IGH: Worum geht es bei Südafrikas Antrag gegen Israel?

Was hat Südafrika vor dem IGH in Den Haag gegen Israel beantragt?

Der Staat Südafrika fordert den Gerichtshof auf, "vorläufige Maßnahmen" anzuordnen, die Israel dazu bringen sollen, seine Militäroperation gegen die Hamas im Gazastreifen einzustellen, die Versorgung der Palästinenser im Gazastreifen zu ermöglichen und Rechenschaft über seine bisherigen Schritte abzulegen. Südafrika begründet seinen neuerlichen Antrag auf vorläufige Anordnungen des Gerichts mit der sich weiter zuspitzenden Lage rund um die Stadt Rafah im Gazastreifen. Israel hat offenbar mit einer Bodenoffensive gegen Hamas in Rafah begonnen. Hunderttausende Menschen sind erneut auf der Flucht. Der Grenzübergang Rafah zu Ägypten, der für die Versorgung unerlässlich ist, ist geschlossen.

Demonstranten mit Palästinensertüchern und palästinensischer Flagge
Pro-palästinensische Aktivisten unterstützen vor dem Gericht in Den Haag die Anträge Südafrikas (Archiv Januar 2024)null Patrick Post/AP Photo/picture alliance

Wie reagiert Israel auf diesen Antrag?

Die israelischen Vertreter am Gerichtshof in Den Haag werden darauf hinweisen, dass ein militärisches Vorgehen gegen die Hamas-Terroristen, die am 7. Oktober 2023 über 1400 Menschen, hauptsächlich israelische Bürger, getötet oder verschleppt haben, in Rafah unabdingbar ist. Zivile Opfer seien im Häuserkampf in dicht besiedelten Städten nur schwer zu vermeiden. Die Kämpfe würden sofort eingestellt, sobald die Hamas, die von den USA, der EU und anderen als Terrororganisation eingestuft werden, sich ergebe oder geschlagen sei. Israel bestreitet deshalb, alleine für die katastrophale humanitäre Lage der Zivilisten verantwortlich zu sein und nicht genug für deren Versorgung zu unternehmen. Den Grenzübergang Rafah halte im übrigen Ägypten geschlossen, nachdem israelisches Militär die palästinensische Seite besetzt habe. Ägypten bestreitet das.

Was kann das Gericht entscheiden?

Der Internationale Gerichtshof hat bereits zweimal, im Januar und im März 2024, "vorläufige Maßnahmen" auf Antrag Südafrikas gegen Israel angeordnet. Im Januar hatten die Richterinnen und Richter entschieden, dass Israel alles unternehmen müsse, um die Versorgung der palästinensischen Bevölkerung sicherzustellen und zivile Opfer zu vermeiden. Bisher sollen nach palästinensischen Angaben 35.000 Menschen getötet worden seien. Dem Antrag aus Pretoria, einen Waffenstillstand anzuordnen, folgte das Gericht nicht. Im März hat der Gerichtshof seine Anordnungen noch einmal wiederholt und verschärft, weil sich die Lage der Zivilbevölkerung in Gaza nach Angaben der Vereinten Nationen einer Hungersnot annäherte. Das Gericht könnte jetzt seine Anordnungen weiter ausdehnen und zum Beispiel einen Rückzug israelischer Truppen aus Rafah verlangen. Mit einer Entscheidung über den südafrikanischen Antrag wird in einigen Wochen gerechnet.

Mehrere proiIsraelische Aktivisten halten israelische Flaggen und Plakate von Geiseln der Hamas
Pro-israelische Aktivisten demonstrieren für die Ablehnung der Anträge und Klage gegen Israel in Den Haag (Archiv Januar 2024)null Patrick Post/AP Photo/picture alliance

Welche Folgen haben Entscheidungen des Gerichts?

Auf die Lage in Gaza und Israel wirkten sich die Anordnungen des Gerichts bisher wenig aus. Der politische Druck auf Israel steigt zwar, aber dessen Regierung zeigt sich unbeeindruckt. Und das obwohl die Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofes für Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen, zu denen Israel gehört, bindend sind. Das Gericht hat aber keine Mittel, keine Polizei, um seine Urteile tatsächlich durchzusetzen. Auch in anderen Fällen ignorieren die Beklagten die Entscheidungen aus Den Haag. Russland wurde zum Beispiel verurteilt, seine rechtswidrige Invasion der Ukraine zu stoppen - wie man weiß ohne Konsequenzen.

Hat Südafrika Israel vor dem Internationalen Gerichtshof wegen Völkermordes verklagt?

Im Dezember vergangenen Jahres hat Südafrika Israel wegen Verletzung der UN-Konvention zur Verhinderung von Völkermord verklagt. Israels Vorgehen im Gazastreifen im Krieg gegen die Hamas führe zur Ausrottung der palästinensischen Bevölkerungsgruppe. Israel bestreitet, gegen die Völkermord-Konvention zu verstoßen, weil es sein Recht auf Selbstverteidigung ausübe. Der Gerichtshof hat sich für zuständig erklärt und die Klage Südafrikas angenommen. Auf der Grundlage dieses Hauptsacheverfahrens beantragt Südafrika nun erneut "vorläufige Maßnahmen", die das Gericht vor dem Hintergrund der Völkermordklage anordnen kann. Die Hauptsache, also die Frage, ob Israel eventuell Völkermord begeht, wird aber erfahrungsgemäß erst in einigen Jahren nach ausführlichen Verhandlungen und Beratungen entschieden. Kolumbien und die Türkei wollen sich der Klage aus Südafrika anschließen.

Der Friedenspalast, das Gebäude des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag
Friedenspalast in Den Haag, Niederlande: Sitz des Internationalen Gerichtshofesnull Peter Dejong/AP/dpa/picture alliance

Warum ist der Gerichtshof in Den Haag zuständig?

Der Internationale Gerichtshof (IGH) ist ein Organ der Vereinten Nationen. Jedes reguläre Mitglied der Vereinten Nationen ist automatisch dem Gerichtshof gegenüber verantwortlich. In Den Haag können nur Staaten andere Staaten verklagen, um Streitigkeiten untereinander zu regeln oder Verstöße gegen die UN-Charta oder andere UN-Konventionen klären lassen. Für die Durchsetzung der Urteile sind die Staaten selbst verantwortlich. Das Gericht hat - wie gesagt - keine Polizeitruppe zur Verfügung. Der Internationale Gerichtshof ist nicht zu verwechseln mit dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH), vor dem natürliche Personen wegen Verstößen gegen das Völkerrecht belangt werden können. Der Chefankläger ermittelt bereits gegen die Hamas-Führung und israelische Politiker. Sein Sitz ist ebenfalls Den Haag.

Hilfe für den Gazastreifen: USA verankern Pier an der Küste

Die Streitkräfte der USA haben einen provisorischen Hafen zur Lieferung von Hilfsgütern in den Gazastreifen fertiggestellt. Der Pier sei am Donnerstagmorgen an der Küste verankert worden, teilte das US-Zentralkommando auf dem Portal X mit. Es betonte, US-Soldaten hätten den Küstenstreifen dabei nicht betreten. Mit Unterstützung der Vereinten Nationen sollen in den nächsten Tagen die ersten Hilfslieferungen über die Anlegestelle an Land kommen und im Gazastreifen verteilt werden.

Der Behelfshafen soll als Drehscheibe für die Lieferung von Hilfsgütern dienen. Dort gab es bislang keinen Hafen, der tief genug für größere Frachtschiffe ist. Nach früheren Angaben des Pentagon sollen über den schwimmenden Pier zunächst etwa 90 Lastwagen-Ladungen pro Tag in den Gazastreifen gelangen. Zu einem späteren Zeitpunkt erwarte man bis zu 150 Lastwagen-Ladungen täglich.

Das Foto des US-Militärs zeigt eigene Soldaten beim Aufbau des Piers
Das Foto des US-Militärs zeigt eigene Soldaten beim Aufbau des Piersnull U.S. Army/AP Photo/picture alliance

Fünf Todesopfer durch Friendly Fire

Bei Kämpfen im nördlichen Gazastreifen sind nach Angaben der israelischen Armee fünf ihrer Soldaten durch Schüsse aus den eigenen Reihen getötet worden. Drei Soldaten seien verletzt worden, teilt die Armee mit. Israelische Medien berichten, eigene Panzer hätten Granaten auf ein Gebäude in dem Flüchtlingsviertel Dschabalia gefeuert, in dem die Soldaten sich aufhielten. Sie hätten diese fälschlicherweise für bewaffnete Palästinenser gehalten. 

Israelische Bodentruppen haben kürzlich ihren Einsatz im Norden des Gazastreifens wieder aufgenommen - mit dem Ziel, eine Neuformierung von Kampfverbänden der militant-islamistischen Palästinenserorganisation Hamas dort zu verhindern. Die EU, die USA, Deutschland und andere Staaten stufen die Hamas als Terrororganisation ein.  Seit dem Beginn des Israel-Hamas-Krieges am 7. Oktober des Vorjahres sind damit nach Angaben der Armee auf israelischer Seite 626 Soldaten und Soldatinnen gefallen und rund 3500 verletzt worden.

Der Krieg im Gazastreifen war durch einen Großangriff der Hamas auf Israel ausgelöst worden. Etwa 1170 Menschen wurden dabei nach israelischen Angaben getötet und rund 250 als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Als Reaktion geht Israel seitdem massiv militärisch im Gazastreifen vor. Nach Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums, die sich nicht unabhängig überprüfen lassen, wurden dabei mittlerweile mehr als 35.200 Menschen getötet.

Gerichtshof berät über Eilantrag gegen Israel

Angesichts der israelischen Offensive in Rafah im südlichen Gazastreifen ruft Südafrika erneut den Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag an. Im Rahmen seiner Völkermordklage fordert Südafrika, die israelische Offensive in Rafah zu stoppen. Außerdem soll Israel angewiesen werden, UN-Mitarbeitern, humanitären Hilfsorganisationen, Journalisten und Ermittlern ungehinderten Zugang zum Gazastreifen zu gewähren. Bisher habe Israel frühere Gerichtsentscheidungen ignoriert, heißt es in einem Eilantrag. Das höchste Gericht der Vereinten Nationen setzte zwei Tage für die Anhörung an.

Vertriebene Palästinenser verlassen eine Schule in Rafah
Palästinensische Zivilisten verlassen wegen der israelischen Angriffe Rafahnull REUTERS

Israel, das die Klage Südafrikas wegen Verletzung der Völkermordkonvention von 1949 als unbegründet bezeichnete, will sich am Freitag äußern. In früheren Schriftsätzen hatte Israel betont, es habe seine Bemühungen verstärkt, humanitäre Hilfe in den Gazastreifen zu bringen, wie es der Gerichtshof angeordnet hatte.

Südafrika hatte Israel Ende 2023 wegen Völkermordes an den Palästinensern im Israel-Hamas-Krieg angeklagt. Im Januar hatte der Gerichtshof Israel angewiesen, sicherzustellen, dass seine Truppen keine völkermörderischen Handlungen gegen Palästinenser begehen, mehr humanitäre Hilfe zuzulassen und alle Beweise für Verstöße zu sichern.

Der Internationale Gerichtshof IGH berät über die Klage Südafrikas gegen Israel
Der Internationale Gerichtshof IGH berät über die Klage Südafrikas gegen Israel (Archivbild)null Remko de Waal/ANP/picture alliance

Neue Gewaltakte im Westjordanland

Bei gewaltsamen Zusammenstößen im besetzen Westjordanland wurden palästinensischen Angaben zufolge drei palästinensische Aktivisten von israelischen Soldaten erschossen. Bei dem Vorfall in der Stadt Tulkarem seien zudem mehrere Menschen verletzt worden, teilte die palästinensische Gesundheitsbehörde mit. Zuvor hatte sie den Tod eines jungen Mannes gemeldet, der an einem Kontrollpunkt außerhalb von Ramallah durch israelische Soldaten getötet worden sei.

Israelische Sicherheitskräfte und ein Militärfahrzeug in der Nähe von Tulkarem (Archivbild)
Israelische Sicherheitskräfte bei einem Einsatz in der Nähe von Tulkarem (Archivbild)null Nasser Ishtayeh/SOPA Images/Sipa USA/picture alliance

Seit Beginn des Israel-Hamas-Krieges im Gazastreifen hat auch die Gewalt in dem seit 1967 von Israel besetzten Westjordanland zugenommen. Mindestens 502 Palästinenser wurden offiziellen palästinensischen Angaben zufolge seither von der israelischen Armee oder von israelischen Siedlern getötet. Im selben Zeitraum wurden nach Zählungen der Nachrichtenagentur AFP mindestens 20 Israelis bei Angriffen durch Palästinenser getötet.

Schlagabtausch zwischen Israel und Hisbollah

Die pro-iranische libanesische Hisbollah-Miliz hat die israelische Armee auf den besetzten Golanhöhen nach eigenen Angaben mit mehr als 60 Raketen attackiert. Es handele sich um Vergeltung für nächtliche Luftangriffe Israels, teilte die radikal-islamische Schiitenmiliz mit. Die Nachrichtenagentur Ani hatte zuvor gemeldet, dass Israel die Region Baalbek im Osten des Libanon angegriffen habe. Es habe einen Verletzten gegeben. Baalbek liegt an der Grenze zu Syrien und gilt als Hochburg der Hisbollah. Ein Sprecher des israelischen Militärs sagte, die Armee habe mit einem Luftangriff "tief im Libanon" ein Objekt im Zusammenhang mit der Raketenproduktion beschossen.

Israels Norden wird Niemandsland

Am Mittwoch hatte die Hisbollah-Miliz nach eigenen Angaben mit mehreren Drohnen eine Militärbasis bei der israelischen Stadt Tiberias angegriffen. Die Miliz bezeichnete die Aktion als Reaktion auf den Tod des Hisbollah-Kommandeurs Hussein Makki, der am Dienstag bei einem israelischen Angriff in der Region Tyros getötet worden war.

kle/sti (dpa, afp, rtr, kna)

Dossier: Israel-Hamas-Krieg

  

Parlamentsauflösung in Kuwait: Mehr als bloß eine Krise?

Kuwait hat politisch nicht den schlechtesten Ruf: Seit Jahrzehnten gilt der kleine arabische Golfstaat als eines der demokratisch am weitesten fortgeschrittenen Länder in Nahost.

Zwar wird das ölreiche Land von einer Königsfamilie regiert, die auch den Premier ernennt. Doch zugleich verfügt Kuwait über ein gewähltes Parlament, in dem die Opposition sogar die Monarchie in gewissen Grenzen kritisieren kann.

Aus diesem Grund gilt Kuwait manchen Beobachtern als "Oase der Demokratie" und als "liberaler Ausreißer" unter den autokratisch regierten Staaten der arabischen Halbinsel. In der Rangliste von Freedom House sind Kuwait und Libanon die einzigen Länder im Nahen Osten, die in der jährlichen Bewertung der politischen Rechte durch die Organisation als "teilweise frei" eingestuft werden.

Doch all dies könnte nun infrage stehen. Vergangene Woche löste der regierende Emir des Landes, Scheich Mischal al-Ahmed Al Sabah, das Parlament vorerst auf.

Frauenrechtsaktivistinnen vor der kuwaitischen Nationalversammlung
Anders als in einigen anderen Staaten der Region genießen Kuwaits Bürger bei manchen Themen ein relativ weitgehendes Demonstrationsrecht null Maya Alleruzzo/AP/picture alliance

Hintergründe der Aussetzung

Im TV erklärte der Emir, die Aussetzung des Parlaments sowie von Teilen der Verfassung solle innerhalb eines Zeitraums von höchstens vier Jahren überprüft werden.

Die Entscheidung erfolgte nach Wochen des politischen Stillstands. Bereits im März hatte Scheich Mischal zu Neuwahlen aufgerufen. Im April wurde ordnungsgemäß ein neues Parlament gewählt. Doch ließen sich dessen Mitglieder nicht überzeugen, mit den vom Königshaus ausgewählten Ministern zusammenzuarbeiten.

"Ich werde nicht zulassen, dass die Demokratie missbraucht wird, das Land zu zerstören", erklärte der Emir. Er treffe schwierige Entscheidungen, um das Land zu retten. Nun werden die königliche Familie und 13 am vergangenen Sonntag neu ernannte Minister die Führung Kuwaits übernehmen.

Zwischen Monarchie und Demokratie

Kuwaits Parlamentarier haben mehr Macht als die Abgeordneten anderer Golfstaaten. Sie genehmigen königliche Ernennungen, können Minister in Frage stellen und sogar die parlamentarische Zusammenarbeit mit ihnen aussetzen.

"Die nationale Identität und Kultur Kuwaits gründet auf dem Umstand, dass die Königsfamilie nicht ohne die Zustimmung des Volkes regieren kann", schrieb der Politologe Sean Yom von der Temple University in den USA in einer Analyse vom März dieses Jahres.

Doch in den letzten zehn Jahren war es vermehrt zu politischen Blockaden gekommen. In einigen Fällen haben rivalisierende Mitglieder der königlichen Familie das System zudem zu persönlichen Machtproben missbraucht. Darüber ist der Eindruck entstanden, dass Kuwait aufgrund des politischen Stillstands hinter den wohlhabenderen Nachbarländern zurückgeblieben ist.

Blick auf das kuwaitische Parlament
Im Vergleich zu vielen anderen Parlamenten der Region hat das von Kuwait mehr Befugnisse - es wurde jedoch kürzlich bis auf Weiteres aufgelöstnull Jaber Abdulkhaleg/AP/picture alliance

Weniger Dynamik als in anderen Golfstaaten?

"Es wird immer deutlicher, dass Kuwait bei den Reformen und der Entwicklung hinterherhinkt, vor allem im Vergleich zu den dramatischen Veränderungen in Saudi-Arabien", sagt Kristin Diwan vom Arab Gulf States Institute in Washington im DW-Interview mit Blick auf die Region. "Dafür wird das Parlament verantwortlich gemacht werden", sagt die US-Expertin. "Erörtert werden dürfte allerdings auch der Charakter von Emir Mischal sowie sein Bedürfnis, einen Kronprinzen und Nachfolger zu ernennen."

Der Emir hat die Macht erst im Dezember übernommen. Nun muss er seinen Nachfolger benennen. Anders als in anderen benachbarten Königreichen müssen die kuwaitischen Abgeordneten der Wahl in aller Regel zustimmen. Nach dessen jüngster Suspendierung ist es dazu aber nicht mehr in der Lage.

In sozialen Medien wurde spekuliert, die Entscheidung des Emirs könne auch durch ein Anwachsen islamistischer Kräfte motiviert sein. Experten verweisen aber darauf, dass Islamisten bei den letzten Wahlen an Einfluss verloren hätten.

Blick auf die nächtliche Skyline von Kuwait-Stadt
Aufstrebende Moderne: Blick auf die Skyline von Kuwait-Stadt null Asad/Xinhua/picture alliance

Wie geht es weiter?

"Hintergrund und Regierungsstil des Emirs sind von immenser Bedeutung, um diesen illiberalen Moment angemessen zu verstehen ", sagt Sean Yom von der amerikanischen Temple University.

Anders als frühere Herrscher habe Scheich Mischal keine zivile politische Erfahrung, so Yom. "Seine Karriere lief über einen ganz anderen Weg, durch die Sicherheits- und Polizeikräfte. Diese betonen nicht den Kompromiss, sondern setzen auf strenge Hierarchie. Diese Art Führung von oben nach unten, mit wenig Toleranz für parlamentarischen Widerstand oder politisches Gezänk, das erleben wir auch jetzt."

Zugleich meint Yom: "Die meisten Bürger wollen ihr gelähmtes politisches System kurzfristig wieder funktionsfähig machen, zugleich aber auch die verfassungsmäßigen Freiheiten schützen. Das hat auch die Regierung verstanden."

Eine Wählerin in Kuwait bei der Stimmabgabe
Politische Willensbekundung per Stimmabgabe: eine Wählerin in Kuwaitnull Jaber Abdulkhaleg/AP/picture alliance

"Kultur der Konsensbildung"

"Es ist noch zu früh, um zu sagen, ob es sich um einen klassischen Fall von demokratischem Rückfall handelt, wie ihn einige unserer Freunde im Westen propagieren", meint Bader al-Saif, Geschichtsprofessor an der Universität Kuwait, im Gespräch mit der DW.

Für die derzeitige Krise gebe es durchaus Präzedenzfälle, so Bader al-Saif. So hatten die Herrscher Kuwaits das Parlament bereits 1976 und 1986 ausgesetzt. Doch dann wurde es wieder eingesetzt, ebenso wie die kuwaitische Verfassung. "Das ist das 'kuwaitische Modell'." Kuwait verbinde eine aktive Monarchie mit einem aktiven Parlament. "Wir werden unser System der Offenheit nicht aufgeben. Diese geht der Verfassung voraus, denn es stammt aus einer reichen Kultur der Konsensbildung, die wir seit beinahe 300 Jahren pflegen."

Die vorübergehende Suspendierung des Parlaments werde dem keinen Abbruch tun, glaubt Bader al-Saif. "Wir müssen abwarten. Dies ist ein Experiment."

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

Klima versus Business: Können Ölmultis Klimaschutz?

Faktencheck: Äußern sich diese Promis zum Nahost-Konflikt?

Behauptung: Mehrere Beiträge in sozialen Medien, wie hier auf X, zeigen ein Foto des amerikanischen Autors Stephen King mit einer pro-palästinensischen Botschaft auf dem T-Shirt.

DW-Faktencheck: Fake.

Das Bild wurde digital verändert. Einen ersten Hinweis darauf liefert ein näherer Blick auf den pro-palästinensischen Aufdruck selbst. Der wirkt seltsam zweidimensional und scheint sogar Kings rechte Hand zu überlappen. Eine Bildrückwärtssuche, zum Beispiel bei der Bildsuchmaschine TinEye, liefert weitere Anhaltspunkte. Ältere Beiträge aus dem Jahr 2022 zeigen dasselbe Foto mit dem Bestsellerautor in einem T-Shirt zur Unterstützung der Ukraine.

Ein gefälschtes Bild von Steven King mit einem bearbeiteten T-Shirt
Das T-Shirt von Stephen King ist bearbeitet, das Original signalisiert Unterstützung für die Ukrainenull X

Dass es sich dabei um das Originalfoto handelt, lässt sich daraus schließen, dass es auch auf Kings eigenem X-Konto auftaucht. Wenige Tage nach dem Großangriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 schrieb der Autor: "Normalerweise poste ich keine Bilder von mir, aber heute ist eine Ausnahme", und fügte sein Bild mit einem T-Shirt mit dem Aufdruck "I stand with Ukraine" (Deutsch: "Ich stehe an der Seite der Ukraine").

Auch Falschnachrichten über Harrison Ford und Cristiano Ronaldo

King ist nicht die einzige prominente Person, von denen in den letzten Wochen gefälschte Bilder verbreitet wurden, auf denen ihnen pro-palästinensische Äußerungen unterstellt wurden. Harrison Ford wurde auf Facebook als "pro-palästinensisch" bezeichnet, das dazu gepostete Video darin zeigt den Schauspieler aber 2019 auf einem UN-Gipfel zum Klimawandel bei einer Rede über den Kampf gegen die Abholzung des Amazonas.

Wie man Desinformation im Nahost-Krieg erkennt

Solche gefälschten Geschichten treten vermehrt auf, seit pro-palästinensische Demonstrationen an zahllosen Universitäten in den USA und vielen anderen Ländern stattfinden. Doch auch davor wurden Prominente schon falsch dargestellt und zitiert. DW Faktencheck hat zum Beispiel gefälschte Videos von Fußballstar Cristiano Ronaldo in diesem Artikel verifiziert, in denen auch er angeblich seine Unterstützung für die Palästinenser demonstriert.

Seriöse Nachrichtenseiten auch auf Fake News über Robert de Niro hereingefallen

Behauptung: Auf verschiedenen Social-Media-Plattformen wurde ein 34 Sekunden langes Video verbreitet, in dem der US-Schauspieler Robert De Niro scheinbar pro-palästinensische Demonstranten angeht und Israel verteidigt.

Ein Video zeigt Robert de Niro bei Dreharbeiten
Das Video zeigt Robert de Niro (r.) bei Dreharbeiten, nicht bei einer Pro-Palästina-Demo null X

De Niro ist zu hören, wie er sagt: "Wenn ihr weiter Unsinn reden wollt, dann müsst ihr nach Hause gehen" und "sie sagen, sie werden es wieder tun. Wieder! Das wollen wir nicht." In dieser Version auf Youtube (s. auch Bild unten) heißt es zum Beispiel "Robert De Niro steht zu Israel", und in den Untertiteln wird "7. Oktober" hinzugefügt - eine Anspielung auf die Hamas-Terrorangriffe auf Israel am 7. Oktober 2023 mit rund 1200 Todesopfern. Es wird der Eindruck erweckt, De Niro würde Israels Vorgehen im Gazastreifen verteidigen, mit der Begründung, die Hamas werde "wieder" Terroranschläge verüben, und das wolle niemand.

Ein weiterer Nutzer behauptet auf Youtube, das Video sei auf dem Campus der University of California, Los Angeles (UCLA) gedreht worden. Die Bilder der "Zero Day"-Dreharbeiten auf Getty Images zeigen jedoch, dass sie in der Wall Street in New York City aufgenommen wurden.

DW Faktencheck: Falsch

Das Video wurde aus dem Zusammenhang gerissen. Ein erster Hinweis darauf ist, dass De Niro in dem Clip Israel gar nicht erwähnt, und dass auch keine Demonstranten zu sehen sind. Außerdem gibt es visuelle Anhaltspunkte, anhand derer der Standort auf Google Maps zu identifizieren ist: das türkise Geländer der New Yorker U-Bahn, ihre Formen und die Tafel mit Text. All das weißt darauf hin, dass sich die Szene an der Subway-Station Wall Street ereignet hat.

Ein Screenshot von Google Maps
Der Standort des Drehs kann mit Google Maps gefunden werden.null Google Maps

Tatsächlich zeigt der Clip den zweifachen Oscar-Preisträger bei den Dreharbeiten zur Netflix-Serie "Zero Day" am 27. April 2024. Die Schauspielerin Mozhan Navabi, die auch in der Serie mitspielt, erklärte auf X, dass es sich um eine Probe handle und ruft auf, Posts zu prüfen, bevor man sie teilt. Auch De Niros Vertreter, Stan Rosenfield, und Netflix haben versichert, dass De Niro hier rein fiktive Zeilen aus dem Drehbuch der Serie spreche.

Mehrere Nachrichtenseiten, darunter die israelischen "Jerusalem Post" und "Haaretz" hatten die falsche Geschichte zunächst übernommen. Später veröffentlichte die "Jerusalem Post" jedoch eine korrigierte Version mit Verweis auf den Irrtum, "Haaretz" hat den Artikel mittlerweile gelöscht.

Weitere Informationen darüber, wie man gefälschte Bilder und manipulierte Videos erkennt, finden Sie auf der Seite DW Faktencheck.

Die Palästinenser und Israel: Was ist die Nakba?

Was bedeutet Nakba?

Das arabische Wort Nakba bedeutet Katastrophe oder Unglück. In Bezug auf den israelisch-palästinensischen Konflikt wird der Begriff Nakba (auch: al-Nakba) verwendet, um daran zu erinnern, dass viele Palästinenser während und nach dem ersten arabisch-israelischen Krieg von 1948 ihre angestammte Heimat verloren.
Man geht davon aus, dass damals etwa 700.000 Menschen aus dem heutigen Israel entweder flohen oder vertrieben wurden. Der Begriff Nakba erinnert zudem daran, dass viele palästinensische Flüchtlinge bis heute staatenlos sind.

Palästinensische Flüchtlinge tragen ihre Habseligkeiten auf dem Weg in den Libanon im Jahr 1948
Bis zum Ende des ersten Nahost-Kriegs 1949 verließen etwa 700.000 Palästinenser ihre Heimat oder wurden vertriebennull Eldan David/Pressebüro der Regierung Israels/picture alliance /dpa

Was ist der Nakba-Tag?

Am 15. Mai 1948 - einen Tag nach der Ausrufung der Unabhängigkeit Israels - griffen fünf arabische Armeen den jüdischen Staat an. Der Tag markiert somit den Beginn des ersten arabisch-israelischen Krieges. Seit langem ist der 15. Mai ein Tag, an dem Palästinenser auf die Straße gehen und gegen den Verlust ihrer Heimat protestieren. Viele tragen palästinensische Flaggen, bringen die Schlüssel ihrer ehemaligen Häuser mit oder tragen Transparente mit einem aufgemalten Schlüssel - ein Symbol für die Hoffnung auf eine Rückkehr in ihre Heimat und für das, was viele Palästinenser als ihr Recht auf Rückkehr betrachten. In der Vergangenheit kam es bei Protesten auch immer wieder zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen militanten Palästinensern und der israelischen Armee. Israel wirft der Hamas und anderen Organisationen, die unter anderem von der EU als Terrororganisationen eingestuft werden, vor, den Tag für eigene Zwecke zu instrumentalisieren. Der Begriff Nakba-Tag wurde 1998 vom damaligen Palästinenserführer Jassir Arafat geprägt. Er legte das Datum als offiziellen Tag des Gedenkens an den Verlust der palästinensischen Heimat fest.

Frauen in einer Gasse in einem palästinensischen Flüchtlingslager
In den letzten 76 Jahren haben sich viele Flüchtlingslager in Flüchtlingsstädte verwandelt, wie hier im libanesischen Beirutnull ANWAR AMRO/AFP/Getty Images

Warum mussten die Palästinenser ihre Heimat verlassen?

Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs befand sich Palästina als Teil des Osmanischen Reichs unter türkischer Herrschaft. Danach fiel das Gebiet unter britische Kontrolle, als britisches Mandatsgebiet. Besonders in dieser Zeit - die in Europa von wachsendem Antisemitismus geprägt war - zog eine steigende Zahl von Juden aus aller Welt in das Land, das für sie Eretz Israel war, das gelobte Land der Bibel und die Heimat ihrer Vorfahren, in der immer schon Juden gelebt hatten, wenn auch in geringerer Zahl. 

Auch unter dem Eindruck des Holocaust in Nazi-Deutschland nahm die UN-Generalversammlung 1947 einen Teilungsplan für das britische Mandatsgebiet Palästina an. Die Arabische Liga lehnte den Plan ab. Die Jewish Agency for Palestine akzeptierte ihn. Am 14. Mai 1948 wurde der Staat Israel ausgerufen.

Als Reaktion darauf erklärte eine Koalition aus fünf arabischen Staaten Israel den Krieg, wurde aber 1949 von dem jungen Staat militärisch besiegt. Vor dem Krieg hatten bereits 200.000 bis 300.000 Palästinenser das Land verlassen oder waren vertrieben worden. Während der Kämpfe kamen weitere 300.000 bis 400.000 hinzu. Die Gesamtzahl der Vertriebenen und Geflüchteten wird auf etwa 700.000 Menschen geschätzt.

Während des Krieges wurden mehr als 400 arabische Dörfer zerstört und Menschenrechtsverletzungen auf beiden Seiten begangen. Das Massaker von Deir Yassin - einem Dorf an der Straße zwischen Tel Aviv und Jerusalem - ist bis heute wichtiger Bestandteil der palästinensischen Erinnerung. Mindestens 100 Menschen wurden in Deir Yassin getötet, darunter Frauen und Kinder. Das Massaker steigerte die Angst unter vielen Palästinensern und trieb viele zusätzlich zur Flucht. 

Bewaffnete arabische Kämpfer auf der Straße vor einem beschädigten Fahrzeug - ein Bild aus dem ersten Nahost-Krieg, der 1948 einen Tag nach Israels Gründung begann
Der erste arabisch-israelische Krieg endete mit dem Sieg Israels im Jahr 1949null CPA Media Co. Ltd/picture alliance

Am Ende des Krieges besaß Israel etwa 40 Prozent des Gebiets, das im UN-Teilungsplan von 1947 für die Palästinenser vorgesehen war.

Wohin sind sie gegangen?

Die meisten Palästinenser landeten seinerzeit als staatenlose Flüchtlinge im Gazastreifen, im Westjordanland und in arabischen Nachbarländern, nur eine Minderheit zog damals ins weiter entfernte Ausland. Bis heute hat nur ein Bruchteil der nachwachsenden Generationen von Palästinensern in der Region eine andere Staatsbürgerschaft erhalten. Infolgedessen ist die Mehrheit der inzwischen rund 6,2 Millionen Palästinenser im Nahen Osten bis in die dritte oder vierte Generation staatenlos.

Wo leben sie heute?

Nach Angaben des UN-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge UNRWA leben die meisten Palästinenser in der Region immer noch in Flüchtlingslagern. Diese haben sich im Laufe der Zeit zu Flüchtlingsstädten entwickelt. Nachkommen palästinensischer Flüchtlinge leben heute hauptsächlich im Gazastreifen, im besetzten Westjordanland, im Libanon, in Syrien, Jordanien und in Ostjerusalem.

Ein palästinensisches Mädchen geht an einem "Nakba"-Wandbild vorbei
Die meisten palästinensischen Flüchtlinge sind in der dritten und vierten Generation staatenlosnull RONALDO SCHEMIDT/AFP/Getty Images

Die internationale palästinensische Diaspora außerhalb der Region des Nahen Ostens ist Schätzungen zufolge inzwischen auf etwa 6 bis 7 Millionen Menschen angewachsen. Falls dies zutrifft, betrüge die Gesamtzahl der Palästinenser insgesamt heute rund 13 Millionen Menschen. Es gibt jedoch keine offizielle Stelle, die die Zahl von Palästinensern in der Diaspora verlässlich erfasst. Genaue Daten sind nicht verfügbar.

Gibt es ein Recht auf Rückkehr?

Gemäß der Resolution 194 der UN-Generalversammlung aus dem Jahr 1948 sowie der UN-Resolution 3236 aus dem Jahr 1974 und der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge von 1951 haben Palästinenser, die als palästinensische Flüchtlinge gelten, ein "Recht auf Rückkehr".
Israel lehnt ein Recht auf Rückkehr für Palästinenser und ihre Nachkommen hingegen ab - mit der Begründung, dies bedeute das Ende der Identität Israels als jüdischer Staat. Israel lehnt zudem eine Verantwortung für Flucht oder Vertreibung der Palästinenser ab und verweist darauf, dass zwischen 1948 und 1972 rund 800.000 Juden aus arabischen Ländern wie Marokko, Irak, Ägypten, Tunesien und Jemen vertrieben wurden oder fliehen mussten.

Gibt es Lösungsvorschläge?

In den vergangenen 76 Jahren gab es verschiedene Ansätze zur Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts. Der wichtigste ist nach wie vor die Zweistaatenlösung, die einen künftigen Staat Palästina neben dem israelischen Staat vorsieht und Jerusalem in zwei Hauptstädte teilen würde. Allerdings gibt es auf beiden Seiten teils massive Widerstände und überdies Zweifel, wie realistisch dies heute noch wäre. Kritiker verweisen in diesem Zusammenhang unter anderem auf die wachsende Zahl jüdischer Siedlungen im besetzten Westjordanland, die ein zusammenhängendes palästinensisches Gebiet als Grundlage eines künftigen Staats unmöglich machen könnten.

Andere Vorschläge waren in der Vergangenheit die Anerkennung des Flüchtlingsstatus durch Israel und eine Entschädigung ohne Recht auf Rückkehr. Auch eine begrenzte Neuansiedlung der palästinensischen Flüchtlinge oder ein Zwei-Pässe-System in nur einem Staat wurden diskutiert. 

Eine greifbare Lösung scheint durch den Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und den darauf gefolgten Krieg in Gaza jedoch in noch weitere Ferne gerückt. Es gibt auf arabischer Seite zudem Befürchtungen vor einer erneuten Nakba, die die Palästinenser aus dem Gazastreifen betreffen könnte.

 

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

Dieser Artikel erschien erstmals am 13. Mai 2023 und wurde im Mai 2024 um den Krieg in Gaza ergänzt. 

Regisseur Rasoulof flieht vor Haft und Folter aus dem Iran

"Ich musste mich zwischen dem Gefängnis und dem Verlassen Irans entscheiden. Schweren Herzens habe ich mich für das Exil entschieden", so Rasoulof. "Ich bin meinen Freunden, Bekannten und den Menschen dankbar, die mir - teils unter Einsatz ihres Lebens - geholfen haben, die Grenze zu überqueren und mich in Sicherheit zu bringen", schrieb der 52-jährige Iraner auf seinem Instagram-Account. Auf dem Video dazu sind verschneite Berge zu sehen. Wahrscheinlich ist er über die gebirgige Landesgrenze zur Türkei nach Europa gelangt.

Der international bekannte Regisseur war wegen "Verschwörung gegen die nationale Sicherheit" verurteilt worden. Schon 2017 war ihm sein Pass entzogen worden, er durfte Iran nicht mehr verlassen. Vergangene Woche teilte Rasoulofs Anwalt, Babak Paknia, auf X mit, dass der Regisseur zu acht Jahren Gefängnis, Peitschenhieben und Beschlagnahmung von Eigentum verurteilt worden sei. Rasoulof werde dafür bestraft, Filme zu machen, hieß es.

Er lehne sein Urteil entschieden ab, so der Regisseur, der auch darauf hinwies, dass viele andere im Zuge der Niederschlagung der Proteste in Iran zum Tode verurteilt worden seien. "Das Ausmaß und die Intensität der Repression haben einen Punkt der Brutalität erreicht, an dem die Menschen jeden Tag Nachrichten über ein weiteres abscheuliches Verbrechen der Regierung erwarten", sagte Rasoulof. "Die kriminelle Maschinerie Irans verletzt kontinuierlich und systematisch die Menschenrechte."

Jafar Panahi | Mohammad Rasoulof | Mostafa Alahmad
Im Iran verfolgte Regisseure: Jafar Panahi, Mohammad Rasoulof, Mostafa Alahmadnull dpa/picture alliance/eghtesadnews

Nachdem das Urteil bestätigt worden sei, entschied sich Rasoulof zur Flucht. In seiner Heimat werden Angeklagte erst nach der Urteilsverkündung zur Verbüßung ihrer Gefängnisstrafe aufgefordert, deswegen befand er sich noch auf freiem Fuß. Erst im Februar 2023 war der Filmemacher nach rund sieben Monaten Haft aus dem berüchtigten Teheraner Gefängnis Ewin entlassen worden. Zuvor hatte er sich kritisch zu dem Einsturz einer Einkaufspassage in der südwestiranischen Stadt Abadan mit vielen Toten geäußert.

Im Geheimen gedreht

Trotz aller Repressalien seitens des Regimes und Berufsverbot hat Rasoulof weiter Filme gedreht und die Unterdrückung im Land angeprangert. "Nachdem ich zum ersten Mal im Gefängnis gewesen war, habe ich meine Familie gebeten, das Land zu verlassen, sagte er 2020 der DW. "Ich wollte das eigentlich nicht, aber ich konnte ihre ständigen Ängste und Qualen nicht mehr mit ansehen. Die Auswanderung war zwar ein Ausweg, sie hat aber natürlich ihren eigenen Preis gefordert. Wegen meiner diversen Ausreiseverbote bin ich oft von meiner Familie getrennt gewesen."

"Einer der Gründe, warum die Menschen so stark von Mohammad Rasoulofs Filmen gefesselt sind, ist, dass er seine eigenen Erfahrungen einbringt", so sein Produzent Kaveh Farnam 2020 gegenüber der DW.

Regisseur stellt in Cannes seinen neuen Film vor

Rasoulofs neuestes Werk, "Der Samen der heiligen Feige" feiert bei den Filmfestspielen von Cannes Premiere. "In dem Wissen, dass Neuigkeiten zu meinem neuen Film sehr bald bekannt werden würden, war mir klar, dass diesen acht Jahren ohne Zweifel eine neue Strafe hinzugefügt werden würde", so der Regisseur. Iranische Behörden hatten Rasoulof unter Druck gesetzt, den Film zurückzuziehen. Laut seinem Anwalt wurden einige Mitglieder der Filmcrew Ende April verhört, Schauspielerinnen und Schauspielern sei die Ausreise aus Iran untersagt worden. Rasoulof forderte die Weltkinogemeinschaft in einer Erklärung auf, den Filmemachern, die mit Zensur konfrontiert sind, zur Seite zu stehen und die Meinungsfreiheit zu verteidigen.

2020 war Rasoulof  bei der Berlinale mit dem Goldenen Bären für seinen Film "Doch das Böse gibt es nicht" ausgezeichnet worden. Darin geht es um es um die Todesstrafe in Iran und um die Frage, wie jeder Einzelne Verantwortung für sein Handeln in einem System der Willkürherrschaft übernimmt. Gedreht wurde im Geheimen und unter anderen Namen. Bei der Preisverleihung war Rasoulof nicht anwesend, weil er den Iran nicht verlassen durfte. Damals nahmen seine Tochter Baran und sein Produzent den Preis stellvertretend entgegen.

Eine junge Frau hält ein Smartphone hoch, auf dem Mohammad Rasoulof zu sehen ist
2020 war der Gewinner des Goldenen Bären nur per Skype dabei - Tochter Baran sprach mit ihm null Gregor Fischer/dpa/picture alliance

Bei den Filmfestspielen in Cannes wird Rasoulof wohl dabei sein, so sein Anwalt Babak Paknia gegenüber der Nachrichtenagentur AFP. Auf seinem Instagram-Account schrieb Rasoulof, er müsse noch an den letzten technischen Phasen der Postproduktion seines Filmbeitrags arbeiten. Weiter hieß es darin, er schließe sich einem "kulturellen" Iran von Millionen Menschen im Exil an, das "geografische" Iran leide "unter den Stiefeln Eurer religiösen Tyrannei". Die Iraner im Exil warteten "ungeduldig darauf, Euch und Euer Unterdrückungssystem in den Tiefen der Geschichte zu beerdigen".

In Cannes hatte Rasoulof bereits 2017 mit seinem Film "A Man of Integrity" (auf Deutsch: "Kampf um die Würde") den Hauptpreis in der Kategorie "Un Certain Regard" ("Ein gewisser Blick") gewonnen.

suc/sw (mit AFP, dpa) 

EU-Libanon-Hilfe: Segen oder Fluch für syrische Flüchtlinge?

Schon kurz nachdem das Hilfsabkommen zwischen der EU und dem Libanon verkündet wurde, gab es Kritik an diesem Deal. "Das libanesische Volk ist nicht käuflich," erklärte etwa der Politiker Gebran Bassil in einem Interview.

Andere Oppositionspolitiker veröffentlichten ein Statement, in dem es hieß: "Sicherheit, Stabilität und die Zukunft der Libanesen wurden für 30 Silberlinge verkauft."

Das Abkommen wurde während eines Besuches von EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen und dem zypriotischen Präsidenten Nikos Christodoulides in Beirut verkündet. Es geht um eine Milliarde Euro, die bis 2027 fließen sollen. Der Großteil des Geldes - etwa 736 Millionen Euro - ist dafür gedacht, die Versorgung der Flüchtlinge im Libanon, die überwiegend aus Syrien kommen, zu gewährleisten. Vom Rest soll die Kontrolle der Grenzen und der illegalen Migration verbessert werden.

Warum die Wut über das Hilfsabkommen?

Seit Beginn des Krieges 2012 gibt es Spannungen zwischen Libanesen und Syrern, die jetzt im Land leben. Durch die jüngsten wirtschaftlichen und politischen Krisen wurden diese Spannungen noch verschärft.

Libanon Syrische Geflüchtete
Syrische Flüchtlinge im Libanon, denen die libanesische Armee vorwirft, illegal über die Grenze gekommen zu seinnull Lebanese Army Website/AP Photo/picture alliance

Populistische Politiker fordern, dass Syrer ohne Papiere das Land verlassen müssen und Menschenrechtsgruppen berichteten, dass libanesische Sicherheitskräfte syrische Migranten zur Rückkehr in ihre Heimat zwingen, indem sie sie einfach einsammeln und an der Grenze aussetzen. In Syrien werden Einheiten, die dem Diktator Baschar al-Assad treu ergeben sind solche Rückkehrer wahrscheinlich ins Gefängnis werfen, sie foltern oder töten oder sie zwangsweise in die syrische Armee einziehen.

Das europäische Hilfspaket soll gegen diese Entwicklungen helfen. Doch Beobachter erklärten gegenüber der DW, dass sich die Situation dadurch eher noch verschlimmere.

Europäische Bestechung?

Bestechung wird der EU im Libanon vorgeworfen, weil einige Libanesen denken, die EU zahle nur, um dafür zu sorgen, dass in der EU unerwünschte Syrer im Libanon blieben. Der libanesische Premierminister Najib Mikati widersprach dem in einem TV Interview öffentlich.

Zum Teil, sagt Philippe Dam, der Direktor von Human Rights Watch EU in Brüssel, sei der Verdacht verständlich. "Ein Körnchen Wahrheit könnte da schon drinstecken, wenn man sich den Tausch-Ansatz anschaut, den die EU gegenüber illegaler Migration einnimmt. Der besteht im wesentlichen darin, andere Staaten dafür zu bezahlen, dass sie die Leute fernhalten," erklärt er mit Blick auf Vereinbarungen, die mit der Türkei und Tunesien getroffen wurden.

Libanon Beirut | Protest gegen "resettlement of Syrians"
Libanon: Protest gegen das "Resettlement" von syrischen Flüchtligennull Fadel Itani/NurPhoto/picture alliance

Die Details des Deals mit dem Libanon sind außerdem weiter unklar. Auch das, sagte Dam der DW, sorge für Spannungen. Es gebe aber auch positive Aspekte bei dem Abkommen, wie etwa die Hilfe bei der Grundversorgung im Libanon.

"Allerdings," fährt er fort, "hat (von der Leyen) auch einige sehr problematische Dinge gesagt. Sie kündigte Unterstützung für die libanesischen Sicherheitskräfte bei Migration und Grenzmanagement an. Das könnte problematisch werden, denn diese Leute führen auch zwangsweise Deportationen von Syrern aus."

"Außerdem sprach sie von einem strukturierten Ansatz bei freiwilliger Rückkehr (…) und zwar in einer Weise, die Rückkehr tatsächlichem Schutz vorzieht," betont er. Menschenrechtsgruppen wie seine eigene machen sich Sorgen, dass dies ein Schritt sein könnte, Teile Syriens als sicher für Rückkehrer einzustufen.

"Der Krieg in Syrien ist nicht vorbei," hatten die Regierungen Deutschlands, der USA, Großbritanniens und Frankreichs noch im März in einer gemeinsamen Erklärung gesagt. "Die Bedingungen für eine sichere, würdevolle und freiwillige Rückkehr von Flüchtlingen nach Syrien mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft sind noch nicht erfüllt."

Ein "gefährlicher" Deal für syrische Flüchtlinge

Es sei niemals um die Unterstützung syrischer Flüchtlinge gegangen, fügt Kelly Petilla hinzu, Programm-Managerin für Nahost und Nordafrika beim European Coucil on Foreign Relations. "Hier geht es vor allem darum, Migration nach Zypern und den Rest Europas zu verhindern." Dem libanesischen Militär Geld zu geben, so Petillo, "bedeutet mehr Unsicherheit für syrische Flüchtlinge. Der Druck auf sie wächst, das Land entweder selbst zu verlassen oder ausgewiesen zu werden. Das führt zum Gegenteil dessen, was von der Leyen scheinbar erreichen will und führt zu größerem Druck auf Syrer, sich Richtung Europa auf den Weg zu machen."

Willem Staes von der belgischen Organisation 11.11.11., zu der 60 Nicht-Regierungs- und Menschenrechtsorganisationen gehören, stimmt zu. Er verweist auf eine Untersuchung, die seine Organisation Ende April unter Syrern im Libanon durchgeführt hat. Die überwältigende Mehrheit der Befragten war in der sich verschlechternden Sicherheitssituation für Syrer im Libanon sehr in Sorge vor Ausweisung. 88 Prozent von ihnen sagten, das habe direkten Einfluss auf ihre Entscheidung, zu versuchen, nach Europa zu gelangen.

Libanon-Deal aus Wahl-Kalkül?

"(Das EU-Libanon-Abkommen) ist eher so eine Art Gipfel der Dummheit," argumentiert Staes. "Statt effektive Maßnahmen zu ergreifen gegen diese Deportationen, gibt von der Leyen der libanesischen Armee mehr Geld und erhöht damit ihre Möglichkeiten internationales Recht zu verletzen."

Das wird das Leben syrischer Flüchtlinge oder auch libanesischer Bürger auf keinen Fall verbessern, sagt er. "Das Abkommen ist gefährlich und wird zu mehr Todesfällen führen, mehr Gewalt und mehr illegaler Migration. Es ist bezeichnend für die problematische europäische Politik, die nur von Wahl-Kalkül getrieben wird statt von der Realität vor Ort."

Experten sind sich einig, dass der einzige potentielle Vorteil des Abkommens darin liegt, die Probleme im Libanon erneut in den Fokus zu bringen.

"Ein Handeln der EU ist lange überfällig," so Staes. Ein Plan mit Aussicht auf Erfolg würde beinhalten, dass erzwungene Ausweisungen beendet und Syrern mehr befristete Aufenthaltsrechte und Arbeitserlaubnisse ausgestellt werden, erklärt er. Inzwischen könnte die EU mehr legale Migration nach Europa ermöglichen und der libanesischen Bevölkerung mit einem Wirtschaftspaket helfen.

"Seit langem fordern Experten ein EU-Libanon-Abkommen," schließt Petillo. "Leider geht es in die falsche Richtung."

Aus dem Englischen adaptiert von Andrea Lueg.

Elyanna macht arabischen Pop weltweit bekannt

Elyanna lässt sich nicht gerne in eine Schublade stecken. Das betont die palästinensisch-chilenische Sängerin in Interviews immer wieder, und doch kommt man nicht umhin zu sagen: Elyanna bringt denarabischsprachigen Pop in den globalen Mainstream bringt und erntet dafür viel Lob .

Ironischerweise hatte die 22-Jährige nie vorgehabt, in ihrer Muttersprache Arabisch zu singen; sie habe es einfach in einem Aufnahmestudio ausprobiert, erzählte sie der "Los Angeles Times" 2022. Ihre Entscheidung zahlte sich aus: Ihre erste Single "Ana Lahale" ("Ich bin allein"), die 2020 erschien, wurde auf Spotify mehr als 24 Millionen Mal angehört. Und 2021 wurde sie eine der Hauptkünstlerinnen des neu gegründeten Labels Universal Arabic Music, einem Ableger des Musikriesen Universal Music.

Elyanna in einer rotkarierten Jacke
Elyanna erobert den Musikmarkt mit arabischen Songs null Aurore Marechal/abaca/picture alliance

Brücke zwischen Generationen und Kulturen

In jüngster Zeit hat Elyannas Ruhm eine neue Dimension erreicht. Im Jahr 2023 war sie die erste arabische Künstlerin, die auf dem Coachella Festival in Kalifornien alle ihre Lieder nur auf Arabisch sang. Kurz darauf wurde sie von der renommierten Musikfachzeitschrift "Rolling Stone Magazine" zu einer der 25 Künstlerinnen und Künstler gewählt, die man im Auge behalten sollte. Das Jahr 2024 ging vielversprechend weiter: eine ausverkaufte Nordamerika-Tournee und die Veröffentlichung ihres mit Spannung erwarteten Debütalbums "Woledto" ("Ich bin geboren") am 12. April.

Das Album, genau wie ihre sonstige Musik, basiert auf ihrer palästinensisch-chilenischen Identität und vermischt arabische und lateinamerikanische musikalische Einflüsse. Die Single "Ganeni" ("Make me crazy") zum Beispiel kombiniert Reggaeton-Beats und lateinamerikanische Trompeten mit nahöstlichen Trommeln und einer gehörigen Portion Wehklagen.

Ramzi Salti, Professor an der Stanford University und Moderator von "Arabology", einem Podcast über arabische Kultur und Musik, führt ihre weltweite und generationenübergreifende Anziehungskraft auf ihre Fähigkeit zurück, Einflüsse nahtlos miteinander zu verbinden.

"Ich weiß, dass meine Mutter, die 85 Jahre alt ist, Elyanna hört und sie mag, und mein Neffe hier in Jordanien, der 15 Jahre alt und sehr wählerisch ist, hört Elyanna", sagte er der DW. "Ich glaube, es ist ihre Fähigkeit, Ost und West zu mischen."

Salti bezeichnete sie als "arabische Beyoncé" - eine Künstlerin, die sich im Gegensatz zu vielen traditionellen arabischen Sängerinnen nicht scheut, eine ganze Show auf die Beine zu stellen. Mit dem Streetwear-Stil von Rihanna, der Sinnlichkeit von Shakira und geschmückten Fingernägeln, die denen des spanischen Stars Rosalia in nichts nachstehen, hat sich Elyanna ein unverwechselbares Image geschaffen.

Screenshot auf Instagram der arabischen Vogue mit einem Cover von Elyanna
Die arabische Vogue berichtete bereits über Elyannanull Instagram/voguearabiaundelyanna

"In einer Debatte, in der Palästinenser allzu oft entweder als belagerte Opfer oder als blutrünstige Terroristen dargestellt werden, bietet Elyanna eine fröhliche und kraftvolle Darstellung des palästinensischen Lebens", schrieb der Kolumnist Rob Eschmann 2023 auf der jüdisch-amerikanischen Nachrichtenseite "Forward".

"Und im Gegensatz zu arabischer Musik im Allgemeinen, die dem westlichen Publikum so lange fremd erscheint, bis sie erklärt wird, braucht Elyanna keine Erklärungen", sagt Salti. Die Musik mit ihren tanzbaren Beats spreche für sich: "You feel it."

Von Nazareth nach Kalifornien

Elyanna wurde 2002 als Elian Marjieh in einer christlich-palästinensischen Familie in der nordisraelischen Stadt Nazareth geboren, wo die größte arabische Gemeinschaft des Landes lebt; ihre Großmutter väterlicherseits stammte aus Chile. Im Alter von sieben Jahren begann sie zu musizieren, als sie 15 war, zog die Familie nach San Diego, um ihre musikalische Karriere zu fördern. Eine Entscheidung, die sich auszahlte: In den USA wurde Elyanna auf Instagram und Soundcloud bekannt und knüpfte Kontakte zu anderen arabischen Künstlern in Nordamerika. 2018 wurde sie von dem libanesisch-kanadischen Manager Wassim Slaiby unter Vertrag genommen, der 2021 Universal Arabic Music gründete.

Elyannas Karriere ist längst Familiensache: Ihr Bruder ist ihr Pianist, Produzent und Kreativdirektor, ihre Schwester ist ihre Stylistin und Designerin, Ihre Mutter, eine Dichterin, hat zu ihren Texten beigetragen, und ihren Vater bezeichnet sie als den Klebstoff, der alles zusammenhält.

Wenn es um ihre musikalischen Einflüsse geht, nennt Elyanna eine Reihe von Künstlern, von arabischen Größen wie der Libanesin Fairuz über die in Ägypten geborene französisch-italienische Dalida bis hin zu Jazz-Ikonen wie Etta James, den verstorbenen Queen-FrontmanFreddie Mercury und Beyoncé. Ihre eigene musikalische Vielseitigkeit bewies sie mit Coverversionen von Edith Piafs Klassiker "La Vie en Rose" ("Al Kawn Janni Maak") und dem gefühlvollen Hit des nigerianischen Sängers Zubi "Sugar" ("Sokkar"). 

Zurück zur palästinensischen Identität

Vor allem aber ihre eigenen Songs machen die Künstlerin aus: So zelebriert Elyanna ihr palästinensisches Erbe ohne Scheu. Ihre Konzerte, Fotos und Videos sind voll von Henna, traditionellen palästinensischen Stickereien, mit Münzen besetzten Accessoires und Kufiyas, dem schwarz-weiß karierten Schal, der die palästinensische Identität symbolisiert. Ihre Posts auf ihren TikTok- und Instagram-Accounts, die jeweils mehr als eine Million Follower haben, sind gespickt mit Wassermelonen-Emojis, einem Symbol des Widerstands gegen die israelische Besetzung der palästinensischen Gebiete. Daneben finden sich Tauben, Olivenzweige und weiße Herzen.

Trotzdem ist Elyannas Musik nicht politisch - in ihren Songs geht es eher um die üblichen Hip-Hop-Themen wie Liebe, Ruhm und Geld. "Ich mag Politik überhaupt nicht ... Ich mag diese Dinge nicht, wenn sie toxisch und seltsam sind", sagte sie der "Los Angeles Times". 

"Ich denke, sich als nicht offen politisch zu bekennen, an sich schon ein politischer Akt ist", sagt Salti und betont gleichzeitig, dass Elyannas stilistischen Entscheidungen, mit denen sie ihre Identität feiert, nicht völlig von der Politik getrennt werden können. "Diese Wahl ist an sich schon eine Art Politik."

Gratwanderung nach dem 7. Oktober

Der 7. Oktober hat alles verändert. In den Tagen nach dem Anschlag der Terrororganisation Hamas auf Israel drückte sie ihre Gefühle in den sozialen Medien aus und schrieb: "Ich bete für meine Familie, meine Freunde und die Menschen zu Hause.... Ich bete einfach für alle, die auch für ein besseres Morgen beten." Kurz darauf verschob sie ihre Nordamerika-Tournee. Zuletzt nahm sie an Solidaritätsdemonstrationen für die Palästinenser teil.

"Bei den aktuellen Ereignissen schauen die Menschen auf Elyanna", sagt Salti. "Das macht es für sie zu einer Gratwanderung: Denn wenn sie weiterhin fröhliche Lieder veröffentlicht und tanzt, werden die Leute sagen:_Schau dir Gaza an- und du sitzt hier und singst zu diesen fröhlichen Rhythmen. Aber wenn sie überhaupt nicht singt, dann wird sie auch angegriffen, weil sie sich nicht das Wort ergreift. Und die Leute sagen dann: 'Du bist eine palästinensische Sängerin, du bist so stolz darauf, du benutzt dein Erbe die ganze Zeit, warum schweigst du jetzt'?"

Elyannas musikalische Antwort auf die Terroranschläge der Hamas und die darauf folgende Militäraktion im Gazastreifen war ihre Single "Olive Branch" (Goshn Zeytoun), eine emotionale, zugängliche Ballade, die eine universelle Botschaft von Schmerz und Hoffnung vermittelt. "Ich bin weit weg, aber ich bete für dich und sende dir Frieden auf einem Olivenzweig", heißt es im Text. "Im Land des Friedens ist der Friede tot, und die Welt schläft auf einem verwundeten Kind."

Adaption aus dem Englischen: Sabine Oelze.

EU vereinbart Migrationsabkommen mit dem Libanon

Wie lässt sich die Zahl der Flüchtenden verringern, die auf eigene Faust versuchen, ohne Erlaubnis in die Europäische Union (EU) zu kommen? Die Antwort auf diese Frage beschäftigt die Staats- und Regierungschefs der EU seit Jahren. Ihre neueste Antwort darauf lautet: Mit Migrationsabkommen.

Nun ist Kommissionschefin Ursula von der Leyen gemeinsam mit dem Präsidenten von Zypern, Nikos Christodoulidis, nach Beirut gereist, um ein solches Abkommen mit dem Libanon zu schließen.

Von der Leyen und Christodoulidis stehen vor einer Videowand
Reisten gemeinsam in den Libanon: EU-Kommissionschefin von der Leyen und Zyperns Präsident Christodoulidisnull EU//Dati Bendo

Christodoulidis hatte zuvor Alarm geschlagen: Sein Land sei "nicht länger in der Lage, noch mehr syrische Flüchtlinge aufzunehmen". Allein seit Anfang 2024 hätten rund 4000 Menschen irregulär die Insel im östlichen Mittelmeer erreicht - im ersten Quartal des Vorjahres seien es lediglich 78 gewesen. Die Flüchtlingslager seien überfüllt, erklärte Christodoulidis - erst kürzlich hatte er seine Behörden angewiesen, keine Asylanträge syrischer Flüchtlinge mehr zu bearbeiten.

Warum will die EU den Libanon unterstützen?

Seit Ausbruch des Bürgerkrieges in Syrien 2011 hat der Libanon mehr als 1,5 Millionen Flüchtlinge aus dem Nachbarland aufgenommen. Von Tripolis im Norden des Landes bis nach Larnaka auf Zypern sind es rund 200 Kilometer Luftlinie. Immer wieder versuchen syrische Flüchtlinge, diese Strecke per Boot zu überwinden.

Zwei Frauen stehen mit Wäschebündeln in einem libanesischen Zeltlager
Rund 1,5 Millionen geflüchtete Syrer leben derzeit im Libanonnull Marwan Naamani/dpa/picture alliance

Der Libanon selbst steckt in einer schweren Wirtschaftskrise; zudem sorgt sich Brüssel, dass sich der Krieg im Gazastreifen auch auf den Libanon auswirken könnte - insbesondere, wenn der Konflikt zwischen der israelischen Armee und der radikalislamischen Hisbollah im Südlibanon eskalieren sollte. Dann, so die Sorge, könnten noch mehr Menschen aus dem Libanon in Richtung Europa fliehen. 

In der vergangenen Woche hatte Libanons Premier Nadschib Mikati die EU aufgefordert, seinem Land bei der "Rückführung syrischer Flüchtlinge" zu helfen. Er forderte auch "mehr Unterstützung für die Streitkräfte und Sicherheitsdienste" sowie für "Entwicklungs- und Investitionsprojekte in den Bereichen erneuerbare Energien, Wasser und nachhaltige Entwicklung".

Migrationsabkommen: Geld für die Aufnahme Geflüchteter 

Die EU ist bereit, dem Libanon hierbei unter die Arme zu greifen - und fordert als Gegenleistung, dass Beirut mehr dafür tut, Flüchtende von der Fahrt über das Mittelmeer abzuhalten. Ursula von der Leyen setzt dabei auch auf eine "freiwillige Rückkehr" von Menschen nach Syrien. Eine Milliarde Euro will sie Beirut zahlen - als  "mehrjährige finanzielle und politische Unterstützung" bis 2027.

Solche Abkommen hat die EU bereits mit einigen Staaten Nordafrikas geschlossen: Dabei zahlt sie den wirtschaftlich angeschlagenen Staaten teilweise Milliarden. Verträge bestehen etwa mit Mauretanien oder Tunesien

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gibt Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi die Hand
Umstrittener Deal: Auch mit Ägypten hatte die EU im März 2024 ein Migrationsabkommen geschlossennull Dati Bendo/dpa/EU Commission/picture alliance

Erst Mitte März hatte die EU einen weiteren Deal mit Ägypten geschlossen. Demnach erhält Kairo innerhalb von vier Jahren 7,4 Milliarden Euro aus Brüssel - als Kredite, aber auch als Investitionen etwa in grüne Technologien oder in die Digitalisierung des Landes. Als Gegenleistung soll das Land stärker gegen Schlepper und Menschenhändler vorgehen und seine Grenzen zum Sudan und zu Libyen besser schützen. 

Südeuropa fordert mehr Flüchtlingsdeals 

Besonders Zyperns Präsident Christodoulidis hat das neue EU-Abkommen mit dem Libanon vorangetrieben. "Wir wollen dem Libanon helfen, mit den Flüchtlingen umzugehen, damit nicht noch mehr nach Zypern kommen", erklärte er vergangene Woche in einem Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.

Christodoulidis bekommt breite Unterstützung aus anderen EU-Staaten an der Mittelmeerküste. Die Innenminister Spaniens, Griechenlands, Italiens, Maltas und eben auch Zyperns hatten vor einer Woche gemeinsam gefordert, dass die EU die Vereinbarungen mit wichtigen Herkunftsländern "erweitert und vertieft", um die "irreguläre Einwanderung einzudämmen".

Manche Staaten der EU drängen sogar darauf, Teile des vom Bürgerkrieg zerrissenen Syriens als "sichere Herkunftsregionen" zu deklarieren, um Geflüchtete dorthin zurückzuschicken.  

Eine von Trümmern übersäte Straße zwischen zerschossenen Fassaden
Vom Krieg zerstörte Häuser im syrischen Aleppo: Kann es in diesem Land schon wieder "sichere Herkunftsregionen" geben?null Hassan Ammar/AP/picture alliance

"Europa macht sich mit Migrationsabkommen erpressbar" 

Insbesondere Menschenrechtsorganisationen kritisieren das jedoch scharf. Internationale Organisationen wie Amnesty International haben in der Vergangenheit ausführlich dokumentiert, wie zurückgekehrte Flüchtlinge in Syrien getötet, gefoltert, vergewaltigt und willkürlich festgenommen wurden. Auch der Libanon selbst sei kein sicheres Land für syrische Flüchtlinge, warnt Fadel Abdul Ghany, der Leiter des Syrischen Netzwerks für Menschenrechte. Die Flüchtlinge würden diskriminiert, ausgebeutet und teils zum Sündenbock für die verheerende wirtschaftliche Lage im Land gemacht, sagte Ghany der in London herausgegebenen Zeitung "The New Arab".

Der Grünen-Europaparlamentarier Erik Marquardt kritisiert die Migrationsabkommen als "unwürdige Geldkoffer-Politik", durch die sich Europa von "nicht verlässlichen Partnern" erpressbar mache. "Wenn es keine Kontrolle über die Verwendung von Geldern durch Diktatoren gibt, sollte es kein Geld geben", erklärte er mit Blick auf die Abkommen mit Tunesien und Ägypten. Zudem gehe es bei den Flüchtlingsdeals nicht darum, die Menschenrechtslage in den Vertragspartnerstaaten selbst zu verbessern.

Libanons Premier Nadschib Mikati
Nur geschäftsführend im Amt: Libanons Premier Nadschib Mikatinull Mohamed Azakir/REUTERS

Zwar ist der Libanon keine Diktatur. Aber das Land befindet sich nicht nur wirtschaftlich sondern auch politisch in einer tiefen Krise. Seit 2022 hat das Land keinen Präsidenten, der Regierungschef ist nur geschäftsführend im Amt. De facto hat die Hisbollah die Kontrolle über weite Landesteile übernommen. Ob die Interimsregierung tatsächlich garantieren kann, dass das Abkommen auch eingehalten wird und die EU-Gelder nicht versickern, ist ungewiss.

Zudem kritisierten Menschenrechtsorganisationen in der Vergangenheit wiederholt, dass Flüchtlinge durch solche Abkommen nicht von einer Überfahrt Richtung Europa abgehalten, sondern nur auf immer gefährlichere Routen abgedrängt würden. 

Israels Angriff lässt Rafahs Bewohner verzweifeln

Die spontane Freude über eine mögliche Waffenruhe hielt auf den Straßen des Gazastreifens nicht lange an. Kurz nachdem die Hamas am Montagabend bekannt gegeben hatte, dass sie ein von Ägypten und Katar vorgeschlagenes Abkommen für eine Feuerpause akzeptiert, wurden Explosionen im östlichen Teil von Rafah gemeldet. Für diesen Bereich hatte die israelische Armee am Montagmorgen die vorläufige Evakuierung angeordnet.

Am späten Montagabend erklärte das Büro des israelischen Premierministers, dass das Abkommen nicht den Forderungen Israels entspreche und dass das Kriegskabinett der Fortsetzung der Operation in Rafah zugestimmt habe. Regierungsquellen sagten laut israelischen Medien, dass die Hamas, die von den USA, der EU und anderen als terroristische Vereinigung eingestuft wird, einem anderen Vorschlag zugestimmt hatte als dem, den Israel zuletzt indirekt mit Katar und Ägypten ausgehandelt hatte. Dennoch wolle Israel eine Delegation entsenden, um die indirekten Gespräche mit den Vermittlern aus Ägypten und Katar fortzusetzen.

Grenzübergänge geschlossen

Am Dienstagmorgen bestätigte das israelische Militär, dass die israelischen Truppen eine "gezielte" Operation in einigen Gebieten im Osten Rafahs begonnen hatten. Zudem teilte das Militär mit, es habe die palästinensische Seite des Rafah-Grenzübergangs zu Ägypten eingenommen - und damit den einzigen Übergang, über den Palästinenser das Gebiet bis dahin verlassen konnten. Er ist auch einer der wichtigsten Grenzübergänge für Hilfsgüter. Nach der Einnahme blieb der Übergang zunächst geschlossen, ebenso wie der Grenzübergang Kerem Schalom, wo am Sonntag vier israelische Soldaten nach einem Mörsergranaten-Angriff der Hamas getötet worden waren.

Viele Menschen in Rafah reagieren verzweifelt auf die Entwicklung. Ghada Rafiq, 30, deren Familie auf dem Weg nach Chan Junis war, hatte gehofft, dass eine volle israelische Bodeninvasion noch abgewendet werden könnte. "Der Gedanke, wieder in ein Zelt ohne fließend Wasser und mit minimaler Versorgung zurückzukehren, ist beängstigend", sagt sie der DW am Telefon. "Wo sollen wir hingehen? Was sollen wir tun? Wir wünschen uns verzweifelt einen Waffenstillstand. Ich bete zu Gott, dass es so schnell wie möglich dazu kommt, und dafür, dass die Armee nicht nach Rafah einrückt."

Der Montag hatte bereits mit verheerenden Nachrichten für tausende Menschen begonnen, die in den östlichen Vierteln von Rafah wohnen oder dort während des Krieges Zuflucht gesucht haben. In den frühen Morgenstunden warf das israelische Militär Flugblätter ab und verschickte aufgezeichnete Telefonnachrichten, in denen es dazu aufforderte, sich in eine sogenannte "humanitäre Zone" in Al-Mawasi im Westen des Gazastreifens zu begeben.

Menschen betrachten eine Rauchwolke in Rafah
Rauch steigt nach einem Luftschlag auf Rafah aufnull Hatem Khaled/REUTERS

Ein Militärsprecher hatte am Montagmorgen vor ausländischen Journalisten gesagt, dass die Evakuierung "begrenzt" sei und rund 100.000 Menschen betreffe, die aufgefordert worden seien, sich in diese Zone in der Nähe der Küste zu begeben.

Bald darauf begannen viele, ihre Habseligkeiten in Autos oder auf Eselskarren zu packen und die Gegend zu verlassen. Andere machten sich an diesem für Mai ungewöhnlich kalten und regnerischen Tag nur mit ein paar Taschen auf den Weg. Wieder einmal waren Tausende unterwegs, erschöpft von den monatelangen Bombardierungen und Vertreibungen.

Odyssee durch Flüchtlingslager

Ghada Rafiq ist eine von ihnen. Sie wurde am Montagmorgen vom Klingeln ihres Mobiltelefons geweckt. "Es war eine aufgezeichnete Nachricht der israelischen Armee, die uns aufforderte, den Osten Rafahs zu evakuieren", sagt sie. Die junge Palästinenserin stammt aus dem nördlichen Gazastreifen und musste wie viele andere in den vergangenen sieben Monaten bereits mehrmals von einem Ort zum nächsten ziehen, nachdem das israelische Militär die Menschen aufgefordert hatte, den nördlichen Gazastreifen zu verlassen. "Zuerst waren wir im Flüchtlingslager Dschabalia, dann gingen wir in das Flüchtlingslager Nuseirat, dann nach Deir al-Balah [im Zentrum des Gazastreifens] und schließlich nach Rafah."

Zwei Kinder an einem zerstörten Gebäude in Rafah
Zerstörungen nach Luftschlägen in Rafah am Montagnull AFP/Getty Images

Die Nacht zuvor sei wegen der intensiven Bombardierung schwierig gewesen. "Seit dem frühen Morgen haben wir Artilleriebeschuss im Osten gehört und einige Gegenden wurden aus der Luft bombardiert", sagt Ghada Rafiq, die zusammen mit ihren vier Geschwistern und ihren Eltern unterwegs ist. "Wir haben beschlossen, nicht zu warten und nach Chan Junis zu gehen. Wir haben ein Zelt aus unserer Zeit in Deir al-Balah mitgebracht. Unsere Angst und Sorge ist groß vor dem, was uns erwartet."

Nach Angaben der Hamas wurden in der Nacht von Sonntag und Montag in Rafah mindestens 22 Menschen getötet. Das von der Hamas geführte Gesundheitsministeriums beziffert die Zahl der Toten seit Beginn des Krieges auf mehr als 34.500 Menschen. Nach den Hamas-Terroranschlägen auf Gemeinden im Süden Israels am 7. Oktober hatte Israel den Krieg gegen die Hamas in Gaza begonnen.

"Gezielte Militäroperationen" oder Bodenoffensive?

Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu hat wiederholt erklärt, dass er "mit oder ohne" eine Einigung über eine Feuerpause und die Freilassung zumindest einiger der 128 verbleibenden Geiseln, die am 7. Oktober nach Gaza entführt wurden, nicht von einer umfassenden Bodenoffensive in Rafah absehen will.

Arabische und westliche Länder, darunter die Vereinigten Staaten als Israels engster Verbündeter, warnen seit Wochen vor einer solchen Militäroffensive, da sie zu vielen Opfern unter der Zivilbevölkerung führen könnte. Israel beschuldigt die Hamas, sich hinter Zivilisten zu verschanzen und erklärte, das Militär müsse in Rafah einmarschieren, um die verbleibenden Hamas-Einheiten zu zerstören und den Krieg zu gewinnen.

Mehr als eine Million Menschen haben in den vergangenen sieben Monaten in der Grenzstadt im Süden des Gazastreifens Zuflucht gesucht. Viele sagen, sie wüssten nicht mehr, wohin sie noch gehen sollen, um sicher zu sein - auch wenn die israelische Armee erklärte, sie habe eine "humanitäre Zone" eingerichtet. Es bleibt auch unklar, was mit denen geschieht, die nicht einfach gehen können: Ältere Menschen, Kranke oder solche, die nicht gehen wollen, weil sie es nicht für sicher genug halten.

Eine Gruppe von Frauen und Kindern trägt einige Habseligkeiten
Zu Fuß fliehen diese Menschen in Richtung Chan Junisnull Jehad Alshrafi/Anadolu/picture alliance

Fadel Qandeel, 54, stammt aus Rafah und hat sich entschieden, in seinem Haus zu bleiben, obwohl seine Familie in der Nähe eines der Evakuierungsgebiete wohnt. "Der heutige Tag ist im wahrsten Sinne des Wortes beängstigend. Trotz früherer Drohungen mit einer Militäroperation in Rafah ist die Atmosphäre seit heute Morgen eine andere", sagt Qandeel telefonisch der DW. "Als in Rafah Flugblätter zur Evakuierung abgeworfen wurden, tat es weh, all die Szenen der Menschen mitanzusehen, die ihre wenigen Habseligkeiten trugen und ihr Zuhause verlassen mussten."

Der Vater von sieben Kindern sagt, er wisse einfach nicht, wohin er mit seiner großen Familie gehen solle. Er hofft, dass doch noch eine Waffenruhe vereinbart wird, aber das ständige Auf und Ab der Verhandlungen sei extrem schwierig auszuhalten. "Die positiven Nachrichten über eine Waffenruhe haben meine Angst ein wenig gemildert, aber ich bin nicht sicher, ob es wirklich dazu kommen wird. Ich bin nicht wirklich optimistisch, aber ich hoffe, ich werde eines Besseren belehrt."

Bodenoffensive in Rafah? Warum die Stadt wichtig ist

Wann beginnt die Rafah-Offensive?

Seit Anfang Februar wird in Israel über eine mögliche Militäroffensive auf Rafah im südlichen Gazastreifen diskutiert. Nun könnte es konkret werden: Die israelische Armee hat die Bewohner des östlichen Teils von Rafah aufgefordert, die Stadt zu verlassen.

Betroffen sind rund 100.000 Menschen. Nach Angaben der israelischen Armee IDF soll es sich um einen "begrenzten Einsatz" handeln, der die vom Westen und einigen arabischen Staaten als Terrororganisation eingestufte Hamas zerschlagen soll. Außerdem werden noch Geiseln in der Stadt vermutet.

Gleichzeitig stimmte die islamistische Hamas nach Agenturberichten einem von den Vermittlern Ägypten und Katar unterbreiteten Vorschlag für eine Waffenruhe im Gaza-Krieg zu. Bis Mittwochabend blieb allerdings unklar, welchen Punkten die Hamas genau zugestimmt hat. 

Der israelische Polizeiminister Itamar Ben-Gvir wies israelischen Medienberichten zufolge die Zustimmung der Hamas als einen "Trick" zurück. Die Armee erklärte, die Zivilisten sollen sich in das ungefähr 20 Kilometer nördlich von Rafah gelegene Gebiet Al-Mawasi nahe der Küste begeben. Dort befinde sich ein "erweitertes humanitäres Gebiet" mit Feldlazaretten, Zelten und Lebensmitteln.

Nach Angaben des "Wall Streets Journals" will Israel die Bodenoffensive in Etappen durchführen, die Evakuierung könnte zwei bis drei Wochen dauern. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hatte vor einiger Zeit von rund sechs Wochen "ununterbrochenen Kämpfen" für die Operation gesprochen.

Zuvor waren indirekte Verhandlungen mit der Hamas über eine Feuerpause im Gaza-Krieg und die Freilassung der Geiseln im Gegenzug für palästinensische Häftlinge gescheitert. Eine Militäraktion sei deshalb jetzt notwendig und ohne Alternative, so der israelische Verteidigungsminister Joav Galant laut Agenturen.

Israels Verbündete wie die USA warnen dagegen vor einer Offensive. In der überfüllten Stadt leben hunderttausende Flüchtlinge aus anderen Gebieten Gazas, die Lage für die Menschen vor Ort ist schon jetzt katastrophal.

Wie ist die Situation der Menschen in Rafah?

Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung im Gazastreifen sind laut Schätzungen der Vereinten Nationen auf der Flucht. Von den gut 2,3 Millionen Einwohnern haben bis zu 1,4 Millionen in Rafah Zuflucht gefunden, nachdem die israelischen Streitkräfte den Norden des Gazastreifens eingenommen haben. Damit ist Rafah derzeit die bevölkerungsreichste Stadt im Gazastreifen.

Die Flüchtlingslager in der Region um Rafah sind voll - es fehlt an Nahrungsmitteln, Medikamenten und Trinkwasser. "Die humanitäre Lage in Gaza ist unglaublich schlecht", sagte eine Vertreterin der US-Entwicklungsbehörde USAID. Im Süden des Gazastreifens leide fast ein Viertel der Bevölkerung unter der katastrophalen Ernährungslage. Besonders betroffen sind Kinder.

Zelte und Baracken stehen dicht an dicht, im Hintergrund sind Stadt und Küste zu erkennen
Eine Stadt voller Flüchtlinge: Camp in der Grenzstadt Rafahnull Bassam Masoud/REUTERS

Auch der Sprecher des UN-Kinderhilfswerk James Elder warnte in einem kürzlich veröffentlichten Gastbeitrag für die britische Tageszeitung "Guardian“ vor den Folgen. "Rafah würde implodieren“, sagte er mit Blick auf eine mögliche Offensive.

"Die Folgen wären katastrophal: Denn Rafah ist eine Stadt der Kinder.“ Rund 600.000 Jungen und Mädchen hätten dort Zuflucht gesucht. Es gebe keinen sicheren Ort, an den sie fliehen könnten. Zudem sei Rafah Drehkreuz für die humanitäre Hilfe.

Warum ist Rafah so wichtig für Israel?

Rafah gilt als letzter großer Stützpunkt der islamistischen Terrorgruppe Hamas, die am 7. Oktober 2023 ein Massaker in Israel verübt und 240 Menschen als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt hat. Israel geht davon aus, dass sich noch bis zu vier der ehemals 24 Hamas-Brigaden in oder unter Rafah versteckt halten.

Sie zu bekämpfen, ist aus dieser Perspektive ein entscheidender Schritt zur Zerschlagung der Organisation. Die Kampfkraft der Hamas ist nach mehr als sieben Monaten Krieg mit Israel geschwächt, aber militärisch besiegt ist die Terrorgruppe nicht.

Zwar hat die Zahl der Raketenangriffe auf Israel stark abgenommen, doch verfügt die Organisation weiterhin über viele Raketen und Drohnen. Laut Michael Milshtein, ehemals Angehöriger des israelischen Militärgeheimdienstes und heute Forscher am Moshe Dayan Center der Universität Tel Aviv, habe Israel Stand April bislang 70 bis 80 Prozent des Waffenarsenals der Hamas zerstört.

Wie wird die Bevölkerung versorgt?

Wie die ohnehin notleidende Bevölkerung Gazas bei einer Bodenoffensive versorgt werden soll, ist unklar. Während Verbündete vor einer Katastrophe warnen, erklärte ein IDF-Sprecher, die Versorgung der Bevölkerung mit humanitären Hilfsgütern werde während des Räumungseinsatzes ungehindert weitergehen. Man könnte diese über verschiedene Routen in den Küstenstreifen bringen, etwa über den gut 30 Kilometer nördlich des Gazastreifens gelegenen israelischen Hafen in Aschdod.

Weiße Säcke mit Weizenmehr tragen die Aufschrift des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten UNRWA
Ein Großteil der internationalen Hilfe erreicht den Gazastreifen über den Grenzübergang Rafahnull Mohammed Salem/REUTERS

Der israelische Grenzübergang Kerem Schalom wurde nach einem Hamas-Angriff am Sonntag vorübergehend für humanitäre Transporte geschlossen. Die militant-islamistische Hamas hatte Raketen auf den Grenzübergang geschossen und dabei drei israelische Soldaten getötet.

Unterdessen haben die USA einen provisorischen Hafen vor der Küste gebaut. Die Arbeiten an der provisorischen Hafenanlage im Norden des Gazastreifens sind so gut wie abgeschlossen. Die Landestelle wird von rund 1000 US-Soldaten bewacht und soll Anlandestelle für dringend benötigte Hilfsfrachter werden.

Welche Reaktionen gibt es ?

Die Hamas spricht von einer "gefährlichen Eskalation, die Konsequenzen haben wird". Laut Israel habe die Hamas ihre Kämpfer bereits vorbereitet und sie mit Proviant und Waffen versorgt. Die USA hoffen derweil weiterhin auf eine friedliche Lösung. CIA-Chef William Burns will sich laut einem Medienbericht für einen Deal einsetzen. Schon vor Monaten hatten die USA die Pläne für eine Bodenoffensive gegen Rafah heftig kritisiert. Auch das deutsche Auswärtige Amt warnte vor einer "humanitären Katastrophe mit Ansage“.  

Das Nachbarland Ägypten befürchtet, dass viele Flüchtlinge aus Rafah auf den ägyptischen Sinai kommen könnten. Laut dem staatlichen ägyptischen Nachrichtensender Al-Kahera hätte der Hamas-Angriff auf den israelischen Grenzübergang Kerem Schalom die Verhandlungen in eine Sackgasse geführt. Der Sender hatte dafür eine ungenannte hochrangige Quelle zitiert. Laut dieser Quelle würden Unterhändler versuchen, die Eskalation einzudämmen.

Dieser Artikel wurde am 6. Mai 2024 aktualisiert. 

Gaza: Schwimmender Hafen soll humanitäre Hilfe erleichtern

Träge dümpelt die Plattform in der See, mehrere Stahlpontons sind am Meeresboden verankert und zu einer großen, beinahe quadratischen Fläche zusammengebaut. An einer Seite erstreckt sich ein langgezogener Pier: Landeplatz für die bald zu erwartenden Schiffe, die dringend benötigte Hilfsgüter nach Gaza bringen sollen. So legen es die Bilder nahe, die das US Central Command Anfang dieser Woche auf der Plattform X veröffentlicht hat.

Komplizierte Logistik für den Hafen vor Gaza

Mittlerweile sind die Arbeiten an dem US-amerikanischen Behelfshafen so gut wie abgeschlossen. Mehrere Meilen vor der Küste Gazas liegt diese schwimmende Landestelle. Er wird von rund 1000 bewaffneten US-Soldaten bewacht. Auch sie sind Teil einer komplexen Logistikkette, die insgesamt mindestens 320 Millionen US-Dollar kostet.

Gaza | Blick auf Küste und Bauarbeiten zum Abladen von Hilfsgütern
Satellitenbild der im Bau befindlichen Hafenanlage nahe Gaza-Stadt (23.4.2024)null Maxar Technologies/Handout via REUTERS

Die Plattform auf See ist nur der erste Anlandepunkt für die Hilfsfrachter, die aus dem 200 Seemeilen entfernten Zypern kommen. Das Meer vor Gaza ist zu flach, um die Küste direkt anzusteuern. Deshalb werden die Paletten mit Hilfsgütern hier entladen und per Gabelstapler auf Lastwagen umgeladen. Diese LKW werden dann auf kleinere Armeeschiffe gefahren und mehrere Meilen weitertransportiert.

Etwas südlich von Gaza-Stadt, wurde aus weiteren Pontons ein zweispuriger Damm errichtet. Er ragt rund 600 Meter ins Meer hinaus und wurde vom israelischen Militär an der Küste verankert. Hier werden die LKW wieder abgeladen. Sie fahren dann über den Damm zu einem Abgabebereich, der von Israel militärisch gesichert wird. Hier werden die Paletten dann an Hilfsorganisationen verteilt, die sich um die weitere Verteilung kümmern. 

Für die Zivilbevölkerung im Gazastreifen könnte dies tatsächlich eine spürbare Erleichterung bringen. Anfangs sollen über diesen Weg täglich 90 LKW mit Hilfsgütern nach Gaza gebracht werden. Sobald der Hafen voll funktionsfähig ist, soll die Anzahl auf 150 LKW-Ladungen pro Tag wachsen.

Streit um Sinn und Unsinn des Projektes

Doch in den USA selbst regt sich Widerstand - nicht nur wegen der hohen Kosten des Projektes. Denn nur 30 Kilometer nördlich des Gazastreifens gibt es in Aschdod bereits einen funktionierenden israelischen Tiefseehafen. Logistisch wäre es weit einfacher und günstiger, die Hilfe hierüber und über den jüngst eröffneten Grenzübergang Erez im Norden Gazas abzuwickeln.

Stattdessen verpflichte US-Präsident Biden seine Armee, "eine hochkomplexe, sehr teure Operation mit geringer Produktion durchzuführen, um Nahrungsmittel in den Streifen zu bringen, während er deren Menge mit weitaus weniger Aufwand und Kosten massiv erhöhen könnte", kritisierte etwa der Militärexperte Daniel Davis in einem Beitrag für das Quincy Institute, einer Denkfabrik für US-Außenpolitik.

Er merkte an, dass die USA ihre Druckmittel auf die israelische Regierung nicht ausgeschöpft hätten, Aschdod und Erez für Lieferungen zu öffnen. Tatsächlich steckten mehrere Tonnen an Hilfslieferungen monatelang in Aschdod fest, weil die israelische Regierung sich weigerte, bei der Verteilung mit dem UN-Palästinenserhilfswerk UNRWA zusammenzuarbeiten. Hintergrund sind die Vorwürfe Israels über die mögliche Beteiligung der UNRWA an dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober und die Unterwanderung der Organisation als Ganzes von der Hamas. Zudem hatten zuletzt protestierende Israelis Hilfstransporte für Gaza wiederholt blockiert.

Israel | Temporäre Öffnung des Hafens von Ashdod für Gaza-Hilfslieferungen
Israelischer Checkpoint an der Hafeneinfahrt von Aschdod. Um die Öffnung des Hafens für Hilfslieferungen nach Gaza hatte es monatelang Streit gegeben. null Hannah McKay/REUTERS

Sorgen gibt es auch darüber, dass US-Soldaten in Kampfhandlungen verwickelt werden könnten. Zwar hat Präsident Joe Biden "US-amerikanische Stiefel auf dem Boden Gazas" kategorisch ausgeschlossen. Jedoch befinden sich nun rund 1000 US-amerikanische Soldaten dauerhaft zur Absicherung der Plattform in Schussweite nur wenige Kilometer vor der Küste Gazas.

Als die israelische Armee am 25. April ihren Teil des Landesteges verankern wollte, wurden sie mit Mörsergranaten beschossen. In einer Kongressbefragung hielt US-Verteidigungsminister Lloyd Austin einen ähnlichen Angriff auf US-Soldaten für möglich. Bei der Frage, wie diese darauf reagieren sollten, legte er sich jedoch nicht fest.

Die US-Militärpräsenz sorgt aber auch auf palästinensischer Seite teilweise für Unmut. Hier wird in sozialen Medien bereits die Vermutung geäußert, Washington könne im Sinn haben, eine Art militärischen Brückenkopf nach Gaza zu bauen, um Israel bei seinem Kampf gegen die Hamas zu unterstützen.

Die Spekulationen reichen sogar so weit, dass den USA unterstellt wird, die schwimmende Plattform diene eigentlich zur Ausbeutung eines vor der Küste Gaza liegenden Gasfeldes und die humanitäre Hilfe sei nur ein Deckmantel. Zwar gibt es hierfür keinerlei belastbare Hinweise - es zeigt aber deutlich, wie sehr auf palästinensischer Seite dem Hafenprojekt misstraut wird. 

Ein Panzer ist inmitten von Trümmern und zerstörten Gebäuden zu sehen
Die Zerstörung ist immens, die Sicherheitslage prekär: Im Norden Gazas wird noch immer teils heftig gekämpftnull Ronen Zvulun/Reuters

Wer verteilt die Güter?

Auf ein weiteres Problem wies Jeremy Konyndyk bereits im März des Jahres hin. "Wer soll die Hilfsgüter verteilen?" fragte der Präsident der Hilfsorganisation Refugees International damals im britischen Guardian. Die Präsenz der Hilfsorganisationen im Norden des Gazastreifens gehe "nahezu gegen Null". Der Seekorridor helfe nur bedingt, vielmehr verlagere er das Problem der Distribution von den Grenzen des Gazastreifens ins Landesinnere. Der Norden Gazas ist völlig zerstört, die öffentliche Ordnung zusammengebrochen.

Erst am Donnerstag beschuldigte die US-Regierung die radikal-islamistische Hamas, die von Deutschland, der EU, den USA und weiteren Staaten als Terrororganisation eingestuft wird, im Norden Gazas erstmals in größerem Umfang Hilfsgüter abgefangen und umgeleitet zu haben. Zwar seien die Güter inzwischen wieder freigegeben und zurück an die humanitäre Organisation übergeben worden. Dennoch zeigt der Vorfall, wie instabil die Lage vor Ort nach wie vor ist. Internationale Hilfsorganisationen haben daher bereits große Sicherheitsbedenken für ihr Personal geäußert. Man befinde sich hierzu noch in Verhandlungen mit den Kriegsparteien.

Jemen: Huthi-Miliz gewinnt neue Stärke im Roten Meer

Zwei Wochen hatten die jemenitischen Huthi-Milizen ihre Waffen schweigen lassen, dann aber beschossen sie erneutFrachtschiffe im Roten Meer. Ins Visier nahm sie solche, deren Herkunftsländer entweder mit Israel oder den USA in Verbindung stehen oder die internationale Anti-Huthi-Marinekoalition im Roten Meer unterstützen.

Begonnen hatte die Miliz ihre Angriffe im November vergangenen Jahres, um so nach eigenen Angaben ihre Solidarität mit den Palästinensern im Gazastreifen zu bekunden.

Zwar ist es der Gruppe nicht gelungen, den Kriegsverlauf zwischen Israel und der Hamas zu beeinflussen. Dafür aber haben ihr die Angriffe auf Schiffe im Roten Meer im Jemen selbst eine ungeahnte Popularität verschafft.

Hierzu muss man wissen: Der Jemen ist in Machtblöcke gespalten. Auf der einen Seite der Front liegen die von den Huthi beherrschten Gebiete im Norden und Westen mit der Hauptstadt Sanaa. Auf der anderen Seite befinden sich jene Gebiete, die überwiegend unter der Kontrolle des Präsidentenrats der international anerkannten Regierung liegen. Die Spaltung ist Ergebnis des nach dem arabischen Revolutionsjahr 2011 einsetzenden Krieges, in dessen späterem Verlauf die Huthi weite Teile des Jemen unter ihre Kontrolle brachten.

Der Konflikt eskalierte 2015, als sich eine von Saudi-Arabien angeführte Koalition mehrerer arabischer Staaten zur Unterstützung der international anerkannten Regierung zusammenschloss. Der jahrelange Krieg forderte Hunderttausende von Menschenleben. Nach Angaben der Vereinten Nationen hat er zu einer der weltweit schlimmsten humanitären Krisen geführt.

Start einer  Sea-Viper-Rakete von dem US-Kriegsschiff HMS Diamond, April 2024
Gegenwehr gegen die Huthi-Rebellen: Start einer Sea-Viper-Rakete vom US-Kriegsschiff HMS Diamond im April 2024null LPhot Chris Sellars/MoD Crown copyright/AP/picture alliance

Popularität als politisches Kapital

In der Folgezeit machten sich die Huthi zunehmend unbeliebt bei weiten Teilen der Bevölkerung. Verantwortlich dafür seien seinerzeit vor allem "Misswirtschaft, Korruption, Vetternwirtschaft sowie eine am Boden liegende Wirtschaft" gewesen, sagt Hisham Al-Omeisy, ehemaliger Direktor des Information Resources Center für den Jemen im US-Außenministerium. 

Nun aber profitierten die Huthi von ihrer durch die Angriffe gewonnenen Popularität, und zwar lokal ebenso wie regional, so Al-Omeisy im DW-Gespräch. "Auf dieser Grundlage festigen sie ihre Herrschaft und weiten zugleich ihre Kontrolle aus."

Mit guter Regierungsführung hat dies offenbar weniger zu tun. "Die Art und Weise, wie die Huthi die Jemeniten unter ihrer Herrschaft behandeln, steht im Widerspruch zu der scheinbar humanitären oder moralischen Haltung, die sie angeblich in der Palästina-Frage einnehmen", sagt etwa der Politologe Thomas Juneau von der Universität Ottawa, im DW-Gespräch.

Ein Mann schwenkt die jemenitische Flagge und hält ein Plakat
Szene aus einer Kundgebung gegen die Blockade der Stadt Taiz im Juli 2022null Abdulnasser Alseddik/AA/picture alliance

Dies gelte insbesondere mit Blick auf Taiz, die mit rund 940.000 Einwohnern drittgrößte Stadt des Jemen. Sie wird seit rund sechs Jahren belagert. Die Huthi blockieren nach wie vor die Hauptzufahrtswege in die von der Regierung kontrollierte Stadt. Wasser und Grundnahrungsmittel sind knapp.

"Seit die Huthi die Palästinenser unterstützen, haben wir keinerlei Zugeständnisse oder Initiativen gesehen, um das Leid der Menschen in Taiz zu lindern", sagt Fatima, eine junge Hausfrau und Mutter, die aus Angst vor Repressalien ihren Nachnamen nicht nennen will, im DW-Gespräch.

Jemen: Machtpolitik per Münze

In naher Zukunft könnte sich die wirtschaftliche Kluft und damit auch die humanitäre Lage insbesondere in den von der Regierung kontrollierten Gebieten weiter verschlechtern.

Im April gab die von den Huthi geführte Zentralbank in Sanaa eine neue Stückelung der Landeswährung, eine 100-Rial-Münze als Ersatz für beschädigte Banknoten desselben Nennwerts, heraus. Diese wurde von der regierungsnahen Zentralbank in Aden jedoch umgehend als "Fälschung" bezeichnet.

Zwei Silbermünzen auf Geldscheinen
Ökonomischer Machtanspruch: die von den Huthi herausgegebene neue Münzenull JANUSZ PIENKOWSKI/Zoonar/picture alliance

Dennoch hat der Schritt bereits zu erheblichen Wertschwankungen in den beiden Landesteilen geführt. Nach Angaben der jemenitischen Presseagentur lag der Verkaufspreis für einen US-Dollar in dieser Woche bei 1683 jemenitischen Rial in Aden. Der Wechselkurs in der von den Huthi kontrollierten Hauptstadt Sanaa lag jedoch lediglich bei 530 jemenitischen Rial.

"Die Huthi lassen ihre Muskeln spielen und sagen der jemenitischen Regierung, dass fortan sie es sind, die die Finanz- und Geldpolitik bestimmen", so Experte Al-Omeisy.

Das Streben der Huthi nach Herrschaftslegitimation

Das wichtigste innenpolitische Ziel der Huthi sei es, als regierende und legitime Autorität im Jemen aufzutreten, analysiert Thomas Juneau. "Sie sehen sich in der Lage, ihren in- wie ausländischen Rivalen, allen voran Saudi-Arabien, vermehrt Zugeständnisse abzuringen." Der weite Zuspruch, den die Huthi aufgrund ihrer Schiffs-Angriffe erfahren, stärkt ihre Position bei den politischen Machtkämpfen im Jemen auf allen Ebenen.

Dies dürfte sich auch auf das Anliegen des saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman auswirken, den kostspieligen Krieg im Jemen zu beenden. Für dieses Ziel muss er womöglich nun seine ehemaligen Feinde, die Huthi, als wichtigste jemenitische Autorität anerkennen.

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

Luftangriffe auf Huthi-Stellungen

IGH weist Eilantrag gegen Deutschlands Israel-Hilfen ab

Ein bisschen war die Erleichterung bei der deutschen Delegation nach der Verkündung der Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs (IGH) spürbar.

Das höchste UN-Gericht wies einen Eilantrag Nicaraguas gegen Deutschland ab. Auf der "Grundlage der Sachinformationen und rechtlichen Argumente" gebe es keine Grundlage, die von Nicaragua geforderten Sofortmaßnahmen gegen Deutschland zu verhängen, urteilten die Richterinnen und Richter in Den Haag. Das Urteil bedeutet unter anderem, dass Deutschland seine Rüstungsexporte nach Israel nicht stoppen muss.

Auf dieses Ergebnis habe man gehofft, sagte die Leiterin der deutschen Delegation, Tania von Uslar-Gleichen, im Anschluss zu Journalisten. "Wir freuen uns, dass unsere Argumente das Gericht überzeugen konnten."

Nicaragua hatte Deutschland Anfang März vor dem IGH verklagt. Der Vorwurf: Deutschland verstoße mit Waffenlieferungen an Israel und dem Zurückhalten von Geldern an das Palästinenserhilfswerk UNRWA gegen die Völkermordkonvention und andere Regeln des internationalen humanitären Völkerrechts. Das sei "Beihilfe zur Verübung eines Völkermordes". Nicaragua hatte zudem einen Eilantrag gestellt, dass der IGH noch vor Ende des womöglich mehrere Jahre dauernden Verfahrens fünf Sofortmaßnahmen durchsetzt, darunter dass Deutschland seine Waffenlieferung an Israel einstellt und die Hilfsleistungen für UNRWA wieder aufnimmt.

Die deutsche Prozessbevollmächtigte Tania von Uslar-Gleichen und das Mitglied der deutschen Delegation Christian Tams bei der Verlesung der Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs (IGH) in Den Haag
Die deutsche Prozessbevollmächtigte Tania von Uslar-Gleichen bei der Verlesung der Entscheidung des IGHnull Piroschka Van De Wouw/REUTERS

Deutschland will wieder Geld an Palästinenser-Hilfswerk zahlen

Deutschland hatte im Januar seine Zahlungen an UNRWA ausgesetzt. Grund dafür waren unter anderem Vorwürfe Israels, Mitarbeiter des Hilfswerks seien an den Massakern der militant-islamistischen Palästinenserorganisation Hamas am 7. Oktober 2023 beteiligt gewesen. Die Hamas, die von Israel, Deutschland, der Europäischen Union (EU), den USA und einigen arabischen Staaten als Terrororganisation eingestuft wird, soll außerdem das Hilfswerk unterwandert haben.

Die Bundesregierung hat inzwischen angekündigt, dass sie ihre Zusammenarbeit mit UNRWA fortsetzen will, nachdem ein UN-Bericht Vorschläge zur Verbesserung der Hilfswerks gemacht hat.

Deutschland gilt neben den USA als engster Verbündeter Israels und versprach dem Land nach dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober Unterstützung. Die Terroristen töteten damals mehr als 1100 Menschen und verschleppten mehr als 250 als Geiseln. Bei den darauffolgenden Militäraktionen Israels im Gazastreifen kamen laut der von der Hamas kontrollierten palästinensischen Gesundheitsbehörde mehr als 34.000 Menschen ums Leben. Diese Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen. Israel rechtfertigt seine Militäraktionen mit dem Recht auf Selbstverteidigung.

IGH: keine Sofortmaßnahmen gegen Deutschland notwendig

Bei den Anhörungen am IGH hatte Deutschland vorgetragen, dass ein strenges Verfahren sicherstelle, dass bei den Waffenlieferungen an Israel alle internationalen Verpflichtungen eingehalten würden.

Außerdem habe Deutschland seit dem 7. Oktober Israel nur zu zwei Prozent Kriegswaffen geliefert, 98 Prozent seien sonstige Rüstungsgüter gewesen. Zudem sei der Wert der Rüstungsgüter, die seit dem 7. Oktober für den Export an Israel freigegebenen wurden, von zuvor 200 Millionen Euro auf eine Million Euro im März gesunken.

Der nicaraguanische Botschafter in den Niederlanden Carlos Jose Arguello Gomez (r.)  beim IGH in Den Haag gemeinsam mit Anwalt Alain Pellet
Der nicaraguanische Botschafter in den Niederlanden Carlos Jose Arguello Gomez (r.) beim IGH in Den Haag null Piroschka Van De Wouw/REUTERS

Die Entscheidung des IGH, keine Sofortmaßnahmen gegen Deutschland zu verhängen, sei zu erwarten gewesen, sagte der Völkerrechtler Stefan Talmon von der Universität Bonn im Gespräch mit der DW.

Geschlagen geben will sich Nicaragua aber nicht. Nach der Urteilverkündung betonte der nicaraguanische Prozessvertreter Carlos José Aguello Gomez, sein Land werde Deutschlands Verhalten weiterhin sehr genau beobachten und falls nötig wieder an das Gericht herantragen. Außerdem stehe das Verfahren erst an seinem Beginn. Zu einem späteren Zeitpunkt wolle Nicaragua alle Fakten präsentieren, die es habe.

Das IGH-Verfahren gegen Deutschland ist noch nicht vorbei

Ob es jedoch tatsächlich zu einem Hauptverfahren kommt, ist derzeit unklar. Der Forderung Deutschlands, die Klage Nicaraguas völlig abzuweisen, entsprach der IGH nicht. Dies wäre nur möglich, wenn der IGH offensichtlich gar nicht zuständig sei, so die Begründung. 

Völkerrechtler Talmon geht davon aus, dass Deutschland im nächsten Verfahrensschritt Einwände gegen die Gerichtsbarkeit und gegen die Zulässigkeit der Klage erheben wird. Er erwarte nicht, dass es eine Verhandlung in der Hauptsache geben werde, so Talmon. Ein solches Hauptverfahren könnte sich über Jahre hinziehen.

Was bedeutet die IGH-Entscheidung für Deutschland?

Die deutsche Regierung begrüßte die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs. Auf der Online-Plattform X (ehemals Twitter) schreibt das Auswärtige Amt "Niemand steht über dem Recht. Das leitet unser Handeln." 

Aus Sicht von Juraprofessor Talmon ist die IGH-Entscheidung sogar eine Bestätigung für das Vorgehen der Bundesregierung. "Deutschland kann jetzt sagen, dass der Gerichtshof in der deutschen Haltung keine Veranlassung für einstweilige Maßnahmen sieht, um irgendwelchen Völkerrechtsverstößen vorzubeugen." Die Fortsetzungen von Waffenlieferungen etwa seien jedoch nur unter der Prämisse, dass man seine Sorgfaltspflichten einhalte, betonte Talmon.

Der IGH erinnerte die gesamte Staatengemeinschaft in seiner aktuellen Entscheidung noch einmal an ihre internationalen Verpflichtungen bei der Lieferung von Waffen an Parteien in bewaffneten Konflikten. Außerdem brachte das Gericht seine "tiefe Sorge über die katastrophalen Lebensbedingungen" der Palästinenser im Gazastreifen zum Ausdruck.

Iran verschärft gewaltsame Unterdrückung der Frauen

Die iranischen Behörden verstärken ihre Straßenpatrouillen, um Frauen zu unterdrücken, die sich weigern, die strenge islamische Kleiderordnung einzuhalten.

Der geistliche Führer des Landes, Ayatollah Ali Chamenei, gibt dabei Rückendeckung für eine neue Kampagne mit dem Namen "Nour" (auf Deutsch: das Licht). Dabei sucht die iranische "Sittenpolizei" bei den sogenannten "Anleitungspatrouillen" nach Frauen, die sich weigern, das Kopftuch zu tragen.

Eine 25-jährige Studentin, beschrieb im Gespräch mit der DW, wie sie am 20. April auf dem Weg zur Universität in den Straßen von Teheran angesprochen wurde, weil sie kein Kopftuch trug. Sie sei von Dutzenden Polizeibeamtinnen umringt worden, die von ihr verlangten, ihr Haar zu bedecken. Als sie sich wehrte, seien diese schnell gewalttätig geworden, rissen ihr einige Haare aus und belästigten sie verbal, während sie sie in einen Polizeiwagen zerrten.

Deutschland | Protest Rapper Toomaj Salehi
Protestaktion in der deutschen Hauptstadt Berlin am 28.04.2024null Ebrahim Noroozi/AP Photo/picture alliance

"Ich rief laut, dass meine Kleiderordnung meine eigene Sache ist. Sobald ich das sagte, begannen die Beleidigungen und die Gewalt", sagte die junge Frau, die anonym bleiben wollte. Die Beamtinnen beschimpften sie als Prostituierte und sagten ihr, sie müsse die Gesetze des Iran respektieren, die sich aus den islamischen Geboten ergeben.

#Mahsaamini

"In diesem Moment wusste ich nicht ganz, was geschah", sagt sie, "ich wusste nur, dass sie mich schlugen. Später sah ich, dass ich an mehreren Stellen meines Körpers Prellungen hatte". Sie habe an die Bewegung "Frauen, Leben, Freiheit" gedacht, so die Studentin weiter. "Ich erinnerte mich an Jina Mahsa Amini und andere Frauen, die ihr Leben während des Frauenaufstands für Leben und die Freiheit geopfert hatten. Und ich sagte mir, dass ich stark sein müsse."

Sacharow-Preis für Iranerin Jina Mahsa Amini

Die Massenbewegung für mehr Frauenrechte begann im September 2022, als die 22-jährige Jina Mahsa Amini im Polizeigewahrsam starb. Sie war von der Sittenpolizei in Teheran festgenommen worden, weil sie einen Hidschab angeblich nicht korrekt getragen hatte. Nach dem Tod Aminis kam es zu den größten Demonstrationen, die der Iran seit Jahrzehnten erlebt hatte. Tausende von Menschen gingen in iranischen Städten auf die Straße, um für die Rechte der Frauen zu demonstrieren. Die Behörden unterdrückten die Proteste mit Gewalt.

Dabei starb auch die 16-jährige Aktivistin Nika Shakarami. Sie war kurz nach dem Tod von Amini festgenommen worden. Die iranischen Behörden behaupteten, sie habe in der Haft Selbstmord begangen. Laut Recherchen von CNN und BBC liegen aber jetzt deutliche Hinweise vor, dass sie von iranischen Sicherheitskräften misshandelt und dann umgebracht wurde. Eine UN-Untersuchungsmission schätzt, dass insgesamt 551 Demonstrierende getötet wurden.

Die Studentin berichtete weiter, dass sie in Polizeigewahrsam genommen worden sei. Dort seien mindestens fünf weitere Frauen festgehalten worden, weil sie kein Kopftuch trugen. Nach einigen Stunden kam sie wieder frei, musste sich aber schriftlich verpflichten, "die islamischen Bekleidungsvorschriften zu befolgen", um eine weitere Strafverfolgung zu vermeiden.

EU-Parlamentarierin: Iran-Politik der EU ist gescheitert

Erneutes hartes Durchgreifen

In den letzten Wochen kursierten in den sozialen Medien im Iran viele ähnliche Berichte über exzessive Gewalt gegen Frauen. Viele Frauen haben dort ihre Erfahrungen mit Polizeigewalt, Verhaftungen und Geldstrafen gepostet. Das Parlament und der Wächterrat, beide gesetzgebende Organe, beraten derzeit über Gesetzesentwürfe, die ein hartes Durchgreifen gegen Frauen ermöglichen sollen, die sich der "obligatorischen Kopftuchpflicht" in der Öffentlichkeit widersetzen.

Die neue Welle der Einschüchterung startete nach der Festrede von Ayatollah Ali Chamenei zum Zuckerfest am 10. April, dem Feiertag, der den Fastenmonat Ramadan beendet. Dabei betonte Chamenei die Notwendigkeit der Kopftuchpflicht und ordnete Maßnahmen gegen "religiöse Normbrecher" an. Nach dieser Rede verstärkte die Sittenpolizei ihre Straßenkontrollen.

Mahtab Mahboub, eine in Deutschland lebende iranische Frauenrechtsaktivistin, erklärte gegenüber DW, dass die verstärkte Unterdrückung der Frauenrechte zeitgleich mit den zunehmenden Spannungen mit Israel kein Zufall sei.

"Iran will Konflikt mit Israel nicht eskalieren lassen"

"Die Frage der Sicherheit der Islamischen Republik steht im Mittelpunkt der Politik: die äußere Sicherheit durch Angriffe auf den 'Feind' und die innere Sicherheit durch die Kontrolle der Körper von Frauen und der Minderheit mit anderen Geschlechtsidentitäten", sagte sie. Frauen und Demonstranten würden "als potenzielle Agenten der Rebellion" angesehen, die "das obligatorische Wertesystem" der Islamischen Republik infrage stellen können.

Osman Mozayan, ein Rechtsanwalt in Teheran, sagte gegenüber DW, dass in den letzten Tagen viele unrechtmäßige Verhaftungen stattgefunden hätten. "In einigen Fällen wurden die Bankkonten von Frauen gesperrt oder ihre Autos beschlagnahmt. Einige Studenten wurden am Zugang zur Universität gehindert. Einige durften nicht zur Arbeit fahren. Ihr gesellschaftliches Leben wurde zerrissen."

Forderung nach Veränderungen

Viele sind der Meinung, dass die landesweiten Proteste mit dem Slogan "Frauen, Leben, Freiheit" die größte Herausforderung seit der Gründung der Islamischen Republik im Jahr 1979 im Lande darstellen. Das Regime war jedoch nie bereit, auf die Forderungen der Demonstrierenden einzugehen, insbesondere nicht auf die Abschaffung der Kopftuchpflicht. Die Friedensnobelpreisträgerin Narges Mohammadi, die derzeit im Teheraner Evin-Gefängnis in Haft sitzt, bezeichnete die jüngste Zunahme der Gewalt gegen Frauen und Jugendliche als ein Zeichen der "Verzweiflung" der Islamischen Republik.

Der Kampf einer iranischen LGBTQ-Aktivistin in Deutschland

Eine Gruppe von Müttern, die ihre Kinder während der Proteste zu "Frauen, Leben, Freiheit" verloren haben, veröffentlichte kürzlich eine Erklärung, in der sie die "brutale und anhaltende Unterdrückung durch dieses frauenfeindliche Regime" verurteilten. Darin heißt es: "Wir Frauen lassen uns nicht als Bürgerinnen zweiter Klasse betrachten, über die die patriarchalische Regierung und Gesellschaft entscheiden wollen."

Eine Journalistin in Teheran, die mit DW unter dem Pseudonym "Rojina" sprach, kann trotz des jüngsten Anstiegs der Gewalt keine Veränderung auf den Straßen erkennen: "Jeden Tag sieht man viele Frauen ohne Kopftuch in der Öffentlichkeit. Sie haben akzeptiert, dass Freiheit ihren Preis hat. Und sie sind entschlossen, nicht in das Leben vor der Bewegung 'Frauen, Leben, Freiheit' zurückzukehren."

Die Frauenaktivistin Mahboub steht in Kontakt mit vielen Frauen im Iran. Sie sagte, die Bewegung "Frauen, Leben, Freiheit" habe "den Frauen das verlorene Selbstvertrauen zurückgegeben und die gesamte Gesellschaft daran erinnert, dass die Freiheit der Frauen und die der am stärksten marginalisierten Gruppierungen das Maß für alle Freiheiten der Gesellschaft ist". "Einige Frauen, die immer noch ohne Hi­dschab das Haus verlassen, fordern mutig ihre verlorene Würde zurück. Sie bestehen darauf, dass niemand das Recht hat, über ihre Körper zu entscheiden", sagt sie. "Mein Körper gehört mir."

Aus dem Englischen adaptiert von Dang Yuan.

Welche Folgen hätte ein IStGH-Haftbefehl gegen Netanjahu?

Die Regierung in Tel Aviv schaut laut israelischen Medienberichten beunruhigt Richtung Den Haag in den Niederlanden. Dort hat der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) seinen Sitz. Und der werde, so heißt es, möglicherweise noch in dieser Woche internationale Haftbefehle gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu, Verteidigungsminister Joav Galant sowie Israels Generalstabschef Herzi Halevi ausstellen.

Israels Premierminister hatte sich bereits am vergangenen Freitag zu einem möglichen Strafverfahren vor dem IStGH geäußert: Unter seiner Führung werde Israel niemals irgendeinen Versuch des Strafgerichtshofs akzeptieren, sein "Recht auf Selbstverteidigung zu untergraben", schrieb Netanjahu bei X, vormals Twitter.

Welche Art Strafverfahren könnte der IStGH gegen Netanjahu einleiten?

Der Internationale Strafgerichtshof ermittelt ausschließlich gegen Einzelpersonen. Er wird nur tätig, wenn eine Person im Verdacht steht, in einer leitenden Position eines der vier Kernverbrechen verantwortet zu haben: Völkermord, schwere Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder einen Angriffskrieg.

Tatsächlich ermittelt der IStGH bereits seit 2021 wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen gegen mögliche Verantwortliche in Israel. Allerdings: Das Strafgericht ermittelt nach eigenen Angaben wegen desselben Vorwurfs auch gegen Kämpfer der Hamas. Außerdem laufen Untersuchungen zu Gewalttaten israelischer Siedler im Westjordanland.

Blick auf das Gebäude und den Eingang des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, Niederlande
Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag ermittelt die Schuld von Einzelpersonennull Klaus Rainer Krieger/reportandum/IMAGO

Dabei sollen auch die jüngsten Entwicklungen im Israel-Hamas-Krieg berücksichtigt werden. Der hatte begonnen, nachdem die militant-islamistische Hamas am 7. Oktober 2023 in Israel etwa 1200 Menschen getötet und mehr als 240 Geiseln in den Gazastreifen verschleppt hatte. Die Hamas wird von zahlreichen westlichen Staaten, darunter die EU-Mitgliedsstaaten und die USA, als Terrororganisation eingestuft.

Durch israelische Militäraktionen als Antwort auf den Anschlag sind nach Angaben der Hamas-geführten Behörden im Gazastreifen seitdem mehr als 34.000 Menschen getötet worden. Diese Angaben lassen sich nicht unabhängig prüfen.

Wann darf der Internationale Strafgerichtshof gegen israelische Bürger ermitteln?

Grundsätzlich darf der IStGH nur dann tätig werden, wenn Staaten die oben genannten Verbrechen auf nationaler Ebene nicht verfolgen können oder wollen. Dass israelische Gerichte ein Strafverfahren gegen den Regierungschef, seine Minister oder die Armeeführung einleiten könnten, ist nicht zuletzt wegen des anhaltenden Krieges derzeit unwahrscheinlich.

Gaza-Helfer: Situation "nicht in Worte zu fassen"

Außerdem muss entweder der Heimatstaat des Täters das Gericht anerkennen - das tut Israel nicht - oder aber das Land, in dem die mutmaßlichen Verbrechen begangen wurden. Dies könnte hier zum Tragen kommen, denn die  Palästinensischen Gebiete sind dem Vertrag über den IStGH beigetreten. Neben Israel erkennen auch die USA, China, Russland, Indien, fast alle arabischen Staaten sowie Iran den Internationalen Strafgerichtshof nicht an. 

Ist keines der betroffenen Gebiete IStGH-Vertragspartner, kann nur der UN-Sicherheitsrat dem Gerichtshof per Resolution auftragen. Dies war beispielsweise im Falle Sudans und Libyens der Fall.

Welche Folgen hätte ein internationaler Haftbefehl für Israels Premierminister?

Ein Haftbefehl ist noch kein Urteil. Er ist zunächst einmal ein Zeichen dafür, dass der IStGH erhobene Vorwürfe gegen eine verdächtige Person ernst genug nimmt, um ihnen nachzugehen.  

Einen Haftbefehl erlässt der IStGH laut seiner Internetseite nur, wenn dies den Richtern notwendig erscheint, damit die betreffende Person überhaupt zur Verhandlung erscheint. Denn dies ist für ein IStGH-Verfahren notwendig. Andere Gründe können sein, dass die Richter befürchten, die Beschuldigten könnten das Verfahren behindern oder weitere Straftaten begehen.

Da der IStGH aber keine eigene Polizei hat, die die Verdächtigen festnehmen könnte, ist es sehr unwahrscheinlich, dass Mitglieder der israelischen Regierung tatsächlich in Den Haag vor Gericht stehen werden.

Allerdings würde ein Haftbefehl die internationale Bewegungsfreiheit Netanjahus und der möglicherweise ebenfalls gesuchten Minister stark einschränken. Denn alle 124 IStGH-Vertragspartner sind dazu verpflichtet, gesuchte Personen auf ihrem Staatsgebiet festzunehmen und an den Gerichtshof zu überstellen.

Scheich Abdullah bin Zayid Al Nahyan begrüßt Wladimir Putin auf einem Rollfeld am Flughafen
In den Vereinigten Arabischen Emiraten muss Russlands Staatschef Wladimir Putin nicht fürchten, festgenommen und nach Den Haag gebracht zu werden - hier mit VAE-Außenminister Scheich Abdullah bin Zayid Al Nahyan null Andrei Gordeyev/Sputnik/AP Photo/picture alliance

So bleibt etwa Wladimir Putin den meisten internationalen Treffen fern, seit das Gericht einen Haftbefehl gegen ihn wegen der Verschleppung ukrainischer Kinder nach Russland erlassen hat. Russlands Staatschef reist nur in Staaten, die den IGStH nicht anerkennen.

Was hat der mögliche Haftbefehl mit der Völkermordklage gegen Israel zu tun?

Die Ermittlungen des IStGH sind nicht zu verwechseln mit dem Vorwurf des Völkermords, den einige Staaten gegen Israel erhoben haben. Unter anderem Südafrika hat den Staat Israel vor dem  Internationalen Gerichtshof (IGH) wegen der vielen Kriegstoten im Gazastreifen verklagt. Der IGH hat seinen Sitz ebenfalls in Den Haag, ermittelt aber nicht gegen Einzelpersonen und erlässt keine Haftbefehle. Er ist ausschließlich für Streitigkeiten zwischen Staaten zuständig.

Ende Januar dieses Jahres hatte der IGH zwar die "Gefahr eines Völkermords im Gazastreifen" gesehen. Dem Eilantrag Südafrikas, dass Israel alle Kampfhandlungen einstellen soll, wurde aber nicht stattgegeben. Nach dieser ersten Entscheidung dürfte das Völkermord-Verfahren am IGH nun über Monate oder Jahre weiterlaufen.

Faktencheck: Weicht Biden Sanktionen gegen Iran auf?

Seit der Revolution 1979 wird der Iran, das Land mit den weltweit größten Rohöl- und Gasreserven, immer wieder mit Sanktionen belegt. Angesichts der Drohnenangriffe auf Israel haben sowohl die USA als auch die EU ihre Sanktionen gegenüber Teheran erneut verschärft. Wie wurden die zahlreichen Sanktionen umgesetzt?

UN-Waffenembargo und die USA

Behauptung: "Biden hat dem Auslaufen der UN-Sanktionen gegen iranische Drohnen und ballistische Raketen zugestimmt", schreibt die US-amerikanische Fernsehkommentatorin Morgan Ortagus auf Twitter. Ortagus war von 2019 bis 2021 Sprecherin des US-Außenministeriums unter US-Präsident Trump. 

DW Faktencheck: Falsch.

Das UN-Waffenembargo gegen den Iran ist bereits am 18. Oktober 2020 ausgelaufen. Dies war vor dem Beginn der Amtszeit von Präsident Joe Biden am 20. Januar 2021.

Das Embargo endete genau fünf Jahre nach dem Tag der Annahme des internationalen Abkommens über das iranische Atomprogramm, genannt Joint Comprehensive Plan of Action (JCPOA). 

Im Rahmen des Abkommens beschloss der UN-Sicherheitsrat am 20. Juli 2015 (Resolution 2231), das bis dahin geltende strikte UN-Waffenembargo gegen den Iran zu lockern.

Rafael Mariano Grossi, Generaldirektor, Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO)
Rafael Mariano Grossi, Generaldirektor der Internationalen Atomenergie-Organisation, hat den Iran mehrfach aufgefordert, die Überwachung von Anlagen durch IAEA-Inspektoren wieder zu erlaubennull Roland Schlager/APA/dpa/picture alliance

Die Lockerungen sollten allerdings erst gewährt werden, wenn die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) gegenüber dem UN-Sicherheitsrat bestätigt, dass der Iran die im JCPOA festgelegten Maßnahmen im Zusammenhang mit seinem Atomprogramm ergriffen hat.

Unter Trump zogen sich die USA am 8. Mai 2018 aus dem internationalen Atomabkommen mit dem Iran zurück. Am 6. August 2018 verhängten die USA erneut Sanktionen

Der damalige US-Außenminister Michael Pompeo erklärteim September 2020, dass auch die UN-Lockerungen rückgängig gemacht und die in der Resolution 2231 des UN-Sicherheitsrates verfügten Sanktionen gegen den Iran wieder eingesetzt würden. 

Dies war jedoch nicht der Fall. Der UN-Sicherheitsrat hatte bereits am 26. August 2020 eine entsprechende Initiative der USA mit der Begründung blockiert, dass die USA einseitig aus dem JCPOA ausgestiegen und deshalb nicht befugt seien, Änderungen vorzuschlagen. 

Seitdem haben die USA mehrfach ihre eigenen Sanktionen gegenüber dem Iran verschärft. Eine komplette Liste aller seit 2001 verhängten US-Sanktionen gegen den Iran hat das United States Institute for Peace zusammengestellt. 

Iran | Straßenszene vor Banner mit Raketen in Teheran
Mit einem riesigen Banner macht das Regime in Teheran Werbung für seine ballistischen Raketennull AFP

Israel-Angriff und Urananreicherung dank Sanktionspausen?

Behauptung: "Seit seinem Amtsantritt hat Biden Direktzahlungen an Teheran und Sanktionserleichterungen vorgenommen. Dieses Geld hat der Iran genutzt, um Israel anzugreifen," empört sich eine Twitter Userin . Der republikanische US-Kongressabgeordnete Bryan Steil pflichtet ihr bei und schreibt: "Präsident Biden hat eine Ausnahmeregelung für Sanktionen verlängert, die dem Iran Zugang zu zehn Milliarden Dollar gewährt. In der Zwischenzeit reichert der Iran Uran fast auf nuklearen Niveau an und seine Stellvertreter schießen Raketen auf unsere Soldaten ab, drei wurden getötet". 

DW-Faktencheck: Unbelegt.

Richtig ist, dass US-Präsident Joe Biden während seiner Amtszeit mehrfach Sanktionsaussetzungen angeordnet hat. Es folgen einige Beispiele.

So versuchte Biden im Februar 2022 mit "sanction waivers" für russische, chinesische und europäische Unternehmen eine Wiederbelebung der indirekten amerikanisch-iranischen Gespräche über das Atomabkommen von 2015 zu ermöglichen.

Iran-Atomabkommen: Kommt mit Biden ein neuer Deal?

Im Juli 2023 gab US-Außenminister Antony Blinken nach einem Treffen mit seinem irakischen Amtskollegen Fuad Hussein in Riad die Freigabe von iranischen Guthaben im Irak bekannt. Damit konnte der Irak einen Teil seiner Erdgasschulden in Milliardenhöhe gegenüber dem Iran begleichen. Dieser hatte seine Lieferungen für den Irak eingestellt. 

Im August 2023 gewährte Präsident Biden Teheran Zugang zu rund sechs Milliarden US-Dollar an Erdöldevisen. Das Geld befand sich auf einem gesperrten Bankkonto in Südkorea. Im Gegenzug wurden fünf amerikanische Geiseln aus dem Iran freigelassen.

Im März dieses Jahres erlaubte die US-Regierung dem Iran erneut Zugang zu zehn Milliarden US-Dollar. Auf einer Pressekonferenz am 15. April verteidigte Sprecher John Kirby die Maßnahme: "Von diesen Geldern - die übrigens von der Regierung Trump auf einem Konto eingerichtet wurden - geht nichts direkt an den Obersten Führer der Revolutionsbrigaden IRGC. Sie können nur für humanitäre Zwecke verwendet werden."

Iran I Männer feiern des Raketen- und Drohnenangriff des IRGC auf Israel vor Moschee in Teheran
In Teheran feiern Männer auf der Straße den Angriff der islamistischen Revolutionsbrigaden auf Israel am 15. Aprilnull Morteza Nikoubazl/NurPhoto/picture alliance

Claude Rakisits vom Centre for Security, Diplomacy and Strategy (CSDS) in Brüssel widerspricht. Er ist davon überzeugt, dass "die Sanktionsaussetzungen es Teheran leichter gemacht haben, Waffen zu produzieren und zu kaufen". 

Belegbar ist diese Behauptung nicht. Im Gegensatz zu Kritiker Rakisits verteidigt US-Präsident Biden in einem Statement vom 18. April seine Sanktionspolitik.

"Während meiner Regierung haben die USA über 600 Individuen und Organisationen mit Sanktionen belegt, darunter den Iran und seine Verbündeten Hamas, Hizbollah, und Huthis. Dies werden wir fortsetzen und weitere Sanktionen verhängen, die Irans Rüstungsindustrie schwächen." 

Waffenexporte und Wachstum trotz Sanktionen 

Behauptung: "Die Sanktionen gegen den Iran sind nicht sinnvoll, wenn sie nicht auch China mit einbeziehen", schreibt die deutsch-iranische Fernsehjournalistin Natalie Amiri auf Twitter. Andere User bezeichnen die Sanktionen sogar als "komplett sinnlos", da ihre Einhaltung nicht durchgesetzt werde

DW-Faktencheck: Richtig.

Die Sanktionen schwächen Wirtschaft und Entwicklung, reduzieren Investitionen und führen zu wachsender Arbeitslosigkeit und Armut. Die Entwicklung des iranischen Bruttoinlandsproduktes pro Kopf seit 1979 (siehe Grafik) verdeutlicht die Rückschläge, die der Iran durch die Strafmaßnahmen hinnehmen musste, etwa den rapiden BIP-Rückgang nach dem Ölembargo 2012.

Dennoch liegt die Wirtschaft des Landes trotz der internationalen Strafmaßnahmen nicht am Boden.

"Das Wirtschaftswachstum hat sich in den vergangenen vier Jahren trotz der anhaltenden Sanktionen und erhöhter geopolitischer Unsicherheit als resilient erwiesen", heißt es in der Analyse der Weltbank

Andere Sanktionsexperten bestätigen diese Einschätzung: "Westliche Sanktionen gegen Drohnen und Waffen aus dem Iran haben nicht funktioniert, weil Teheran die Waffen oder Komponenten dafür woanders herbekommt", erklärt Sanktionsexperte Claude Rakisits auf Anfrage der DW. Die Lieferungen kämen hauptsächlich aus China, Nordkorea und Russland. Rakisits: "Es besteht eine effektive Allianz zwischen diesen vier Diktaturen."

Was bringen Sanktionen gegen Iran und Russland?

Der Iran weiß es, China weiß es und die US-Regierung weiß es offenbar auch: Trotz bestehender Sanktionen gegen die Ölwirtschaft der Islamischen Republik wird Öl aus dem Iran in Rekordhöhe ins Reich der Mitte verschifft.

"Wenn man der chinesischen Regierung glaubt, importiert das Land kein Öl aus dem Iran. Null. Kein einziges Barrel. Stattdessen importiert es viel malaysisches Rohöl. So viel, dass das Land nach offiziellen chinesischen Zolldaten mehr als doppelt so viel malaysisches Öl kauft, wie Malaysia tatsächlich produziert", beschreibt der Rohstoff-Spezialist Javier Blas den Etikettenschwindel im Nachrichtenportal Bloomberg.

Mit einem einfachen Trick, so Blas, wird aus iranischem Rohöl malaysisches. Laut Ölhändlern sei das "der einfachste und billigste Weg, die US-Sanktionen zu umgehen". Und so wurde aus Malaysia im vergangenen Jahr Chinas viertgrößter ausländischer Öllieferant, hinter Saudi-Arabien, Russland und dem Irak.

Als Dreh- und Angelpunkt für die Umgehung von Sanktionen nutzt der Iran seit vielen Jahren die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE). Über Dubai kommen häufig die Waren in die Islamische Republik, die auf langen Verbotslisten der USA oder der Europäischen Union stehen. Dazu werden verbotene Öllieferungen über die Emirate eingefädelt und abgewickelt.

VAE Dubai Skyline
Finanzplatz Dubai: Auf der grauen Liste der Financial Action Task Force wegen Problemen bei Geldwäsche und Terrorfinanzierung null Imaginechina/Tuchong/imago images

Ganz gleich, ob es um Ersatzteile für Fahrzeuge oder Flugzeuge geht: Längst hat der Iran seine Lieferketten so modifiziert, dass man über Handels- und Finanzplätze wie Dubai alles beschaffen kann, wofür es im Iran eine Nachfrage gibt. Das ist zwar teurer als der direkte Import. Aber die westlichen Sanktionen, vor allem die der USA, werden so seit vielen Jahren umgangen.

Umschlagplatz Zentralasien

Auch Russland verfügt über solche Umschlagplätze für sanktionierte Güter. Auch hier gibt es kaum ein Produkt, das nicht über ein Drittland beschafft werden kann: Etwa Ersatzteile für deutsche Luxus-Autos oder elektronische Bauteile, die zur Steuerung von Waffen gebraucht werden. Eine Schlüsselrolle spielen dabei frühere Sowjetrepubliken in Zentralasien. Moskaus Vorteil dabei: Die Russische Föderation ist mit Ländern wie Kasachstan oder Kirgisistan in einer Zollunion verbunden, in der der grenzüberschreitende Warenverkehr ein Kinderspiel ist.

So gelangen sanktionierte Produkte aus dem Westen, die nach den Sanktionen tabu für Russland sind, nahezu ungehindert über internationale Grenzen. Kontrolle? Fast unmöglich. Allein die Grenze zwischen der Russischen Föderation und Kasachstan ist rund 7500 Kilometer lang. Auch Armenien ist so ein Beispiel: Um knapp 1000 Prozent legte der Verkauf deutscher Autos und Autoteile im vergangenen Jahr zu.

Seit der Verhängung des mittlerweile 13. Sanktionspakets der EU gegen Moskau am 22. Februar 2024 ist Russland weltweit das Land, das mit den meisten Sanktionen belegt ist. Das belegen Zahlen von Castellum.AI, einer privatwirtschaftlichen Compliance-Plattform aus den USA. Und trotzdem führt Russland seinen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine weiter und die russische Wirtschaft ist alles andere als zusammengebrochen.

Gerade erst hat die russische Regierung ihre Prognose für das Wirtschaftswachstum in diesem Jahr von 2,3 auf 2,8 Prozent angehoben. Der Internationale Währungsfonds (IWF) geht sogar von einem Plus beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 3,2 Prozent aus. Die Begründung ist für westliche Sanktions-Befürworter ernüchternd: Hohe Staatsausgaben und Investitionen im Zusammenhang mit dem Krieg gegen die Ukraine sowie - trotz westlicher Sanktionen - hohe Einnahmen aus dem Ölexport würden Russlands Wirtschaft antreiben, so der der IWF.

Kasachstan Almaty | Filiale der russischen Alfabank
Starke Präsenz in Zentralasien: Filiale der sanktionierten russischen Alfabank in Kasachstannull Anatoly Weisskopf/DW

Noch nie so viele Sanktionen verhängt

Der Iran war bis zum Kriegsausbruch in der Ukraine das am stärksten sanktionierte Land der Welt - bis zum Angriff Russlands auf die Ukraine. Danach wurden von den USA und der EU immer neue Sanktionsrunden beschlossen. Mittlerweile unterliegt Russland mehr als 5000 verschiedenen gezielten Sanktionen, mehr als der Iran, Venezuela, Myanmar und Kuba zusammen.

Die Sanktionen, die als Reaktion auf Putins Angriffskrieg verhängt wurden, richten sich gegen Politiker und Beamte (einschließlich Putin selbst), Oligarchen, Großunternehmen, Finanzinstitute und den militärisch-industriellen Komplex, listet Castellum.AI auf. Ergänzt werden sie durch weitreichende Sanktionen im Finanzbereich, die den Zugang russischer Banken zu den internationalen Finanzmärkten einschränken - etwa durch den Ausschluss vom System für den internationalen Zahlungsverkehr Swift. Außerdem verwehren die Zwangsmaßnahmen der russischen Zentralbank den Zugriff auf Währungsreserven und Goldbestände, die sich in den G7-Ländern befinden.

Der Haken daran ist, dass nur die Sanktionen, die vom UN-Sicherheitsrat verhängt werden, auch völkerrechtlich bindend sind. Und dass es eben eine ganze Reihe von Staaten wie Indien, Brasilien oder China gibt, die sich diesen Sanktionen nicht anschließen.

Kaum eine Alternative

Warum also immer neue Sanktionen verhängen, wenn ihr Ziel, das Verhalten von Staaten zu ändern, nicht erreicht werden kann? "Wir leben im Zeitalter der Sanktionen. Wenn keine Sanktionen verhängt werden würden, wäre das schon fast wie eine unausgesprochene Unterstützung. Oder als ob man auf diesen völkerrechtswidrigen Angriff gar nicht antworten würde", sagt Christian von Soest, Sanktions-Experte vom German Institute for Global and Area Studies (GIGA) im Interview mit der DW.

Für den Autor des Buches Sanktionen: Mächtige Waffe oder hilfloses Manöver?, das vor einem Jahr erschienen ist, haben zwar die Sanktionen nicht zu einer Änderung des Verhaltens Russlands oder des Iran geführt. Doch die USA und die EU sind dabei, ihre Maßnahmen nachzuschärfen. So bereiten die USA nach einem  Bericht des Wall Street Journal Sanktionen gegen eine Reihe von chinesischen Banken vor, um sie vom weltweiten Finanzsystem auszuschließen. Die Behörden wollen so Pekings Finanzhilfen für die russische Rüstungsproduktion unterbinden, berichtet die US-Finanzzeitung unter Berufung auf "mit der Angelegenheit vertraute Personen".

Auch die EU hat sich neu formiert, um ihre Sanktionen besser durchzusetzen. So gibt es seit Januar 2023 mit dem Top-Diplomaten David O'Sullivan einen EU-Sanktionsbeauftragten. "Seine Aufgabe ist es zum Beispiel auch, in die Post-Sowjetstaaten in der Nachbarschaft von Russland zu reisen und die Regierungen dort zu überzeugen, die Sanktionen stärker durchzusetzen", erklärt Christian von Soest.

"Es gibt jetzt auch eine sogenannte No Russia Clause, mit der man Exporteure dazu zwingen will, nachzuweisen, dass die gelieferten Güter, Maschinen, Fahrzeuge, Autoteile, eben nicht nach Russland weitergehen. Eine solche Endverbleibs-Klausel kennen wir aus dem Kriegswaffenkontrollgesetz", fügt der Sanktions-Experte hinzu.

Auch im Fall der Vereinigten Arabischen Emirate steigt der Druck: "Die VAE sind zu einem Zufluchtsort für die Umgehung iranischer und russischer Sanktionen geworden", konstatiert die US-Denkfabrik Atlantic Council. Deshalb hat die Financial Action Task Force (FATF), ein internationales Koordinierungsgremium, das von den G7, der EU und der Industriestaatenorganisation OECD zur Bekämpfung von Geldwäsche gegründet wurde, die VAE auf die so genannte graue Liste gesetzt. Auf dieser Liste landen Länder, in denen die FATF-Ermittler ein erhöhtes Risiko für Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung sehen.

"Man hat das generelle Problem erkannt, dass es Ausweichmöglichkeiten sowohl für Russland, aber auch für den Iran gibt, die Sanktionen zu umgehen", sagt Christian von Soest. Jetzt müsse man sehen, was die verschiedenen Maßnahmen bringen.

Kann sich der Iran einen Krieg mit Israel leisten?

Spannungen zwischen Israel und Iran: Wird Syrien zum permanenten Schlachtfeld?

Gerade eine Woche lag der mutmaßliche israelische Angriff auf den iranischen Botschaftskomplex in Damaskus zurück, da ging der syrische Diktator Baschar al-Assad demonstrativ zur Tagesordnung über. In Begleitung seiner Frau und seiner Familie zeigte er sich zum Ende des islamischen Fastenmonats Ramadan in der Öffentlichkeit, nahm an den Gebeten teil und spazierte durch die Straßen der Stadt.

Offenbar störte es ihn nicht, dass ein ausländischer Staat nur wenige Tage zuvor mehrere hochrangige Generäle in der syrischen Hauptstadt getötet hatte. Doch der Spaziergang, wie auch die scheinbare Gleichgültigkeit, waren kalkuliert, sagt Haid Haid, Nahost-Experte der Londoner Denkfabrik Chatham House.

"Der Fototermin mit Assad war kein Zufall. Er ist Teil einer umfassenderen Kampagne, die zeigen soll, dass die Geschäfte wie gewohnt weiterlaufen", so Haid während einer Chatham House-Veranstaltung zu Syrien zu Beginn dieser Woche. "Offenbar wollte man damit zu verstehen geben, dass Syrien sich nicht an Vergeltungsmaßnahmen für den israelischen Angriff auf das iranische Konsulat beteiligen wird und Syrien nicht der Hauptschauplatz dieses Konflikts sein wird."

Das aber sei nicht überraschend, so Haid. Seit Beginn des Krieges in Gaza habe sich Assad - anders als andere iranische Verbündete - weitgehend zurückgehalten.

Dafür gibt es mehrere Gründe. So wäre das syrische Militär aufgrund des lang andauernden syrischen Bürgerkriegs ohnehin zu keiner Reaktion auf Angriffe fähig. Zudem liegt die Wirtschaft  des Landes in Trümmern, und Zurückhaltung in Bezug auf Gaza könnte dem Regime außenpolitisch von Nutzen sein.

Irans Transitroute durch Syrien

Das syrische Regime verfolgt diese Linie ungeachtet des Umstands, dass Israel seit über einem Jahrzehnt Ziele in Syrien angreift. Im Jahr 2012 intervenierte die Regierung Irans im syrischen Bürgerkrieg und half dem Regime in Damaskus, die syrischen Oppositionskräfte zu besiegen. Syrien zeigt sich erkenntlich und bot Iran einen Landkorridor für den Transport von Ausrüstung und Kämpfern in Richtung Libanon an.

Dort hat die Hisbollah ihren Sitz, die mächtigste der militärischen Stellvertreterorganisationen, die der Iran in der Region unterhält. Sie ist längst auch in Syrien präsent. Wie der Iran betrachtet auch die Hisbollah Israel und die USA als Feinde.

Seit geraumer Zeit versetzt die wachsende iranische Präsenz in Syrien Israels Militär in Unruhe. Man ist besorgt über iranische Truppen und Infrastruktur nahe der eigenen Grenze. Darum hat Israel regelmäßig solche Ziele in Syrien ins Visier genommen.

"Israels primäres Interesse in Syrien ist es, dort eine strategische iranische Militärpräsenz in zu verhindern", heißt es in einem Aufsatz der International Crisis Group, einer westlichen Nichtregierungsorganisation (NGO). Israel habe daher "mehr als 100 Angriffe auf Konvois und Lagerhäuser durchgeführt, die die Nachschublinien der Hisbollah in Syrien versorgen." Ab Ende 2017 habe das Tempo der israelischen Angriffe zugenommen, so die Crisis Group. Beobachtern zufolge finden die israelischen Angriffe fast wöchentlich statt.

"Iran will Konflikt mit Israel nicht eskalieren lassen"

Gründe der syrischen Zurückhaltung

Die syrische Regierung hat immer noch mit den Nachwirkungen des langjährigen Bürgerkriegs zu kämpfen und ist vornehmlich mit ihrem eigenen Überleben beschäftigt. Wenn sie überhaupt einmal auf mutmaßlich israelische Angriffe reagierte, dann meist mit Raketen, die Analysten zufolge meist als Blindgänger endeten. Ohnehin hat Israel selten syrische Einrichtungen, sondern meist gezielt iranische Objekte beschossen.

Seitdem die militante, von den USA, der EU und anderen Staaten als terroristische Vereinigung eingestufte Hamas am 7. Oktober Israel angriff, hat die Zahl der israelischen Angriffe auf Syrien jedoch zugenommen. Hatte Israel es bislang oft vermieden, iranische oder Hisbollah-Agenten dort zu töten, habe sich diese Taktik nun geändert, schrieb Chatham House-Experte Haid in einem Kommentar Anfang April. 

Ende März äußerte sich auch der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant zu Plänen, die Taktik gegenüber der libanesischen Hisbollah auszuweiten. "Wir werden überall dort angreifen, wo die Organisation operiert, in Beirut, Damaskus und an weiter entfernten Orten", sagte Gallant in israelischen Medien.

Diese neue Strategie gipfelte in dem mutmaßlich israelischen Bombenangriff auf den iranischen Botschaftskomplex in Damaskus am 1. April. Dieser führte zum ersten direkten iranischen Raketen- und Flugkörperangriff auf Israel und einem begrenzten israelischen Gegenangriff.

Eine weitere Eskalation wollten offenbar beide Seiten vermeiden. Allerdings dürften sich indirekte Angriffe von und auf iranische Verbündete fortsetzen, meinen Experten. 

Israel hat in Syrien Flughäfen, Häfen, Forschungseinrichtungen und Produktionsstätten für chemische Waffen ins Visier genommen. Im Bild: der Flughafen von Aleppo
Israel hat in Syrien bereits Flughäfen, Forschungseinrichtungen und Produktionsstätten für chemische Waffen ins Visier genommen. Im Bild: der Flughafen Alepponull Stringer/Xinhua/imago images

Weitere Angriffe auf Ziele in Syrien nicht ausgeschlossen

"In politischen Kreisen ist man der Ansicht, dass Angriffe in Syrien mit geringen Kosten verbunden sind", sagt Dareen Khalifa, Analystin bei der International Crisis Group. Dies liege auch daran, dass Syrien in der Regel auf solche Angriffe nicht reagiere.

Darum dürfte Syrien auch in Zukunft ein Ausgangspunkt für Angriffe der vom Iran unterstützten Stellvertreter im Land sein. Aus demselben Grunde werde auch Israel seine Angriffe auf iranische Einrichtungen in Syrien fortsetzen. Dies könne - wie schon bisher - immer wieder auf weitere Länder übergreifen, warnt Khalifa. "Wir beobachten eine schrittweise Eskalation in der Region."

Insgesamt verlaufe der Konflikt nach dem Muster "Wie du mir, so ich dir", so Khalifa. Wie leicht die Situation jedoch außer Kontrolle geraten könne, habe der Angriff auf die iranische Botschaft in Damaskus mitsamt seinen Folgen bereits gezeigt. 

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

Iran kurz vor der Atombombe?

Israels Wirtschaft auf dem Weg der Besserung

Obwohl Israels Regierung die statistischen Daten für das erste Quartal 2224 noch nicht veröffentlicht hat, gibt es Grund zur Erleichterung: Die jüngsten Daten vom Arbeitsmarkt, die die Zentrale Statistikbehörde gemeldet hat und die Informationen, die die Bank of Israel zu Kreditkartentransaktionen bekannt gegeben hat, legen die Annahme nahe, dass sich die Wirtschaft des Landes vom Schock des 7. Oktober und den darauf folgenden kriegerischen Auseinandersetzungen erholt.

Im vierten Quartal 2023 war die Wirtschaftsleistung nach den Terrorattacken der Hamas deutlich eingebrochen - sie sank um 5,2 Prozent im Vergleich zum dritten Quartal. Das war zum großen Teil der Belastung des Arbeitsmarktes geschuldet, als 300.000 Reservisten einberufen worden waren.

Benjamin Bental, Wirtschaftsprofessor an der Universität von Haifa, sagt, der Arbeitsmarkt erhole sich gerade vom Schock, dass viele Arbeiter und Kleinunternehmer der Wirtschaft so plötzlich verloren gegangen waren. "Der Arbeitsmarkt stabilisiert sich tatsächlich recht schnell", sagte er der DW. "Er liegt noch nicht wieder auf dem Vorkriegsniveau, aber die Arbeitslosenquote liegt gegenwärtig einen Prozentpunkt unter der vom September 2023."

Die Rückkehr vieler Reservisten von der Truppe hätte die Arbeitsmarktlage entspannt, und gleichzeitig legten die Kreditkartendaten den Schluss nahe, dass der Optimismus der Verbraucher nach dem großen Einbruch im Herbst 2023 zurückkehre.

Arbeiter auf einer Baustelle des nationalen Trinkwasser-Transport-Programms
Infrastruktur-Programme laufen trotz des Krieges weiter - wie bei diesem Trinkwasser-Transport-Programmnull RONEN ZVULUN/REUTERS

Palästinenser fehlen auf israelischen Baustellen

Dennoch, so Bental, litten einige Sektoren noch immer schwer unter dem Mangel an Arbeitskräften, allen voran das Baugewerbe. Vor allem, weil diese Branche in starkem Maße von palästinensischen Arbeitern abhing. Diese waren aus der besetzten Westbank zur Arbeit nach Israel gekommen - das ist wegen der verschärften Sicherheitsmaßnahmen nun nicht mehr möglich.

Ungefähr 75.000 Palästinenser waren täglich zwischen der Westbank und den Baustellen in Israel gependelt. Ihr Fehlen hat die Bautätigkeit fast zum Erliegen gebracht: Der Wohnungsbau brach zum Ende 2023 um 95 Prozent ein. Die Branche hat sich etwas erholt, weil sie tausende Arbeiter aus Indien, Sri Lanka und Usbekistan verpflichtete, um ihre Bauvorhaben beenden zu können. Das ganze Bild werde aber erst sichtbar, wenn alle Daten zum ersten Quartal vorliegen.

Der Krieg und das israelische Haushaltsdefizit

Der Krieg hatte die Regierung gezwungen, die Staatsausgaben dramatisch zu steigern - hauptsächlich für Verteidigungszwecke, aber auch für Wiederaufbaumaßnahmen nach den Terroranschlägen und Neubauten für zehntausende Israelis, die aus dem Norden und dem Süden des Landes hatten fliehen müssen.

Im vergangenen Monat hat Israel einen berichtigten Haushalt für dieses Jahr bekannt gegeben, der 584 Milliarden Schekel, das entspricht rund 144 Milliarden Euro, umfasst. Dabei wurde ein Staatsdefizit von 6,6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) in 2024 vorhergesagt - ursprünglich hatte man 2,25 Prozent erwartet.

Benjamin Bental sagt indes, das sei deutlich untertrieben und ein Defizit von acht Prozent sei weit wahrscheinlicher. "Das erscheint mehr oder weniger realistisch. Vorausgesetzt", fügt er mit Blick auf die Spannungen mit dem Iran hinzu, "dass es keine weitere Belastung der Sicherheitssituation gibt."

Nachthimmel über Nordisrael - Israel schießt iranische Raketen ab
Israel schießt iranische Raketen ab - dieser Konflikt stellt eine weiter Bedrohung für Israels Wirtschaft darnull Ayal Margolin/JINI/XinHua/picture alliance

Der Staatshaushalt steht ganz offensichtlich unter Druck. Die Regierung plant, etwa 56 Milliarden Euro mehr an Schulden aufzunehmen und die Steuern zu erhöhen. Das, so die Regierenden, könnte das Land leisten: "Die ökonomischen Voraussetzungen sind gegeben, sagte Yali Rothenberg, Chef-Rechnungsprüfer im Finanzministerium, der Financial Times vor Veröffentlichung des Nachtragshaushalts. "Schauen Sie auf den High-Tech-Sektor, auf die Infrastrukturmaßnahmen und auf den privaten Konsum, dann sehen Sie: Das gibt die Wirtschaft her."

Wird Israels Verteidigung zu teuer?

Vor den Oktober-Attacken der Hamas war die israelische Wirtschaft in guter Verfassung. "Die Wirtschaft lief bemerkenswert gut", so Bental. "Die Inflation sank und die fiskalische Lage war völlig unter Kontrolle." Er weist darauf hin, dass Israel vor dem Überfall ein Wachstum von 3,5 Prozent anpeilte und dass das Land trotz der Erschütterungen im letzten Quartal 2023 ein Wachstum von zwei Prozent erreichen konnte.

Bental sagt, es gebe in den Straßen der großen Städte wie Tel Aviv und Haifa nur wenig Hinweise auf eine Kriegswirtschaft oder Anzeichen von Kürzungen oder Mangel. Hier zeige sich, dass die Erfahrungen aus vorherigen Kriegen und Krisen und deren Auswirkungen auf die Wirtschaft das Handeln der aktuellen Regierung beeinflusst.

Bental ist allerdings wegen der außergewöhnlichen Ausgaben für die Verteidigung besorgt. Während des Yom Kippur Krieges 1973 hatte der Staat die Verteidigungsausgaben dramatisch erhöht, bis zu einem "total untragbaren" Level von 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Gemeinsam mit der Ölkrise und einer allgemeinen Weltwirtschaftskrise habe der Konflikt zu einem "wirklichen ökonomischen Desaster" für Israel geführt. Das hatte zu einer sehr hohen Inflation und einer wirtschaftlichen Stagnation für beinahe zehn Jahre geführt.

Militärkolonne auf den Golan-Höhen - Szene aus dem Yom Kippur Krieg
Drei Wochen im Oktober 1973: Der Yom Kippur Krieg hatte die israelische Wirtschaft auf Jahre hinaus ruiniert null Keystone Press Agency/ZUMAPRESS/picture alliance

Wenn nur die Kämpfe endeten

Bental zufolge hatte die Zweite Intifada der Palästinenser in der Zeit zwischen 2000 und 2005 mehr Ähnlichkeiten mit dem gegenwärtigen Konflikt, weil damals wie heute mehr Zivilisten involviert waren. "Man kann daraus etwas lernen über die Schäden, die aus einem Vertrauensverlust in der Bevölkerung und einem Verlust des persönlichen Sicherheitsgefühls während dieser Periode entstehen", sagt Bental. "Es gibt Schätzungen, dass während dieser Jahre des Konfliktes das israelische BIP deshalb etwa zehn Prozent verloren hat."

Als weiteres Beispiel nennt er den Konflikt mit der Hisbollah und dem Libanon 2006 - ein Konflikt der zeige, wie schnell sich die Wirtschaft erholen könne, wenn die Kämpfe aufhören. Bantal: "Wir reden von einer Situation, in der für etwa einen Monat im Norden Israels nichts mehr funktionierte. Aber wenn man sich die Daten anschaut und nach Spuren dieser Episode sucht, stellt man fest, dass da gar nichts zu sehen ist. Das ist wirklich erstaunlich. Die Wirtschaft hatte sich im Nullkommanichts wieder normalisiert."

Bental hofft, dass das auch diesmal der Fall sein wird, sobald der aktuelle Konflikt beendet ist. Im Moment wiesen einige Zeichen der Erholung in genau diese Richtung.

Dieser Beitrag ist aus dem Englischen adaptiert.

Amnesty zieht dunkle Bilanz bei Menschenrechten

In dramatischen Worten beklagt Amnesty International (ai) die Lage der Menschenrechte weltweit und spricht von einem historischen Einschnitt. Dafür macht die Organisation in ihrem am Mittwoch (24.4.2024) vorgelegten Jahresbericht den Umgang der internationalen Politik mit der Eskalation im Nahen Osten und deren fehlendes Engagement zum Schutz der palästinensischen Zivilbevölkerung verantwortlich.

Die Bundesregierung dürfe keine Waffen an Israel und andere Konfliktparteien liefern, mahnte Julia Duchrow, die Generalsekretärin von ai Deutschland, bei der Vorstellung des Berichts. Ausdrücklich kritisierte sie den Kurs der deutschen Außenministerin. Annalena Baerbock betreibe entgegen eigener Aussagen keine menschenrechtsbasierte Außenpolitik und messe im Israel-Gaza-Konflikt "mit zweierlei Maß".

Kritik an "Doppelmoral" der Europäer im Nahen Osten

Im Bericht heißt es, für Menschen weltweit symbolisierten die "Ereignisse" im Gazastreifen "ein Versagen der Institutionen, die nach dem Zweiten Weltkrieg für die Einhaltung des Universalitätsprinzips und die Achtung unserer gemeinsamen Menschlichkeit sorgen und das Versprechen 'Nie wieder‘ durchsetzen sollten". Dabei nennt ai neben israelischen Behörden und den USA "einige europäische" Staats- und Regierungschefs sowie die EU-Führungsriege. Aus deren Verhalten spreche "Doppelmoral".

Terrorangriff der Hamas auf Israel | Kibbutz Beeri
Dutzende Tote im Kibbutz Beeri - Opfer des Hamas-Terrors am 7. Oktober 2023null JACK GUEZ/AFP

Mit Blick auf den Terror der Hamas am 7. Oktober 2023 spricht Amnesty von "schrecklichen Verbrechen". Dabei hatten Akteure der militanten islamistischen Hamas, die von den USA, der EU und einer Reihe weiterer Staaten als terroristisch eingestuft wird, etwa 1200 Menschen getötet und rund 240 Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Amnesty verwendet nach Aussage von Julia Duchrow weder für die Hamas noch für andere Organisationen die Bezeichnung "Terror-Gruppe". Dieser Begriff sei völkerrechtlich nicht definiert.

Nach dem 7. Oktober habe Israel mit "Vergeltungsmaßnahmen" geantwortet, "die einer Kollektivbestrafung gleichkamen". Zivilpersonen und zivile Infrastruktur seien "vorsätzlich und unterschiedslos beschossen" worden, so die Anschuldigung. Die israelische Seite stelle die Angriffe so dar, "als wären sie mit dem humanitären Völkerrecht in Einklang. In Wirklichkeit verstießen sie gegen den Kern dieser Normen."

Gaza: Brot für die hungernde Bevölkerung

Für Palästinenserinnen und Palästinenser im Gazastreifen sei die aktuelle Lage "sogar schlimmer" als die "Nakba" im Jahr 1948. Mit diesem arabischen Begriff für "Katastrophe" bezeichnen Palästinenser die Staatsgründung Israels, die damals nachfolgende kriegerische Auseinandersetzung und die Flucht und Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung.

Amnesty, 1961 gegründet, wird seit gut zwei Jahren massiv von israelischer Seite und von jüdischen Organisationen kritisiert, weil es in einem Bericht Israel "Apartheid" vorgeworfen hatte. Israel wies den Vorwurf empört zurück und warf ai wiederholt vor, Antisemitismus zu fördern und den Konflikt einseitig zu betrachten.

Amnesty drängt seit längerem auf ein Ende der israelischen Besatzung der Palästinensergebiete einschließlich Ost-Jerusalems. Zugleich fordert die Organisation derzeit die Freilassung aller Geiseln durch die Hamas und andere palästinensische Gruppen und wirft der Hamas Kriegsverbrechen vor.

Welt macht "Zeitreise" in Jahre ohne Menschenrechte 

Amnesty-Generalsekretärin Agnes Callamard spricht in dem Bericht davon, die Welt habe gleichsam "eine Zeitreise gemacht" zurück in jene Jahre vor 1948, in der es keine als allgemeingültig festgeschriebenen Menschenrechte gegeben habe. "Ethische und rechtliche Grundfeste" seien im Jahr 2023 erschüttert worden, so die Französin Callamard. Das untergrabe in zahlreichen Ländern die Rechte auf Meinungs- und Vereinigungsfreiheit, die Gleichstellung der Geschlechter und die sexuellen und reproduktiven Rechte.

Agnes Callamard Amnesty International
Agnes Callamard, internationale Generalsekretärin von Amnesty Internationalnull Michel Euler/AP/picture alliance

Auch die russische Aggression gegen die Ukraine und chinesische Verstöße gegen das Völkerrecht werden in dem Bericht zum Thema. So sei der russische Angriff auf die Ukraine "durchgehend von Kriegsverbrechen gekennzeichnet". Konkret nennt ai die Folter und Misshandlung von Kriegsgefangenen, Attacken auf bewohnte Gebiete, Infrastruktur für zivile Energie und Getreideexporte sowie die vorsätzliche Zerstörung des Kachowka-Staudamms im Juni 2023, die "enorme Umweltschäden" zur Folge gehabt habe. Als weiteres Beispiel für die weitgehende Missachtung des humanitären Völkerrechts nennt ai den Krieg im Sudan, in dem beide Seiten Verstöße begingen.

Autoritäre Systeme auf dem Vormarsch, Frauenrechte unter Druck

Weiter beklagt Amnesty wachsenden Druck auf Menschen, die sich für wirtschaftliche und soziale Rechte einsetzten. Das gelte beispielsweise für Großbritannien, Ungarn und Indien. So würden Akteure, die sich für den Klimaschutz engagierten und den Ausbau fossiler Brennstoffe kritisierten, als "‘Terrorist*innen‘ gebrandmarkt". Im Nahen Osten führe Kritik an der jeweiligen Wirtschaftspolitik zu willkürlichem Gewahrsam. Insgesamt beklagt ai in dem Bericht ein weltweites Erstarken autoritärer Systeme. Immer weniger Menschen lebten in einer Demokratie als Gesellschaftsform, heißt es.

Ein Polizeifahrzeug der sog. Moralpolizei mit mehreren Einsatzkräften.
Jagd auf Frauen ohne Kopftuch - die sogenannte Moralpolizei im Irannull Tabnak

Mit Blick auf Rechte von Frauen beklagt Amnesty weitere Einschränkungen in Afghanistan und dem Iran. Der Iran setze auch Gesichtserkennungs-Software gegen Frauen ein, die sich nicht verschleierten. Zudem sprach ai von negativen Entwicklungen in den USA und Polen bei der gesetzlichen Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen. So seien in 15 US-Bundesstaaten Abtreibungen ganz verboten oder nur in absoluten Ausnahmefällen zugelassen. Mit Besorgnis verweist der Bericht auch auf die mehr als 60 Länder weltweit, in denen LGBTQ-Menschen in ihren Rechten eingeschränkt seien und kriminalisiert würden.

Weiter thematisiert Amnesty die Gefahren neuer Technologien und der "künstlichen Intelligenz" (KI). Man bewege sich "immer schneller" auf eine Zukunft hin, die von Konzernen und unregulierter KI "beherrscht wird". Mit Blick auf neue Technologien beklagt Amnesty "Verstöße durch Tech-Giganten", die "für kommende Zeiten nichts Gutes erahnen" ließen. 

Ausdrücklich beklagt ai den Anstieg von Juden- und Muslimfeindlichkeit im Netz. Die alarmierende Verbreitung von Hetze im Internet und anderen schädlichen Inhalten gegen palästinensische und jüdische Gemeinschaften habe auch in Europa und den USA zu einem "deutlichen Anstieg muslimfeindlicher und antisemitischer Hassverbrechen" geführt.

Der aktuelle ai-Jahresbericht umfasst 417 Seiten und erörtert die Lage der Menschenrechte in gut 150 Ländern.

 

Irak und Türkei: Wille zum Neustart - aber kein Durchbruch

An seinen Vorstellungen für eine bessere Zusammenarbeit ließ der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan während seines Besuchs in Bagdad keinen Zweifel. Der Irak solle gegen die verbotene kurdische Arbeiterpartei (PKK) vorgehen, forderte er. Der Irak müsse "von allen Formen des Terrorismus befreit werden", erklärte Erdogan laut Agenturberichten bei einem Treffen mit dem irakischen Präsidenten Abdul Latif Raschid. 

Zudem unterzeichnete Erdogan mit Iraks Regierungschef Mohammed al-Sudani ein Rahmenabkommen zur Zusammenarbeit in den Bereichen Sicherheit, Energie und Wirtschaft. Dazu gehört etwa ein rund 16 Milliarden Euro teures Straßen- und Eisenbahnprojekt. Außerdem sollen die derzeit ruhenden Ölexporte aus dem Irak in die Türkei wieder aufgenommen werden. Durch Projekte dieser Art wollten beide Länder "eine dauerhafte Kooperation in allen Bereichen aufbauen", sagte der irakische Premier beim ersten Besuch eines türkischen Spitzenpolitikers seit 2011.

Mit Blick auf die bislang eher angespannten Beziehungen beider Länder sei das Treffen ein deutlicher Schritt nach vorn, sagt Lucas Lamberty, Landesdirektor der Konrad-Adenauer-Stiftung in Bagdad. Es habe bereits im Vorfeld verschiedene Besuche türkischer Politiker in Bagdad gegeben. "Dass der Besuch von Präsident Erdogan nun überhaupt stattgefunden hat, ist an sich schon ein Erfolg." Sicher müsse man abwarten, inwiefern die nun unterzeichneten Beschlüsse auch umgesetzt würden. "Aber der gute Wille ist da", so Lamberty zur DW.

Die Beziehungen beider Staaten waren in der Vergangenheit in mehrfacher Hinsicht angespannt. Während des Krieges in Syrien etwa unterstützte die Türkei die gegen Machthaber Baschar al-Assad kämpfenden Aufständischen. Die Regierung in Bagdad hingegen stand eher dem Assad-Regime nahe - nicht zuletzt unter dem Einfluss Russlands und vor allem des Iran. Dieser unterstützt mehrere Milizen im Irak, allen voran die sogenannten Kataib Hisbollah. 

 Präsident Erdogan (r.) und Premier al-Sudani im Dialog auf dem Flughafen von Bagdad
Im Dialog: der türkische Präsident Erdogan (r.) und Iraks Premier al-Sudaninull Turkish Presidency/Murat Cetinmuhurdar/Handout/Anadolu/picture alliance

Gemeinsamer Kampf gegen die PKK?

Einer der aus türkischer Sicht wichtigsten Punkte ist der Kampf gegen die in der Türkei, Europa und den USA als Terrororganisation gelisteten PKK in Iraks Autonomer Region Kurdistan. Im Jahr 2019 hatte die Türkei Militäroperationen in der Autonomen Region Kurdistan gegen die PKK begonnen. 

Die Türkei argumentiert, nur durch die Präsenz ihrer Armee im Irak ließe sich die PKK von der Grenze fernzuhalten. Aus Sicht des Irak stellt dies jedoch eine nicht hinnehmbare Verletzung seiner territorialen Integrität dar. Doch im März dieses Jahres hatte die irakische Regierung dann überraschend der langjährigen türkischen Forderung nach einem Verbot der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) entsprochen. Wenige Tage vor dem Treffen hatte das türkische Verteidigungsministerium erklärt, seine Operationen im Norden des Nachbarlandes ausweiten zu wollen.

Vier Kämpferinnen der PKK / YPG in der Autonomen Region Kurdistan
Im Visier der türkischen Armee: Kämpferinnen der PKK im Nordiraknull Yann Renoult/Wostok Press/Maxppp/dpa/picture alliance

"Aufgrund des Autonomiestatus der Region Kurdistan-Irak, in der ein Großteil der Basen der PKK liegt, hat die Angelegenheit auch eine inner-irakische Dimension",  sagt Lucas Lamberty. "Die Regierung in Bagdad hat natürlich einige Schritte unternommen, etwa die PKK zur verbotenen Organisation erklärt. Wie sie der Türkei noch weiter entgegenkommen kann, bleibt jedoch abzuwarten." Grundsätzlich gehe es dem Irak vor allem darum, die eigene Souveränität zu stärken und zu schützen. 

Auf türkischer Seite hingegen sieht man in Erdogans Besuch bereits einen wichtigen Schritt in Richtung eines gemeinsamen Kampfes gegen die PKK. Bilgay Duman vom Zentrum für Nahost-Forschung (ORSAM) in Ankara, im DW-Gespräch: "Dieser Schritt gehört zu den größten Errungenschaften der Vereinbarungen." 

Iraks vergessene Kinder - Die Schrottsammler von Mossul

Streitpunkt Wasserressourcen 

Immerhin eine Annäherung hat es bei einem der größten Streitpunkte gegeben, der Aufteilung der Wasserressourcen.  Nicht zuletzt aufgrund des Klimawandels leidet der Irak in den vergangenen Jahren zunehmend an Wassermangel. Flossen durch die Flüsse des Landes zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch 1350 Kubikmeter pro Sekunde, hat sich die Menge inzwischen auf gerade 149 Kubikmeter reduziert. Besonders betroffen sind die Zuflüsse zu den großen Strömen Euphrat, Tigris und Diyala. Für den Rückgang mitverantwortlich ist auch die Türkei. Sie hat an Flüssen Tigris und Euphrat mehrere Staudämme errichtet. 

Nun wollen der Irak und die Türkei die gemeinsame Wassernutzung aus den Flüssen Euphrat und Tigris mit einem neuen Abkommen besser regeln. In einer für die Dauer von zehn Jahren unterzeichneten Vereinbarung geht es neben besserem Wasser-Management auch um Entwicklungsprojekte und einen besseren Austausch bei Bewässerungssystemen.

"Grundsätzlich sei die Vereinbarung zu begrüßen, sagt Irak-Experte Lamberty von der Konrad-Adenauer-Stiftung. "Die Gespräche haben zwar noch keine endgültige Lösung gebracht. Aber durch die Beschlüsse wurde nun ein Prozess angestoßen, mit dem die Herausforderungen angegangen werden können."

Angesichts der komplexen Ausgangslage stelle das Treffen für beide Seiten einen Erfolg dar, meint der türkische Experte Bilgay Duman. "Die Priorität der Türkei ist der Kampf gegen die PKK. Die Priorität des Irak ist die Wasserfrage. Nun sind sich beide Seiten in diesen beiden Punkten einig, und wir können auch diese Projekte als gemeinsamen Gewinn betrachten."

Doch eine Lösung der chronischen Wasserknappheit sei damit aus irakischer Sicht noch längst nicht geschafft - darauf verweist der Bagdader Politologe Ihsan Al-Shammari. Womöglich sei Iraks Regierung einfach zu schwach, um der Türkei gegenüber eigene Interessen durchzusetzen, so Al-Shammari zur DW.

Redaktionelle Mitarbeit: Elmas Topcu, Alla Ahmed

Dezember 2011: Letzte US-Kampftruppen verlassen Irak

 

Sanktionieren die USA erstmals eine Militäreinheit Israels?

Laut Medienberichten will US-Außenminister Antony Blinken in den kommenden Tagen Sanktionen gegen ein Bataillon der israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) ankündigen. Der Einheit "Netzah Yehuda" (Judäa für immer) werden Menschenrechtsverletzungen im Umgang mit Palästinensern im von Israel besetzten Westjordanland vorgeworfen.

Nach Informationen der Nachrichtenagentur AP wurde auf US-Seite gegen fünf Militäreinheiten wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen ermittelt. Die Sanktionen richten sich jedoch nur gegen diese eine. Die Beschränkungen sehen zwei Punkte vor: Zum einen darf keine US-Militärhilfe an "Netzah Yehuda" fließen. Zum anderen soll die Teilnahme an Ausbildungen, die von den USA finanziert werden, eingeschränkt werden. Die israelische Regierung hat bereits angekündigt, sich gegen die Sanktionen zu wehren.

Wer steckt hinter "Netzah Yehuda"?

Das Bataillon "Netzah Yehuda" wurde Ende der 1990er Jahre als religiöse Spezialeinheit gegründet, um auch ultraorthodoxen Juden (Haredim) den Militärdienst zu ermöglichen. Sie erhalten zum Beispiel Zeit für Gebete oder religiöse Studien, das Essen ist koscher und der Umgang mit Soldatinnen ist eingeschränkt. Das Bataillon ist Teil der Infanterie-Brigade Kfir. Ihm gehören nach eigenen Angaben etwa 1000 Soldaten an. Es ist innerhalb der ultraorthodoxen Gemeinschaft, die eine Pflicht zum Militärdienst weitgehend ablehnt, umstritten.

Viele der Soldaten sind freiwillig im Dienst, denn bislang sind Haredim vom Militärdienst befreit. Wer bis zu einem gewissen Alter eine Yeshiva besucht hat, also eine religiöse Schule, kann nicht eingezogen werden. Doch immer mehr Politiker fordern eine Änderung dieser Regel. Schon 1998 wurde diese Praxis von Israels Oberstem Gericht als diskriminierend bewertet. Seit dem Beginn des Kriegs gegen die von Israel, der EU, den USA und anderen Staaten als terroristisch eingestufte  Hamas im Gazastreifen im Herbst 2023 haben sich tausende Haredim freiwillig zum Dienst gemeldet.

Ultraorthodoxe Soldaten der Netza Yehuda bei einem Gebet
Das Bataillon hat sich auf Haredim eingestellt: Ultraorthodoxe Soldaten der Netzah Yehuda bei einem Gebet (Archivbild) null Menahem Kanaha/AFP/Getty Images

Sammelbecken für radikale Siedler?

Sowohl ultraorthodoxe als auch national-religiöse Israelis sind Teil der Einheit. Unter ihnen sind auch radikale Siedler aus dem besetzten Westjordanland, die den Parteien der rechtsextremen Minister Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir nahe stehen. Im Laufe der Zeit haben sich laut der US-amerikanischen Nachrichtenwebseite Axios auch immer mehr Anhänger der "Hilltop Youth" dem Bataillon angeschlossen. Als "Hilltop Youth" werden junge radikale und teilweise gewalttätige Jugendliche der Siedlerbewegung bezeichnet. Die "Hilltop Youth" wurde wegen ihrer Angriffe auf Palästinenser erst vergangene Woche mit EU-Sanktionen belegt.

Das Bataillon war ursprünglich im besetzten Westjordanland stationiert. Ende 2022 wurde es nach Nordisrael verlegt. Mittlerweile ist "Netzah Yehuda" auch am Krieg im Gazastreifen beteiligt.

Was wird dem Bataillon konkret vorgeworfen?

Das Bataillon wird laut "Times of Israel" mit Rechtsextremismus und Gewalt gegen Palästinenser in Verbindung gebracht. Die US-Regierung ist laut der Nachrichtenwebseite Axios bereits 2022 auf das Bataillon aufmerksam geworden, nachdem es zu gewalttätigen Vorfällen gegen palästinensische Zivilisten gekommen sei.

Mitglieder des Bataillons sollen einen fast 80 Jahre alten Mann stundenlang geknebelt und gefesselt haben. Der palästinensische US-Bürger starb wenige Stunden später an einem stressbedingten Herzinfarkt, vermutlich ausgelöst durch diesen Vorfall, wie die "Washington Post" und weitere Medien berichteten. Die IDF verurteilte die Tat damals als "moralisches Versagen". Es sei eine schlechte Entscheidung der Verantwortlichen gewesen. Zwei Offiziere wurden ihres Postens enthoben, ein dritter gerügt. Eine strafrechtliche Verfolgung gab es jedoch nicht. 

Der Fall erregte besonders aufgrund der doppelten Staatsbürgerschaft und des hohen Alters des Mannes Aufmerksamkeit - und weil das US-Außenministerium eine Untersuchung anforderte. Menschenrechtsverteidiger nennen jedoch weitere Fälle von Misshandlung und Folter von Palästinensern.

Wie reagiert Israel?

Die israelische Regierung reagierte empört auf entsprechende Sanktions-Berichte. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu postete in der Nacht zum Sonntag auf der Plattform X, ehemals Twitter: "Gegen die israelische Armee dürfen keine Sanktionen verhängt werden!" Seine Regierung werde mit allen Mitteln gegen die Maßnahmen vorgehen. Er schrieb weiter: "In einer Zeit, in der unsere Soldaten die Monster des Terrors bekämpfen, ist die Absicht, eine Einheit der IDF (Israel Defense Forces) mit Sanktionen zu belegen, der Gipfel der Absurdität und ein moralischer Tiefpunkt."

US-Außenminister Blinken und der israelische Ministerpräsident Netanjahu geben sich die Hand
US-Außenminister Blinken und der israelische Ministerpräsident Netanjahu: "Moralischer Tiefpunkt"?null GPO/Anadolu/picture alliance

Die IDF erklärten, dass ihnen keine Sanktionen gegen eine ihrer Einheiten bekannt seien und fügten hinzu: "Wenn eine Entscheidung in dieser Angelegenheit getroffen wird, wird sie überprüft werden."

Gibt es weitere Sanktionen der USA ?

Sanktionen gegen die israelische Armee sind neu. Dennoch haben die USA bereits Sanktionen gegen Israel ausgesprochen. Erst vor kurzem verhängten sie Strafmaßnahmen gegen extremistische Siedler sowie gegen Ben-Zion Gopstein. Er gilt als Vertrauter des rechtsextremen Ministers für Nationale Sicherheit, Ben-Gvir. Außerdem setzten die USA zwei Organisationen auf ihre Sanktionsliste, die bereits sanktionierte extremistische Siedler finanziell unterstützen. Vermögenswerte in den USA werden blockiert. Außerdem sind US-Bürgern oder Menschen, die sich in den Vereinigten Staaten aufhalten, Geschäfte mit sanktionierten Organisationen und Einzelpersonen untersagt.

Iran dementiert Angriff aus dem Ausland

"Es scheint, dass die amerikanischen Medien von einem israelischen Angriff auf den Iran geträumt haben", schrieb Hossein Dalirian, der Sprecher der iranischen Raumfahrtbehörde am Freitagmorgen (19.04.24)  auf seinem Twitter-Account. Die iranischen Luftabwehrsysteme hätten an diesem Morgen drei kleine Flugkörper abgeschossen. Nirgendwo auf der Welt würde man das als Angriff bezeichnen.

Kurz zuvor haben die US-Sender CNN und CBS News unter Berufung auf einen hochrangigen US-Regierungsvertreter berichtet, dass Israel einen Militärschlag im Iran durchgeführt habe. Das israelische Militär habe den Angriff als Vergeltungfür den Drohnen- und Raketenbeschuss Teherans am vergangenen Wochenende ausgeführt, berichtete die "Washington Post" unter Berufung auf einen namentlich nicht genannten israelischen Regierungsbeamten.

Alles ruhig in Isfahan?

In der Nähe eines großen Militärflugplatzes nahe der zentraliranischen Stadt Isfahan sollen drei Explosionen zu hören gewesen sein, berichteten iranische Staatsmedien. In Isfahan befinden sich verschiedene militärische Stützpunkte, aber auch Teile der iranischen Nuklearanlagen.

In Fernsehinterviews betonten die iranischen Behörden, dass ihre Luftabwehr drei Drohnen abgefangen habe. Berichte über einen Raketenangriff gab es nicht. Die Drohnen sollen Mini-Quadcopter gewesen sein. Ähnliche Flugobjekte mit vier Rotoren hatten im Februar 2022 einen Luftwaffenstützpunkt im Westen des Irans angegriffen. Dabei waren zahlreiche Drohnen der iranischen Luftwaffe zerstört worden. Auch damals soll Israel hinter dem Angriff gesteckt haben. 

Blick auf die Urananreicherungsanlage
(Archiv) Nuklearanlage nahe der zentraliranischen Stadt Isfahannull epa/dpa/picture alliance

Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEO) meldete am Freitag in Wien, dass keine Atomanlagen im Iran beschädigt worden seien.

Der Einsatz moderner Technologien im "Schattenkrieg" zwischen dem Iran und Israel ist nichts Neues. Im November 2020 wurde der iranische Kernphysiker Mohsen Fachrisadeh nahe Teheran von einem ferngesteuerten Killerroboter getötet. Medienberichten zufolge saß der Schütze, der den Abschussbefehl gab, 1.000 Meilen vom Tatort entfernt.

Als Vergeltung für einen Raketenangriff auf das iranische Botschaftsgebäude in der syrischen Hauptstadt Damaskus hatte der Iran Israel am 14. April mit Hunderten Drohnen und Raketen angegriffen. Nach israelischen Angaben wurden fast alle von Iran gestarteten Drohnen und Raketen abgewehrt.

Was tatsächlich in Isfahan geschehen ist, ist noch nicht klar. Alles sei ruhig, behauptete das staatliche Fernsehen, das Kamerateams nach draußen schickte und ruhige Videoaufnahmen aus der Stadt zeigte.

Screenshot aus dem TV mit Blick auf einen Kreisverkehr in Isfahan
​​Nach Berichten des staatlichen Fernsehen sei alles ruhig in Isfahannull IRANIAN STATE TV (IRIB)/AFP

Darauf sind leere Straßen zu sehen. Die Menschen gehen im Park spazieren an diesem einzigen freien Tag in der Woche. Der Verkehr wurde als normal bezeichnet. Auch der Flugbetrieb soll nach kurzer Unterbrechung wieder aufgenommen worden sein.

Zensur in sozialen Netzwerken

Im Netz findet man kaum Fotos von Bürgerjournalisten aus Isfahan. Seit Anfang der Woche geht der Geheimdienst der Revolutionsgarde gegen jede Person vor, die sich kritisch zur Israel-Politik der Islamischen Republik äußert. Viele Zivilisten im Iran haben Angst vor einem möglichen Krieg mit Israel. In privaten Gesprächen betonen viele, dass sie kein Verständnis für die feindliche Israel-Politik der Regierung hätten.

Am vergangenen Sonntag (14.04.24) veröffentlichte der Geheimdienst der Revolutionsgarde direkt nach dem Angriff auf Israel eine Mitteilung in staatlichen Medien. Er forderte alle Einwohner auf, "jede Solidaritätsbekundung mit Israel in den sozialen Netzwerken" schnellstmöglich zu melden.

In den letzten Tagen berichteten zahlreiche Aktivisten und Journalisten, dass sie von anonymen Personen angerufen, gewarnt oder sogar bedroht worden seien, damit sie die "Gefühle der Nation" im Netz nicht verletzten und keine Kritik an der Israel-Politik äußerten. Das Land befinde sich in einem Informationskrieg, hieß es von den Anrufern. 

Kann sich der Iran einen Krieg mit Israel leisten?

Faktencheck: Dubai, Überflutung und Cloud Seeding

Land unter - nicht nur in Dubai: An manchen Orten im Südosten der arabischen Halbinsel hat es innerhalb eines Tages mehr geregnet als sonst in einem ganzen Jahr. Die Folgen: Straßen stehen unter Wasser, der Flughafen von Dubai ist überflutet, und Dächer brechen unter dem Druck der Wassermassen ein.

Doch nicht nur die größte Stadt der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), sondern auch andere Teile der Region, namentlich das Nachbarland Oman, haben epochale Regenfälle erlebt. Neben Sachschäden sind mindestens 20 Todesopfer zu beklagen.

Während die Betroffenen unter den Folgen des Unwetters leiden, quellen die Sozialen Medien über von Theorien, wie es zu der Katastrophe kommen konnte.

Behauptung: "Wolkenimpfen geht schief", schreibt ein User auf X, ehemals Twitter. Ein Instagram-Kanal stellt außerdem die Frage, ob Wolkenimpfen, im Englischen Cloud Seeding, die Überschwemmungen in Dubai ausgelöst oder verstärkt haben könnte. Viele Nutzer beantworten die Frage mit "Ja".

DW Faktencheck: Falsch.

Cloud Seeding ist eine Methode, um mit künstlichen Instrumenten Regen auszulösen. Dabei versprühen Flugzeuge bestimmte Salze, die sich nicht in Wasser lösen. Die Feuchtigkeit der Wolken kondensiert dann an den Salzpartikeln und fällt als Regen zu Boden. Die Methode wird in vielen Teilen der Welt eingesetzt, teils um Niederschlag zu erzeugen, aber zum Beispiel auch mit dem Ziel, um Hagelschlag zu verhindern.

Tiktok-User-Umfrage: Ist Cloud Seeding an der Überflutung in Dubai schuld? 69% von 22.100 Antworten lauten: "Es ist wegen dem Vloud Seeding"
Zwei Drittel von 22.100 Abstimmenden in dieser Tiktok-Umfrage geben an, dass sie die Überschwemmungen dem Wolkenimpfen zuschreibennull Tiktok

Auf Satellitenbildern ist zu sehen, dass sich in den vergangenen Tagen über dem Südosten der arabischen Halbinsel und dem Süden des Iran ein Sturm mit massiven Regenwolken gebildet hatte. Durch die Wolkenbildung war die Voraussetzung zum Cloud Seeding also gegeben.

"Regenernte" in den Vereinigten Arabischen Emiraten

Das National Center of Meteorology (NCM) der VAE in der Hauptstadt Abu Dhabi erforscht das Wolkenimpfen seit den späten 1990er Jahren. Der Wüstenstaat nutzt die Methode, um die Niederschlagsmenge und damit die Menge des verfügbaren Süßwassers zu erhöhen.

Zunächst hatte "Bloomberg" berichet, dass Wolkenimpfungen durch das NCM die Regenfälle verstärkt hätten. Offizielle Stellen der VAE haben jedoch dementiert, zu Wochenbeginn überhaupt solche Maßnahmen durchgeführt zu haben. DW Factchecking hat beim NCM nachgefragt, bis zur Veröffentlichung dieses Artikels jedoch keine Antwort erhalten.

Cloud Seeding

Geantwortet hat hingegen ein Forscherteam der deutschen Universität Hohenheim, das ein gemeinsames Forschungsprojekt mit dem NCM durchführt. Über etwaige Wolkenimpfungen Anfang der Woche lägen ihm keine Informationen vor, schreibt der Meteorologe Oliver Branch.

Allerdings sei es völlig unrealistisch, eine solche Niederschlagsmenge durch Cloud Seeding zu bewirken: "Die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenhangs zwischen Cloud-Seeding-Aktivitäten und den Überschwemmungen in Dubai geht gegen Null." Viele Medien zitieren andere Experten mit ähnlichen Einschätzungen - auch "Bloomberg"

Globale Erwärmung verstärkt extreme Wetterlagen

Behauptung: "Die Effekte von globaler Erwärmung und Klimawandel sind alarmierend und werden keine Stadt verschonen", heißt es auf einem Account. Ein anderer Account wird noch deutlicher: "DIES ist der menschengemachte #Klimawandel."

DW Faktencheck: Unbelegt.

Viele Klimaforscher sehen durchaus Zusammenhänge zwischen Klimawandel und Starkregen: "Häufig spielt die globale Klimaerwärmung bei extremen Wetterereignissen tatsächlich eine Rolle, aber ihr Einfluss wird teilweise pauschal angenommen oder überbetont", sagte die Klimatologin Friederike Otto vom Imperial College in London der DW bereits vor einiger Zeit. Zu den Ereignissen in Dubai sagte sie der Nachrichtenagentur AFP, die Stürme seien "höchstwahrscheinlich" durch die globale Erwärmung verschlimmert worden.

In einem Post auf X wird ein Tiktok-Video verlinkt, das die heftigen Regenfälle in Dubai zeigt
"Dubai ist nicht dafür gemacht, so heftigen Regenfällen zu widerstehen", heißt es in dem Post auf X, der ein Tiktok-Video verlinktnull X

Die Begründung hat einen einfachen physikalischen Hintergrund: Je wärmer die Luft ist, desto mehr Feuchtigkeit kann sie aufnehmen. Deshalb regnet es in den Tropen stärker als in den gemäßigten Breiten, in denen Deutschland liegt. Regengüsse fallen in Mitteleuropa im Sommer auch deutlich heftiger aus als um die Jahreswende.

Deshalb ist unter vielen Klimaforschern Konsens, dass die Erderwärmung Extremwetterlagen zwar wahrscheinlicher macht und sie tendenziell extremer ausfallen. Sie betonen aber auch wie die Klimaforscherin Sjoukje Philip vom Königlich-Niederländischen Meteorologischen Institut (KNMI): "Extremwetter hat es immer gegeben, und wird es immer geben."

Ähnliche Falschbehauptungen tauchen übrigens immer wieder auf, wenn Starkregen zu Überschwemmungen führt - insbesondere, wenn dies in Regionen auftritt, in denen man eher Dürren als ausgiebige Niederschläge erwarten würde wie Kalifornien, Australien oder die Türkei.

Kann sich der Iran einen Krieg wirtschaftlich leisten?

Während die USA und die EU über neue Sanktionen gegen Teheran nachdenken, trumpft der Iran mit einer Erfolgsmeldung auf: Das Land hat mehr Öl als je zuvor in den letzten sechs Jahren exportiert. Und das trotz neuer US-Sanktionen, die 2018 der damalige Präsident Donald Trump in Kraft gesetzt hatte.

Irans Ölminister Javad Owji verkündete im März, dass die Ölexporte 2023 "mehr als 35 Milliarden Dollar" in die iranischen Kassen gespült hätten. Die "Feinde des Iran" wollten zwar seine Öl-Exporte stoppen, "aber heute können wir Öl überall hin exportieren, wo wir wollen, und das mit minimalen Rabatten", zitiert die Financial Times den Ölminister.

Die eingenommenen Dollar-Milliarden sind für das Land enorm wichtig, um innenpolitisch für sozialen Frieden zu sorgen. Denn ein großer Teil der Bevölkerung leidet unter den Folgen der internationalen Sanktionen: Sie haben zu einem Verfall der Landeswährung Rial geführt und die Inflation kräftig in die Höhe getrieben.

Die Inflation ist mit zuletzt rund 40 Prozent ohnehin hoch und jede Verschärfung der geopolitischen Spannungen drückt zusätzlich auf den Wert des Rial, erklärt Djavad Salehi-Isfahani, Wirtschafts-Professor an der US-Hochschule Virginia Tech, im Interview mit der DW.

Iran | Steigende Lebensmittelpreise
Die Menschen im Iran leiden seit Jahren unter starker Inflation und hohen Lebensmittelpreisen null Atta Kenare/AFP/Getty Images

Der Dollar habe in den letzten Wochen, als man mit einer Verschärfung des Konflikts mit Israel rechnete, um rund 15 Prozent an Wert gegenüber der iranischen Landeswährung zugelegt. Das habe dazu geführt, dass der Rial in den vergangenen Monaten ein Viertel seines Wertes gegenüber dem US-Dollar verloren hat, rechnet Isfahani vor. "Diese Abwertung des Wechselkurses schlägt sich sehr schnell in höheren Preisen nieder, weil der Iran viele Waren importiert." Außerdem hätten viele Waren, die man im Land selbst produziert, auch eine Importkomponente. "Ich denke daher, dass sich das Land aktuell auf eine höhere Inflation einstellen muss."

Lebensstandard auf dem Niveau von 2005

Weil sich der Iran nicht selbst mit Nahrungsmitteln versorgen kann, treiben der Wertverfall der Währung und die starke Inflation die ohnehin schon hohen Preise für Lebensmittel noch weiter oben. "Das wird sich stark auf das Wohlergehen der Armen auswirken, weil Nahrungsmittel etwa die Hälfte ihrer Ausgaben ausmachen", sagt der Experte für die Wirtschaft des Nahen Ostens.

Auch für die Mittelschicht habe sich die wirtschaftliche Lage in den letzten beiden Jahrzehnten spürbar verschlechtert. "Der Lebensstandard ist wegen der Sanktionen wieder auf dem Stand von vor 20 Jahren", so Isfahani. Die Wirtschaftsleistung liege dagegen "etwa auf demselben Niveau oder vielleicht ein paar Prozent höher". Trotzdem würde auch sie sehr empfindlich auf weitere Rückgänge reagieren.

Iran | Proteste gegen die wirtschaftspolitik der Regierung
Proteste gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung im Frühjahr 2022null Privat

Nach den Zahlen des Datendienstleisters Statista hat im Jahr 2022 die Landwirtschaft geschätzte 12,5 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) des Iran beigetragen: Die Industrie steuerte rund 40 Prozent und der Dienstleistungssektor etwa 47 Prozent bei.

Wirtschaftliche Situation steht und fällt mit Ölexporten

Dabei ist das Land extrem abhängig vom Rohöl-Export. Seit mehr als 90 Prozent des Öls nach China verschifft werden, laufen auch die Sanktionen des Westens immer mehr ins Leere. Umso mehr sorgen sich die Machthaber in Teheran, dass der Ölsektor als wichtigste Devisenquelle Ziel eines militärischen Vergeltungsschlags Israels werden könnte.

Kann sich der Iran einen Krieg mit Israel leisten?

"Ich bin mir sicher, dass sie sehr besorgt sind, weil ein Krieg, der die Infrastruktur für den Ölexport beschädigt, einen schweren Schlag für die Wirtschaft bedeuten würde", bringt es Isfahani auf den Punkt. Nach dem Schock der 2018 durch Trump verhängten Sanktionen habe der Iran mittlerweile wieder 80 Prozent seiner damaligen Exportmenge erreicht. Die meisten Experten führten das auf die Aufweichung der Sanktionen zurück, seit Joe Biden an der Macht ist, so Isfahani.

"Die iranische Wirtschaft ist in der Tat zum Teil durch die Zunahme der Ölexporte gewachsen. Nicht der gesamte Anstieg des BIP, der sich auf etwa fünf Prozent pro Jahr beläuft, was im Vergleich zu dem, was in der Region insgesamt nach der Covid-Pandemie passiert, nicht schlecht ist", erklärt Isfahani.

Allerdings habe sich das nicht in einem höheren Lebensstandard für die Bevölkerung niedergeschlagen, betont der Iran-Experte. Denn viele finanzielle Ressourcen seien in den Ausbau des Militärs und anderer Maßnahmen des Regimes geflossen.

Iran Bandar Abbas | Islamische Revolutionsgarde erhält neue Schnellboote und Schiffe
Die Islamischen Revolutionsgarden erhalten im Januar 2024 neue Ausrüstung in der Hafenstadt Bandar Abbasnull Sephanews/ZUMA Press/picture alliance

Korruption und Intransparenz

Viel Geld versickert ohnehin in den intransparenten Strukturen der schiitischen Machthaber in Teheran. Im Index von Transparency International, der die wahrgenommene Korruption misst, steht Iran auf Platz 149 von 180 Ländern. Deutschland rangiert dort auf Platz neun, die USA auf dem 24. Rang.

Besonders undurchsichtig ist die Rolle der Revolutionsgarden (eine Parallelarmee) und religiösen Stiftungen, die zentrale Teile der Wirtschaft kontrollieren. Sie zahlen keine Steuern, müssen keine Bilanzen vorlegen und sind vor allem dem politischen und religiösen Oberhaupt der Islamischen Republik, Ajatollah Ali Chamenei, unterstellt.

Für den Nahost-Experten Martin Beck von der University of Southern Denmark (SDU) ist die Wirtschaft des Iran geprägt durch "eine Vermengung der politischen mit der wirtschaftlichen Sphäre, die eine mit hoher Korruption verbundene staatliche Verteilungs- und Klientelpolitik befördert".

Niedrige Wirtschaftsleistung pro Kopf

Aber obwohl sich die Einnahmen aus dem Ölexport in den vergangenen Jahren zunehmend stabilisiert haben, ist der Iran alles andere als ein ökonomisches Schwergewicht. Obwohl seine Bevölkerung mit rund 88 Millionen fast zehnmal so groß ist wie die seines Erzfeindes Israel (neun Millionen), war seine Wirtschaftsleistung 2022 mit 413 Milliarden US-Dollar deutlich niedriger als die des jüdischen Staates mit 525 Milliarden US-Dollar.

Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf lag 2022 im Iran mit geschätzten rund 4043 US-Dollar weit abgeschlagen hinter Israel (54.336 US-Dollar) und dem regionalen Rivalen Saudi-Arabien mit rund 34.441 US-Dollar. Wie dramatisch der Absturz der Wirtschaftsleistung im Staat der Mullahs ist, macht der Vergleich zum Jahr 1990 deutlich: Damals lag das Bruttoinlandsprodukt laut Statista pro Kopf im Iran bei 10.660 US-Dollar, also mehr als doppelt so hoch. 

Arme Leute im Iran
2022 lebten 26 Millionen Menschen im Iran unter der Armutsgrenze (Angaben des Ministry of Cooperatives, Labour, and Social Welfare in Teheran) null ISNA

Wie sich die Wirtschaft des Landes weiter entwickelt, hängt vor allem davon ab, ob neue westliche Sanktionen die iranischen Ölexporte spürbar drosseln können.

Ölexporte sind entscheidend

Teheran ist es gelungen, in den ersten drei Monaten des Jahres durchschnittlich 1,56 Millionen Barrel (ein Barrel sind rund 159 Liter) Rohöl pro Tag zu verkaufen - und zwar fast alles nach China. Das war nach Informationen des Datenanbieters Vortexa der höchste Wert seit dem dritten Quartal 2018.

"Die Iraner beherrschen die Kunst, Sanktionen zu umgehen", wird Fernando Ferreira von der Rapidan Energy Group in den USA in der Financial Times zitiert. "Wenn die Biden-Regierung wirklich etwas bewirken will, muss sie den Fokus auf China verlagern."

Die USA sind zwar mittlerweile viel unabhängiger von Öl-Exporten aus dem Nahen Osten. Trotzdem würden höhere Ölpreise durch eine Verschärfung der Sanktionen gegen den Iran auch die Weltmarkt-Preise - und damit die Inflation weiter in die Höhe treiben. Für US-Präsident Joe Biden wäre das in einem Wahljahr mehr als ungünstig und eine Steilvorlage für seinen Herausforderer Donald Trump.

Doch ganz gleich, ob es zu einer Verschärfung der Sanktionen kommt oder nicht. Wäre die iranische Wirtschaft aktuell bereit für eine mögliche militärische Eskalation mit Israel?

Die Antwort von Djavad Salehi-Isfahani ist deutlich: "Insgesamt ist sie nicht bereit für einen längeren militärischen Konflikt. Deshalb haben sie (die Machthaber in Teheran, Anm. d. Red.) sehr darauf geachtet, sich nicht zu sehr in den Gaza-Krieg einzumischen. Und der Angriff auf Israel war eher symbolisch als einer, der Schaden anrichten wollte."

"Iran will Konflikt mit Israel nicht eskalieren lassen"

 

G7 fordern Zurückhaltung von Israel

Immer wieder ziehen dunkle Regenwolken über die malerische Insel Capri im Golf von Neapel. Das azurblaue Meer ist ungewöhnlich aufgewühlt. Auf den Fähren, die die G7-Delegationen auf die Insel bringen, wird so mancher seekrank. Auch Ministerinnen sind davon nicht verschont. "Die Überfahrt zu diesem G7 Treffen war stürmisch. Das ist vielleicht auch ein Zeichen, wie stürmisch die globalen Zeiten gerade sind", sagte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock.

Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock gibt den Journalisten, die sie umringen, Interviews
Großes Medieninteresse: Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock spricht vor Journalistennull Gregorio Borgia/AP Photo/picture alliance

Der Nahe Osten und der russische Krieg gegen die Ukraine sind die zentralen Themen, bei denen es viele unbeantwortete Fragen und Unwägbarkeiten gibt. In den vergangenen Tagen haben viele Außenminister versucht, auf die Regierung in Israel Einfluss zu nehmen, um sie von einer starken militärischen Antwort auf den massiven Drohnenangriff aus dem Iran vom vergangenen Samstag abzuhalten. Der derzeitige G7-Vorsitzende, Italiens Außenminister Antonio Tajani, hat "stundenlang" mit seinem israelischen Kollegen Israel Katz telefoniert. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock und der britische Ressortchef waren am Mittwoch noch schnell persönlich in Jerusalem vorstellig geworden 

Abwarten, wie Jerusalem entscheidet

Die Botschaft der G7 lautet: Israel hat mit Verbündeten den Angriff aus dem Iran vollständig abgewehrt. Das sei ein "defensiver Sieg" gewesen, so der US-Außenminister Anthony Blinken. Eine weitere Eskalation sei nicht nötig. "Jetzt müssen wir abwarten, wie der jüdische Staat reagieren wird. Ich hoffe, dass sich Zurückhaltung durchsetzt", meinte Italiens Ressortchef Tajani. Abwarten ist auch die Devise von Großbritanniens Außenminister David Cameron, der den Eindruck hat, dass die Entscheidungen im Kriegskabinetts Israels zu einem Schlag gegen den Iran gefallen sind. Er wisse nur noch nicht, in welchem Umfang und wann der stattfinden werde. 

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell (l.) und US-Außenminister Blinken auf Capri
Können zumindest kurzzeitig auch mal lachen: Der EU-Außenbeauftragte Borrell (l.) und US-Außenminister Blinken im Gesprächnull Remo Casilli/AP Photo/picture alliance

Der Iran soll weiter isoliert werden, ist das einhellige Ziel der sieben führenden Demokratien und auch der Europäischen Union. Es soll weitere Sanktionen geben und möglichst einen Beschluss, die Revolutionsgarden, eine Art militärische Eliteeinheit des Iran, als Terrorgruppe zu ächten. Bislang haben diesen Schritt nur die USA getan. Die Europäer waren zurückhaltend, weil sie Kontakte zum iranischen Regime in den vergangenen Jahren nicht völlig unterbinden wollen. Schließlich hoffte man immer noch auf eine Wiederbelebung der Gespräche über eine Begrenzung der iranischen Atomrüstung. Doch diese Hoffnung ist wohl nun vorbei. 

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock machte sich dafür stark, dass die Revolutionsgarden auf die Terrorliste der EU kommen. Einen entsprechenden Gerichtsbeschluss aus Deutschland habe man jetzt gefunden, so Baerbock. Denn rechtlich muss nachgewiesen sein, dass die Revolutionsgarden einen Terroranschlag in der EU unternommen haben oder unternehmen wollten, um sie auf die Terrorliste setzen zu können. Die israelische Regierung hatte die Ächtung der Revolutionsgarden und weitere Sanktionen gegen den Iran gefordert. 

Sanktionen gegen den Iran sollen Israel besänftigen

Die Hoffnung bei G7-Diplomaten ist nun, dass die Signale aus Capri und Brüssel ausreichen, um Israel von Zurückhaltung zu überzeugen. Natürlich sei der Angriff des Iran auf Israel auf Schärfste zu verurteilen, aber "beiden Seiten muss klar sein, dass sie sich am Rande eines Krieges in der gesamten Region befinden", mahnte erneut der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell, der ebenfalls an den G7-Sitzungen teilnimmt. 

Die Außenministerinnen und -minister spiegeln sich im blankgeputzen Boden
Ruhe bewahren, auch wenn die Welt Kopf steht. Die G7-Außenminister spiegeln sich beim Gruppenfoto im Boden.null Gregorio Borgia/AP Photo/picture alliance

Borrell mahnte seine Kolleginnen und Kollegen auch, über den Iran die Lage im Gazastreifen nicht zu vergessen: "Die humanitäre Katastrophe dort geht weiter. Die Hilfe ist nur in sehr kleinem Umfang gesteigert worden." Die US-Regierung gibt allerdings an, dass die Zahl der LKW, die Hilfsgüter in den Gazastreifen fahren, erheblich gestiegen sei, auf Drängen von US-Präsident Joe Biden. US-Medien berichten, dass es eine Art Vereinbarung zwischen Jerusalem und Washington geben soll: Israel hält sich mit einer Antwort auf den Iran zurück, wenn die USA ihre Opposition gegen eine israelische Bodenoffensive in Rafah im Gazastreifen aufgeben. Seit dem Angriff der vom Iran gestützten Terrorgruppe Hamas aus Israel am 7. Oktober geht die israelische Armee massiv gegen Hamas-Kämpfer im Gazastreifen vor. Mehr als 30.000 Menschen wurden getötet. Die Bevölkerung von fast zwei Millionen Menschen steht nach Einschätzung der Vereinten Nationen am Rande einer Hungersnot. 

Mehr Luftverteidigung für die Ukraine

Das zweite große Thema der G7-Runde in Italien ist der russische Krieg gegen die Ukraine. Der ukrainische Außenminister Dymitro Kuleba wirbt, bittet, ja fleht in Capri noch einmal um mehr Luftverteidigungswaffen von den westlichen Verbündeten für sein Land. "Hier sitzen die Länder, die das möglich machen können", sagte Kuleba nach einem Treffen mit Gastgeber Antonio Tajani. Die G7 sollte nun weltweit alle Kapazitäten zur Luftverteidigung moblisieren und in die Ukraine liefern. Deutschland hat ein zusätzliches Patriot-System zugesagt. Die übrigen Staaten prüfen ihre Bestände. 

Blick auf das Kapitol in Washington
Im Kapitol in Washington wird der US-Kongress über die Freigabe der Ukraine-Hilfen entscheidennull Imago Images/Zuma Press/A. Samperio

Hoffnungsvolle Signale konnte Außenminister Anthony Blinken aus den USA mitbringen. Der Kongress könnte nach monatelanger Blockade durch die oppositionellen Republikaner am Wochenende 60 Milliarden Dollar an Militär- und Finanzhilfe freigeben. Trotzdem wird mehr Hilfe aus Europa und vom G7-Mitglied Japan nötig sein, meinte Ettore Greco vom Italienischen Institut für Außenpolitik, einer Denkfabrik in Rom. "Hier wird die G7 sicherlich etwas in Gang setzen können, um der Ukraine zu helfen, wenn man die Schwierigkeiten in anderen Bereichen und das Ausbleiben von amerikanischen Zusagen betrachtet." NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg nimmt ebenfalls am G7-Treffen teil. Am Freitag tagt in Brüssel auf Drängen der Ukraine der gemeinsame NATO-Ukraine-Rat. "In den nächsten Tagen müssen endlich konkrete Beschlüsse fallen", forderte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell. "Wir müssen schneller werden."

Drohende Eskalation mit dem Iran: Wie stark ist Israel?

Israel hat nach übereinstimmenden US-Medienberichten den Iran als Reaktion auf dessen Angriff mit einem oder mehreren Flugkörpern beschossen. Iranische Staatsmedien weisen Berichte über Raketenangriffe zurück, melden aber drei Explosionen in der Nähe einer Armeebasis in Isfahan. Die Luftabwehr hätte dabei Drohnen zerstört, Schäden gebe es nicht. 

Kommt es nun zu einer ausgeweiteten bewaffneten Auseinandersetzung zwischen Israel und dem Iran? Falls ja: Wie wäre Israel darauf vorbereitet? Klar ist, dass Israel mit schwer kalkulierbaren Faktoren rechnen muss - darunter die Frage, ob sich Irans nicht-staatliche Verbündete an der Auseinandersetzung beteiligen. Der wichtigste Verbündete ist die iranisch finanzierte Hisbollah im Libanon. Auch die Huthi-Milizen im Jemen und einige schiiische Milizen im Irak könnten sich in einen bewaffneten Konflikt einschalten beziehungsweise vom Iran als militärische Unterstützer angeheuert werden. 

Auf die Gefahr eines solchen Mehrfronten-Krieges bereite sich Israel seit Langem vor, sagt Arye Sharuz Shalicar, einer der Sprecher der israelischen Armee. Dabei konzentriere man sich vor allem auf drei Aspekte: zunächst den Ausbau der Verteidigungssysteme, insbesondere von Luftabwehr-Systemen wie Iron Dome, Patriot, David's Sling (auch Magic Wand genannt) und des Arrow-Systems. Zugleich entwickele man kontinuierlich die offensiven Fähigkeiten weiter, so Shalicar im DW-Gespräch. "Bei einem Angriff darf man es nicht bei der Verteidigung belassen, sondern muss im Rahmen der Verteidigung in der Lage sein, offensiv zu handeln, gemäß dem Motto, Angriff ist die beste Verteidigung", sagt er. Und als dritte Maßnahme arbeite Israel an einem breiten regionalen und internationalen Bündnis. 

Teile einer iranischen Rakete, die Israel am Wochenende auf dem Militärstützpunkt Julis abgefangen hat
Teile einer iranischen Rakete, die Israel am Wochenende auf dem Militärstützpunkt Julis abgefangen hatnull Tsafrir Abayov/AP/picture alliance

Vergleichbare Stärke der Armeen

Im Hinblick auf die militärische Schlagkraft insgesamt liegen das israelische und das iranische Militär laut dem Global Firepower Index 2024 nicht allzu weit auseinander. In dem weltweiten Ranking befindet sich der Iran auf Rang 14, Israel folgt auf Platz 17. 

Der Index hat auch einen direkten Vergleich beider Streitkräfte veröffentlicht. Demnach ist der Iran Israel hinsichtlich der personellen Truppenstärke überlegen. Das Gleiche gilt auch für die Zahl der Panzer und bewaffneten Fahrzeuge.

Allerdings kommt es darauf angesichts der geographischen Lage nicht so stark an. Israel und der Iran sind durch andere Länder wie den Irak und Jordanien voneinander getrennt, die Entfernung Jerusalem-Teheran beträgt rund 1850 Kilometer. 

"Tatsächlich würde eine Auseinandersetzung nicht in Form eines klassischen Krieges stattfinden, sondern eher als eine Art Schlagabtausch über große Strecken", meint Fabian Hinz, Nahost-Experte am International Institute for Strategic Studies (IISS) in London. Eine bewaffnete Auseinandersetzung zwischen den beiden Staaten würde vor allem aus der Luft geführt. 

Scharfe Reaktionen auf iranischen Angriff auf Israel

Wichtige Rolle der Luftstreitkräfte

Gerade bei den Luftstreitkräften ist Israel dem Iran laut Global Firepower Index klar überlegen. Demnach hat Israel 241 Kampfjets, der Iran 181. Insgesamt verfügt die israelische Armee demnach über 612 Luftfahrzeuge, der Iran über 551. 

Jenseits der Zahlen komme es aber vor allem auf die Qualität der Militärflugzeuge an, so Hinz im DW-Gespräch. Flugzeuge spielten im Konfliktfall auf israelischer Seite eine sehr große, vielleicht sogar die entscheidende Rolle, so Hinz. Auf iranischer Seite spielten sie hingegen keine nennenswerte Rolle, da man die Flotte aufgrund von Sanktionen kaum mehr habe erneuern können. Der Iran habe zwar in den 1990er Jahren noch einige Flugzeuge kaufen können und wolle nun auch einige aus russischer Produktion erwerben. "Aber im Grunde weiß man, dass man mit der israelischen Luftwaffe nicht mithalten kann." Darum habe man sich in Teheran vor allem auf die Entwicklung von Flugabwehrraketen und Drohnen konzentriert.

Wie gut diese allerdings einen größeren israelischen Luftangriff abwehren könnten, sei fraglich. "Ich gehe davon aus, dass das nicht sonderlich erfolgreich wäre", so der Experte. "Einen ernstzunehmenden Schutzschild hat der Iran nicht."

Kein absoluter Schutz 

Allerdings habe der iranische Drohnen- und Raketenangriff gezeigt, wo Israel nachbessern müsse, sagt Alexander Grinberg, Iran-Experte beim Think Tank Jerusalem Institute for Strategy and Security. Er verweist auf die dabei eingesetzten Drohnen. Zwar sei es keine sonderlich große technische Herausforderung, diese abzuschießen, so Grinberg zur DW - im Grunde reiche dazu ein einfaches Maschinengewehr. "Aber es kommt eben auch auf die Zahl der Drohnen an. Am Sonntag hat sich gezeigt, dass man auch in der Lage sein muss, einen Angriff von sehr vielen Drohnen abzuwehren. Darauf muss Israel sich einstellen." Einen Teil der angreifenden Flugkörper hatten verbündete Staaten Israels vom Himmel geholt.

Bei dem iranischen Angriff habe sich gezeigt, dass es kein hermetisches, absolut dichtes System gebe, sagt auch Armeesprecher Shalicar. "Ob nun 300 oder 3000 Raketen abgeschossen werden, letztlich werden immer einige den Schutzschild durchdringen. Deswegen lag die Trefferquote am Wochenende nicht bei 100, sondern bei etwa 99 Prozent", so Shalicar. "Wir fangen zwar den Großteil ab, wissen aber, dass wir nie alle werden abfangen können. Umso mehr kommt es hier auf einen funktionierenden zivilen Heimatschutz, also ein Frühwarnsystem und Luftschutzbunker an."

Herausforderung Hisbollah

Eine militärische Herausforderung anderer Art wäre für Israel eine größere bewaffnete Auseinandersetzung mit der Hisbollah. Die oft als "Speerspitze des Iran" bezeichnete Hisbollah sei vermutlich die am stärksten bewaffnete nichtstaatliche Gruppe der Welt, heißt es in einer Studie des Center for Strategic and International Studies (CSIS) in Washington. Die EU stuft den militärischen Flügel der Hisbollah, der Israel immer wieder mit Raketen attackiert hat, als Terrororganisation ein.

Videoansprache des Hisbollah-Führers Hassan Nasrallah im April 2024
Die Hisbollah bedroht Israel aus dem Libanon: Videoansprache des Hisbollah-Führers Hassan Nasrallah im April 2024null Hassan Ammar/AP

Schätzungen über den Raketenbestand der Hisbollah schwanken zwischen 120.000 bis 200.000. Im Falle eines Krieges würde der Iran die Miliz rasch mit Nachschub versorgen, so die CSIS-Studie. Der Großteil des Arsenals bestehe aus ungelenkten Kurzstreckengeschossen. Die Miliz habe aber auch ihren Zugang zu Langstreckenraketen enorm verbessert. "Das heißt, dass ein Großteil Israels im Falle einer Eskalation des Konflikts von Hisbollah-Angriffen bedroht sein wird." Zudem könne die Gruppe auch von syrischem Territorium aus agieren.

Gegen Raketenangriffe aus dem Libanon könne Israel das System Iron Dome verwenden, sagt der Experte Fabian Hinz. "Generell sind die Abwehrsysteme jederzeit einsatzbereit, und sie funktionieren hervorragend. Das zentrale Problem scheint mir allerdings die Masse der Raketen zu sein."

 

Dieser Beitrag wurde am 17.04.2024 veröffentlicht. Zwei Tage später wurde der Beginn des Artikels um die aktuelle Entwicklung ergänzt.

 

"Iran will Konflikt mit Israel nicht eskalieren lassen"

Iran-Israel-Konflikt: Wer hat Einfluss auf Teheran?

Nach dem massiven Drohnenangriff aus dem Iran will Israel Vergeltung. "Sie müssen so nervös sein, wie sie uns nervös gemacht haben", sagte Ministerpräsident Netanjahu am Dienstag (16.04.24). Der Angriff werde mit Bedacht und nicht aus dem Bauch heraus erfolgen, so Netanjahu weiter.

Der Iran hatte in der Nacht zum Sonntag (14.04.24) erstmals von seinem Staatsgebiet aus Israel direkt angegriffen, als Vergeltung für einen Raketenangriff auf das iranische Botschaftsgebäude in der syrischen Hauptstadt Damaskus. Mehrere darunter hochrangige Mitglieder der Revolutionsgarden wurden getötet. Der Iran und seine Verbündeten machen Israel für den Angriff verantwortlich. Israel äußert sich dazu nicht.

Nach israelischen Angaben konnten fast alle der vom Iran gestarteten Drohnen, Raketen und Marschflugkörper abgewehrt werden. Nun warnt der Iran, dass "die geringste Aktion" Israels gegen "die Interessen Irans" eine "harte, umfassende und schmerzhafte Reaktion" zur Folge haben werde.

Die USA und die EU versuchen, mäßigend auf Israel Einfluss zu nehmen.

Wer aber hat Einfluss auf den Iran und könnte einer weiteren Eskalation nach einem möglichen Vergeltungsangriff aus Israel entgegenwirken?

Katar

Nach Angaben des iranischen Präsidialamtes telefonierte Irans Präsident Ebrahim Raisi am Dienstag (16.04.24) mit Katars Emir Tamim bin Hamad al-Thani. Der Iran und Katar unterhalten enge diplomatische Beziehungen. Besonders während der Katar-Krise waren sie sich nähergekommen. Zwischen 2017 und 2021 war Katar auf Betreiben Saudi-Arabiens in der arabischen Welt isoliert worden. Riad hatte Katar unter anderem vorgeworfen, terroristische Gruppen in der Region zu unterstützen. Der Iran und Katar unterstützen die Terrororganisation Hamas.

Mit Genehmigung der israelischen Regierung gehört Katar zu den wichtigsten Geldgebern für humanitäre Hilfe im Gazastreifen und gilt als wichtiger Vermittler zwischen Israel und der militanten Hamas. Unter der Vermittlung Katars hatten sich Israel und die Hamas im November 2023 auf eine kurze Waffenruhe und einen Gefangenenaustausch geeinigt.

Oman

Das Sultanat agiert unterhalb des Radars der Öffentlichkeit und spielt seit langem eine entscheidende Rolle als Vermittler zwischen dem Iran und den USA. 

Ohne den Oman wären die Einigungen bei den Verhandlungen über das iranische Atomprogramm in den letzten zwei Dekaden nicht denkbar gewesen. Außerdem setzt sich das Land auf der arabischen Halbinsel für die Freilassung von amerikanischen und europäischen Gefangenen im Iran ein.

Die New York Times berichtet, dass die US-Regierung seit dem vergangenen Wochenende über das Sultanat Oman und über die Schweiz das Gespräch mit den iranischen Behörden gesucht haben soll. Die USA und der Iran haben keine diplomatischen Beziehungen. Die Kontaktaufnahme muss über Drittstaaten laufen.

Warum Iran und Israel Feinde sind

Saudi-Arabien

Saudi-Arabien, historisch der regionale Gegenspieler des Iran und enger Verbündeter der USA, ist ebenfalls daran interessiert, dass die Lage nicht weiter eskaliert, denn das Land lebt vom Ölexport, den ein sich ausweitender Krieg gefährden würde. 

Erst 2023 gelang die Normalisierung der Beziehungen zwischen Saudi-Arabien und dem Iran durch die Vermittlung Chinas. Beide Länder tauschten wieder Botschafter aus, setzten auf verstärkten Handel und diskutierten sogar über eine Verteidigungskooperation.

Allerdings kann Saudi-Arabien auch wegen der Geschichte keinen direkten Einfluss auf den Iran ausüben, es verlegt sich stattdessen auf eine indirekte Strategie: Der saudische Außenminister Faisal bin Farhan bin Abdullah schlägt China als Vermittler vor. Sein Land hege hohe Erwartungen und hoffe, dass China eine aktive und wichtige Rolle dabei spiele, die bedrohliche Lage im Nahen Osten wieder auf den Weg der Normalität zu bringen. Das sagte der saudischen Außenminister in einem Gespräch mit seinem Amtskollegen aus China.

China

Peking will nach eigenen Angaben eine weitere Eskalation im Nahen Osten verhindern. Das berichtet zumindest die staatliche chinesische Nachrichtenagentur Xinhua. China ist der wichtigste Handelspartner des Irans. Beide Länder kooperieren auch militärisch. In seinem Telefonat mit dem iranischen Amtskollegen rief Chinas Außenminister Wang Yi den Iran am Dienstag (16.04.24) zur Zurückhaltung auf. Außerdem versicherte Wang, dass China als Vetomacht im UN-Sicherheitsrat den Raketenangriff auf das iranische Botschaftsgebäude in Damaskus verurteilt habe. Im UN-Gremium selbst konnte allerdings keine Einigung über eine Verurteilung erzielt werden.

 

Außenminister Wang Yi China und Faisal bin Farhan Saudi-Arabien
(Archiv) Chinas Außenminister Wang Yi China mit seinen Amtskollegen Faisal bin Farhan aus Saudi-Arabiennull Andy Wong/AP/picture alliance

"China möchte nicht, dass die Situation im Nahen Osten außer Kontrolle gerät. Das Land sieht sich bereits mit steigenden Transportkosten und einem drastischen Anstieg der Energieversorgungsrisiken konfrontiert", sagt James Dorsey, Politologe an der Nanyang Technological University in Singapur, der singapurischen Zeitung Zaobao. 

Allerdings fehlen China Kommunikationskanäle nach Tel Aviv, meint Dorsey. "Das Einzige, was China tun kann, ist ein Appell gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft an Israel, die Eskalation zu vermeiden und zurückhaltend zu reagieren."

Russland

Russland hat traditionell gute politische Beziehungen zu allen beteiligten Akteuren: zu Israel, den palästinensischen Gruppen, Saudi-Arabien und dem Iran. Für den Iran gilt Russland als enger Verbündeter. Unter den US-Sanktionen haben Teheran und Moskau ihre Zusammenarbeit weiter ausgebaut. Der Iran liefert Drohnen an die russische Armee, die gegen die Ukraine eingesetzt werden. 

Die zunehmende Spannung zwischen dem Iran und Israel lenkt die Aufmerksamkeit vom Krieg in der Ukraine ab. Ist Russland wirklich an einer Deeskalation im Nahen Osten interessiert? 

"Alles, was zum Anstieg der Energiepreise insbesondere zum höheren Ölpreis führt, ist zumindest kurzfristig und sogar mittelfristig für Russland von Vorteil", sagt David Sharp, israelischer Militärexperte im DW-Interview. "Aber wenn der Iran in einen großen Krieg verwickelt und ein Krieg gegen den Iran geführt würde, wäre rein theoretisch die Einschränkung der iranischen Waffenlieferungen an Russland möglich."

Moskau hat sowohl von Israel wie auch dem Iran Zurückhaltung gefordert. Der Sekretär des russischen Sicherheitsrates, Nikolai Patruschew, betonte am Montag (15.04.) im Gespräch mit dem Leiter des israelischen Nationalen Sicherheitsrates, Zachi Ha-Negbi, die Notwendigkeit der "Zurückhaltung auf allen Seiten des Konflikts im Nahen Osten, um eine Eskalation zu verhindern". Patruschew habe betont, dass Russland der Ansicht sei, die Meinungsverschiedenheiten sollten "ausschließlich mit politischen und diplomatischen Mitteln" beigelegt werden, wie Agenturen aus Russland berichteten. 

Die Türkei

Die Türkei unterstützt seit den ersten Tagen des Nahostkonfliktes die Haltung der Palästinenser. Letzte Woche kündigte Ankara sogar Wirtschaftssanktionen gegen Israel an. Auch die türkische Regierung fürchtet weitere Spannung und Gewalt zwischen dem Iran und Israel. Sie rief beide Parteien zur Zurückhaltung auf.

"Anders als die anderen Länder in der Region wie Katar, Oman und Saudi-Arabien hat die Türkei eine lange Landgrenze zum Iran", sagt Gülru Gezer, Diplomatin und Direktorin für Außenpolitik bei der Türkischen Forschungsstiftung für Wirtschaftspolitik (TEPAV). "Eine mögliche Instabilität im Nachbarland Iran könnte gravierende Folgen für die Türkei haben, vor allem bezüglich einer Migrationaus dem Iran. Das musste die Türkei leider mit den Kriegen in Syrien und im Irak erfahren."
 

EU will Sanktionen gegen Iran ausweiten

"Die Minister fordern alle Akteure in der Region auf, vom Abgrund zurückzutreten!" Mit diesen dramatischen Worten appellierte der Außenbeauftragte der EU, Josep Borrell, nach der Sondersitzung der EU-Außenministerinnen und -minister per Videokonferenz an Iran und Israel. Borrell sagte, der beispiellose direkte Angriff des Iran auf Israel sei eine entscheidende Eskalation. Jetzt müsse es darum gehen, eine weitere Eskalation zu vermeiden. Das politische Schachspiel mit Schlag und Gegenschlag müsse enden, sonst schlittere der Nahe Osten in einen vollen Krieg. Das könne niemand wollen. Die EU-Außenminister seien sich völlig einig, sagte der EU-Außenbeauftragte und legte nahe, dass man von Israel und Iran Zurückhaltung erwarte.

Berlin Abflug Außenministerin Baerbock nach Nahost
Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock fliegt seit dem Hamas-Angriff im Oktober regelmäßig in den Nahen Ostennull Michael Kappeler/dpa/picture alliance

Sanktionen gegen Iran ergänzen

Einige Ministerinnen, so auch die deutsche Außenamtschefin Annalena Baerbock, verlangten härtere Sanktionen gegen das theokratische Regime im Iran. Borrell sagte, es werde jetzt geprüft, bereits bestehende umfangreiche Sanktionen auszuweiten. So sollen Sanktionen gegen die iranische Drohnenproduktion, die bisher auf Lieferungen nach Russland gemünzt waren, auf die gesamte Nahost-Region ausgeweitet werden. Beschlüsse dazu sollen in der nächsten Woche fallen.

Andere Minister regten an, die iranischen Revolutionsgarden, eine Eliteeinheit der Armee, mit Sanktionen zu belegen. Der EU-Außenbeauftragte wies darauf hin, dass diese Sanktionen bereits seit vergangenem Jahr bestünden. Eine Listung der Revolutionsgarden als Terrorgruppe, ähnlich der Hamas, scheitert bislang an rechtlichen Hürden. Für eine formale Listung müsse eine konkrete Tat der Revolutionsgarden in einem Mitgliedsland der EU vorliegen. Bislang sei ein solcher Fall nicht gemeldet worden, so Borrell. Auch das wolle man noch einmal von den Juristen der EU-Kommission prüfen lassen.

"Iran will Konflikt mit Israel nicht eskalieren lassen"

"Gaza nicht vergessen"

Zuvor hatte Josep Borrell die Reise von Bundesaußenministerin Annalena Baerbock nach Israel gelobt. Sie werde dort vielleicht etwas beeinflussen können, so der spanische Politiker, weil Deutschland eine starke Bindung zu Israel habe. Borrell, der in Israel als zu nahe an den Palästinensern gesehen wird, betonte in Brüssel, die EU stehe fest an der Seite Israels, um Angriffe des Iran abzuwehren. "Aber die humanitäre Katastrophe im Gazastreifen dürfen wir nicht vergessen", sagte der EU-Außenbeauftragte. Er wiederholte die gemeinsame Forderung der EU-Minister nach einem sofortigen und dauerhaften Waffenstillstand im Gazastreifen, um israelische Geiseln aus den Händen der Hamas-Terroristen zu befreien und die Versorgung der Zivilbevölkerung zu ermöglichen.

Deutschland | Münchener Sicherheitskonferenz | Annalena Baerbock, Antonio Tajani und Melanie Joly
Die G7 übernimmt den diplomatischen Stafettenstab: Ministerin Baerbock, Gastgeber Tajani und Kanadas Ministerin Joy. Die übrigen Mitglieder sind die USA, Frankreich, Großbritannien und Japannull Thomas Trutschel/photothek/picture alliance

G7 beraten Nahost-Krise weiter

Am Mittwoch zieht die diplomatische Karawane auf die italienische Insel Capri im Golf von Neapel weiter. Dort treffen sich - wie schon lange geplant - die Außenministerinnen und Außenminister der sieben wichtigsten westlichen Industriestaaten und auch der Vertreter der EU, Borrell. Auf der malerischen Urlauberinsel werden der Iran, Israel, die Hamas, die Lage im Gazastreifen und die Krisen im Nahen Osten ganz oben auf der Tagesordnung stehen, wie italienische Diplomaten erklärten. Eigentlich sollten der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und die weitere Unterstützung für Kiew das Treffen dominieren.

Die G7 werden Teheran auffordern, weitere Angriffe auf Israel zu unterlassen. Auch das Atomwaffenprogramm des Iran wird von den G7 wieder kritisiert werden, wie schon in den vergangenen 20 Jahren bei jedem Treffen der führenden Industrienationen. Israel solle anerkennen, dass es den iranischen Angriff erfolgreich abwehren konnte und ein wie auch immer gearteter Vergeltungsschlag nicht notwendig sei. Diese Linie hatten schon die Staats- und Regierungschefs der G7 bei einer Videokonferenz am Wochenende vorgegeben.

Ukraine Präsident Wolodymyr Selenskyj in Charkiw
Der ukrainische Präsident Selenskyj bei einem Truppenbesuch Anfang Aprilnull Ukrainian Presidential Press Office/AP Photo/picture alliance

Mehr Hilfe für die Ukraine

Beim Thema Ukraine sollte US-Außenminister Anthony Blinken erklären, wie es seine Regierung schaffen könnte, die Blockade der Republikaner im amerikanischen Kongress zu überwinden. 60 Milliarden Euro an Militär- und Haushaltshilfen für die Ukraine können nicht ausgezahlt werden. Bis zum Ende der Woche soll es einen neuen Abstimmungsversuch im Abgeordnetenhaus geben. Die drei europäischen G7-Partner Frankreich, Großbritannien und Deutschland sowie Kanada und Japan könnten ankündigen, ob und wie sie ihre Ukrainehilfen aufstocken. Die japanische Außenministerin Kamikawa Yoko könnte nach Angaben von italienischen Diplomaten erklären, dass Japan mehr Raketen- und Marschflugkörper an die USA liefert. Die Amerikaner könnten dann ihrerseits Waffen aus US-Produktion an die ukrainische Armee weiterreichen. Diese indirekte Beteiligung Japans an der Versorgung der Ukraine sollte mit der Verfassung Japans in Einklang stehen, die direkte Lieferungen an Kriegsparteien untersagt.

Karte Infografik G7-Staaten DE

Ukraine verlangt Luftverteidigung wie in Israel

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte noch einmal an die westlichen Partner appelliert, dringend benötigte Flugabwehr gegen russische Drohnen und Raketen bereitzustellen. Präsident Selenskyj sagte, dass die westlichen Verbündeten die Ukraine genauso verteidigen sollten wie sie Israel gegen iranische Angriffe verteidigt haben.

Der Gastgeber der G7, der italienische Außenminister Antonio Tajani, wies den Vergleich Selenskyjs zurück. "Die Situation in Israel ist völlig anders als in der Ukraine. Die jordanische Luftwaffe startete, weil iranische Drohnen und Raketen über ihrem Territorium flogen, die Amerikaner und Franzosen flogen ihre Flugzeuge, weil sie in der Region Stützpunkte haben", sagte Antonio Tajani der Nachrichtenagentur ANSA. Im Krieg Russlands gegen die Ukraine sei man nicht Partei, sondern schütze die NATO-Ostgrenze. "Wir können nicht mehr tun, weil wir uns nicht im Krieg mit Russland befinden und keine Raketen und Drohnen gegen NATO-Länder abgefeuert werden", so der italienische Außenminister.