, als ihre Genitalien verstümmelt worden sind. Das geht aus dem Bericht zur Demografie und Gesundheit 2019/20 der gambischen Statistikbehörde hervor.
Die Mehrheit der Bevölkerung des Landes ist muslimisch - viele Menschen glauben, dass Genitalverstümmelung ein Gebot des Islam ist. Isatou Touray, ehemalige Vizepräsidentin und Gründerin der Anti-FGM-Organisation GAMCOTRAP, weist diese Auslegung entschieden zurück: "Wer hat das Recht, sich in das einzumischen, was Allah geschaffen hat und zu definieren, wie eine Frau auszusehen hat?" sagte Touray dem gambischen Medienunternehmen Kerr Fatou.
Bei der Beschneidung der äußeren Genitalien von Frauen werden häufig auch die Klitoris oder die Schamlippen entfernt. Gefährliche Gesundheitsschäden quälen die Betroffenen häufig ein Leben lang. Beschneidungen werden in Gambia mit bis zu drei Jahren Gefängnis, einer Geldstrafe von 50.000 Dalasi (736 Dollar bzw. 674 Euro) oder beidem bestraft. Führt FGM zum Tod, droht eine lebenslange Haftstrafe.
Die Debatte um FGM flammte Mitte 2023 auf, als das Gesetz erstmals zum Einsatz kam: Drei Frauen waren zu einer Geldstrafe von 15.000 Dalasi oder einem Jahr Gefängnis verurteilt worden - sie hatten an acht kleinen Mädchen im Alter zwischen vier Monaten und einem Jahr Genitalverstümmelungen vorgenommen. Zuvor waren nach Angaben von UNICEF nur zwei Personen verhaftet und ein Fall vor Gericht gebracht worden - ohne Verurteilungen oder Sanktionen.
Der jetzt von einzelnen Abgeordneten eingebrachte private Gesetzentwurf zur Abschaffung des FGM-Gesetzes argumentiert, das derzeitige Verbot verletze die Rechte der Bürgerinnen und Bürger auf Ausübung ihrer Kultur und Religion.
Die Befürworterinnen und Befürworter der Genitalverstümmelung glauben, die Praxis könne Mädchen in der Pubertät und vor der Heirat "läutern". "Wenn es um den sozialen Aspekt geht, werden sie dir sogar sagen: 'Oh, es soll sicherstellen, dass du eine Jungfrau bleibst, denn wenn du die Klitoris hast, würdest du Sex haben wollen'", sagte die Frauenrechtlerin Esther Brown in einem Interview mit der DW.
Genitalverstümmelung ist laut Weltgesundheitsorganisation international als Verletzung der Menschenrechte von Mädchen und Frauen anerkannt. Neben starken Blutungen kann FGM eine Reihe schwerwiegender Gesundheitsprobleme verursachen, darunter Infektionen, Narbenbildung, Schmerzen, Menstruationsstörungen, wiederkehrende Harnwegsinfektionen, Unfruchtbarkeit und Komplikationen bei der Entbindung. Eine Studie über die gesundheitlichen Folgen von FGM in Gambia ergab, dass beschnittene Frauen ein viermal höheres Risiko haben, während der Geburt Komplikationen zu erleiden. Und dass Neugeborene ein viermal höheres Risiko haben, gesundheitliche Komplikationen zu erleiden, wenn die Mutter beschnitten wurde.
Angesichts der hitzigen Diskussionen über das Gesetz ist die Parlamentsberichterstatterin Arret Jatta nicht überrascht, dass der Gesetzesentwurf zugunsten der FGM im Parlament eingebracht wurde. "Fast alle Mitglieder der Nationalversammlung sind für die Aufhebung des Gesetzes - insbesondere die weiblichen Mitglieder der Nationalversammlung", sagte sie im DW-Interview.
Es sind aber nicht nur Politiker, die sich für die Aufhebung des FGM-Verbots einsetzen: Nach der Verurteilung der drei Frauen 2023 zahlte ein Imam ihre Geldstrafen - und der Oberste Islamische Rat von Gambia erließ eine "Fatwa", ein Gesetz nach islamischem Recht, in der FGM nicht nur als "ererbter Brauch, sondern vielmehr als eine der Tugenden des Islam" bezeichnet wird. "Sie sollen unsere Mütter nicht ins Gefängnis stecken", sagte Iman Alhaji Kebba Conteh der DW, als das Parlament über den Gesetzentwurf diskutierte. "Wir wollen nicht, dass sie uns unsere Frauen wegnehmen und sie verhaften."
Fatima Jarju hat ihre Genitalverstümmelung überlebt. Heute sensibilisiert sie Frauen in Gambia für die Schäden der Prozedur. Die Debatte schade den Frauenrechten, sagte sie der DW: "Ich denke, das ist ein großer Rückschlag. Auch mit Blick auf unsere Menschenrechts-Standards und die Verpflichtung der Regierung, die Rechte von Frauen und Mädchen in diesem Land zu schützen."
Gambia ist eines von 28 Ländern südlich der Sahara, in denen FGM praktiziert wird. In sechs dieser Länder gibt es keine nationalen Gesetze, die das Verfahren unter Strafe stellen. Gambia, dessen Parlament noch in diesem Monat erneut über das FGM-Gesetz beraten wird, könnte sich ihnen bald anschließen.
Rugiatu Turay lebt in Sierra Leone, einem der sechs afrikanischen Länder ohne Gesetz gegen weibliche Genitalverstümmelung. Sie hat internationale Anerkennung für ihren Anti-FGM-Einsatz bekommen. Zu den Strategien, die sie anwendet, gehören die Entwicklung von Übergangsriten für Mädchen, die Suche nach alternativen Einkommensmöglichkeiten für die Beschneiderinnen sowie ein intensives Engagement in den Gemeinden.
Gesetze allein reichen nicht aus, um FGM zu bekämpfen, sagt sie - vor allem, wenn sie nicht durchgesetzt werden: "In Afrika werden in der Regel Gesetze erlassen, um die Partner der Geberländer zufrieden zu stellen. Aber wenn es um die Umsetzung geht, werden sie nicht befolgt", so Turay gegenüber der DW.
Stattdessen - beziehungsweise parallel dazu - müsste sich die kulturelle Einstellung ändern. Dafür seien mehr Initiativen auf Gemeindeebene erforderlich. Dadurch könnten regionale Oberhäupter und lokale Vorsteher einbezogen werden, aber auch die Beschneiderinnen und die Mütter, die Entscheidungen für ihre Töchter treffen. "Wenn jeder Bereich in unserem Land über den Schnitt und die Narbe - und ihre Folgen - spricht, werden wir FGM beenden", hofft die Aktivistin.
Mitarbeit: Sankulleh Janko in Banjul, Eddy Micah Jr. und George Okach
Eine Frau und ihre Freundinnen im Zentrum von Teheran, Iran, werden bedrängt von sechs bewaffneten Männern auf drei Motorrädern. "Zieht euren Hidschab an", fordern sie die Freundinnen auf. "Zieht euren Hidschab an!"
Die Szene aus dem vergangenen Jahr hat sich in das Gedächtnis einer der Frauen eingebrannt, die Erinnerung daran wird sie nicht mehr los. "Seit diesem Tag friert mein Körper jedes Mal ein, wenn ich das Geräusch eines Motorrads hinter mir höre", berichtet sie. "Deshalb gehe ich nicht mehr spazieren. Wenn doch, habe ich die ganze Zeit meine Kopfhörer auf."
Von diesem traumatisches Erlebnis habe ihr eine Frau aus Teheran erzählt, sagt die iranische, in London lebende Menschenrechtlerin Ghoncheh Ghavami im Gespräch mit der DW. Ghawami, die selbst wiederholt in den Fängen der iranischen Justiz war, steht weiterhin mit vielen Iranerinnen in Kontakt, trotz aller Schwierigkeiten und Gefahren.
Szenen wie diese sind Alltag in Teheran. Auch die landesweiten Proteste nach dem Tod von Jina Mahsa Amini im Herbst 2022 haben daran nichts geändert. Die Kurdin war während einer Reise in die Hauptstadt festgenommen und in ein Polizeirevier gebracht worden, angeblich weil sie ihr Kopftuch nicht angemessen getragen habe. Wenige Stunden später wurde sie leblos aus dem Polizeigewahrsam ins Krankenhaus gebracht. Drei Tage später, am 16. September, wurde sie offiziell für tot erklärt.
Die darauf folgenden Proteste unter dem Slogan "Frau, Leben, Freiheit" entwickelten sich zu den am längsten andauernden seit der Gründung der Islamischen Republik im Jahr 1979. Darauf reagierte die Regierung mit massiver Repression und Gewalt. Exakte Angaben sind schwer zu erhalten, aber unabhängigen Menschenrechtsorganisationen zufolge haben die Sicherheitskräfte im Iran bei den Protesten allein in den ersten zwölf Monaten nach dem 16. September 2022 mindestens 550 Demonstranten getötet. Sieben Männer wurden im Zusammenhang mit den Protesten hingerichtet. Wie Amnesty International mitteilte, gab es mehr als 22.000 Festnahmen.
Dass die Repressalien nach wie vor weitergehen, berichtet auch die Rechtsanwältin und Aktivistin Nasrin Sotoudeh . Mitte Februar habe sie mehrere Anrufe von Mädchen und Frauen erhalten, sagt die Trägerin des alternativen Nobelpreises im Gespräch mit der DW. Sie alle hätten kein Kopftuch getragen und seien von Zivilisten und Basidsch-Milizen, einer Freiwilligen-Abteilung, die organisatorisch den Revolutionsgarden zugeordnet ist, angegriffen und erniedrigend behandelt worden. Am folgenden Tag habe man über 60 Frauen vor Gericht gestellt. Einige habe man zu Geldstrafen verurteilt. "Es ist ein frauenfeindliches Regime", sagt Sotoudeh.
Drohungen, Prozesse, Strafen. Gängelungen wie die Beschlagnahme von Autos, körperliche Übergriffe und Demütigungen: Die Repressionen des Regimes, von denen die beiden Frauenrechtlerinnen berichten, setzten vielen Iranerinnen zu; insbesondere jenen, die sich weigern, ein Kopftuch zu tragen. "Dieses verdammte Kopftuch zu tragen oder nicht zu tragen, ist für uns mit vielen Gedanken und Emotionen verbunden, mit Angst, Scham, Hilflosigkeit, Wut, Demütigung", klagt eine Frau in einem Text auf der Webseite "harasswatch" von Ghoncheh Ghavami. Sie schwanke zwischen Kühnheit und Mut auf der einen und Zögerlichkeit auf der anderen Seite, berichtete die Frau.
"Viele von uns durchlaufen diese Empfindungen tagtäglich. Wir stehen in einem ständigen inneren Dialog mit uns selbst und mit unseren Leidensgenossinnen", zitiert Ghavami aus den schriftlichen Aufzeichnungen, die ihr zugesandt wurden. "Wie können wir, die wir die Revolution wegen des Todes von Jina Mahsa Amini miterlebt haben, diese Demütigung passiv ertragen? Wie können wir den Aufruhr in unseren Körpern ignorieren? Die Islamische Republik mag den Hidschab als bedeutsam ansehen. Für uns und unser Leben bedeutet es sehr viel mehr, den Schleier abzulegen."
Denn die Entscheidung, ein Kopftuch zu tragen oder nicht, erschöpft sich nicht in einer bloßen Bekleidungsfrage. Sie rüttelt am Selbstverständnis der gesamten Person. "Für mich ist es Grundlage meiner Identität, kein Kopftuch zu tragen", zitiert Ghavami die Worte einer weiteren Frau, die sich ihr anvertraute. "Ich habe das Gefühl, mich selbst zu verleugnen, wenn ich dazu gezwungen werde. Es ist, als vergrabe ich mich in meinen eigenen Händen." Sie stecke in einer Zwangslage, klagt die Frau. "Ich muss entweder den Hidschab-Polizisten in der Metro fürchten, oder ich leide, weil mein Körper bedeckt ist. Ich will nicht zu diesem abstoßenden Aussehen zurückkehren, das sie für uns geschaffen haben."
Die Entscheidung entweder Kopftuch zu tragen oder mit Belästigungen, wenn nicht gar einem Prozess rechnen zu müssen, schränke die Frauen enorm ein, sagt Nasrin Sotoudeh der DW. "Die Fälle von Mahsa Amini und Armita Garawand erinnern uns daran, wie eingeschränkt die öffentliche Mobilität für Frauen ist. Im Zweifel ziehen sie es vor, zu Hause zu bleiben - und genau das wollen die Herrscher."
Die 16-jährige Armita Garawand hatte kein Kopftuch getragen, als sie Anfang Oktober 2023 in der U-Bahn zusammenbrach. Laut iranischen Staatsmedien sei sie wegen niedrigen Blutdrucks gestürzt. Menschenrechtler sind sich aber sicher, dass sie Opfer der Sittenpolizei wurde. Sie starb nach Wochen im Koma.
"Die Behörden behandeln Frauen nach wie vor als Bürgerinnen zweiter Klasse", heiß es in einem Report zur Lage der Menschen- und Frauenrechte im Iran, den die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) im Herbst 2023 veröffentlicht hat. Das gelte auch mit Blick auf Heirat, Scheidung, Sorgerecht für Kinder, Beschäftigung, Erbschaft und politische Ämter. AI weist zudem auf das nach iranischem Recht heiratsfähige Alter von Mädchen hin. Dieses liegt derzeit bei 13 Jahren.
Dass das Regime in seiner Geschlechterordnung sich so auf die Bekleidungsvorschriften konzentriere, sei aus dessen Sichtweise heraus nachvollziehbar, schreibt die US-Politologin Hamideh Sedghi in ihrem bereits 2007 erschienenen Buch "Women and Politics in Iran. Veiling, Unveiling and Reveiling".
Denn das Kopftuch sei für die Machthaber das stärkste Symbol der Iranischen Revolution. "Die Islamische Revolution entwickelte sich auch zu einer sexuellen Gegenrevolution, einen Kampf um die Sexualität der Frau", schreibt Sedghi. Diese Sexualität war fortan stark politisch, das heißt, als anti-westlich konnotiert. "Trag ein Kopftuch, oder wir schlagen dir auf den Kopf", lautete eine Parole im Revolutionsjahr 1979, "Tod den Unverschleierten" eine andere.
Gegen diese bis heute fortdauernde Bevormundung wehrten sich die Iranerinnen aber, sagt Nasrin Sotoudeh der DW. Ihr Protest richte sich etwa gegen den fortgesetzten Versuch, die Frauen zur Immobilität zu zwingen: "Genau das dürfen wir iranischen Frauen nicht zulassen."
Darum gehe der Widerstand gegen die Vorschriften weiter, sagt Sotoudeh im DW-Gespräch. Das geschehe oft gemeinsam mit den iranischen Männern. "Denn unabhängig von Machtkämpfen sind Männer und Frauen in diesem Land durch die Idee der Menschenrechte vereint." Dieses Konzept betreffe ihren Alltag unmittelbar. "Sie sehnen sich danach, ihr Leben zu normalisieren, wie alle anderen auf der Welt zu leben und jeden Morgen aufzuwachen, ohne zu hören, dass ein anderes junges Mädchen aufgrund der Kleidungswahl getötet wird."
Hat der Widerstand der vergangenen zweieinhalb Jahre Erfolge gebracht? Ja, sagt Nasrin Sotoudeh – wenngleich sich die Regierung nicht geändert habe. Um den Erfolg zu messen, sagt sie, müsse man die Frage anders stellen: "Wie sähe unsere Situation aus, wenn es keine Mahsa-Bewegung gäbe? Ich wage zu behaupten, dass es noch viel schlimmer wäre."
"Na-Wal-Ny!", skandieren die Menschen immer wieder vor der Kirche zu Ehren der Gottesmutterikone "Lindere meine Trauer" im Moskauer Stadtteil Marjino. In der Kirche ist der Leichman von Alexej Nawalny aufgebahrt, davor hat sich seit Freitagmorgen eine Schlange von mehreren Kilometern gebildet: Tausende Russinnen und Russen wollen dem schärfsten Kremlkritker ihre letzte Ehre erweisen. Unweit der Versammlung liegt die Lublinskaja-Straße, in der Nawalny lebte.
Am Vorabend der Beerdigung gab es viele Absagen von Bestattungsunternehmen - aus Angst, sich an einer "nicht genehmigten Versammlung" zu beteiligen, wie die russischen Behörden Nawalnys Trauerfeier bezeichneten. Im letzten Moment erklärte sich eines der Unternehmen dann doch noch bereit, einen Leichenwagen zur Verfügung zu stellen.
Am Tag der Beisetzung halten viele Blumen in den Händen. Die "Na-Wal-Ny"-Rufe wollen nicht enden, wie schon vor zehn Jahren auf den Straßen von Moskau und Sankt Petersburg, als Alexej Nawalny seinen aktiven politischen Kampf führte. Er kandidierte für das Amt des Moskauer Bürgermeisters und führte dann 2018 einen Präsidentschaftswahlkampf. Im Laufe der Jahre wurde es immer gefährlicher, Nawalnys Namen in der Öffentlichkeit zu nennen. Tausende Anhänger des Oppositionspoltikers wurden verhaftet, seine engsten Mitarbeiter leben inzwischen im Exil.
Diesmal verzichten die Behörden aber auf Massenverhaftungen, trotz der ursprünglichen Drohungen, alle, die zur Beerdigung kommen, als Teilnehmer einer nicht genehmigten Versammlung zu bestrafen. In der Hauptstadt Moskau werden zunächst nur sechs Personen festgenommen. In den russischen Regionen ist die Polizei weniger zurückhaltend: In Jekaterinburg, Woronesch und Nowosibirsk nehmen die Ordnungskräfte im Laufe des Tages mindestens 45 Personen fest. Einige von ihnen wollten Blumen an den Denkmälern für politische Gefangene niederlegen. Im Rahmen der Gedenk- und Trauerveranstaltungen sollen laut der NGO "OVD-Info" in ganz Russland insgesamt über 90 Personen inhaftiert worden sein.
Nur ein paar Dutzend Menschen, darunter Nawalnys Mutter und Vater, dürfen die Kirche betreten. Das Gelände ist abgesperrt - eine Reihe von Polizeibeamten steht entlang den am Vortag errichteten Metallzäunen von der nächstgelegenen U-Bahn-Station bis zur Kirche. Sowohl innerhalb als auch außerhalb der Kirche gibt es erhebliche Probleme mit dem Internet. Journalisten müssen ihre Live-Übertragungen immer wieder abbrechen.
Weder Nawalnys Frau Julia Nawalnaja noch ihre gemeinsamen Kinder sind anwesend. Aus Sicherheitsgründen kam die Familie nicht nach Russland. Erst zwei Tage zuvor hatte Julia Nawalnaja vor dem Europaparlament eine Rede gehalten. Sie machte Russlands Präsidenten Wladimir Putin persönlich für den Tod ihres Mannes verantwortlich. "Ljoscha, danke für die 26 Jahre absoluten Glücks", schrieb sie später auf Instagram und versprach, den Kampf gegen das Regime Putins fortzusetzen.
Nach dem Trauergottesdienst werfen die Menschen Blumen auf den Leichenwagen, in dem Nawalnys Leichnam zum Borisow-Friedhof gefahren wird. Dabei skandiert die Menge neben dem Namen des Oppositionellen Sätze wie "Nein zum Krieg", "Liebe ist stärker als Angst" und "Putin ist ein Mörder".
Als der Sarg ins Grab gesenkt wird, hört man "My way" von Frank Sinatra und den Soundtrack von "Terminator 2". Zu diesem Zeitpunkt hat sich bereits eine lange Schlange am Eingang des Friedhofs gebildet. Viele Menschen wollen nach einer russischen Sitte persönlich eine Handvoll Erde auf Nawalnys Sarg werfen, bevor er zugeschüttet wird, um Sympathie und Dankbarkeit auszudrücken. Auch nach der offiziellen Schließung des Friedhofs dürfen die Menschen noch mehrere Stunden lang das Grab Nawalnys besuchen.
Einige russische Politiker sowie die Botschafter der USA und der EU erwiesen dem Oppositionspolitiker die letzte Ehre. Der ehemalige Bürgermeister von Jekaterinburg, Jewgeni Roisman, brachte Blumen zu Nawalnys Grab. Er nannte den Putin-Kritiker einen orthodoxen "Märtyrer" und wünschte sich, dass der tote Oppositionelle in Zukunft als kanonischer Heiliger anerkannt wird. "Dafür hat er viel mehr Gründe geliefert als Nikolaus II.: Nawalny hat keine Menschen in den Tod geschickt, hat kein Geld der Menschen verschwendet", sagte Roisman und zog damit eine Parallele zu dem 1918 von den Bolschewiki ermordeten russischen Zaren Nikolaus II., der für die russisch-orthodoxe Kirche als Märtyrer und Heiliger gilt.
Der Politiker Boris Nadeschdin und die Journalistin Jekaterina Duntzowa kamen ebenfalls. Die beiden Kritiker des Ukraine-Kriegs wollten für das Präsidentenamt 2024 kandidieren und wurden daran gehindert. Über Nawalny schrieb Duntzowa in ihrem Telegram-Kanal: "Er wird den Frühling nie wieder sehen, denn hier, wo er weggegangen ist, hat er den Winter und den Dauerfrost des Polarkreises bekommen, und dort, wo er hingeht, wird es nur ewigen Sommer geben." Sie fügte hinzu, dass die Erinnerung an Nawalny "in der Geschichte bleiben wird".
Im Gespräch mit der DW bezeichnete Nadeschdin den Tod Nawalnys als Tragödie und betonte, dass sein Name für Millionen von Russen nach wie vor "symbolisch" sei: "Schauen Sie sich die Schlange an, die hier ansteht, um sich von ihm zu verabschieden." Nadeschdin sagte, er habe Alexej Nawalny zu Beginn seiner politischen Karriere gekannt, als dieser in den 2000er Jahren für die Werbekampagne der Partei "Union der Rechten Kräfte” verantwortlich war und selbst der liberalen Partei "Jabloko” angehörte.
Dennoch kamen weder "Jabloko"-Gründer Grigori Jawlinski noch der derzeitige Parteivorsitzende Nikolai Rybakow zur Beisetzung ihres ehemaligen Parteikollegen - und das obwohl "Jabloko" zuvor die derzeitige Regierung in Russland für den Tod von Nawalny verantwortlich gemacht hatte.
Nur Andreij Morew, stellvertretender Vorsitzender der Moskauer Sektion von "Jabloko” kam zum Friedhof. Auf dem Heimweg wurde er von der Polizei festgehalten und später mit der Begründung freigelassen, er habe Ähnlichkeit mit einem gesuchten Verbrecher gehabt.
Menschenrechtsaktivisten schließen nicht aus, dass es später zu "stillen" Repressionen kommen könnte: Die Identität der Trauernden kann mit Hilfe eines Gesichtserkennungssystems festgestellt werden, das extra zur Beisetzung installiert wurde. So war es beispielsweise auch am 27. Februar, als die Polizei drei Teilnehmer einer Nawalny-Gedenkveranstaltung zuhause aufsuchte und festnahm. Laut dem Menschenrechtsverein "OVD-Info" wurden im Jahr 2021 mit Hilfe von Außenüberwachungskameras 454 Menschen nachträglich festgenommen, von denen 363 mit den Aktionen zur Unterstützung von Alexej Nawalny in Verbindung gebracht wurden.
Rund tausend Menschen harren im Grenzgebiet zwischen Myanmar und Thailand aus. Sie wurden offenbar aus sogenannten Betrugsfabriken freigelassen: Opfer von Menschenhandel, die in streng bewachten Gebäudekomplexen eingesperrt waren und gezwungen wurden, systematisch online zu betrügen. Es ist das erste Mal, dass an diesem Grenzabschnitt so viele Opfer auf einmal freikommen. Die Opfer kommen aus der gesamten Welt, doch ein Großteil von ihnen sind chinesische Staatsbürger.
Am Donnerstag wurden die ersten 150 von ihnen mit Bussen nach Thailand gebracht und direkt mit drei Charterflügen nach China ausgeflogen. Das Investigativ-Team der DW konnte die Bilder des Transports mit Flugdaten abgleichen.
Die Freilassung erfolgt einen Monat, nachdem das DW-Team eine Recherche veröffentlichte, die die brutalen Bedingungen in KK Park, der berüchtigtsten von mehreren solcher Betrugsfabriken aufdeckte. KK Park und eine Reihe anderer dieser Orte moderner Sklaverei sind in den letzten Jahren hier in Karen-Staat entstanden, wo seit Jahrzehnten Bürgerkrieg herrscht und unklare Machtstrukturen viel Raum für dunkle Geschäfte bieten.
Mehrere ehemalige Insassen erzählten von Folter durch Gewalt, dem Entzug von Nahrung und Schlaf und von umfassender Überwachung. Ihre Aufgabe: Online das Vertrauen von Ahnungslosen vor allem in Europa und den USA, aber auch China zu gewinnen und sie zu überreden, ihr Geld in dubiose Kryptowährungs-Konten anzulegen. Immer wieder konnten Einzelne entkommen oder freigekauft werden, die von den menschenunwürdigen Verhältnissen in den Lagern berichteten. Das Team der DW konnte die Spur des Geldes damals ins Umfeld der berüchtigten Triade 14k aus Hongkong zurückverfolgen.
Was mit den chinesischen Opfern geschieht, die nun ausgeflogen wurden, ist unklar. Möglicherweise droht ihnen Haft wegen illegalen Grenzübertritts - sofern sie auf dem Landweg aus China nach Myanmar geschmuggelt wurden - oder wegen Betrugs.
Verschiedene Quellen bestätigten der DW, dass neben den Opfern aus China auch 350 Menschen anderer Nationalität freikamen - vor allem wohl aus Afrika. Was mit ihnen geschehen wird, ist ebenfalls unklar. Erkennt Thailand sie als Opfer von Menschenhandel an, können sie in ihre Heimat zurück. Ansonsten droht ihnen bis zu einem Jahr Gewahrsam wegen illegalen Grenzübertritts.
Dass jetzt so viele auf einmal freikommen, scheint auf eine koordinierte Aktion der Behörden aus China, Thailand und Myanmar zurückzugehen. Allerdings ist unklar, ob mit dem Crackdown auch das Ende dieser Betrugsfabriken eingeleitet wurde. Ein Insider, der sich im Grenzgebiet aufhält, berichtet der DW, dass sowohl der berüchtigte KK Park als auch andere Betrugsfabriken weiter in Betrieb sind.
Hier geht es zur DW Investigation "Krypto-Falle – Zwangsarbeit in Asiens Betrugsfabriken”
"Es ist eine klare Botschaft an die gesamte Union, dass wir Gewalt gegen Frauen ernst nehmen," erklärt Frances Fitzgerald, Berichterstatterin für eine EU-Richtline zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Doch als sie das Ergebnis der Verhandlungen zwischen den beiden EU-Gesetzgebern – dem EU-Parlament und dem EU-Rat – am Dienstagabend der Presse vorstellt, ist klar, dass es trotz großer Bemühungen an einigen Stellen noch immer hakt.
Was unter dem Tatbestand der Vergewaltigung verstanden wird, regeln die EU-Staaten in ihren Strafgesetzbüchern unterschiedlich. Und das wird auch in absehbarer Zukunft erstmal so bleiben. Denn der EU-Rat, der die Mitgliedstaaten vertritt, hat sich im Verhandlungsprozess gegen eine Vereinheitlichung ausgesprochen.
Sie habe "recht verstörende Einsichten in die Haltung einiger Mitgliedstaaten gegenüber Vergewaltigungen gewonnen," sagte eine verärgerte wirkende Frances Fitzgerald, die Teil der konservativen Europäischen Volkspartei ist. Viele EU-Politiker hatten vergeblich darauf gehofft, dass der so genannte konsensbasierte Begriff von Vergewaltigung europaweit flächendeckend eingeführt wird.
Nach einer Analyse des Dachverbandes "European Women's Lobby" vom Oktober letzten Jahres gilt in 14 EU-Staaten das sogenannte "Nur-Ja-heißt-Ja"- Prinzip. Darunter sind etwa Schweden und Spanien, aber auch Kroatien und Griechenland. Dahinter steht die Idee, dass einem sexuellen Kontakt eindeutig zugestimmt werden muss, damit er nicht als Vergewaltigung gilt.
In Deutschland und Österreich sei der Grundsatz "Nein-heißt-Nein" anwendbar, welches weiterhin vom Opfer verlange, die verbale Ablehnung des Geschlechtsverkehrs zu beweisen.
In den restlichen 11 EU-Mitgliedstaaten sei der Widerstand gegen Gewalt oder eine Bedrohungslage weiterhin ein Wesenselement einer Vergewaltigung, führt die europäischen Frauenlobby aus. Zu diesen Ländern gehören etwa die meisten osteuropäischen Staaten sowie Frankreich und Italien.
Als die Europäische Kommission am 8. März 2022 den Vorschlag für ein einheitliches EU-Gesetz vorlegte, ging es ihr auch darum, die Ziele der 2018 in Kraft getretenen Istanbuler Konvention zu erreichen. Die Istanbuler Konvention ist ein Abkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt, welches die meisten EU-Mitgliedstaaten ratifiziert haben. Am 1. Juni 2023 ist auch die EU als Ganzes dem Abkommen beigetreten.
Die Istanbul-Konvention sieht unter anderem vor, dass das nicht einverständliche, sexuell bestimmte vaginale, anale oder orale Eindringen in den Körper unter Strafe gestellt werden muss. In ihrem Gesetzesvorschlag aus dem Jahr 2022 schlug die Kommission in Artikel 5 einen Vergewaltigungsbegriff vor, der auf die „nicht-einvernehmlichen sexuellen Handlung an einer Frau" abstellt. Das hätte wohl die Einführung des "Nur-Ja-heißt-Ja"-Prinzips in der ganzen EU bedeuten können.
Doch schon in einer Stellungnahme des Rates der EU aus dem Mai 2023 tauchte dieser Artikel 5 nicht mehr auf. Auf der Grundlage eines Rechtsgutachtens hatte sich der Rat entschlossen, diesen zu streichen.
"Der juristische Dienst des Rates und viele andere Mitgliedstaaten sind zu dem Ergebnis gekommen, dass für diese strafrechtliche Vorschrift im europäischen Primärrecht keine ausreichende Rechtsgrundlage vorliegt," sagte der deutsche Justizminister Marco Buschmann vor rund zwei Wochen bei einem informellen Treffen in Brüssel. Nach dieser Lesart besäße die EU gar nicht die Kompetenz dazu, eine juristische Vereinheitlichung einzuleiten. Auch andere Staaten, wie etwa Frankreich und Ungarn vertreten laut AFP diese Position.
Allerdings sind sich die Mitgliedstaaten untereinander auch darüber nicht einig. Laut Berichterstatterin Fitzgerald seien insgesamt 13 der 27 Staaten dafür gewesen, den konsensbasierten Ansatz europaweit einzuführen.
Die ablehnende Haltung der anderen Staaten führte zu vehementer Kritik von Frauen und Frauenrechtlerinnen in ganz Europa. In Deutschland hatten über 100 prominente Frauen den deutschen Justizminister dazu aufgerufen, seine Position zu ändern. Die "European Women's Lobby" bedauere zutiefst die "empörende Entscheidung Frankreichs und Deutschlands, Artikel 5 [...] zu streichen," teilt der Dachverband auf seiner Webseite mit.
Weitere Bestimmungen der neuen Richtlinie zum Schutz von Frauen vor Gewalt sehen Regeln gegen Genitalverstümmelung und Zwangsehen vor. Außerdem soll Cyber-Gewalt, wie etwa das ungewollte Teilen intimer Fotos, das unaufgeforderte Zusenden anstößiger Bilder (Cyberflashing), sowie das Cyberstalking unter Strafe gestellt werden. Die Einigung muss formell noch von Rat und Parlament beschlossen werden. Im Anschluss haben die EU-Staaten drei Jahre Zeit, die Regeln in nationales Recht umzusetzen.
Jetzt muss alles schnell gehen. Eine Gruppe Menschen wartet am Straßenrand. Jederzeit könnte einer ihrer Bewacher auftauchen. Rasant fährt der Entwicklungshelfer Judah Tana mit einem Jeep vor, sie springen ins Auto. "Endlich, mein Herz schlägt wieder an seinem richtigen Ort", seufzt Lucas erleichtert, als er erschöpft auf den Rücksitz fällt. Lucas, ein stämmiger Mann aus Westafrika, und die anderen wurden zwölf Monate von Menschenhändlern in einer Cyber-Betrugsfabrik in Myanmar gefangen.
Hier in Südostasien werden Tausende von Menschen an solche geheimen Orte verschleppt, wo sie gezwungen werden, ahnungslose Menschen in Europa, den USA und China online Geld aus der Tasche zu ziehen. Sie betrügen Menschen, sind aber selbst auch Opfer von organisierter Kriminalität.
Das Investigativ-Team der DW hat mit Zeugen gesprochen, Bildmaterial ausgewertet und Dokumente analysiert, um das ausgeklügelte System von Betrug, Menschenhandel und Cyberkriminalität zu dokumentieren.
Aaron, der jetzt neben Lucas im Auto sitzt, kommt aus dem südlichen Afrika. Kurz nachdem er sein Studium abgeschlossen hatte, wurde er von einem IT-Unternehmen mit Sitz in Thailand angeworben. "Ich hatte immer davon geträumt, im Ausland zu arbeiten”, erzählt er später. Er ist noch sehr mitgenommen, immer wieder muss er lange Pausen machen.
Der vermeintliche Arbeitgeber schickte ihm ein Flugticket nach Bangkok und holte ihn am Flughafen ab. "Er brachte mich und zwei weitere Männer zu einem Auto. Die Fahrt sollte zu einem Hotel gehen." Doch dort ist er nie angekommen. Stattdessen fuhren er und seine Begleiter in den Norden an den Moei, den Grenzfluss zwischen Thailand und Myanmar. Dort angekommen, setzten sie mit einem Boot über und erreichten auf der anderen Seite ein von hohen Mauern und Stacheldraht umgebenes Areal: die Betrugsfabrik KK Park.
KK Park liegt im Südosten Myanmars im Karen-Staat, eine Region Myanmars, wo seit Jahrzehnten Aufständische aus dem Volk der Karen für ihre Unabhängigkeit kämpfen.
Die Konfliktregion mit ihren unklaren Machtverhältnissen bietet fruchtbaren Boden für kriminelle Aktivitäten. KK Park ist nur eine von mindestens 10 solcher Betrugsfabriken in der Gegend. Was hinter deren Mauern passiert, bleibt oft im Verborgenen. Satellitenbilder zeigen, dass die ersten Gebäude von KK Park 2020 entstanden. Seitdem ist das Anwesen um das Vierfache gewachsen.
Wir haben exklusives Filmmaterial und Bilder aus dem Inneren des Lagers gesehen und mit mehreren Opfern gesprochen, die hier festgehalten wurden.
Im KK Park leben und arbeiten Tausende von Menschen vor allem aus Asien und Afrika. Bewaffnete Soldaten bewachen die Eingänge. Überall sind Überwachungskameras. Ehemalige Insassen haben uns gegenüber die Abzeichen auf den Uniformen der Wachleute identifiziert. Es sind die Insignien der Grenzschutztruppen des burmesischen Militärs, deren Soldaten sich offenbar im KK Park aufhalten und diesen bewachen.
Im Park angekommen, erhielten Aaron, Lucas und die anderen Anweisungen, wie man Menschen online betrügt. Handbücher erklären detailliert, wie man Vertrauen aufbaut und Schwächen der Opfer ausnutzt. Zum Beispiel: 'Sei witzig. Die Kunden müssen sich so in Dich verlieben, dass sie alles vergessen'. Oder einfach: 'Stellt Vertrauen her'.
Aaron und die anderen bekamen Wochenziele: Eine bestimmte Summe Geld, die sie einnehmen müssen oder eine Zahl von Neukunden, mit denen Sie Kontakt aufnehmen müssen. Erreichten sie die Ziele nicht, wurden sie bestraft. "Wenn du mittags keinen neuen Kunden hattest, gab es kein Mittagessen. Wenn jemand gesehen hat, dass du einem Kunden nicht geantwortet hast, wurdest du geschlagen oder musstest stundenlang stehen", erzählt Lucas. "Wir mussten 17 Stunden am Tag arbeiten. Keine Beschwerden, kein Urlaub, keine Pause." Filmaufnahmen und die Berichte anderer ehemaliger Insassen bestätigen systematische psychische und physische Folter. Die Opfer werden aus der ganzen Welt hierhin verschleppt. Aber die Kontrolle im Lager haben Menschen, die Mandarin sprechen. Das bestätigten uns mehrere Quellen übereinstimmend. Die Aufseher überwachen die Bildschirmzeit und inspizieren regelmäßig die Zimmer.
Die Insassen von KK Park müssen ihre "Kunden", wie sie intern genannt werden, überreden, Geld in Kryptowährungen anzulegen. Die Betrugsopfer denken, dass sie ihre Ersparnisse in eine lukrative Anlage investieren, stattdessen fließt ihr Geld auf ein Konto, dass von den Betrügern kontrolliert wird. Sobald genug Geld dort eingegangen ist, wird das Konto leergeräumt und das Geld ist weg. Diese Form des Online-Betrugs wird "Pig-Butchering” genannt - Schweineschlachtung. Der Betrüger mästet das Opfer und führt es dann zur Schlachtbank.
Das Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung schätzt, dass mit Online-Betrug in Südostasien mehr Geld verdient wird als mit dem Drogenhandel. Allein KK Park macht mehrere Millionen Umsatz im Monat.
Das Investigationsteam der DW konnte das Geld eines Betrugsopfers nachverfolgen. Über mehrere Umwege landete es im Wallet – so heißen in der Welt der die digitalen Konten - eines Chinesischen Geschäftsmanns. Von hier führt die Spur zu einem Netzwerk der chinesischen Triaden. Wang Yi Cheng, so heißt der Geschäftsmann, war zum Zeitpunkt der Überweisungen Vizevorsitzender einer chinesisch-thailändischen Handelsvereinigung. Sie teilt sich ein Gebäude mit einem chinesischen Kulturzentrum, das sich auf die "Hongmen” beruft, ein Geheimbund aus der chinesischen Kaiserzeit. Heute stehen viele dieser Hongmen-Vereine in enger Verbindung mit den Triaden, der chinesischen Form der Mafia. Ihre prominenteste Figur: Wan Kuok Koi, bekannt als "Broken Tooth". Wan ist ein berüchtigter Mafia-Boss aus Macau. Immer wieder taucht sein Name im Zusammenhang mit den dubiosen Vereinen auf.
Lucas' Chance zu entkommen bot sich, als die Mafia-Bosse beschlossen, ihn zu verkaufen. Nachdem ihnen mehrmals der Lohn vorenthalten wurde, hatten Lucas und andere sich geweigert, weiterzuarbeiten. Sie erhielten die Anweisung ihre Sachen zu packen. "Ich hörte wie sie sagten, sie würden uns an eine andere Organisation verkaufen", erinnert er sich. Lucas und seine Kollegen reagierten schnell. Sie konnten Judah Tana kontaktieren, der im Grenzgebiet als Fluchthelfer bekannt ist. So landeten Aaron und Lucas auf der Rückbank seines Jeeps. Für sie endete der Alptraum damit. Wenige Wochen später konnten sie in ihre Heimat zurückkehren.
Die Namen der Opfer wurden von der Redaktion geändert.
Frauen können den Flüchtlingsstatus zuerkannt bekommen, wenn ihnen in ihrem Herkunftsland "aufgrund ihres Geschlechts physische oder psychische Gewalt" droht. Dies schließe sexuelle Gewalt und häusliche Gewalt mit ein, urteilte der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) am Dienstag.
Im Ausgangsfall ging es nach Angaben des Gerichtshofs um eine türkische Staatsangehörige kurdischer Herkunft. Die geschiedene Muslimin gibt an, von ihrer Familie zwangsverheiratet sowie von ihrem Ehemann bedroht und geschlagen worden zu sein.
Im Falle einer Rückkehr sei ihr Leben bedroht, weshalb sie in Bulgarien einen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Mit diesem Fall - in dem es sich im Kern um die Androhung eines sogenannten "Ehrenmordes" handelt - hat sich nun der EuGH befasst.
Die Flüchtlingseigenschaft gelte, wenn jemand wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt werde und deshalb sein Land verlassen habe, teilt der EuGH mit.
Nun stellt der Gerichtshof klar, dass Frauen insgesamt als soziale Gruppe angesehen werden können. Falls sie "in ihrem Herkunftsland aufgrund ihres Geschlechts physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt und häuslicher Gewalt, ausgesetzt sind", könne ihnen damit die Flüchtlingseigenschaft zugestanden werden.
Falls betroffene Frauen die "Flüchtlingseigenschaften" nicht erfüllen sollten, könne ihnen dennoch subsidiärer Schutz gewährt werden, so der Gerichtshof. Dies treffe zu, falls ihnen tatsächlich die Gefahr drohe, Opfer von Gewalt oder gar getötet zu werden.
Insbesondere die Drohungen eines Familienangehörigen oder ihrer Gemeinschaft, "wegen eines angenommenen Verstoßes gegen kulturelle, religiöse oder traditionelle Normen" könnten den Anspruch auf subsidiären Schutz begründen, so der Gerichtshof.
"Das ist ein sehr wichtiges Urteil für den Schutz von Frauen vor häuslicher und sexueller Gewalt", erklärte die EU-Abgeordnete der Grünen, Terry Reintke, auf Anfrage der DW. Denn es mache deutlich, dass die EU auch Frauen ohne europäischen Pass vor häuslicher Gewalt in ihren Heimatländern schützen müsse.
Robert Biedron, Vorsitzender des Ausschusses für Frauenrechte und Mitglied in der sozialdemokratischen Fraktion, erkennt in dem Urteil einen "wichtigen Schritt zur Förderung eines integrativen und mitfühlenden Ansatzes in der Asylpolitik" des EuGH.
Sowohl die Organisation Terre des Femmes, als auch Pro Asyl begrüßen das Urteil. Karl Kopp, Europasprecher von Pro Asyl, sieht die Rechtsstellung der Frau gestärkt. Stephanie Walter, Referentin bei der Nichtregierungsorganisation Terre des Femmes, hält das Urteil für begrüßenswert, weil es die Chancen von Frauen stärke, die von häuslicher Gewalt betroffen seien.
Im Gespräch mit der DW zeigt sich Terre des Femmes-Referentin Walter allerdings skeptisch, ob sich durch das Urteil in der deutschen Praxis etwas ändern werde. Denn in deutschen Verwaltungsgerichten werde bereits in vielen Fällen nach den Maßstäben entschieden, die dieses Urteil aufstellt.
Ihrer Meinung nach liegt der "Knackpunkt" woanders. Damit die betroffenen Frauen ihre Asylgründe vortragen könnten, bräuchte es einen gewissen Rahmen, wie eine sichere Unterbringung und Zugang zu spezialisierten Beratungsstellen, sagt Walter.
Auch wüssten die Frauen oft nicht, dass es sich bei Genitalverstümmelung, Zwangsheirat oder häuslicher Gewalt um Fluchtgründe handelt, die sie bereits bei der ersten Anhörung vor den Behörden vorbringen müssten.
Migrationsexperte Kopp betont, es komme bei dem Urteil auch auf die Implementierung in den Nationalstaaten an. Er schätzt die Wirkung aber grundsätzlich positiv ein.
Bei ordentlicher Umsetzung des Urteils sei davon auszugehen, dass in Zukunft mehr Frauen Schutz bekämen. Außerdem sorge es dafür, dass die "Errungenschaften der Istanbuler Konvention noch einmal in Gänze im Asylverfahren zum Tragen" kommen.
Das Istanbuler Abkommen verpflichtet seine Unterzeichner zu einer Reihe von Maßnahmen, welche Frauen vor häuslicher Gewalt schützen sollen. Am 1. Juni 2023 ist die EU diesem Abkommen offiziell beigetreten.
Es wurde zwar von allen EU-Staaten unterzeichnet, jedoch von Bulgarien, Tschechien, Ungarn, Litauen und der Slowakei bislang nicht ratifiziert. In seinem Urteil hat sich der EuGH explizit auf dieses Übereinkommen bezogen.
Nach Einschätzung von EU-Parlamentarierin Terry Reintke ist das Urteil erst durch den Beitritt der EU zur Istanbul-Konvention möglich geworden. Sie hat die restlichen Staaten dazu aufgefordert, die Konvention zu ratifizieren.
Der polnische Abgeordnete Robert Biedron betont, der Beitritt der EU zur Istanbul-Konvention sei auch ein "Symbol für die Bereitschaft der EU, Gewalt gegen Frauen zu beseitigen". Dazu werde man stehen.
Für einen Moment leuchten Kim Kyu Lis Augen, als ihr junger Hund Cookie an ihr hochspringt. Während sie in ihrem Londoner Wohnzimmer durch sein wuscheliges Fell streichelt, rücken ihre Sorgen kurz in den Hintergrund. Die letzten Monate waren hart für die 46-jährige Nordkoreanerin. Seit dem 9. Oktober 2023 gibt es von ihrer jüngeren Schwester Kim Cheol Ok kein Lebenzeichen mehr.
An diesem Tag wurde Kim Cheol Ok aus China nach Nordkorea abgeschoben. "Ich bin mir sicher, dass sie geschlagen wird", sagt Kim Kyu Li der DW. Dieses Schicksal hätten bereits andere Familienmitglieder erlitten. Inhaftierte würden nicht nur misshandelt, sondern bekämen auch sehr wenig zu essen. "Sie essen Mäuse und Kakerlaken und werden krank davon." Kim Kyu Li hat große Angst, dass ihre Schwester diese Torturen nicht überlebt.
Die Flucht aus dem Land wird im diktatorisch geführten Nordkorea als schweres Vergehen gewertet, auf das harte Strafen stehen. Wer unerlaubt das Land verlässt, gilt als Verräter und wird eingesperrt. Nach Angaben der UN sind in nordkoreanischen Gefängnissen und Straflagern Folter und Misshandlungen an der Tagesordnung.
Kim Kyu Lis Schwester war nicht die Einzige, die am 9. Oktober nach Nordkorea deportiert wurde. Offenbar fand an diesem Tag eine regelrechte Massenabschiebung statt: Etwa 500 in China lebende Nordkoreaner seien unter Zwang in ihr Heimatland zurückgebracht worden, bestätigt Ethan Hee-Seok Shin von der Transitional Justice Working Group. Aus chinesischer Haft sollen sie in schwer bewachten Bussen und Lastwagen nach Nordkorea zurückgebracht worden sein. Und zwar über fünf Grenzübergänge, die die in Südkorea ansässige Menschenrechtsorganisation in einer Karte dokumentiert hat.
Die Übergabe der Gefangenen findet zumeist auf Brücken statt, die über die Grenzflüsse Tumen oder Yalu führen. Über die Einzelheiten ist wenig bekannt, aber ein Detail schildert Yoo Suyeon von der Menschenrechtsorganisation Korea Future, die seit Jahren Interviews mit nordkoreanischen Geflüchteten aufzeichnet: "In der Mitte der Brücke werden ihnen die chinesischen Handschellen abgenommen und stattdessen nordkoreanische angelegt." Diese seien im Vergleich zu den chinesischen "rostig und alt".
Während der COVID-19-Pandemie hielt das Regime in Pjöngjang die Landesgrenzen für dreieinhalb Jahre rigoros geschlossen. Nach der Öffnung im Sommer 2023 sollen sich Nordkorea und China darauf verständigt haben, eine größere Zahl von Nordkoreanern zurückzuschieben.
Höchste Priorität hätten diejenigen gehabt, die zuvor eng mit dem Regime von Kim Jong Un zusammengearbeitet hatten. Zum Beispiel Diplomaten, die sich absetzen wollten oder Hacker, die im Auftrag des Regimes an Cyber-Operationen in China beteiligt waren. Das berichten Experten übereinstimmend gegenüber der DW. Sie stützen sich dabei auf vertrauenswürdige Informanten, deren Identität aus Sicherheitsgründen geheim bleiben muss.
An diesen IT-Spezialisten und anderen Menschen, die Zugang zu sensiblen Informationen hatten, war das Regime in Pjöngjang mutmaßlich besonders interessiert. Sie sollen in der ersten Gruppe von 80 Deportierten gewesen sein, die bereits Ende August nach Nordkorea zurückgeschoben wurden. Die Sorge ist groß, dass diese Personen für den Rest ihres Lebens in Straflagern für politische Gefangene verschwinden könnten und man nie wieder etwas über ihr Schicksal erfährt.
Es war nur ein einziger, hastiger Anruf, den Kim Cheol Ok am 9. Oktober machen konnte, um ihre Familie über die unmittelbar bevorstehende Abschiebung nach Nordkorea zu informieren. Kurz durfte sie dafür das Mobiltelefon eines chinesischen Wachmannes benutzen.
Die Abschiebung traf sie und ihre Familie wie ein Schock. Die 40-jährige Cheol Ok lebte bereits seit 25 Jahren in China. Ihre Schwester in London beschreibt sie als ruhige, aber starke Persönlichkeit voller Energie. Cheol Ok war 1998 aus Nordkorea geflohen, ein Jahr nach ihrer älteren Schwester Kyu Li. Zum Zeitpunkt ihrer Flucht herrschte in Nordkorea eine beispiellose Hungersnot.
Als Cheol Ok mit gerade einmal 14 Jahren in China ankam, wurde sie von einem Schlepper mit einem 30 Jahre älteren Mann verheiratet. Die beiden haben eine gemeinsame Tochter, die chinesische Staatsbürgerin ist.
Sie selbst bekam jedoch nie einen Aufenthaltstitel und lebte zurückgezogen in einer ländlichen Gegend in der Provinz Jilin im Nordosten Chinas. Sie arbeitete auf dem Feld und später in Restaurants. Ihr Mann habe sie gut behandelt, erzählt ihre Schwester Kyu Li.
Im April wurde sie von der chinesischen Polizei festgenommen, mutmaßlich bei dem Versuch, das Land zu verlassen. "Sie hat nichts getan, ihr einziges Vergehen war, dass sie in Nordkorea geboren wurde", sagt Kyu Li. Nach 25 Jahren in China spreche ihre Schwester nur noch wenig Koreanisch und habe keine Verwandten mehr in Nordkorea.
Die Abschiebung von Cheol Ok reißt in der Familie Wunden auf, die nie verheilt sind: Neben Kyu Li gelang noch einer zweiten, älteren Schwester die Flucht aus dem abgeschotteten Land. Auch sie war zuvor in nordkoreanischer Haft misshandelt worden. Die Erinnerungen daran suchen sie bis heute heim: "Seit Cheol Ok in China verhaftet wurde, habe ich furchtbare Alpträume", erzählt Kim Yu Bin, die ebenfalls in London lebt.
Sie berichtet der DW von einem Bruder, der in nordkoreanischer Haft gestorben sei: "Er wurde zu Tode geprügelt, in einen Reissack gestopft und weggeworfen." Das hätten ihr Mitgefangene berichtet. "Es hat mir das Herz gebrochen."
Von grausamen Misshandlungen berichten viele Nordkoreaner, denen die Flucht nach Südkorea oder in einen anderen sicheren Staat gelungen ist. Auf mehr als 1000 dieser Augenzeugenberichte stützt sich die Nichtregierungsorganisation Korea Future, die Menschenrechtsverletzungen im nordkoreanischen Strafvollzug dokumentiert.
Demnach werden die Deportierten zunächst Verhören unterzogen, die die Motive ihrer Flucht klären sollen: Sind sie aus wirtschaftlichen Gründen geflüchtet, um Armut und Hunger zu entfliehen? Oder hatten sie die Absicht, nach Südkorea weiterzureisen, das Nordkorea als Erzfeind betrachtet? Allein das gilt bereits als politisch motivierte Straftat, da es als Verstoß gegen die von allen Nordkoreanern geforderte absolute Loyalität gegenüber Land und Führung gewertet wird.
Egal, wie das Strafmaß ausfällt, misshandelt würden alle Gefangenen, erklärt Yoo Suyeon von Korea Future. "Unabhängig davon, ob sie als Wirtschaftsflüchtlinge oder als politische Kriminelle eingestuft werden, erleiden die Gefangenen Positionsfolter. Das bedeutet, dass sie jeden Tag mehr als 12 Stunden im Schneidersitz sitzen müssen. Jede Bewegung oder jedes Geräusch kann zu einer individuellen oder kollektiven Bestrafung führen." Zu diesen Strafen zählten Tritte, Schläge mit Gegenständen oder den Händen und der Entzug von Nahrung und Schlaf.
Die DW konnte mit weiteren Nordkoreanern sprechen, die aus China in ihr Heimatland zurückgeschoben worden waren, bevor ihnen zu einem späteren Zeitpunkt die Flucht nach Südkorea gelang. Sie berichten ebenfalls über Misshandlungen in der Haft. "Wir wurden schlechter behandelt als Tiere", erzählt die 50-jährige Lee Young Joo der DW in einem Videointerview aus Seoul.
Während der Verhöre sei sie geschlagen worden: "Wenn ich nur eine Sekunde gezögert habe mit der Antwort auf Fragen, hatten sie schon den Schlagstock vorbereitet, um damit zu foltern. Man wurde überall geschlagen, auch am Kopf und im Gesicht."
Schon bevor die Abschiebungen im August 2023 wieder aufgenommen wurden, appellierte das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte in einem Brief an China, keine Nordkoreaner zu deportieren. "Wir befürchten, dass ihnen dadurch schwere Menschenrechtsverletzungen wie willkürliche Inhaftierungen, Folter, Verschwindenlassen und außergerichtliche Tötungen drohen", heißt es in dem Schreiben vom 18. Juli.
Knapp zwei Monate später übermittelte die Regierung in Peking ihre Antwort an die Vereinten Nationen: Es gebe "derzeit keine Beweise für Folter oder sogenannte 'massive Menschenrechtsverletzungen' in Nordkorea", steht in der Antwort vom 13. September. Überdies seien die Nordkoreaner illegale Wirtschaftsmigranten und keine Flüchtlinge. Sie stünden daher nicht unter dem Schutz der Genfer Flüchtlingskonvention.
Der südkoreanische Völkerrechtler Ethan Hee-Seok Shin von der Transitional Justice Working Group hält diese Argumentation für unglaubwürdig. China sei "verpflichtet, Menschen nicht in Länder zurückzuschicken, in denen ihnen Folter oder Verfolgung drohen würde". Dieses "Prinzip der Nicht-Zurückweisung" ist völkerrechtlich in der Genfer Flüchtlingskonvention und in der Antifolterkonvention verankert. Beide Verträge hat auch China ratifiziert.
Die DW hat sowohl die chinesische als auch die nordkoreanische Regierung wiederholt um eine Stellungnahme gebeten. China reagierte nicht. Die nordkoreanische Botschaft in Berlin bezeichnete die Vorwürfe in einer kurzen schriftlichen Antwort als "irreführende Propaganda" von "feindlichen Kräften" wie den USA.
Normalerweise schweigen die Familien von in Nordkorea Inhaftierten, um ihre Angehörigen keiner zusätzlichen Gefahr auszusetzen. Kim Kyu Li aber hat sich entschlossen, den Kampf um ihre verschwundene Schwester öffentlich zu machen. Sie ist sogar nach New York gereist, um während einer Konferenz des Internationalen Strafgerichtshofs auf das Schicksal von Cheol Ok aufmerksam zu machen.
"Cheol Ok, bleib stark und gib nicht auf", ruft sie ihrer Schwester im Gespräch mit der DW zu, auch wenn sie weiß, dass die sie nicht hören kann.
Es sei sehr unwahrscheinlich, dass sie aus der Haft entlassen werde, sagt Ethan Hee-Seok Shin, dessen Organisation die Familie von Kim Cheol Ok unterstützt. "Aber zumindest ist ihre und auch unsere Hoffnung, dass diese Art von internationaler Aufmerksamkeit es den nordkoreanischen Behörden erschweren wird, sie zu misshandeln oder zu foltern."
Seit der Übernahme der Macht durch die Taliban in Afghanistan setzt sich die pakistanische Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai aktiv für die Frauenrechte im benachbarten Afghanistan ein. "Millionen von Frauen und Mädchen werden systematisch aus dem öffentlichen Leben in Afghanistan verdrängt. Wir alle müssen mehr tun, um die Taliban zur Verantwortung zu ziehen", schreibt sie der DW. Dabei betont sie: "Vor allem rufe ich alle Regierungen dazu auf, Geschlechterapartheid zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu erklären."
Am Mittwoch wird sich der UN-Sicherheitsrat mit der Lage in Afghanistan befassen. Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) hatte Anfang Dezember ihren neuesten Bericht zur Situation in dem Land veröffentlicht. Diese Mission hatte der Sicherheitsrat 2002 ins Leben gerufen, um afghanische Institutionen in Bereichen wie Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Gleichberechtigung zu unterstützen. Mehr als zwanzig Jahre später ist alles, was diese Mission zwischenzeitlich erreicht hatte, wieder zunichte gemacht.
Der Bericht, der die herrschende Taliban-Regierung mangels internationaler Anerkennung nur als "de-facto-Behörden" bezeichnet, stellt fest: "Die de-facto-Behörden setzen ihre Restriktionen gegenüber Frauen und Mädchen fort." Seit der Machtübernahme der Taliban werden Frauen in Afghanistan systematisch entrechtet. Frauen haben keinen Zugang zu Hochschulbildung und Mädchen können die Schule nicht über die sechste Klassen hinaus besuchen. In einigen Regionen, wie in den Provinzen Chost und Sabul, ist es Frauen ohne männlichen Begleiter sogar untersagt, lokale Märkte oder Geschäfte zu besuchen, so der Bericht der UNAMA.
Die Weltgemeinschaft sei seit Langem über die Situation informiert, betont Niloufar Nikseyar aus dem westafghanischen Herat im Gespräch mit der DW. Die 35-jährige Schriftstellerin und ehemalige Dozentin an der Universität Herat fügt hinzu: "Bei jeder Gelegenheit wird ein neuer Bericht über die Situation von Frauen und Mädchen in Afghanistan verfasst. Jedes Mal wird uns versichert, dass die Welt unsere Stimme hört und sich die Situation zum Besseren wenden wird. Trotzdem haben wir in den vergangenen zwei Jahren keine Verbesserungen gesehen. Dennoch bemühe ich mich stets, als Frau die Stimme der Opfer in Afghanistan zu sein. Wir wollen unsere Hoffnung nicht aufgeben."
Niloufar Nikseyar gehört einer Gruppe von Frauen an, die zu Hause Lesungen von Büchern für Frauen und Mädchen organisieren. Selbst über solche Treffen unter Frauen müssen sie die Taliban informieren und um Erlaubnis bitten.
Millionen von Frauen in Afghanistan leiden unter den Regelungen und Einschränkungen, die die Taliban erlassen haben. Trotz anfänglicher Versprechen, Frauenrechte im Rahmen der Scharia zu respektieren, haben die Taliban seit ihrer Machtübernahme im August 2021 Gesetze und politische Maßnahmen eingeführt, die Frauen und Mädchen im ganzen Land ihre Grundrechte verweigern - allein aufgrund ihres Geschlechts. Frauen wurde sogar der Zugang zu Parks, Sporteinrichtungen und Cafés verwehrt. Von Frauen geführte Schönheitssalons für Frauen wurden ebenfalls geschlossen.
Die afghanische Regisseurin Sahraa Karimi spricht gegenüber der DW deshalb von "Geschlechterapartheid", die "ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit" sei. Bis zu ihrer Flucht aus Afghanistan war Karimi die Präsidentin der staatlichen afghanischen Filmorganisation. Die 38-jährige Regisseurin hat aus Angst um ihr Leben Afghanistan verlassen und wohnt heute in den USA. Sie unterstreicht: "In den vergangenen zwei Jahren haben aktuelle Berichte aus Afghanistan und die tägliche Einschränkung der Rechte afghanischer Frauen gezeigt, dass die Taliban ihre Haltung überhaupt nicht geändert haben. Leider unterstützt die internationale Gemeinschaft durch ihr Schweigen die Taliban. Das ermöglicht ihnen, die Grundrechte der Frauen weiter zu unterdrücken."
Karimi ist besorgt um die Zukunft Afghanistans. Sie fürchtet, unter den Taliban könne Afghanistan zu einem rückständigen Land werden. Das wiederum könne radikalen Kräften als Basis dienen und am Ende eine ernsthafte Gefahr für die Welt darstellen. Es sei an der Zeit, dass die Weltgemeinschaft sich aktiv dafür einsetzt, die Geschlechtertrennung in Afghanistan abzuschaffen, und sicherstellt, dass die Taliban für ihre Handlungen verantwortlich gemacht werden.
"Die westlichen Länder und die Staaten der Region können diese Situation ändern, aber ich sehe keinen politischen Willen dafür", sagt Shaharzad Akbar. Die 33-jährige afghanische Menschenrechtsaktivistin war von 2019 bis 2021 Chefin der Unabhängigen Afghanischen Menschenrechtskommission. Heute lebt sie in England. Im November hat sie den diesjährigen Menschenrechtspreis der SPD-nahen deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung erhalten. Am Rande der Preisverleihung forderte sie gegenüber der DW: "Afghanistan darf nicht in Vergessenheit geraten. Es ist unsere Aufgabe, die Stimme der Frauen in Afghanistan zu sein. Menschenrechtsaktivisten und Medien dürfen nicht zulassen, dass die Lügen der Taliban die Wahrheit über Afghanistan werden."
"Wir müssen den Frauen und Mädchen in Afghanistan ein deutliches Signal senden, dass wir sie wahrnehmen, ihren Appell zur Aktion vernehmen und bereit sind, unsere Solidarität anzubieten", betont auch die Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai. Sie fügt hinzu: "Es ist sehr wichtig, Mädchen dabei zu unterstützen, ihre Bildung weiterzuverfolgen, solange das Schulverbot besteht. Unterstützer und Investoren können ihre finanzielle Hilfe für afghanische und internationale Organisationen aufstocken, die kreative alternative und digitale Lernprogramme entwickeln, um afghanische Mädchen in ihren eigenen Häusern zu erreichen."
Mitarbeit: Wadud Salangi
Narges Mohammadi hat den Friedensnobelpreis nicht persönlich entgegennehmen können. Sie sitzt weiter in iranischer Haft. Für sie stand ein leerer Stuhl symbolisch auf der Bühne im Rathaus von Oslo. An ihrer Stelle haben ihre Kinder, die 17-jährigen Zwillinge Kiana und Ali Rahmani, die Auszeichnung am Sonntag entgegengenommen und eine Rede verlesen, die Mohammadi im Gefängnis verfasst hat. Auch ihr Ehemann Taghi Rahmani und weitere Angehörige von ihr waren bei der Preisverleihung dabei. Die 51-jährige Narges Mohammadi hat die renommierte Auszeichnung "für ihren Kampf gegen die Unterdrückung der Frauen im Iran und ihren Einsatz für die Förderung der Menschenrechte und der Freiheit für alle" erhalten, wie das Nobelkomitee die Preisvergabe begründet hatte.
Der Preis markiert nach den Worten von Mohammadi einen Wendepunkt in "der Stärkung von Protesten und sozialen Bewegungen weltweit", wie sie in einem aus dem Gefängnis geschmuggelten Brief an das Nobelkomitee betont. Ihre Tochter Kiana hat diesen Brief in einem auf der Nobel-Website veröffentlichten Video vorgelesen. Mohammadi berichtet darin, dass die Nachricht von ihrem Nobelpreis im Gefängnis von Rufen ihrer Mitgefangenen begleitet wurde: "Frau, Leben, Freiheit!", skandierten sie. Es ist der Slogan jener Bewegung, der sie selbst angehört. "Ich bin euch allen dankbar und ermutige euch, das iranische Volk bis zum endgültigen Sieg zu unterstützen", sagt sie in dem Brief und betont: "Der Sieg ist nicht einfach, aber er ist sicher."
Die Menschenrechtsaktivistin, die derzeit im Evin-Gefängnis in Teheran inhaftiert ist, wurde wegen mehrere "Straftaten", darunter "Propaganda gegen das politische System", zu rund zwölf Jahre Haft verurteilt. Wegen ihres friedlichen Engagements für die Menschenrechte in den letzten knapp 30 Jahren ist sie den Machthabern in Teheran seit langem ein Dorn im Auge.
Schon während ihres Studiums setzte sich Mohammadi für Frauenrechte ein und veröffentlichte Artikel in Universitätszeitungen. Sie vernetzte sich mit anderen reformistischen Studierenden, Journalisten und Autoren. Mohammadi wurde Journalistin und Autorin und verliebte sich in den Schriftsteller und politischen Journalisten Taghi Rahmani. Sie heirateten 1999.
Mohammadi arbeitete für mehrere reformorientierte Zeitungen und veröffentlichte 2001 ein Buch mit politischen Essays unter dem Titel "Die Reformen, die Strategie und die Taktiken" (The Reforms, the Strategy and the Tactics). Im Gegensatz zu heute glaubte sie damals noch an Reformen. Sie schloss sich dem iranischen Zentrum für die Verteidigung der Menschenrechte an, dem Defenders of Human Rights Center (DHRC). Das bietet unter anderem Familien von politischen Gefangenen Rechtsbeistand an. Das Zentrum wurde 2001 von der Menschenrechtsanwältin Shirin Ebadi gegründet, die 2003 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Später wurde Mohammadi Vizepräsidentin der Organisation, die 2008 geschlossen wurde.
Ihren Kampf aufzugeben, kam für Narges Mohammadi nie in Frage. Auch nicht, als ihr Mann, der insgesamt 14 Jahre hinter Gittern verbracht hatte, sich entschied, das Land zu verlassen und im Exil zu leben. Als sie 2015 wegen ihres Einsatzes für die Abschaffung der Todesstrafe erneut verhaftet wurde, schickte sie ihre Kinder zu ihrem Mann ins Exil nach Frankreich. Aus früheren Gefängniserfahrungen wusste Narges Mohammadi, dass ihre Kinder als Druckmittel gegen sie eingesetzt werden könnten.
Seither hat sie ihre Kinder nicht mehr gesehen. Aus dem Gefängnis heraus darf sie auch nicht mit ihnen telefonieren. Sie darf nur mit ihren Verwandten im Iran sprechen.
Kurz vor ihrer letzten Inhaftierung im November 2021 sagte sie in einem Interview mit der DW: "Ich bin eine Frau, die sich nicht beugt. Seit der Gründung der Islamischen Republik im Iran 1979 werden die Frauen systematisch unterdrückt. Wer sich nicht anpasst, wird bestraft. Frauen, die wie ich und andere Menschenrechtsaktivistinnen Widerstand leisten, fordern dieses System besonders heraus. Die Machthaber versuchen mit allen Mitteln, uns zu brechen und zum Schweigen zu bringen."
Seit dem 3. Dezember haben die Behörden alle ihre Verbindungen mit der Außenwelt gekappt. Narges Mohammadi darf weder telefonieren noch Besuch empfangen – wegen eines weiteren Briefes, der aus dem Gefängnis geschmuggelt wurde. Dieses Mal richtete sie sich an das Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte. In diesem offenen Schreiben, das ihr Ehemann der DW zur Verfügung gestellt hat, bittet sie den UN-Menschenrechtskommissar im Namen der Menschlichkeit um dringende, entschlossene und schnelle Maßnahmen, um die Welle der Hinrichtungen im Iran zu stoppen. Im Schatten des Gaza-Kriegs rechnen die Machthaber im Iran mit ihren Kritikern ab. Mutige Stimmen wie Narges Mohammadi können sie nicht zum Schweigen bringen.
China beharrt auf seinem Standpunkt, dass die Rückführung von Menschen nach Nordkorea, die Peking üblicherweise als "Wirtschaftsmigranten" statt Flüchtlinge betrachtet, der richtige Weg sei. Doch Menschenrechtsorganisationen warnen, den Abgeschobenen drohten harte Strafen durch das nordkoreanische Regime von Kim Jong Un. Überlaufen gilt in Nordkorea als Hochverrat.
Die südkoreanische Nationalversammlung verabschiedete am 30. November eine Resolution, die Peking auffordert, die Rückführung von Nordkoreanern zu stoppen. Stattdessen sollten die Menschen als Flüchtlinge anerkannt und es ihnen erlaubt werden, nach Südkorea oder in andere Länder zu reisen. Die Resolution fordert auch mehr Bemühungen ein, andere Regierungen und Hilfsorganisationen zu ermutigen, ebenfalls den Druck auf China zu erhöhen, damit es die Rückführungen einstellt.
Anfang November veröffentlichte auch ein Ausschuss der Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) für humanitäre Fragen einen Resolutionsentwurf. Für die Vereinten Nationen wurde die Angelegenheit erneut Thema, nachdem Menschenrechtsgruppen berichtet hatten, dass China im Oktober bis zu 600 nordkoreanische Flüchtlinge zwangsweise zurückgeschickt hatte - kurz nachdem Nordkorea die Grenzen wieder geöffnet hatte, die seit Beginn der Corona-Pandemie geschlossen waren.
Der UN-Ausschuss drückte in dem Resolutionsentwurf große Sorgen über die "ernste Menschenrechtslage in Nordkorea" und die Bestrafung derjenigen aus, die von China über die Grenze zurückgeschickt werden. Der Ausschuss betont, von einem UN-Mitgliedsstaat werde erwartet, dass der Grundsatz der Nichtzurückweisung befolgt wird. Dieser garantiert: Niemand wird in ein Land zurückgeschickt, in dem ihm Folter, grausame Behandlung, Bestrafung oder sonstiger schwerer Schaden droht.
Peking teilte den Vereinten Nationen mit, Berichte, denen zufolge China Flüchtlinge zwangsweise zurückgeschickt hat, seien "völlig unbegründet". Das Land rechtfertigte die Abschiebungen damit, dass es keine Beweise für Folter oder Menschenrechtsverletzungen in Nordkorea gebe.
Dieser Behauptung stehen Berichte von Menschenrechtsorganisationen gegenüber, die sich auf Überläufer berufen, denen es gelungen ist, sich in einem Drittland in Sicherheit zu bringen. Ihnen zufolge werden Zurückgeschickte gefoltert und zur Strafe in Arbeitslager gebracht.
Es wird davon ausgegangen, dass etwa 2000 Nordkoreaner in China inhaftiert sind. Menschenrechtsgruppen befürchten, dass auch die übrigen zurückgeschickt werden.
Hyobin Lee, Lehrbeauftragte für koreanische Politik an der Chungnam National University in Daejeon, Südkorea, sagt, dass trotz der weit verbreiteten Kritik an der Rückführungspolitik geopolitische Rivalitäten für China wichtiger seien. Was bedeute, dass sich Peking wahrscheinlich nicht von seinem Kurs abbringen lasse.
"Die Rückführung nordkoreanischer Überläufer durch China wird erheblich von der Allianz zwischen Peking und Pjöngjang beeinflusst", sagt Lee zur DW. "Nordkorea reagiert bei dem Thema Überläufer besonders empfindlich. China kann es sich angesichts der Sensibilität Nordkoreas in der Überläuferfrage nicht leisten, sich auf die Seite Südkoreas und der Vereinigten Staaten zu stellen, indem es Überläufern erlaubt, in diese Länder zu gehen."
Jedoch scheinen nach Lees Beobachtung die zuvor aggressiven Bemühungen von China etwas nachgelassen zu haben, Nordkoreaner aufzuspüren, sie zu inhaftieren und zurückzuschicken. Denn sie hätten sich als wichtige Quelle billiger Arbeitskraft für die chinesische Wirtschaft erwiesen.
Kim Sang-woo ist der Ansicht, dass die jüngste Rückführung von Nordkoreanern als unausgesprochene Warnung an Südkorea gesehen werden kann, das praktisch keinen Einfluss auf China hat, um die Praxis zu stoppen. "Hier geht es nicht einfach darum, Flüchtlinge zurückzuschicken", sagt der ehemalige Politiker der linksgerichteten Partei "Nationaler Kongress für Neue Politik" (NCNP), der jetzt Vorstandsmitglied der Stiftung des ehemaligen südkoreanischen Präsidenten und Friedensnobelpreisträgers Kim Dae-jung ist, die sich für Frieden auf der koreanischen Halbinsel einsetzt. "Dies geschieht aufgrund der schlechten Beziehungen zwischen China und Südkorea, vor allem aber auch zur (aktuellen südkoreanischen, Anm. d. Red.) Regierung Yoon Suk Yeol, die hart daran arbeitet, die militärischen und politischen Beziehungen mit Japan und den USA zu verbessern." China sei besorgt, dass diese Beziehungen enger würden. Menschen nach Nordkorea abzuschieben ist laut Kim Sang-woo nur eine der vielen Möglichkeiten, mit denen Peking seine Unzufriedenheit zeigen kann.
China ist auch alarmiert darüber, wie sich zuletzt die Beziehungen zwischen Nordkorea und Russland entwickelten. Peking droht, aus seiner langjährigen Rolle als wichtigster Verbündeter Pjöngjangs verdrängt zu werden. Die USA und Südkorea beschuldigen Russland, Artilleriegeschosse und Kleinwaffen von Nordkorea zu kaufen und im Gegenzug Treibstoff, Nahrungsmittel und vor allem die Technologie zu liefern, die Kim Jong Uns Regierung für ihr Raketen- und Atomwaffenprogramm benötigt. Im September besuchte Kim Jong Un den russischen Präsidenten Wladimir Putin. "Nachdem China so lange an erster Stelle stand, will es sich nicht mit der zweiten Reihe begnügen. Die neue Freundschaft zwischen Russland und dem Norden bereitet Peking Unbehagen", sagt Kim Sang-woo.
Südkorea könne keinen wirksamen Druck auf den Wirtschafts- und Militärriesen China ausüben, um ihn davon zu überzeugen, die Rückführung von Flüchtlingen in den Norden zu stoppen, so Kim. Stattdessen sollte sich der seit 2022 amtierende Präsident Yoon seiner Ansicht nach "darauf konzentrieren, die Rückführung zu einer humanitären Angelegenheit zu machen, die international kritisiert wird, insbesondere von Europa, den USA und anderen Ländern".
"Südkorea kann diese Menschen nicht allein retten", fügte er hinzu. "Es braucht die Hilfe aller, die sich Sorgen darüber machen, was mit diesen Menschen geschieht, wenn sie nach Nordkorea zurückkehren."
Aus dem Englischen adaptiert von Uta Steinwehr
"Massaker", "Gemetzel", "Blutvergießen": Beobachter von UN und Menschenrechtsorganisationen befürchten das Schlimmste, sollte die anhaltende Belagerung von El Fasher - der letzten Hochburg der regulären sudanesischen Streitkräfte (SAF) in Darfur - durch die abtrünnigen sogenannten Rapid Support Forces (RSF) in einen Großangriff münden.
Seit dem Ausbruch des Krieges im Sudan im April 2023 hat sich El Fasher zur größten Anlaufstelle für Flüchtlinge entwickelt. Derzeit leben dort rund 1,5 Millionen Menschen, darunter 800.000 Binnenvertriebene.
Ein informelles Abkommen zwischen den Kriegsparteien- den SAF unter General Abdel Fattah Burhan und den RSF unter General Mohammed Hamdan Dagalo (auch "Hemeti" genannt) - hatte der durch Flucht und Vertreibung stark angewachsenen Bevölkerung der Stadt bisher relative Sicherheit gewährt.
Doch die Situation änderte sich im vergangenen Monat, als zwei bewaffnete Gruppen in El Fasher, die so genannte Sudan Liberation Army und das Justice and Equality Movement, ankündigten, sich auf die Seite der regulären Streitkräfte zu stellen.
"Diese beiden Gruppen haben nicht nur ihre eigenen lokalen Netzwerke, sondern sehen in den Rapid Support Forces auch einen gemeinsamen Feind, was sie sehr stark zusammenschweißt", sagt Hager Ali, Sudan-Expertin am GIGA Institute for Global and Area Studies in Hamburg, im DW-Gespräch. Im Gegenzug verstärkten die rivalisierenden RSF ihre militärischen Anstrengungen, so Ali. So wollten sie sicherstellen, dass die neuen Allianzen nicht zu stark werden oder in die Lage versetzt werden, militärisch wirksam gegen die Belagerung vorzugehen.
Die humanitäre Lage in und um El Fasher sei katastrophal, erklärte Anfang des Monats Toby Harward, der stellvertretende UN-Koordinator für humanitäre Hilfe im Sudan. "Die Sicherheitslage hat sich erheblich verschlechtert, unter anderem durch vermehrte zunehmende willkürliche Tötungen, Diebstahl von Vieh, systematisches Niederbrennen ganzer Dörfer in ländlichen Gebieten, eskalierende Luftangriffe auf Teile der Stadt und die sich verschärfende Belagerung um El Fasher. Diese hat die humanitären Hilfskonvois zum Stillstand gebracht und den Handel abgewürgt ", so Harward in einem Bericht vom 2. Mai.
Laut einer kürzlich durchgeführte Analyse des Humanitarian Research Lab der Universität Yale wurden zudem seit Mitte April 23 Gemeinden in Nord-Darfur gezielt niedergebrannt.
Die Folgen für die Bevölkerung sind dramatisch. Nach Angaben des UN-Welternährungsprogramms läuft die Zeit ab, um eine Hungersnot in der riesigen Region zu verhindern.
Die US-Botschafterin bei den UN, Linda Thomas-Greenfield, erklärte bereits Ende April gegenüber Reportern, sie befürchte, die Geschichte werde sich in Darfur auf "schlimmste Weise" wiederholen." El Fasher stehe "am Rande eines groß angelegten Massakers".
Bereits kurz nach Ausbruch des Krieges im April 2023 dehnten sich die Kämpfe zwischen der SAF und RSF schnell von der sudanesischen Hauptstadt Khartum auf Darfur aus. Dort identifiziert sich ein Teil der Bevölkerung als arabisch und ein anderer als afrikanisch. Laut Human Rights Watch (HRW) starteten die RSF und mit ihnen verbündeten Milizen sogenannte "ethnischen Säuberungen" gegen die nicht-arabische Bevölkerung Darfurs. Am 9. Mai veröffentlichte HRW einen Bericht über Ermordungen und Vertreibungen von Menschen der ethnischen Minderheit der Masaliten in Darfur im Jahr 2023. UN-Experten gehen davon aus, dass allein in El Geneina (alternative Schreibweise: Al-Dschunaina), der Hauptstadt von West-Darfur, rund 15.000 Menschen getötet und mehr als eine halbe Million Menschen vertrieben wurden.
Ebenfalls in dieser Woche veröffentlichte das Sudanese Archive, eine Open-Source-Plattform, die digitale Informationen zu Menschenrechtsverletzungen sammelt, Filmmaterial, das die Misshandlung von Zivilisten, darunter Frauen und Kinder, durch die Rapid Support Forces in El Geneina im November 2023 zeigt.
Derzeit ist ungewiss, ob die RSF einen Großangriff starten werden, um endgültig die Kontrolle über El Fasher zu übernehmen. Würden sie es tun, dann stünde mehr als ein Drittel des sudanesischen Territoriums, einschließlich der Grenzen zu Libyen, dem Tschad und der Zentralafrikanischen Republik, unter ihrer Macht.
Beobachtern zufolge wäre ein RSF-Sieg in El Fasher jedoch mit einem hohen Preis verbunden: "Eine Schlacht um die Kontrolle der Stadt hätte ein massives Blutvergießen unter der Zivilbevölkerung zur Folge. Außerdem würde sie zu Racheangriffen in den fünf Darfur-Staaten und über die Grenzen Darfurs führen", erklärte UN-Koordinator Toby Harward.
Ähnlich sieht es Constantin Grund, Leiter des Khartumer Büros der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung: "Ein Angriff würde weitere lokale bewaffnete Gruppen provozieren, sich den Kämpfen anzuschließen, mit katastrophalen Folgen für die Zivilbevölkerung", so Grund zur DW. Darüber hinaus würden die RSF in Teilen der Bevölkerung ihre bisherige politische Popularität und ihr Ansehen verlieren: "Es würde den Rückgang der lokalen Unterstützung beschleunigen und die enormen Anstrengungen der RSF, sich den Anschein von Legitimität zu geben, auf einen Schlag zunichte machen."
Unterdessen bleiben die internationalen Forderungen nach einem Waffenstillstand und der Wiedereröffnung der Korridore für humanitäre Hilfe unerhört - auf beiden Seiten.
Anfang Mai etwa telefonierte der saudische Außenminister mit beiden rivalisierenden Generälen und forderte sie auf, die Kämpfe zum Schutz der staatlichen Institutionen und der sudanesischen Nation einzustellen - bisher jedoch vergeblich.
Ohne internationalen Druck wird es nicht gehen, erklärt Hager Ali vom GIGA-Institut am Beispiel der RSF: "Die RSF halte sich derzeit für völlig unempfindlich gegenüber realen Konsequenzen", sagt sie. Die Miliz gehe davon aus, dass sie hinsichtlich einer etwaigen internationalen Strafverfolgung nichts zu befürchten habe.
Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.
Tausende Kilometer liegen zwischen Studierenden aus China und Hongkong, die an europäischen oder nordamerikanischen Unis studieren, und ihren Heimatregierungen. Weit weg und doch bedrohlich nah. Diese Botschaft sei bei ihr angekommen, sagte Rowan (Name geändert) der Menschenrechtsorganisation Amnesty International: "Du wirst beobachtet. Obwohl wir auf der anderen Seite des Planeten sind, können wir dich erreichen."
Rowan ist eine der 32 Befragten, davon 12 aus Hongkong, die Amnesty für den Bericht "On my campus, I am afraid" ausführlich interviewt hat. Zur Dokumentation transnationaler Repression durch China an ausländischen Universitäten sprach die Organisation mit chinesischen Studierenden in acht Ländern: Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden, der Schweiz, Kanada und den USA. Alle Personen und Universitäten wurden anonymisiert, um die Befragten zu schützen.
Rowan berichtete Amnesty, dass sie an ihrem Studienort an einer Gedenkveranstaltung zum Tiananmen-Massaker teilgenommen hatte. Das Gedenken an die blutige Niederschlagung der Demokratiebewegung in Peking am 4. Juni 1989 ist in China und Hongkong verboten. Nur wenige Stunden später meldete sich Rowans Vater aus China bei ihr: Sicherheitsbeamte hätten ihm gesagt, er solle seine Tochter im Ausland davon abhalten, an Veranstaltungen teilzunehmen, die dem Ansehen Chinas in der Welt schaden könnten. Rowan hatte niemandem ihren Namen genannt und nirgendwo über ihre Teilnahme berichtet.
Auch die DW hat mit Studenten aus China in Europa gesprochen. Vor dem Besuch des chinesischen Präsidenten Xi Jinping in Paris, sagt Yongzhe der DW (Name geändert), hätten chinesische Behörden diejenigen bedroht, die Demos organisieren wollten und deren Familien in China besucht. So etwas geschehe häufig.
"Eure Ausübung der Meinungsfreiheit im Ausland ist nicht akzeptabel", diese Botschaft komme nicht nur bei den direkt Betroffenen an: "Egal wo du bist, ob in Deutschland, Frankreich oder anderswo, es gibt keinen Weg, dem Überwachungssystem Chinas zu entkommen."
Es würden auch die Familienangehörigen in China selbst bedroht, berichtet Theresa Bergmann der DW. Sie ist Asien-Expertin bei Amnesty International in Deutschland. "Es wird zum Beispiel damit gedroht, Pässe einzuziehen, Arbeitsstellen zu kündigen, Renten zu kürzen oder Bildungsmöglichkeiten einzuschränken, sollten die Studierenden im Ausland ihr Engagement fortführen." Der Bezug zur Regierung sei klar: "Diese Einschüchterungsversuche kommen von Staatsbediensteten in China selbst."
Einzelfälle? Viele Studierende aus China und Hongkong im Ausland lebten in Angst vor Einschüchterung und Überwachung, berichtet Amnesty International. Die Behörden Chinas und Hongkongs versuchten, sie daran zu hindern, sich mit kritischen Themen zu befassen.
Neben dem Tiananmen-Gedenken gehe es auch um Solidarität mit der Demokratiebewegung in Hongkong oder den "White Paper"-Protesten in China, wo Menschen 2022 mit leeren weißen Blättern gegen rigide Corona-Maßnahmen und die Einschränkung der Meinungsfreiheit protestierten. Amnesty habe die Behörden in China und Hongkong mit den Vorwürfen konfrontiert. "Wir haben keinerlei Rückmeldungen aus Festland-China bekommen", sagt Theresa Bergmann, aus Hongkong sei "eine Art Dementi" gekommen.
Studierende seien wegen ihres Aufenthaltsstaus und ihrer finanziellen Situation eine besonders vulnerable Gruppe, betont Bergmann. Amnesty könne nicht für alle geschätzt 900.000 chinesischen Studierenden im Ausland sprechen. Es sei aber auffällig, dass Aussagen über Repressionen sich über nationale Grenzen hinweg glichen und zu bisher bekannten Fällen passten.
So hatte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch 2021 dokumentiert, wie chinesische Studierende in Australien überwacht und bedroht wurden. 2022 berichtete die Menschenrechtsorganisation Safeguard Defender über illegale chinesische Polizeistationen im Ausland, die gegen kritische Staatsbürger dort vorgingen. China bestritt das. Mehrere Staaten aber schritten gegen verdächtige chinesische Personen ein.
2023 berichteten die DW und die Rechercheplattform Correctiv, wie China Stipendiaten des China Scholarship Council (CSC) in Deutschland engmaschig kontrolliere und von allen kritischen Äußerungen abhalte.
"Eine studierende Person, die an einer Demo teilgenommen hat und danach ein Selfie vor der Botschaft machte, berichtet, sie sei auf dem Weg von der Botschaft zur U-Bahn verfolgt worden", schildert Theresa Bergmann eine Erfahrung aus Deutschland. Bei Verfolgung oder dem Fotografieren von Protesten sei nicht immer nachzuverfolgen, dass die Person im Auftrag der chinesischen Regierung handle.
Eine sehr große Rolle spiele die Online-Überwachung. WeChat gilt als chinesische Super-App, die Daten an die Regierung weitergibt. "Wir haben Fälle, wo WeChat-Accounts geschlossen oder Inhalte blockiert wurden, weil Personen sich offen gegenüber Protesten geäußert haben". Amnesty spricht von einer "Great Firewall". Studierende sind bei der Kommunikation mit Verwandten und Freunden in China auf staatlich genehmigte Apps wie WeChat angewiesen, die für Überwachung anfällig sind.
Überwachung und Einschüchterung lösten bei den Studierenden aus China und Hongkong im Ausland Angst aus, berichtet Amnesty. Die Folge seien psychische Belastungen bis hin zu Depressionen. "Ich habe nach psychischen Problemen Unterstützung durch den psychologischen Beratungsdienst der Hochschule gesucht, aber sie hatten wenig Verständnis für den chinesischen Kontext und konnten keine effektive Unterstützung bieten", sagt der Student Xingdongzhe (Name geändert) der DW.
Einige Studierende hätten den Kontakt zu ihren Familien abgebrochen, um sie zu schützen, berichtet Theresa Bergmann. Fast die Hälfte der Befragten habe Angst, nach Hause zurückzukehren. Sechs von ihnen wollten im Studienland Asyl beantragen.
Die Studierenden zensierten und isolierten sich selbst, analysiert die Asien-Expertin. Sie seien unsicher, ob sie anderen chinesischen Studierenden trauen könnten oder ob die sie bei den Behörden melden. "Das ist zum Beispiel mit Blick auf Hongkong nach dem Sicherheitsgesetz möglich. Da gibt es mittlerweile eine Hotline, wo Personen, die im Verdacht stehen, das Sicherheitsgesetz zu verletzen, direkt gemeldet werden können."
Von China und Hongkong fordert Amnesty International, jede Form transnationaler Repression einzustellen. Gesetze, die die Menschenrechte von Studierenden im Ausland einschränken, müssten geändert werden.
Wichtig seien Maßnahmen der Universitäten und Regierungen der Gastgeberländer. 55 Universitäten hat Amnesty befragt und 24 Antworten erhalten. Es gebe erste Ansätze, dass das Problem erkannt werde, sagt Bergmann. Insgesamt aber gebe es großen Nachholbedarf.
Amnesty fordert traumasensible Meldestellen an Universitäten und auf staatlicher Ebene. An den Hochschulen sollte es psychologische Unterstützung, Beratung und finanzielle Hilfen für Betroffene geben. An die deutsche Regierung gerichtet sagt Julia Duchrow, Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland: "Deutschland hat die Pflicht, internationale Studierende zu schützen." Die Bundesregierung solle konkrete Maßnahmen ergreifen, um dem Klima der Angst unter chinesischen Studierenden entgegenzuwirken.
"Wir alle versuchen im Ausland schrittweise, unsere hart erkämpfte Freiheit zu genießen." Trotz persönlicher Risiken verlieren chinesische Studierende wie Yongzhe nicht die Hoffnung, China demokratischer zu gestalten.
"Ich werde mich auf Menschenrechtsfragen konzentrieren und hoffen, dass mein Land sich zum Besseren verändert", sagt er der DW. Es gebe viele, die ähnlich denken: "Das macht mir Mut."