Lateinamerika: Mehr Marktwirtschaft wagen

Javier Milei will aus Argentinien ein "Mekka des Westens" machen, Jose Raul Mulino gewann die Wahlen in Panama mit "La Promesa de Chen Chen" (Das Versprechen: chen chen en tu bolsillo - money in your pocket). Und in Ecuador will Daniel Noboa, der aus einer Unternehmerfamilie stammt, das krisengeschüttelte Land wieder in die wirtschaftliche Erfolgsspur zurückführen. Was sie eint, ist - trotz aller länderspezifischen Unterschiede - die Überzeugung, dass die Marktwirtschaft den Schlüssel zum ökonomischen Aufschwung bereithält.

Die Wahlerfolge des Trios in den letzten sechs Monaten fallen in eine Zeit, in der vor allem die klassisch sozialistisch-autokratisch regierten Länder Venezuela und Kuba in einer tiefen Wirtschaftskrise stecken, die zu einem Massenexodus in das kapitalistische Ziel schlechthin führt: die USA. Auch Bolivien gerät immer unruhige wirtschaftliche Zeiten.

Mulino setzt auf ein altbewährtes Konzept

In Panama hat Wahlsieger Mulino, der für den wegen Geldwäsche und Korruption verurteilten eigentlichen Kandidaten der Partei Realizando Metas RM, Ricardo Martinelli, einsprang, das Konzept übernommen, das während Martinellis Präsidentschaft (2009 - 2014) als ökonomisch erfolgreich galt. "Mulino setzt wie seinerzeit Martinelli auf Anreize für unternehmerische Initiative und die Akquise von großen Investitionen aus dem Ausland. Damit sollen vor allem infrastrukturelle Großprojekte finanziert und realisiert werden", sagt Winfried Weck von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Panama-Stadt im Gespräch mit der DW.

Ricardo Martinelli (M), frühere Präsident von Panama, schüttelt den Sicherheitsbeauftragten vor seinem Haus in Panama-Stadt die Hand.
Ricardo Martinelli, der frühere Präsident von Panama, steht unter Hausarrestnull Arnulfo Franco/AP/dpa/picture alliance

Infrastrukturprojekte sollen Aufschwung bringen

Dazu zählen der Bau einer Eisenbahnverbindung von Panama-Stadt nach David, der zweitgrößten Stadt des Landes in der Nähe der Grenze zu Costa Rica, eine vierte Brücke über den Panama-Kanal, Universitäten, mehrere Hospitäler und möglicherweise neue Metrolinien für die Hauptstadt. "Mit der Schaffung eines unternehmerfreundlichen Umfelds auch für ausländische Investoren kann dies durchaus gelingen. Die Wahlkampagne war ganz deutlich darauf ausgerichtet, den Menschen Panamas Geld zu versprechen. 'La Promesa de Chen Chen' stellte die zentrale Wahlkampfaussage dar, an der Mulino von der Bevölkerung nun gemessen werden wird", prognostiziert Weck.

Erste Anzeichen der Erholung in Argentinien

Was in Panama gelingen könnte, dürfte in Argentinien deutlich schwieriger werden. Zwar gelang es der neuen Regierung um den radikal-marktliberalen Präsidenten Javier Milei in den ersten sechs Monaten, die Inflation von 25,5 Prozent im Dezember auf 8,8 Prozent im April zu drücken. Aufs Jahr gerechnet liegt die Rate dennoch bei horrenden knapp 290 Prozent und gehört damit zu den höchsten der Welt. Aber immerhin bieten Banken erstmals seit längerer Zeit wieder Immobilienkredite an, die auf sehr großes Interesse bei den Bürgern stoßen. Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) zeigt sich mit der Entwicklung zufrieden und hat eine weitere Kredeittranche freigegeben.

Argentiniens Präsident Javier Milei
Vorerst scheinen seine knallharten Maßnahmen zu wirken: Argentiniens Präsident Javier Mileinull Matías Baglietto/picture alliance

Doch trotz der ersten zarten positiven Indizien warnt Lateinamerika-Experte Professor Christian Hauser von der Fachhochschule Graubünden (Schweiz) vor übertrieben Erwartungen. "In Lateinamerika und besonders in Argentinien hat es immer wieder wellenförmige Entwicklungen gegeben. Es gab Boomzeiten und tiefe Wirtschaftskrisen, deshalb gilt es die weitere Entwicklung abzuwarten." Für Hauser ist es wichtig, dass Länder wie Argentinien ihre Wirtschaftspolitik langfristig ausrichten: "Es muss ein ordnungspolitischer Rahmen geschaffen werden, in dem sich ein gesunder Wettbewerb entwickeln kann. Dabei gilt es den Aufbau von mittelständischen Unternehmen zu fördern und nicht vor allem nach den großen internationalen Konzernen zu schauen", fordert Hauser. Denn der Mittelstand sei entscheidend für die ökonomische Basis eines Landes.

EU-Mercosur-Abkommen könnte regelbasierten Handel ermöglichen

In diesem Zusammenhang wäre auch der Abschluss des EU-Mercosur-Abkommens, über das seit zwei Jahrzehnten verhandelt wird, ein deutliches Zeichen für beide Weltregionen. "Denn dann würden sich demokratische Länder und Regionen auf eine regelbasierte Zusammenarbeit verständigen, was auch geopolitisch ein starkes Signal wäre." Allerdings müssten dann sowohl die Lateinamerikaner als auch die Europäer in den Verhandlungen Kompromisse eingehen. "Im Moment gibt es ein Zeitfenster, das genutzt werden sollte. Aber das hat es in der Vergangenheit auch schon gegeben", ist Hauser zurückhaltend. Der nächste Anlauf dürfte nach den Europawahlen unternommen werden. Ausgang ungewiss.

Proteste in Argentinien: Wie angezählt ist Präsident Milei?

Die Motorsäge ist das Symbol seiner Politik: Präsident Javier Milei will den argentinischen Staat und seine Ausgaben auf ein Minimum zurechtstutzen. Mit dieser Devise war er in den Wahlkampf gezogen, so hat er die Wahl im November 2023 gewonnen, und so verfährt er nun auch.

Nach 15 Jahren defizitärer Haushaltspolitik und drei Staatspleiten in 25 Jahren hat sich die argentinische Wählerschaft mehrheitlich auf die offen angekündigte Rosskur eingelassen. Doch nun scheint der Rückhalt zu bröckeln. Am Dienstag sind in Argentinien landesweit Hunderttausende auf die Straße gegangen, um gegen die radikale Sparpolitik zu protestieren.

Historische Massendemonstrationen

Allein in der argentinischen Hauptstadt versammelten sich nach Polizeiangaben rund 100.000 Demonstranten, die Universität von Buenos Aires sprach von mehr als 500.000. Die tatsächliche Zahl dürfte wie so oft in der Mitte liegen.

Wird das demokratische Establishment zerlegt?

Hinzu kamen Kundgebungen in vielen weiteren Universitätsstädten verstreut über das ganze Land, darunter Tucuman, Cordoba, Corrientes und Ushuaia. Sogar vor dem argentinischen Konsulat in Barcelona (Spanien) solidarisierten sich Menschen mit den Demonstranten auf der anderen Seite des Atlantiks. Einige Medien zählen die Proteste zu den größten seit 20 Jahren.

Ein Warnschuss für Milei

Proteste gegen die Regierung von Javier Milei gibt es praktisch seit Beginn seiner Amtszeit Anfang Dezember. Viele davon seien "bedeutende Demonstrationen" gewesen, sagt Facundo Cruz, Politologe von der Universität Buenos Aires: "Aber sie gingen alle von bestimmten politischen Sektoren aus."

Im Januar etwa rief die größte Gewerkschaft des Landes CGT einen Generalstreik aus. Die CGT ist eng mit der peronistischen "Unión por la Patria" (Einheit für das Vaterland) verbunden. Die größte Oppositionspartei hat unter anderem mit Cristina Fernandez de Kirchner an der Spitze in den letzten 20 Jahren Argentiniens Politik dominiert.

In dieser Woche aber, sagt Cruz, sei es anders gewesen: "Diese Demonstration war sektorübergreifend. In vielen Landesteilen waren sogar Menschen dabei, die die Regierung gewählt haben und sich in Umfragen weiterhin für sie aussprechen würden."

Streit um die Hochschulfinanzierung

Maßgeblich für die Beteiligung über das gesamte politische Spektrum hinweg, sagt Cruz, sei der Grund für den Protest: Die Regierung hatte das Budget der öffentlichen Universitäten nominal auf dem Vorjahresniveau belassen. Nach einer Inflation von 280 Prozent in den vergangenen zwölf Monaten bedeutet dies eine reale Kürzung von rund 65 Prozent.

Argentinien, Buenos Aires, Demonstranten mit einem großen Banner: "Zur Verteidigung der öffentlichen Universitäten"
"Zur Verteidigung der öffentlichen Universitäten" - Hunderttausende signalisierten Präsident Milei, wovor sein Sparkurs haltmachen sollnull Cristina Sille/dpa/picture alliance

"Für die argentinische Gesellschaft unterschied sich Argentinien vom Rest Lateinamerikas immer dadurch, dass die kostenlose öffentliche Bildung ein Garant der sozialen Mobilität war", erklärt die argentinische Politologin Mariana Llanos vom Hamburger GIGA Institut für Lateinamerika-Studien. "Die Argentinier können sich mit vielen Einschnitten arrangieren, aber die Bildung ist ein sehr sensibles Thema." Milei habe sich mit diesen drastischen Einsparungen ein Eigentor geschossen.

Wie beliebt ist Milei nach fünf Monaten im Amt?

Dass viele Argentinier, wie Llanos sagt, zu Opfern bereit seien, um Staatshaushalt und Wirtschaft wieder auf sichere Füße zu stellen, zeige sich auch in Mileis Zustimmungswerten: Selbst nach massiven Einschnitten und einer Entlassungswelle im öffentlichen Dienst sprechen sich weiterhin rund 50 Prozent der Argentinier für den ultraliberalen Reformkurs der Regierung aus.

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Allerdings drückt nahezu die ganze übrige Hälfte auch ihre Ablehnung aus. Unschlüssig gegenüber Milei haben sich in Umfragen selten mehr als fünf Prozent der Befragten geäußert. Ein deutliches Zeichen für die Spaltung der argentinischen Gesellschaft, sagt Politologe Cruz.

Historisch fragil ist Mileis Position in der Legislative: Von den 329 Sitzen im argentinischen Kongress hat Mileis Partei "La Libertad Avanza" (Die Freiheit kommt voran) gerade einmal 45 inne (14 Prozent). Die Opposition sei geteilt, sagt Politologin Llanos. Mit der einen Hälfte könne Milei verhandeln, mit der anderen nicht.

Kann sich Milei im Amt halten?

Auch deshalb spekulieren Beobachter seit seiner Amtsübernahme darüber, wie lange sich der unkonventionelle Politiker wohl im Amt halten wird. Facundo Cruz sieht derzeit allerdings niemanden, die bereit und in der Position wäre, Mileis schwieriges Erbe anzutreten. Der amtierende Präsident hat eine grassierende Inflation und hohe Arbeitslosigkeit von seinen Vorgängern geerbt. Zudem gebe es in der Opposition keinen Konsens über einen politischen Gegenvorschlag, so Cruz. Solange die Zustimmung für ihn in der Bevölkerung so hoch bleibe wie bisher, sehe er daher nicht, dass Milei demnächst aus dem Amt gejagt werden könne.

Argentinien La Plata | Präsidentschaftskandidat Javier Milei mit Kettensäge
Im Wahlkampf zeigte Javier Milei die symbolische Motorsäge, mit der er den Staat zurechtstutzen willnull Marcos Gomez/AG La Plata/AFP

Ähnlich schätzt Brian Winter, Chefredakteur des US-Politikmagazins "America's Quarterly", die aktuelle Situation ein. Er gibt aber zu bedenken: "Ein Präsident der kein Peronist ist, kann sich nie sicher sein. Insbesondere, wenn er den Haushalt derart zusammenkürzt." Bei den Protesten vom 23. April sei es allerdings nicht um Mileis grundsätzlichen Kurs gegangen, so Winter, sondern darum, wo gekürzt werden soll. Und wo eben nicht.

Für Mariana Llanos sind die drastischen Einsparungen im Bildungssektor ein großer und vor allem vermeidbarer politischer Fehler, der einen Wendepunkt markieren könnte: "Milei ist ein intelligenter Mann. Vielleicht wird er den Fehler auf irgendeine Weise korrigieren."

Aus für EU-Mercosur-Abkommen?

Offiziell gilt das Freihandelsabkommen zwischen der EU und den vier Mercosur-Ländern Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay noch nicht als gescheitert. Doch beim Mercosur-Gipfel, der noch bis Donnerstag in Rio de Janeiro stattfindet, wird bereits an einer Erklärung zur Verschiebung des größten globalen Handelsabkommens gearbeitet.

Nach einem Bericht der brasilianischen Tageszeitung Folha de S. Paulo soll klargestellt werden, dass die "Verhandlungen für das Abkommen nicht gescheitert sind, sondern die Verhandlungen trotz der Kontroversen der vergangenen Tage weiter fortgeführt werden".

Dies solle unmittelbar nach dem Amtsantritt des neuen argentinischen Präsidenten Javier Milei am 10. Dezember geschehen. Der Rechtspopulist war am 19. November in einer Stichwahl als Sieger hervorgegangen.

Lula: "Ich gebe niemals auf"

Für Brasiliens Staatschef Luiz Inácio Lula da Silva ist das ein herber außenpolitischer Rückschlag. Sein Ziel war es, während der Mercosur-Präsidentschaft Brasiliens, die am 6. Dezember ausläuft, das Handelsabkommen abzuschließen. "Ich habe gespürt, dass Lula am liebsten heute statt morgen unterschreiben würde", berichtet der Abgeordnete Knut Gerschau, Obmann im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit im Deutschen Bundestag, im DW-Interview.

Die Gespräche fanden im Rahmen der deutsch-brasilianischen Regierungskonsultationen statt. Lula gab sich trotz allem weiter kämpferisch. Es sei irrational, den Vertrag nach mehr als 20 Jahren Verhandlungen nicht zu unterzeichnen. "Ich bin Brasilianer und gebe niemals auf", sagte er in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Bundeskanzler Olaf Scholz. "Solange ich nicht mit jedem einzelnen Präsidenten gesprochen habe, werde ich nicht aufgeben."

Verhandlungsmarathon ohne Ende?

Über das Handelsabkommen zwischen beiden Blöcken wird seit dem Jahr 2000 verhandelt. Der jüngste Rückschlag geht auf die Präsidentschaftswahlen in Argentinien vom 22. Oktober zurück. Die argentinische Regierung informierte die Mercosur-Mitglieder am 30. November darüber, vor dem Amtsantritt des neuen Präsidenten Javier Milei keine Entscheidung mehr zum Freihandelsabkommen treffen zu wollen. Diese Information führte nach Medienberichten dazu, dass EU-Handelskommissar Valdis Dombrovkis seine Reise zum EU-Mercosur-Gipfel nach Rio de Janeiro kurzfristig absagte.

Ringen um größte Freihandelszone der Welt

Wenige Tage später erklärte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron nach einem Treffen mit Präsident Lula da Silva am Rande der Weltklimakonferenz COP28 in Dubai, der Vertrag sei "veraltet" und "inkohärent" und "für niemanden gut".

Brasiliens Außenminister Mauro Vieira will die Hoffnung dennoch nicht aufgeben. "Mal sehen, ob es möglich ist, die letzten verbleibenden Punkte zu überwinden", erklärt er im DW-Interview. "Ich denke, es ist ein interessantes Abkommen, das nicht nur für den Mercosur, sondern auch für die EU von strategischer Bedeutung sein wird."

Brasilien Außenminister Mauro Vieira
Brasiliens Außenminister Mauro Vieira: "Abkommen mit strategischer Bedeutung"null EVARISTO SA/AFP/Getty Images

"Mercosur-Staaten sind Wertepartner"

Mit dem Abkommen würde eine Freihandelszone mit über 743 Millionen Einwohnern (EU 448 Millionen / MERCOSUR 295 Millionen) geschaffen, die größte weltweit. Die Handelsbeziehungen zwischen beiden Staatengemeinschaften sind bereits eng. So stiegen nach EU-Angaben die EU-Investitionen in Mercosur-Staaten von 130 Milliarden Euro im Jahr 2000 auf insgesamt 330 Milliarden Euro im Jahr 2020.

Doch bei dem Abkommen geht es um mehr als den Abbau von Handelsbarrieren. "Als Demokratien sind die Mercosur-Staaten wichtige Wertepartner", heißt es in einer Analyse der Außenhandelsexpertin Samina Sultan vom deutschen Institut für Wirtschaft (IW). Die EU könne es sich nicht leisten, ihre Bemühungen um die Region zu verringern. Denn im Gegensatz zur EU hat China seine Rolle in den Mercosur-Staaten in den vergangenen Jahren kontinuierlich ausgebaut.

Ein Arbeiter montiert Pkws in der chinesischen Autofabrik in Montevideo, Uruguay
Feierliche Eröffnung: Seit dem 23. Oktober werden in Montevideo chinesische Autos der Marke "Geely" für den lateinamerikanischen Markt produziertnull Nicolas Celaya/Xinhua/IMAGO

Nach Angaben der UN-Handelsplattform UN Comtrade sind die Exporte der Region nach China zwischen 2012 und 2022 um 112 Prozent von 47 Milliarden US-Dollar auf 100 Milliarden US-Dollar pro Jahr gestiegen. Die Einfuhren aus China in Mercosur-Mitgliedsländer stiegen im gleichen Zeitraum um 80 Prozent von 51 Milliarden US-Dollar auf 92 Milliarden US-Dollar. Der Handel mit der EU hingegen stagnierte. Sowohl Importe als auch Exporte zwischen beiden Gemeinschaften verharrten zwischen 2012 und 2022 auf einem Niveau von rund 60 Milliarden US-Dollar pro Jahr.

"Verlust von Souveränität"

Pararguays Präsident Santiago Peña, der am 6. Dezember turnusmäßig die Mercosur-Präsidentschaft übernimmt, sieht die Schuld für ein mögliches Scheitern der Verhandlungen bei der EU. Gegenüber dem paraguayischen TV-Sender Gen erklärte er, die EU habe kein Interesse an einem Abkommen und stelle deshalb unerfüllbare Bedingungen, insbesondere im Umweltbereich.

"Dies geht soweit, dass sie die Kontrollen unserer Behörden in Frage stellen und ihre eigenen Bewertungen vornehmen wollen", zitiert ihn die argentinische Wirtschaftszeitung Ambito Financiero. "Das bedeutet für mich einen Verlust der Souveränität, und das ist praktisch nicht akzeptabel."

Paraguay | Präsident Santiago Peña bei seiner Vereidigung am 15.8. in Asuncion
Paraguays Präsident Santiago Peña will sich nach anderen Handelspartnern umsehennull Jorge Saenz/AP/picture alliance

Bereits im September diesen Jahres hatte Peña auf einer Pressekonferenz in der paraguayischen Präsidentenresidenz in Asunción in einem Interview erklärt: "Ich habe Lula gesagt, dass er die Verhandlungen abschließen soll, denn wenn er sie nicht abschließt, werde ich in den nächsten sechs Monaten nicht weitermachen." Peña kündigte an, sich nach anderen Handelspartnern umzusehen, darunter Saudi-Arabien, Singapur und die Vereinigten Arabischen Emirate. 

Marina Silva: "Wir werden behandelt wie Bolsonaro"

Brasiliens Umweltministerin Marina schließt sich der Kritik an. In einem DW-Interview im September beklagte sie, dass "die EU die Regierung von Präsident Lula immer noch so behandelt, als handele es sich um die Regierung von Ex-Präsident Bolsonaro". Sie fügte hinzu: "Während sich die Regierung von Ex-Präsident Bolsonaro nicht um das Klimaschutzabkommen von Paris, Umweltschutz und Indigenenrechte geschert hat, haben wir die Entwaldung im Amazonas in den ersten sieben Monaten des Jahres um 48 Prozent reduziert.

Belgien | Greenpeace Protest gegen Mercosur in Brüssel
Umwelt vor Handel: Greenpeace will das Freihandelsabkommen zwischen EU und Mercosur stoppennull Adrian Burtin/Belga/dpa/picture alliance

Im Gegensatz zu Politikern und Wirtschaftsverbänden zeigten sich viele Umweltschutz- und Menschenrechtsorganisationen erleichtert über die Verschiebung des Abkommens. Sie fordern gemeinsam mit dem Netzwerk Gerechter Welthandel eine Neuverhandlung des EU-Mercosur-Abkommens. Armin Paasch, Handelsexperte des katholischen Hilfswerks Misereor, erklärt: "Für Klima und Menschenrechte ist es eine gute Nachricht, dass die Verabschiedung im Hauruckverfahren vorerst gescheitert ist."

Lieferkettengesetz: Discounter Lidl in der Kritik

Vor einigen Monaten berichteten Mitarbeitende des türkischen Landwirtschaftsunternehmens Agrobay über unrechtmäßige Entlassungen und unmenschliche Arbeitsbedingungen. Sie würden gemobbt und ihnen werde das Recht verweigert, auf die Toilette zu gehen, so ihre Aussagen. Für ihre Rechte gingen sie auf die Straße. Seit über acht Monaten protestieren die ehemaligen Mitarbeiter in der westtürkischen Metropole Izmir.

Mitverantwortlich gemacht wird der deutsche Supermarktgigant Lidl. Die Firma Agrobay ist einer der wichtigsten Lieferanten für Lidl. Nun bereiten sich die Arbeiter von Agrobay auf einen Rechtsstreit gegen den deutschen Konzern vor.

Lidl beendet die Zusammenarbeit

Bis vor kurzem ging die Zusammenarbeit zwischen Lidl und Agrobay unverändert weiter. Nun gab der deutsche Konzern bekannt, dass er diese Zusammenarbeit beendet habe. Auf eine Anfrage der DW antwortete das Unternehmen:

"Mit Rücksicht auf das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz nahmen wir vor einigen Monaten wegen einer Beschwerde über mögliche Verletzungen der geschützten gesetzlichen Positionen unserer Mitarbeiter bei unserem indirekten Lieferanten Agrobay Ermittlungen auf. Nach diesen Ermittlungen und umfassenden Diskussionen mit allen beteiligten Parteien haben wir uns entschieden, unsere geschäftliche Beziehung mit Agrobay zu beenden."

Eine Demonstration der Agrobay-Arbeiterinnen gegen schlechte Arbeitsbedingungen
Die Arbeiter protestieren seit acht Monaten wegen unrechtmäßiger Entlassungen und unmenschlicher Arbeitsbedingungennull Anka

Aus Datenschutzgründen nannte der Konzern keine weiteren Details zu den Ermittlungen. Außerdem betonte Lidl die geringe Bedeutsamkeit der Zusammenarbeit mit Agrobay: "Bisher kauften wir eine relativ kleine Quantität der Waren von Agrobay. Außerdem ist Lidl unseres Wissens vergleichsweise nur ein kleiner Kunde des Lieferanten Agrobay mit Rücksicht auf Beschaffungsvolumen", so das Unternehmen.

Agrobay liefert die meisten der Tomaten, die es in deutschen Lidl-Supermärkten zu kaufen gibt. Die seit 2002 aktive Firma hat eine jährliche Anbaukapazität von 20.000 Tonnen und zählt damit zu einem der größten Hersteller im landwirtschaftlichen Bereich der Türkei. Die Firma exportiert auch nach England, Spanien, Schweden, die Niederlande und Russland.

Unterstützung vom Europäischen Parlament und von Oxfam

Im Gespräch mit der DW bestätigt Umut Kocagöz, Präsident der Landwirtschaftsgewerkschaft Tarim-Sen, dass Lidl die Zusammenarbeit mit Agrobay Mitte April beendet habe. Diese Entscheidung ist allerdings für die ehemaligen Mitarbeiter nicht ausreichend. Damit sei die deutsche Firma nicht aus der Verantwortung, so Kocagöz:

"Die Zusammenarbeit von Lidl mit Agrobay wurde unter den Bedingungen fortgesetzt, über die unsere Arbeiter berichteten. Das zeigt, dass Lidl die notwendigen Maßnahmen nicht rechtzeitig ergriff. Lidl lehnt jetzt die Verantwortung ab, weil der Konzern sagt, dass die Zusammenarbeit beendet wurde. Das ist für uns nicht akzeptabel, weil es das Problem nicht löst. Dieser Schritt ebnet Agrobay den Weg dafür, gegen uns harscher vorzugehen. Deswegen setzen wir auf die Beschwerde in Deutschland, damit wir das Problem durch die Mechanismen innerhalb Deutschlands lösen."

Man habe versucht, mit den Anwälten von Agrobay Gespräche zu führen, bisher sei das aber nicht möglich gewesen, so Kocagöz.

Die türkischstämmige linke Europa-Abgeordnete Özlem Alev Demirel schrieb einen Brief an Lidl, was aus der Sicht von Kocagöz die Entscheidung des Konzerns beeinflusst haben könnte. Auch die Nichtregierungsorganisation Oxfam Deutschland bot der Gewerkschaft ihre Unterstützung an - was die türkischen Arbeiter inspirierte, die Beschwerde beim zuständigen beim Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) einzureichen.

Verstoß gegen das Lieferkettengesetz?

Der Vorwurf der Gewerkschaft: Trotz der aufgedeckten Rechtsverletzungen beendete der Konzern die Zusammenarbeit mit Agrobay nicht rechtzeitig und verstoße damit er gegen das neue deutsche Lieferkettengesetz, so Kocagöz.

Die entlassenen Arbeiter mit ihren Schildern: "Unser Gewerkschaftsrecht kann nicht verhindert werden" und "Agrobay, gib uns unsere Rechte”
Die entlassenen Arbeiter mit ihren Schildern: "Unser Gewerkschaftsrecht kann nicht verhindert werden" und "Agrobay, gib uns unsere Rechte”null Anka

Verstöße gegen das Gesetz können mit Bußgeldern von bis zu 800.000 Euro bestraft werden. Lidl hat fast 12.000 Filialen in 30 Ländern und erzielt einem Umsatz von rund 115 Milliarden Euro (Geschäftsjahr 2022/2023) - was den Konzern zum größten Discounter der Welt macht.

Im Rahmen des Gesetzes hätte Deutschland die Rechte dieser Arbeiter schützen können, habe dies aber nicht getan, beklagen sich die Arbeiter seit Monaten. Das seit Januar 2023 geltende Gesetz schreibt deutschen Unternehmen ab einer bestimmten Größe vor, in ihren Lieferketten sowohl im In- als auch im Ausland Menschenrechte und Umweltvorschriften zu berücksichtigen. Dies hat eigentlich Folgen für die türkischen Unternehmen, die mit Deutschland Handel betreiben - also auch für Agrobay.

Schwere Vorwürfe gegen Lidl

In den vergangenen Monaten führte Lidl Gespräche mit den Arbeitern. "Seit etwa zwei Monaten sind wir im Gespräch mit Lidl. Uns wurde gesagt, dass wir eine Abfindung bekommen würden, falls wir unseren Kampf aufgeben würden. Die Geschäfte mit Agrobay würden dann auch weiterlaufen. Dann gab es eine Unterbrechung unserer Gespräche. Man habe seine Meinung zur Abfindung geändert. Am Ende sagte Lidl uns, dass die geschäftlichen Beziehungen beendet worden seien", so Kocagöz. Lidl habe außerdem die Forderung der Arbeiter abgelehnt, die Beendigung der Zusammenarbeit vor der Presse anzukündigen, so Kocagöz.

Agrobay verklagte außerdem vor einigen Monaten die Arbeiter, die vor dem deutschen Konsulat protestierten. Grund: Sie hätten "die Handelsbeziehungen mit Deutschland beschädigt". Das Gerichtsverfahren läuft noch. Deutschland ist der wichtigste Handelspartner der Türkei und das wichtigste Zielland für türkische Exporte.

Konflikt beigelegt: Benin erlaubt die Verschiffung nigrischen Öls nach China

Benin wird den Export von nigrischem Öl über seinen Hafen jetzt erlauben, sagte die Regierung Benins am Mittwoch (15.05.2024). Damit sei ein entscheidender Schritt zur Lösung eines Handelskonflikts zwischen den westafrikanischen Nachbarn gemacht worden, der beiden Ländern großen wirtschaftlichen Schaden zuzufügen drohte. Die Annäherung kam unter Vermittlung der chinesischen Regierung sowie der chinesischen Unternehmen zustande, die die neu eingeweihte Pipeline zwischen Agadem, im Osten Nigers, und Sèmè Kpodji, im Süden Benins, betreiben.

Die Schließung der nigrisch-beninischen Grenzen hatte in den vergangenen Monaten vor allem die Staatseinnahmen Benins beeinträchtigt und für erhöhte Lebensmittelkosten gesorgt, was zu Protesten wegen der hohen Lebenshaltungskosten geführt hatte. Benin forderte die Öffnung der Grenzen zu Niger und setzte die Blockade der Ölexporte des Nachbarlands als Druckmittel gegen Niger ein. Was war der Auslöser für den Handelsstreit zwischen Benin und Niger?

Militärputsch in Niger: Auslöser des Konflikts

Die Spannungen zwischen beiden westafrikanischen Ländern begannen mit dem Militärputsch in Niger und der Festnahme des demokratisch gewählten Präsidenten Mohamed Bazoum im Juli 2023.

Die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) verurteilte den Putsch und verhängte Sanktionen gegen das nigrische Militärregime. Im Nachbarland Benin war der Protest gegen die Putschisten besonders laut: Präsident Patrice Talon forderte die Wiedereinsetzung Bazoums und sprach sich sogar für eine militärische Intervention von ECOWAS-Truppen gegen die Putschisten in Niger aus. Nigers Militärführer reagierten prompt und schlossen die Grenzen zum Nachbarstaat Benin.

Niger hält Grenzen zu Benin geschlossen

Ulf Laessing bereiste Niger erst vor wenigen Tagen. Er ist Leiter des Regionalprogramms Sahel der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung, die der konservativen Partei CDU nahesteht. Die Lage an der nigrisch-beninischen Grenze beschreibt Laessing im DW-Gespräch so: "An der Grenze zu Benin sind Truppen der nigrischen Armee stationiert. Die nigrische Regierung hat immer noch Angst, dass ECOWAS oder Frankreich versuchen könnten, per Militärintervention den gestürzten Präsidenten wieder einzusetzen. Auch wenn das völlig unrealistisch ist. Aber dort im Niger herrscht eine gewisse Paranoia vor."

Ein Mann sitzt in einem offenen Lastwagen am Straßenrand, dahinter stehen weitere LKWs
An der geschlossenen Grenze zwischen Benin und Niger kam es wie hier im September 2023 zu kilometerlangen Lastwagen-Stausnull AFP/Getty Images

Konsequenz der Grenzschließung: Der Handel zwischen beiden Ländern kam praktisch zum Erliegen, was große finanzielle Verluste, vor allem auf beninischer Seite zur Folge hatte. Vor dem Putsch wurde ein Großteil der nigrischen Importe über Benin abgewickelt: Lebensmittel, Autos, Konsumgüter - fast alles, was das Binnenland Niger importierte, kam über den Hafen von Cotonou.

Alternativrouten, beispielsweise über den Hafen von Lomé in Togo und dann durch Burkina Faso, galten lange als kompliziert und wegen islamistischer Umtriebe als sehr unsicher. Dennoch verlagerte Niger seine Importe zunehmend auf genau diese Route und baute seine Kooperation mit Burkina Faso aus. Das Land wird derzeit - ebenfalls nach einem gewaltsamen Putsch - von einer Militärjunta regiert.

Benin war alarmiert davon, dass die Beziehungen zu Niger zusammenbrechen und sich der Nachbarstaat gleichzeitig Burkina Faso annähert. Nachdem die ECOWAS Sanktionen gegen Niger im Februar aufgehoben hatte, verlangte Benin deshalb, dass Niger die gemeinsamen Grenzen unverzüglich wieder öffnet. 

Konflikt schaukelt sich hoch

Benin griff zu einem "höchst effektiven Druckmittel", wie es Laessing bezeichnet. Niger wollte damit beginnen, Rohöl über eine von China neu gebaute Pipeline zunächst nach Benin zu transportieren. Dort sollte das Öl auf Schiffe verladen werden, um es nach China zu exportieren. Benin verbot den Export über sein Territorium, solange die Grenzen geschlossen sind. Die Entscheidung wurde am 6. Mai auf höchster Regierungsebene getroffen und dem chinesischen Botschafter in Benin und der Pipeline-Management-Gesellschaft mitgeteilt.

Schiffe, die nigrisches Rohöl laden wollten, durften nicht in den beninischen Hafen einlaufen. Das brachte Niger in ernste Schwierigkeiten: Ein lukratives Geschäft, zu dem es keine Alternative gibt, stand auf dem Spiel. Es geht um mehr als 90.000 Barrel Rohöl am Tag. Der chinesische Staatskonzern China National Petroleum Corporation (CNPC) hatte entsprechende Vorverträge im Wert von 400 Millionen US-Dollar gerade unterschrieben. Erst vor kurzem wurde die fast 2000 Kilometer lange Pipeline fertiggestellt zwischen Agadem im Osten Nigers und Sèmè-Kpodji nahe dem Hafen von Cotonou in Benin.

War die Blockade rechtens?

Die Position Benins ist aus Sicht des beninischen politischen Analysten David Morgan "zumindest nachvollziehbar". Benin könne sich auf das Prinzip der Souveränität der Staaten sowie auf das Prinzip der Gegenseitigkeit berufen - also darauf, dass Niger die Grenze zum Nachbarland geschlossen habe und mit einer vergleichbaren Gegenmaßnahme rechnen müsse, so der Analyst. "Diese Maßnahme Benins zielte darauf ab, Niger dazu zu zwingen, seine Grenzen zu öffnen, damit die Bevölkerungen auf beiden Seiten der Grenze die Bedingungen für einen gemeinsamen Handel wiederfinden."

Hafen von Cotonou in Benin
Soll ein Schiff mit nigrischem Rohöl für China beladen werden, darf es momentan nicht in den Hafen von Cotonou einlaufennull AFP via Getty Images

Morgan gibt aber zu bedenken, dass Benins Blockadehaltung gegen das Völkerrecht verstoßen haben könnte. Im Internationalen Seerecht der Vereinten Nationen wird Binnenstaaten wie Niger ein Zugang zum Meer rechtlich zugesagt.

Großer ökonomischer Schaden

Für Ulf Laessing von der Adenauer-Stiftung habe der Konflikt in beiden Ländern großen wirtschaftlichen Schaden angerichtet. "Beide Länder sind aufeinander angewiesen. Aber Niger, so scheint es, braucht Benin mehr als umgekehrt, weil die Erdölexporte nur über Benin laufen können. Die Pipeline wurde ja so gebaut."

Tatsächlich braucht Niger die Einnahmen aus dem Rohölexporten nach China dringend: Seit dem Militärputsch vom Juli 2023 befindet es sich in großen finanziellen Schwierigkeiten. Laessing erinnert daran, dass westliche Staaten die Entwicklungszusammenarbeit, mit Ausnahme von humanitärer Hilfe, suspendiert haben. Deswegen seien die Erdölexporte für das nigrische Regime so wichtig.

Lösung unter Vermittlung Chinas

Ulf Laessing begrüßt, dass China jetzt offenbar erfolgreich im Konflikt vermitteln konnte. China pflege mit beiden Ländern gute Beziehungen und habe ein vitales Interesse, die Investitionen in der Region zu schützen. "China hat ja die Erdöl-Pipeline gebaut. Und es sind auch chinesische Unternehmen, die das Erdöl aus Niger kaufen", so Laessing.

Bau der Pipeline zwischen Niger und Benin mehrere Rohrteile und Baufahrzeuge auf einer Baustelle
Fast 2000 Kilometer lang: Die von China gebaute Pipeline zwischen Niger und Benin wurde gerade erst fertiggestelltnull Boureima Hama/AFP/Getty Images

Alle drei beteiligten Länder - Niger, Benin und China - messen dem Geschäft mit dem Rohöl eine große Bedeutung bei. Noch im April wurde die Fertigstellung der Pipeline von Vertretern aller drei Länder als "zukunftweisendes Projekt" gefeiert. Die Pipeline stehe für eine Zukunft in Wohlstand - und mehr Unabhängigkeit von den traditionellen Partnern in Frankreich und Westeuropa, hieß es.

Letztendlich brauchten Niger und Benin einander. Der Hafen Cotonou will weiter Importgüter für Niger umsetzen. Und Niger muss dringend sein Rohöl durch beninisches Territorium Richtung Cotonou pumpen, um eine Staatspleite zu verhindern. "Insofern ist es sehr zu begrüßen, dass beide Länder, abseits der feindseligen Rhetorik, unter Vermittlung der Chinesen, offenbar wieder zusammenkommen", so Ulf Laessing von der Adenauer-Stiftung.

Mitarbeit: Rodrigue Guézodjè (Cotonou, Benin)

Dieser Artikel wurde am am 16.05.2024 aktualisiert.

Militärdiktaturen kehren ECOWAS den Rücken

Sind die Deutschen faul geworden?

Ein Blick auf die Zahlen der Industriestaatenorganisation OECD kann schon erschrecken. Demnach arbeitete 2022 der durchschnittliche US-Amerikaner mehr als 1800 Stunden pro Jahr, der durchschnittliche Deutsche dagegen nur 1340 Stunden. Den Rückschluss, die Deutschen seien faul geworden, dürfe man daraus allerdings nicht ziehen, meint der Arbeitsmarktexperte Enzo Weber. Er forscht am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), eine Art Thinktank des Bundesagentur für Arbeit. 

"Deutschland hat eine sehr hohe Frauenerwerbsquote im Vergleich zu den meisten anderen Ländern", so Weber. Rund jede zweite Frau arbeitet in Teilzeit. Rein rechnerisch drückt das die durchschnittliche Jahresarbeitszeit nach unten.

Beispiel: Wenn zwei Männer in einem Land zehn Stunden arbeiten, ist die durchschnittliche Arbeitszeit zehn Stunden (10+10):2=10. Arbeiten in einem anderen Land zwei Männer zehn Stunden und eine Frau vier Stunden, dann ist die durchschnittliche Arbeitszeit acht Stunden (10+10+4):3=8.

Deutsche arbeiten mehr, nicht weniger 

"Die Zahlen bedeuten also nicht, dass in Deutschland weniger gearbeitet wird", sagt Weber. "Ganz im Gegenteil, es wird mehr gearbeitet, denn die Alternative wäre ja, dass diese Frauen gar nicht in der Statistik drin wären." Auch die OECD weist darauf hin, dass sich die Daten nur beschränkt zum internationalen Vergleich eignen würden.

In Deutschland haben sich die Zeiten, als Männer Vollzeit im Job waren und Frauen zu Hause, verändert. Inzwischen arbeiten 77 Prozent der Frauen - damit ist der Anteil der Frauen in der Berufswelt in den letzten dreißig Jahren deutlich gestiegen, auch wenn viele in Teilzeit beschäftigt sind.

Frau sitzt an einem Laptop, neben ihr sitzt ein Kind
Viele Frauen arbeiten in Teilzeit, weil sie sich auch noch um ihre Kinder kümmern müssennull Julian Stratenschulte/dpa/picture alliance

Wunsch nach weniger Arbeit ist da

Dabei würden die Deutschen durchaus gerne weniger arbeiten. Das haben Umfragen immer wieder gezeigt. Laut einer Studie des IAB möchten von den Frauen, die in Vollzeit beschäftigt sind, beinahe die Hälfte ihre Arbeitszeit um gut sechs Stunden reduzieren. Bei den Männern würden gerne knapp 60 Prozent um die 5,5 Stunden weniger arbeiten. Diese Wünsche gibt es bereits seit Jahrzehnten und sie haben sich im Zeitverlauf nicht sehr verändert.

Auch Gen Z ist besser als ihr Ruf

Besonders schlecht ist im Hinblick auf die Arbeitszeitwünsche, der Ruf der sogenannten Gen Z, also der Menschen, die in den Jahren 1995 bis 2010 geboren wurden. Sie wollen möglichst viel Freizeit und möglichst hohe Gehälter haben. So ein oft wiederholtes Vorurteil. Enzo Weber kann das nicht bestätigen. Der Mehrheit der Generation Z sei Erfolg im Beruf wichtig. Damit würden sie sich nicht von vorherigen Generationen unterscheiden, meint Weber.

"Ich glaube, alle wollen möglichst viel Freizeit und hohe Gehälter haben. Dagegen kann ich schlecht etwas sagen. Was wir für die Jungen finden: keine ungewöhnliche Entwicklung der Arbeitszeitwünsche, kein ungewöhnlicher Rückgang des beruflichen Engagements, nicht mehr Jobwechsel als junge Leute früher."

X-Tage Woche ermöglichen

Inzwischen haben sich zudem die Lebensmodelle der Deutschen verändert. "Den Alleinverdiener-Haushalt aus der Zeit des Wirtschaftswunders gibt es kaum noch", so Weber. Inzwischen würden in der Regel beide Partner arbeiten und bräuchten daher eine gewisse Flexibilität. "Jeder sollte frei wählen können, in welcher Lebensphase er wie viel arbeitet", meint Weber daher. "Wir brauchen keine 5- oder 4-Tage-Woche, sondern eine X-Tage-Woche und eine Flexibilisierung der Arbeit über die gesamte Lebenszeit." Mit flexibleren Arbeitsmodellen könnten auch Menschen im Ruhestandsalter motiviert werden, doch noch weiter zu arbeiten.

Die Corona-Pandemie habe gezeigt, dass ein flexibles und mobiles Arbeiten funktioniert, meint Weber. Diese Entwicklung ließe sich nicht wieder zurückdrehen. Und es sei sinnvoll, Arbeit so zu gestalten, dass Menschen damit zufrieden sind.

Verhandlungspositionen am Arbeitsmarkt verschoben

Die Forderungen nach kürzerer und flexiblerer Arbeitszeit, sind zudem in Zeiten von Fachkräftemangel und durch die Erfahrungen, die in der Corona-Pandemie gemacht wurden, leichter durchsetzbar als nach der Jahrtausendwende, als es Massenarbeitslosigkeit gab.

Wie aber passt "weniger Arbeiten" zusammen mit dem steigenden Bedarf an Fachkräften und dem Wunsch, keine Wohlstandsverluste zu erleiden? Allein durch die demografische Entwicklung wird erwartet, dass bis 2035 sieben Millionen Menschen weniger auf dem deutschen Arbeitsmarkt sein werden.

Ein Schweißer arbeitet mit Schutzbrille an einem Windrad
Der Fachkräftemangel wird sich in vielen Branchen in den kommenden Jahren noch verschlimmernnull Patrick Pleul/dpa/picture alliance

Produktivität ist ein Schlüsselfaktor 

Ein Hebel, wenn die Zahl der gearbeiteten Stunden nicht steigt oder sogar sinkt, ist, die Qualität der Arbeit, also die Produktivität zu steigern. Enzo Weber ist der Ansicht, dass es keinen Sinn mache, aus den Menschen die maximalen Arbeitszeiten rauszupressen. Er hält es für sinnvoller, die Qualität der Arbeit zu steigern: durch Fortbildung, durch Investitionen in Digitalisierung, KI und durch den ökologischen Umbau der Wirtschaft.

Wichtig sei eine proaktive Qualifizierungspolitik, glaubt Weber. Es dürfe also nicht gewartet werden, bis jemand vom Strukturwandel abgehängt wurde, um dann mit einer Notmaßnahme zu versuchen, ihn zu retten. Vielmehr müssten die Menschen in die Lage versetzt werden, selbst initiativ zu werden und selbst eine aktive Rolle spielen zu können.

Eine Krankenpflegerin schiebt ein Bett durch den Flur
In der Pflege lässt sich die Arbeitsproduktivität nur bedingt steigernnull Marijan Murat/dpa/picture alliance

Produktivitätswachstum hat sich sehr verlangsamt

Im Augenblick sieht es allerdings nicht rosig aus, was die Produktivität angeht. Da herrsche eher Stagnation, beklagt Weber. Zwischen 1997 und 2007 wurde in Deutschland noch ein Produktivitätswachstum von 1,6 Prozent erreicht, so eine Studie des McKinsey Global Institute (MGI). Im Zeitraum 2012 bis 2019 halbierte sie sich aber auf 0,8 Prozent. 

Das liegt unter anderem daran, dass viele Stellen in Bereichen mit geringerer Produktivität, etwa bei personalintensiven Dienstleistungen geschaffen wurden. In der Pflege, Erziehung oder im Bereich Gesundheit sind Produktivitätssteigerungen nur beschränkt möglich. 

Produktivität - warum sie in Deutschland kaum noch wächst

Die gesamtwirtschaftliche Produktivität ist auch gesunken, weil die Konjunktur schwächelt und viele Unternehmen aufgrund des Fachkräftemangels trotzdem ihre Mitarbeiter halten und damit die Arbeitskosten nicht verringert werden. Das senkt die Produktivität. Auch bei den Themen Investitionen in technologische Entwicklung, Digitalisierung und bei der ökologischen Transformation könnte mehr passieren, so der Tenor des Digitalrates der BDA(Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände).

Unabhängig von der Entwicklung der Produktivität gibt es aber auch noch viele ungenutzte potentielle Arbeitskräfte. "Dies betrifft nicht nur die Erwerbstätigkeit von Frauen und die Erhöhung der Arbeitszeit von Menschen in Teilzeit, sondern auch die vielen Migrantinnen und Migranten und Deutsche, die keinen Schul- oder Berufsabschluss haben und denen häufig schon früh viele Chancen genommen werden, ein produktiver Teil im Arbeitsleben sein zu können," meint Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin.

 

Gwadar: Darum stagniert Chinas Seidenstraßen-Hafen in Pakistan

Im November 2016 symbolisierte der Hafen in Gwadar Stabilität, Frieden und Wohlstand für Pakistan – zumindest laut dem damaligen Premierminister Nawaz Sharif. "Das ist der Beginn einer neuen Ära", sagte er in der Eröffnungszeremonie in Gwadar, als eine Reihe chinesischer Lastwagen eintraf, um Fracht auf das erste Container-Schiff im Hafen zu verladen. 

Das war zum offiziellen Betriebsbeginn des Hafens, rund zehn Jahre nachdem er fertig gebaut worden war. Die Zeremonie markierte auch den Beginn des prestigeträchtigen chinesisch-pakistanischen Wirtschaftskorridors (China-Pakistan Economic Corridor, CPEC), ein wichtiger Teil von Chinas weltweitem Infrastruktur- und Handelsnetz, der Neuen Seidenstraße (Belt and Road Initiative, BRI)

Heute jedoch, acht Jahre später, ist diese neue Ära noch immer nicht angebrochen. Eine DW-Analyse zeigt, was schief gelaufen ist. 

"Die Investoren dachten, Gwadar wird das nächste Dubai” 

Die Idee hinter CPEC war, Chinas westliche Xinjiang Provinz mit dem Meer zu verbinden – über Pakistan. Für China würde das Handelsrouten verkürzen und helfen, den umstrittenen Engpass in der Straße von Malakka zu vermeiden, der zwischen Malaysia und Sumatra liegt und den Indischen mit dem Pazifischen Ozean verbindet. Pakistan wiederum würde von zunehmendem Handel, Infrastruktur und Industrie entlang des rund 2000 Kilometer langen Korridors profitieren, der komplett von China finanziert wird. 

Zusätzlich zum bereits florierenden Hafen in Karatschi, sollte Gwadar den Korridor an das globale Schiffsnetz anschließen. Die kleine Fischerstadt liegt nahe der iranischen Grenzen, rund 500 Kilometer von Karatschi entfernt. Der neugebaute Tiefseehafen in Gwadar wurde 2007 fertiggestellt und 2013 an die chinesische Betreiberfirma übergeben. Dieser Tiefseehafen sollte das Herzstück von CPEC werden, umgeben von einer Sonderwirtschaftszone, die aus Gwadar eine lebhafte Hafenstadt machen sollte. 

Der Hafen habe Potenzial, sagt Azeem Khalid, Assistenz-Professor für internationale Beziehungen an der COMSATS Universität Islamabad, wo er zu chinesischen Investitionen in Pakistan forscht. "Es ist ein natürlicher Tiefseehafen, der größere Schiffe aufnehmen kann als Karatschi. Er liegt am Knotenpunkt des globalen Ölhandels. Und es würde Chinas Interessen in der Region festigen", so Khalid zur DW. 

Im eigenen Land hat China bereits bewiesen, dass es verschlafene Fischerdörfer in starke Wirtschaftszentren verwandeln kann. Shenzen, Chinas erste Sonderwirtschaftszone, ist das beste Beispiel: In nur vier Jahrzehnten wuchs die Stadt von rund 60.000 Einwohnern auf heute 17 Millionen an.

"Damals glaubten die Investoren, Gwadar werde das nächste Dubai", sagt Khalid.

Neue Seidenstraße: Chinas Anteil in Häfen in der ganzen Welt 

Pakistan ist nicht das einzige Land, das diese Vision verfolgt. Rund um die Welt hoffen Regierungen darauf, ihre Wirtschaft mit neuen oder ausgebauten Häfen und anderen Infrastrukturprojekten anzukurbeln. Und chinesische Banken leihen bereitwillig das Geld dafür. Oft sind es auch chinesische Firmen, die die Häfen bauen oder später betreiben. 

Mindestens 38 Häfen wurden mithilfe chinesischer Investitionen seit dem Jahr 2000 gebaut. Weitere 43 sind geplant oder werden derzeit gebaut. 78 fertige Häfen haben außerdem chinesische Anteilseigner, wie DW-Recherchen anhand mehrerer wissenschaftlichen Quellen ergaben.  

Diese Abkommen seien lukrativ für China, sagt Jacob Mardell, Journalist und ehemaliger Analyst bei der deutschen Denkfabrik Mercator Institute for China Studies. "Dieses Modell subventioniert im Prinzip chinesische Unternehmen", so Mardell. Chinesische Banken geben Kredite an Regierungen, die mit diesem Geld chinesische Baufirmen bezahlen, und den Kredit über die Zeit an die Bank zurückzahlen, erklärt Mardell. Unterm Strich verlasse das Geld China gar nicht, "während Steuerzahlende in anderen Ländern letztlich die Rechnung zahlen". 

Ein häufiges Muster scheint es zu sein, einen neuen Hafen relativ nahe zu einem bereits etablierten zu bauen – wie im Fall von Gwadar und Karatschi. Neue Häfen sollen dabei oft die älteren, weniger effizienten Häfen ergänzen oder langfristig ersetzen. 

Dieses Muster zeigt sich auch in Kamerun und Nigeria. In Kamerun soll der neugebaute Hafen in Kribi den oft überfüllten und zu seichten Haften von Douala ersetzen. In Nigeria wird der Hafen in Lagos ergänzt um den gerade eröffneten Tiefseehafen in Lekki, der weniger als 100 Kilometer entfernt ist. Beide Häfen werden finanziert und gebaut von chinesischen Firmen, die dem Staat gehören. 

Ähnlich auch 2017 in Sri Lanka: Die Regierung vergab einen 99-Jahre geltenden Pachtvertrag und eine Mehrheitsbeteiligung an China für den recht neuen Hafen in Hambantota, der ursprünglich den Haupthafen in Colombo entlasten sollte. 

Gwadar läuft schlechter als andere Häfen 

Im Hafen von Lekki legten im ersten Betriebsjahr 2023 rund 26 Schiffe an, laut Daten von Marine Traffic, einem Anbieter für Schifffahrtsdaten und –analysen.

Und obwohl Gwadar bereits 2007, also weit vor Lekki, fertiggestellt wurde, sind in Gwadars bestem Jahr nur 22 Schiffe angelandet. Bisher hat der Hafen auch keine Hochseeschifffahrtslinien, die regelmäßig dort anlanden würden. 

So wird in Gwadar fast keine Fracht umgeschlagen, die Einkommen für Pakistan generieren könnten – oder auch für die chinesische Betreiberfirma. Für Experten ist das nicht überraschend: Gwadar hat derzeit eine nur sehr geringe Kapazität. Seine drei Liegeplätze, an denen Schiffe be- und entladen werden, können nur 137.000 Standardcontainer von 20 Fuß Länge pro Jahr umschlagen. Zum Vergleich: Karatschi kann mit seinen 33 Liegeplätzen rund 4,2 Millionen solcher Container pro Jahr verladen. 

Und obwohl Häfen wie Kribi oder Lekki vergleichsweise klein sind, stellen sie Gwadar, das vermeintliche Herzstück des Handels mit Süd- und Zentralasien, in den Schatten. 

Obwohl Gwadar letztendlich das Potenzial habe, Karatschi zu überholen, seien es fehlende Investitionen, die das verhindern, so Khalid. Eine Erweiterung für 1,5 Milliarden Euro war für 2015 versprochen, aber seitdem hat sich nur sehr wenig getan. Große Teile der benötigten Infrastruktur, etwa Straßen und Schienen, um Güter von und nach Gwadar zu transportieren, fehlen. 

Satellitenbild Hafen von Gwadar
Luftbild vom Tiefseehafen in Gwadar im April 2023null Airbus via Google Earth

Öffentlich verkünden Investoren wie die China Pakistan Investment Corporation nach wie vor, dass Gwadar "sich zum Knotenpunkt für Handel und Investment in der Region entwickelt". Aber der leere Hafen legt das Gegenteil nahe. Mardell und Khalid sagen, dass hinter den Kulissen sowohl Pakistan als auch China desillusioniert sind, was das Projekt betrifft.

"Versprechen zu Arbeitsplätzen wurden nicht erfüllt. Versprechen für die Industrie wurden nicht erfüllt. Geschäftsmöglichkeiten für Pakistaner haben sich nicht verwirklicht", sagt Khalid. "[China] hat neun Sonderwirtschaftszonen versprochen. Heute funktioniert nicht eine davon vollständig."

Politische und wirtschaftliche Instabilität verhindern Erfolg 

Der Zustand der Entwicklungen in Gwadar spiegelt grob die Situation des restlichen Wirtschaftskorridors zwischen China und Pakistan wider. "CPEC hatte schon von Beginn an Probleme", sagt Mardell. 

Einige dieser Probleme sind spezifisch für die Grenzregion Belutschistan, in der Gwadar liegt. Es ist eine der ärmsten Regionen Pakistans und hat starke separatistische Milizen, die häufig Anschläge verüben, darunter auch einige gezielt gegen chinesische Staatsangehörige. Die Milizen wiederum werden vom pakistanischen Militär gewaltsam unterdrückt. 

Auf nationaler Ebene hat Pakistan in den letzten Jahren eine schwere Wirtschaftskrise durchlebt. Und nach dem Sturz des ehemaligen Premierministers Imran Khan im Jahr 2022 hat sich das Land noch nicht wieder komplett politisch stabilisiert.

"Da sich die politische und sicherheitspolitische Lage in Pakistan in letzter Zeit verschlechtert hat, wird das CPEC-Projekt dadurch noch mehr behindert", erklärt Mardell. 

China lernt aus seinen Fehlern in Pakistan 

Mardell glaubt, dass die chinesischen Entscheidungsträger verkalkuliert haben. "Wenn es um Entscheidungen über Investitionen geht, sind die Chinesen berühmt dafür, Risiko nicht zu scheuen", sagt er. Prinzipiell unbegrenzte staatliche Unterstützung für staatliche Investitions- oder Baufirmen, verbunden mit dem politischen Willen, schnell wettbewerbsfähig zu westlichen Volkswirtschaften zu werden, haben dazu geführt, dass China auch risikoreiche Projekte in weniger stabilen Ländern weltweit finanziere. 

"Ich glaube nicht, dass sie zu Beginn die Situation in Pakistan vollständig verstanden haben", sagt Mardell. Wobei sich das für andere Projekte in der Zukunft sicher ändere: "Ich denke sie haben aus ihren Fehlern mit der Neuen Seidenstraße und CPEC gelernt, und sind heutzutage wahrscheinlich zurückhaltender, Kapital zuzusagen."

In den letzten Jahren, insbesondere während der COVID-19-Pandemie, haben sich Chinas Ausgaben für Seidenstraßen-Projekte verlangsamt. Aber obwohl das Land heute womöglich selektiver ist bei der Auswahl von Projekten, haben die Investitionen insgesamt wieder zugenommen. Seidenstraßen-Investments liegen heute auf ähnlichem Niveau wie vor der Pandemie. 

 

Nicht rentable Investments treiben Länder in Schuldenfalle 

Dennoch: Länder wie Pakistan müssen jetzt hohe Schulden an chinesische Geldgeber zurückzahlen. "Pakistan muss Milliarden von Dollar an Krediten zurückzahlen, weil es bei CPEC leichtsinnig investiert hat", sagt Khalid. 

Ähnliche Fälle haben bereits zu Kritik geführt, dass China eine "Schuldenfallen-Diplomatie" betreibe, Partnerländern also erlaube, höhere Schulden aufzunehmen als diese realistisch abbezahlen können – mit dem Ziel, politischen Einfluss zu gewinnen. 

Über die Kreditzahlungen hinaus fließt auch ein Teil der Einnahmen aus neugebauten Projekten zurück an China. "China bekommt den Löwenanteil von allem", sagt Khalid mit Bezug auf die CPEC-Investitionen. Beim Hafen von Gwadar beispielsweise, gehen 90% der – noch begrenzten – Einnahmen an die chinesische Betreiberfirma. Die pakistanische Regierung erhält 10%, nichts geht an Landesregierung in Belutschistan.

Trotz all dieser Probleme werde CPEC, und damit auch Gwadar, wohl weiterverfolgt, sagt Mardell: "Auf gar keinen Fall wird China sein Gesicht verlieren und zugeben, dass es eine Katastrophe ist. Sich aus CPEC zurückzuziehen und Pakistan allein zu lassen, ist keine Option. China ist zu tief involviert und Pakistan ist als Bündnispartner zu wichtig."

Stattdessen hält er es für wahrscheinlich, dass China große Investitionen in Pakistan weiterhin hinauszögern werde, aber dennoch symbolische Bemühungen zeigt, um das Projekt am Leben zu halten.

Dennoch gebe es noch Hoffnung für Gwadar, sagt er: "Wenn sich die Situation in Pakistan verbessert, dann wird auch CPEC vielleicht wieder Fortschritte machen." 

Daten, Quellen und Code hinter dieser Analyse finden Sie in diesem Repository. Mehr datenjournalistische Geschichten der DW finden Sie hier.

Wie kann Ghana von teurem Kakao profitieren?

Kingsley Owusu ist in seinem Bezirk Afigya Kwabre in der ghanaischen Ashanti-Region bekannt. Zusammen mit anderen Landwirten baut er seit über 30 Jahren Ghanas wichtigstes Exportgut an: Kakao. Viele Jahre lang konnte er dank der Erträge seine Kinder ernähren, doch jetzt macht sich der 60-jährige Owusu Sorgen um seinen eigenen Lebensunterhalt.

"Meine Produktion ist aufgrund des Klimawandels und wegen Krankheiten zurückgegangen. Auch die illegalen Bergbauaktivitäten tragen dazu bei", erzählt Owusu der DW. Er verdiene kaum genug, um über die Runden zu kommen. Früher produzierte Owusu etwa zehn Säcke Kakao pro Saison, jetzt hat er Mühe, drei Säcke zu füllen.

Wer bestimmt den Kakaopreis?

Kakao ist eine milliardenschwere Industrie. Jährlich produzieren afrikanische Bauern Dreiviertel der weltweit geernteten 4,70 Millionen Tonnen Kakao. Ghana und die Elfenbeinküste allein produzieren fast 60 Prozent davon. Doch das spiegelt sich nicht in den Geldbörsen der Bauern wieder: Sie erhalten nur etwa fünf Prozent des Verkaufspreises einer Tafel Schokolade.

Ghana Kakaoanbau in der Krise
In den letzten Jahren ist die Produktionsmenge von Kakao in Ghana stark zurückgegangen. Die Gründe: überalterte Kakaobäume, schlecht bewirtschaftete Plantagen und extreme Trockenheit.null DW/Gerlind Vollmer

"Gemessen am Weltmarktpreis sollten wir mehr erhalten", sagt Kakaobauer Owusu zur DW und weist darauf hin, dass der Kakaopreis auf dem Weltmarkt aktuell bei 10.000 Dollar pro Tonne stehe. Der Kakaopreis wird vor allem an den Warenterminbörsen bestimmt, die sich nach Angebot und Nachfrage richten. Der Verkauf von Kakaobohnen basiert jedoch auf den Standards der einzelnen Länder, wobei die Kakaohandelssysteme in Afrika oft sehr unterschiedlich strukturiert sind.

In der Elfenbeinküste zum Beispiel, dem führenden Erzeuger, können Bauern ihre Bohnen an Genossenschaften verkaufen, denen sie angehören, oder direkt mit privaten Einkaufsgesellschaften handeln. In Ghana hingegen, dem weltweit zweitgrößten Kakao-Exporteur, können Bauern nicht mit externen Käufern handeln, sondern dürfen nur an die staatliche ghanaische Kakaobehörde COCOBOD verkaufen, die das Produkt dann auf dem Weltmarkt weiterverkauft.

Ghanas Bauern haben kein Mitspracherecht beim Preis

Und genau die soll nun helfen. COCOBOD kündigte in einer Erklärung an, dass die Zahlungen an Kakaobauern deutlich erhöht werden, "um das Einkommen der Kakaobauern zu verbessern". Anstatt des bisherigen Preises von 20.928 ghanaischen Cedis (1460 Euro / 1557 US-Dollar) pro Tonne wurde eine Erhöhung um fast 60 Prozent zugesagt: 33.120 Cedis pro Tonne. Das entspricht 2070 Cedis pro Sack Kakao mit einem Bruttogewicht von 64 Kilogramm.

Dieser Schritt reicht vielen der ghanaischen Bauern jedoch nicht. Auch Moses Djan Asiedu, Vorstandssekretär der West African Cocoa Farmers Organization, schließt sich den Bedenken an. "COCOBOD ist ein Preismacher, und der festgesetzte Preis entzieht sich der Kontrolle der Bauern. Wir denken, dass die Einrichtung, die den Preis festlegt, nicht fair ist", sagte er der DW.

Daher sei es wichtig, Kakaobauern eine Stimme und eine Plattform zu geben. Die Lösung: Kooperativen und Lobbyarbeit. "Wenn wir uns zusammentun und mit einer Stimme sagen, dass dies nicht erlaubt werden kann, kann das die Preisfrage verändern", so Asideu.

Terminverkäufe für mehr Sicherheit im Kakaogeschäft?

Der Sprecher des COCOBOD, Fiifi Boafo, erläuterte der DW, dass ein Anstieg der Kakaopreise auf dem Weltmarkt "den Landwirten die Möglichkeit bietet, ihr Einkommen zu verbessern", und fügte hinzu, dass sie mit den Landwirten "Terminverkäufe" abschließen.

Die ghanaische Politik der Weitergabe von Kakaoverkaufspreisen bedeutet jedoch, dass die Erzeuger von den Preisen abhängig sind, denen die Regierung zustimmt, ohne ein unabhängiges Mitspracherecht zu haben. Laut COCOBOD soll diese Politik sowohl der Regierung als auch den kakaoproduzierenden Bauern eine kollektive Kontrolle über die Mechanismen von Angebot und Nachfrage auf dem Rohstoffmarkt ermöglichen. Dies soll zukünftige Kakaolieferungen sichern, etwaige Preisschwankungen ausgleichen und gleichzeitig den Markt stabilisieren.

Wie man in Ghana Kakaobauer wird

Bauern-Fürsprecher Asiedu kritisiert diese Regelung: Sie mache kakaoproduzierende Länder wie Ghana hilflos, wenn es darum geht, faire Preise für alle zu sichern. Asiedu sieht in der staatlichen Einmischung die Ursache für die Benachteiligung der Produzenten: "Die Regierung betrachtet nur die Kosten, die mit der Verarbeitung des Kakaos verbunden sind, bevor sie den Bauern einen Preis anbietet", sagte er der DW.

Schmuggel auf den freien Markt

COCOBOD-Vertreter Boafo räumt ein, dass diese Politik des Vorwärtsverkaufs von Ghanas Kakao die Gewinnmöglichkeiten der Bauern einschränkt, wenn wie aktuell die Preise auf dem Weltmarkt gestiegen sind. Er ist jedoch der Meinung, dass die ghanaische Regelung auch ihre Vorteile hat und die Landwirte in der Vergangenheit geschützt hat, indem sie verlässliche Preise für ihre Ernten festlegte.

Viele ivorische und ghanaische Landwirte schmuggeln ihre Bohnen in Länder wie Kamerun, Togo oder Burkina Faso, in denen sie mehr Geld einbringen, da sie dort privat verhandeln können. Die Regierung hatte sich erhofft, durch die Preisanpassungen Landwirte zu ermutigen und den Schmuggel zu verhindern. Ghana hat im vergangenen Jahr 150.000 Tonnen Kakaobohnen durch Schmuggel verloren, wie COCOBOD-Geschäftsführer Joseph Boahen Aidoo mitteilte. COCOBOD arbeitet daher mit der Polizei zusammen, um den Schmuggel von Kakao in die Nachbarländer einzudämmen.

Prämien für gute Kakaoqualität - ein Lösungsansatz?

In Ghana schrumpfe der Kakao-Sektor, beklagt Bauernvertreter Asiedu. Viele Bauern geben entweder ihren Betrieb auf oder gehen in den Ruhestand, ohne dass jemand den Hof weiterführt. "Etwa 70 Prozent der Bauern sind überaltert. Ihnen fehlt die Kraft, ihre Farmen zu erhalten, vor allem, weil sie nicht genug Geld für ihre Arbeit bekommen", erklärte Asiedu.

Um diesen Trend zu stoppen, erklärten sowohl die Elfenbeinküste als auch Ghana im Jahr 2019, dass Kakaokäufer eine zusätzliche Prämie von 400 US-Dollar pro Tonne gekaufter Kakaobohnen zahlen müssen, um den sich verändernden Kakaoarbeitsmarkt zu kompensieren - das sogenannte Living Income Differential.

Eine neue Studie der humanitären Organisation Oxfam legt jedoch nahe, dass dieser Ansatz gescheitert ist: Zum einen aufgrund der steigenden Rohstoffpreise, zum anderen, weil die Händler auch eine ausgehandelte Prämie für Kakao zahlen, die auf Qualitäten wie Geschmack, Fettgehalt oder Bohnengröße basiert - das so genannte "Länderdifferential". Viele Kakaokäufer reduzierten die Länderzuschläge für die Elfenbeinküste und Ghana, nachdem diese die 400-Dollar-Prämie zur Unterstützung der Bauern eingeführt hatten.

Die Kakaobohnen gehen aus

Unterdessen bahnt sich eine weitere große Krise für den Kakao an: An afrikanischen Kakaopflanzen wachsen weniger Bohnen. Zwischen 2021 und 2022 produzierte Ghana rund 750.000 Tonnen Kakaobohnen - doch die ghanaische Kakaoproduktion für die Saison 2023/2024 wird voraussichtlich um fast 40 Prozent fallen. Dies sei der Auslöser dafür, dass die Preise auf dem Weltmarkt 10.000 Dollar pro Tonne überschritten haben, so Boafo.

Auch Faktoren wie der Klimawandel bedrohen den Kakao-Sektor, so Asiedu. "Wir haben ungewöhnliche Regenfälle und Dürren, und manchmal kann man das nicht vorhersagen. Landwirte müssen eine ganze Reihe von Probleme, wie Krankheiten, in den Griff bekommen", sagt er der DW. "Manchmal wird auch der Zugang zu Pestiziden zur Krankheitsbekämpfung zum Problem".

Boafo fügt hinzu, dass zum Schutz des Sektors und zur Bekämpfung der globalen Erwärmung intelligente Anbaumethoden angewandt werden müssten: "Der Klimawandel ist ein großes Problem. Es ist wichtig, dass wir in der Lage sind, mit den Auswirkungen des Klimawandels umzugehen."

Ghana: Nachhaltigkeit im Kakaoanbau

Dafür sicherte sich COCOBOD im Februar bei der Weltbank ein Darlehen von 200 Millionen US-Dollar für die Sanierung von Plantagen, um von Krankheit befallene Kakaobäume zu entfernen und zu ersetzen und Pflanzen bis zur Fruchtbildung aufziehen, bevor sie an die Bauern zurückgegeben werden.

Die Verantwortung der Kakao-Käufer

Um jedoch das Grundproblem des fairen Preises zu lösen, bedarf es einer Zusammenarbeit zwischen Produktionsländern und den Käufern des Rohkakaos, die den größten Einfluss auf die Preise haben, die den Bauern gezahlt werden. In diesem mittlere Bereich der Lieferkette müsse sich etwas ändern, so das Kakaobarometer 2022, eine Studie, die hauptsächlich aus Entwicklungsgeldern unter anderem Deutschlands finanziert wurde.

"Die Kakaobauern sind bereit, wir nehmen die Herausforderung an, etwas gegen die derzeitige Situation zu tun, weil unsere Lebensgrundlage bedroht ist", so Asiedu. "Aber wir haben nicht das Zeug dazu, alle Probleme zu lösen, und wir brauchen die Unterstützung anderer Akteure: Verarbeiter, Chocolatiers, Transporteure."

Große Schokoladenunternehmen wie etwa Cemoi und Nestlé haben sich bereits verpflichtet, Bauern mehr Geld für nachhaltige Praktiken zu zahlen. Doch das Kakaobarometer argumentiert, dass diese Art von Programmen vage und ineffektiv sind: "In der Praxis zahlt kein einziges großes Schokoladen- oder Kakaounternehmen höhere Preise ab Hof."

Tony's Chocolonely, ein Schokoladenunternehmen, das von niederländischen Journalisten gegründet wurde, hat längerfristige Verträge mit Bauern geschlossen, die auf angemessenen Preisen basieren. Diese Preise hängen vom Referenzpreis für ein existenzsicherndes Einkommen ab, einem Zuschlag, der den Landwirten gezahlt wird, um ein existenzsicherndes Einkommen zu erzielen, das mit den Lebenshaltungskosten steigt. Dieser Zuschlag ist im Rahmen von Fairtrade freiwillig.

Doch eine freiwillige Zahlung fairer Preise ist keine langfristige Option. Es ist Zeit, dass "Schokoladengiganten ihren Worten Taten folgen lassen", so Amitabh Behar, Interimsgeschäftsführer von Oxfam International Behar. Denn erst wenn auch die Bauern vom Geschäft leben können, ist es ein süßer Deal für jeden im Kakao-Geschäft.

 

Adaptiert aus dem Englischen von Silja Fröhlich

Katalanische Wirtschaft blüht trotz Separatismus

"Madrid zahlt nicht." So lautet der Standard-Satz vieler Katalanen, wenn sie über versprochene, aber nie ausgeführte Investitionen der Zentralregierung in ihrer Region sprechen. Dieser Satz fällt mir sofort ein, als ich aus dem Hochgeschwindigkeitszug in Barcelona Sants aussteige. Hier um den Bahnhof herum ist alles etwas schmutziger und kaputter als in der geordneteren Hauptstadt Madrid.

Mir stellt sich aber auch die Frage, wo eigentlich das ganze Geld bleibt, das die wirtschaftlich pulsierende Region Katalonien selbst einnimmt. Nach Angaben der staatlichen Förderagentur Biocat sind in hier 79 Fabriken angesiedelt, die fast 16.000 Menschen beschäftigen, darunter die wichtigsten Pharmaunternehmen und Autozulieferer des Landes.

Bei den vorgezogenen Regionalwahlen am 12. Mai in Katalonien werden staatliche und regionale Investitionen eine wichtige Rolle spielen. Auslöser für das Vorziehen des Urnengangs um fast ein Jahr war, dass es der Regierung nicht gelungen war, ein Budget zu verabschieden.

Schon zuvor hatte es immer wieder Streit um den Haushalt geben. 2022 war die seit 2017 regierende Koalition zweier separatistischer Parteien zerbrochen. Die liberal-konservative Partei Junts per Catalunya ("Zusammen für Katalonien") hatte die Zusammenarbeit mit der linken Esquerra Republicana de Catalunya (ERC) aufgekündigt und die Regierung verlassen.

Spanien | Verabschiedung Amnestiegesetz | Pedro Sanchez
Spaniens Premierminister Pedro Sanchez (v.l.) applaudiert zur Verabschiedung des umstrittenen Amnestiegesetzes für katalanische Separatisten im spanischen Parlament am 14.3.2024null Manu Fernandez/AP Photo/picture alliance

In den aktuellen Wahlumfragen liegt derzeit der katalanische Ableger der Sozialisten in der Nationalregierung, die PSC, vorne. Sie stellen bereits den Bürgermeister von Barcelona und liegen auf Linie mit Spaniens Premierminister Pedro Sánchez. Der versucht seit seinem Amtsantritt 2018, die Katalanen davon zu überzeugen, dass die Zugehörigkeit zu Spanien die beste Option ist. 

Kataloniens Unternehmer wollen ihre Ruhe

Der spanische Unternehmensberater Juan Linares hält den gesamten Diskurs über eine Unabhängigkeit Kataloniens von Spanien, wie er in den vergangenen Jahren geführt wurde, für Zeitverschwendung. Der 65jährige hat lange in Madrid gelebt, kommt aber eigentlich aus Barcelona. Er ist Halbamerikaner und liebt das kosmopolitische Flair der Stadt: "Nationalismus jeglicher Art wirkt in diesem internationalen und wirtschaftlich pulsierenden Kontext komplett weltentrückt."

Seit einiger Zeit lebt er wieder in Katalonien und merkt, dass "die Abhängigkeit von Spanien und dem dortigen Geld unbestreitbar ist. Aber Spanien braucht umgekehrt auch Katalonien."

Fast ein Drittel der spanischen Exporte kommt aus der Region, wo vor allem Lebensmittel, Autos, Medikamente und Maschinen produziert werden. "Über die Häfen in Tarragona und Barcelona wird Spaniens Markt versorgt", erklärt Jorge Díaz, Dozent an der Madrider Elite-Universität Icade.

Katalonien gilt zudem als wichtigster Arbeitgeber des Landes. Die Zahl der Einwohner ist deshalb in 20 Jahren von sechs auf acht Millionen gewachsen. Die Arbeitslosenrate liegt bei unter 9 Prozent ist damit geringer als das nationalen Niveau von etwas mehr als 11 Prozent.

"Mit der Universidad Pompeu Fabra und der Autonomen Universität in Barcelona hat Katalonien auch zwei der besten Hochschulen des Landes", sagt Díaz.

Das wachsende Interesse von jungen Talenten aus aller Welt am Arbeitsstandort Katalonien ist auch der Branchenmesse Mobile World Congress zu verdanken. Die findet seit 2006 jedes Jahr in Barcelona statt und versammelt Größen der Mobilfunk- und Techbranche.

"Dank jahrzehntelang gewachsener Ökosysteme ist Katalonien zudem immer noch das industrielle Herz Spaniens", sagt Díaz. Die VW-Tochter Seat hat ihr Werk in Barcelona gerade zu einem Zentrum für Elektromobilität und Innovationen ausgebaut.

Spanien | Barcelona Vertragsunterzeichnung Ebro-EV Motors und Chery Automobile
Vertreter von Ebro-EV Motors und Chery bei der Vertragsunterzeichnung für ein gemeinsames Autowerk am 19.4.2024 in Barcelonanull Joan Gosa/Xinhua/IMAGO

Auch Chery, Chinas drittgrößter Autobauer, will bald in Barcelona produzieren. In einem Joint-Venture mit dem spanischen Unternehmen EV Motors und dessen Marke Ebro sollen die ersten Wagen noch in diesem Jahr in der früheren Nissan-Fabrik vom Band laufen.

Barcelona als Hub für Life Science in Europa 

Die Financial Times hat Barcelona 2023 als erfolgreichste europäische Stadt beim Anwerben von ausländischen Direktinvestitionen gekürt. Allein im schnell wachsenden Life-Science-Sektor konnte sie ihren Umsatz zwischen 2017 und 2021 von 18 Milliarden auf fast 22 Milliarden Euro.

Einige Krankenhäuser in Barcelona gehören zu den besten Europas, darunter das Hospital Sant Joan de Deu, Hospital Clínic und das Vall D'Hebron. Hier finden inzwischen mehr klinische Testphasen von Medikamenten und Therapien statt als in Deutschland.

Das wiederum ist ein Grund für den Pharmakonzern AstraZeneca, in den kommenden fünf Jahren 800 Millionen Euro in ein Entwicklungszentrum in Barcelona zu investieren und damit 1000 neue Jobs zu schaffen.

Der Ciutadella Park wird gerade in einen "Knowledge Hub" umgebaut, der mit der Eröffnung 2025 auch ein Raum für die Wissenschaften werden soll. Die in Barcelona ansässige Caixabank finanziert ein Forschungsinstitut für Immunologie. Die private Stiftung der ehemaligen Sparkasse ist eine der größten der Welt und ein politisch unabhängiger Förderer der katalanischen Wirtschaft. 

Spanien | Barcelona Park La Ciutadella
Parc de La Ciutadella in der Altstadt von Barcelona. Hier liegt auch das Regionalparlament Kataloniensnull Robert Poorten/IMAGO

Die Partei Junts per Catalunya wurde 2020 vom ehemaligen katalanischen Regierungschef Carles Puigdemont gegründet. Er kandidiert auch für die Wahl am 12. Mai für Junts, obwohl er seit 2017 im Exil in Belgien lebt.

Als Kandidat aus dem Exil will er aber nicht über wirtschaftliche Erfolge in seiner Region reden, sondern über ein Referendum. Weil Puigdemont im Oktober 2017 bereits eine illegale Abstimmung durchführte und danach die katalanische Republik ausrief, wurde in Spanien ein Haftbefehlt gegen ihn erlassen. Puigdemont floh nach Spanien, das ihn nicht an Spanien ausliefert.

In den vergangenen Jahren hat er als Abgeordneter des Europäischen Parlaments oft gegen Spanien gewettert, das er "Unterdrückerstaat" nennt. Spaniens Premier Sánchez hat ein Amnestiegesetz ermöglicht, das Puigdemont nun theoretisch Straffreiheit verspricht, sollte er wieder nach Spanien zurückkehren.

Für den katalanischen Wirtschaftsverband Cercle d'Economia ist das Amnestiegesetz ein notwendiges Übel. Die dort organisierten Unternehmen wollen sich wieder ganz auf ihre Geschäfte konzentrieren. Und die laufen gut: Die regionale Wirtschaft wuchs nach offiziellen Angaben 2023 um 2,4 Prozent, in diesem Jahr wird mit 1,8 Prozent gerechnet.

Der Traum von der Unabhängigkeit

Aber das Thema Unabhängigkeit bleibt trotz aller wirtschaftlichen Erfolge erst einmal auf der politischen Agenda. Sollten die Sozialisten von der PSC die Wahl, wie es die Umfragen nahelegen, gewinnen, werden sie auf die Unterstützung der ERC angewiesen sein. Deren erklärtes Ziel ist ein legales Referendum über die Frage eines eigenen katalanischen Staates.

Spanien | Barcelona Wahlurne Referendum Katalonien
Protestkundgebung am 1.10.2023 zum sechsten Jahrestag des Referendums. Ein Mann trägt eine Wahlurne, die damals bei der illegalen Abstimmung eingesetzt wurdenull Paco Freire/SOPA Images/IMAGO

Auch mir als ausländischer Beobachterin scheint diese Idee in einer Weltstadt wie Barcelona anachronistisch. Ich gehe vom Bahnhof Barcelona Sants rüber zum Plaça d'Osca, einem kleinen Platz, wo Dreck und Laub von vielen Monaten auf der Erde liegt. Sollten die Sozialisten und ihr Kandidat, der studierte Philosoph Salvador Illa, die Wahl tatsächlich gewinnen und eine Regierung bilden können, dann haben sie bei einem Teil der katalanischen Bevölkerung auf jeden Fall noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten.

Hier, in diesem Viertel von Barcelona, wo vor allem die alternative Szene zuhause ist, wirkt nicht nur alles etwas schmuddeliger, in manchen kleinen Restaurants und Bars steht auch immer noch eine Wahlurne vom illegalen Referendum am 1. Oktober 2017 im Regal.

In solchen Lokalen wird ungern Spanisch gesprochen und beim Tischgespräch gerne argumentiert, dass die hohen Schulden der katalanischen Regierung und auch der Schmutz auf den Straßen und Plätzen ganz klar mit Madrid zu tun hätten: "Die zahlen einfach nicht."

UN wollen Diebstahl geistigen Eigentums bekämpfen

Vor einigen Jahren wurde der deutsche Professor Tim Dornis, Experte für den Schutz geistigen Eigentums, während eines Sabbatjahres in Kalifornien vom Generalsekretär der GRUR, der Deutschen Vereinigung für gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht, angesprochen: "Wir sehen gerade eine sehr wichtige Entwicklung in Genf", sagte dieser, "die wir uns näher ansehen müssen. Das könnte etwas Bahnbrechendes sein."

Genf ist der Sitz der WIPO, der World Intellectual Property Organization, eine UN-Agentur zum weltweiten Schutz geistigen Eigentums (IP: Intellectual Property). IP-Gesetze befassen sich mit dem rechtlichen Schutz und den Eigentumsrechten jener Menschen, die mit geistigen Mitteln Neues schaffen - Kunstwerke ebenso wie Erfindungen und schriftliche Arbeiten.

Dornis, der die GRUR bereits bei anderen WIPO-Konferenzen vertreten hatte, reiste in die Schweiz und schaute genauer auf das, was bei der WIPO gerade geschieht. "Und da", erzählte er der DW, "sah ich, dass das wirklich etwas Grundlegendes, Bahnbrechendes sein könnte."

Zwischen dem 13. und dem 24. Mai soll eine Konferenz auf diplomatischer Ebene in Genf ein international gültiges gesetzliches Instrumentarium schaffen, das die "Wirksamkeit, die Transparenz und die Qualität des Patentsystems" verbessert. Laut einer Presseinformation der WIPO soll verhindert werden, dass "Patente fälschlicherweise für Erfindungen vergeben werden, die weder neu sind noch Neues in Bezug auf genetische Ressourcen und traditionelles Wissen, das mit genetischen Ressourcen verbunden ist, schöpfen."

WTO-Hauptsitz im schweizerischen Genf
Mit der Gründung der Welthandelsorganisation WTO kam auch das Thema Bio-Piraterie auf die internationale Agendanull Lian Yi/Xinhua/picture alliance

Ausbeutung und Aneignung

Seit mehr als 25 Jahren drängen Entwicklungsländer und indigene Völker auf die Einführung von IP-Gesetzen, die ihre lokale Fauna und Flora, ihr tradiertes Wissen und ihre Kultur vor der Ausbeutung durch Fremde besser schützt. In den vergangenen Jahren sind Rufe nach größerer Verantwortlichkeit durch Unternehmen lauter geworden, die das geerbte Wissen oder das kulturelle Erbe fremder Länder oder indigener Kulturen nutzen.

Modefirmen werden zur Rede gestellt, weil sie traditionelle Elemente in ihren Kollektionen verwenden. Pharmakonzerne stehen unter Beobachtung, wenn sie medizinisch wirksame Pflanzen in ein Medikament verwandeln, dass sie dann verkaufen. Kritiker dieser Praktiken sprechen im ersten Fall von kultureller Aneignung und im zweiten, wenn es um den Gebrauch genetischer Ressourcen etwa bei Pflanzen geht, von Biopiraterie.

"Das fällt nicht wirklich in das bereits existierende IP-System, wie etwa das Patentrecht oder das Urheberrechtsgesetz", sagt Wend Wendland, Direktor der Abteilung Traditionelles Wissen, genetische Ressourcen und kulturelle Traditionen bei der WIPO zur DW.

Ein langwieriger Prozess

Die Diskussion über gesetzliche Maßnahmen in diesem Bereich hatte schon viel früher begonnen, nämlich 1995 unmittelbar nach der Gründung der Welthandelsorganisation WTO. Dabei wurden internationale Standards für die Rechte am geistigen Eigentum formuliert, die alle WTO-Mitglieder umsetzen mussten.

In Indien zeigte sich bei der Umsetzung dieser Standards Beunruhigendes: Fremde Länder, in der Hauptsache Industriestaaten wie etwa die USA, hatten Patente beantragt für Produkte, die in Indien seit Jahrhunderten Teil traditioneller Praktiken sind.

Viswajanani Sattigeri, Vorsitzende der TKDL (Traditional Knowledge Digital Library), eine Initiative, die das traditionelle Wissen der indischen Kultur sammelt und digital archiviert, nannte der DW Beispiele dafür: "Da ist etwa Gelbwurz, oder Kurkuma, das zur Förderung der Wundheilung eingesetzt wird oder der Basmatireis wegen seiner pilztötenden Eigenschaften und so weiter."

Sattigeri erklärt, worin das Problem besteht: Wenn auf der Grundlage des traditionellen Wissens einer Gemeinschaft ein Patent an eine fremde Partei erteilt wird, wird der Patenthalter zum "Eigner" dieses Wissens: "Die Nation verliert ihr ureigenes Erbe und ihr tradiertes Wissen."

Eine ugandische Farmerin mit einer Bastschale voller Samen
Eine ugandische Farmerin mit einer Bastschale voller Samen - doch welche "gehören" ihr überhaupt noch?null DW

Wissensverlust aufhalten

Die 193 Mitgliedsstaaten der WIPO wollen in Genf ein Übereinkommen ratifizieren, das zu einem umfassenderen Schutz der strittigen Werte führt. Dazu hat sie diese Werte in drei Bereiche unterteilt, die besonders bedroht sind: genetische Ressourcen, traditionelles Wissen und kulturelles Erbe. Genetische Ressourcen umfasst biologisches Material etwa von Pflanzen oder Tieren, das genetische Informationen enthält, während traditionelles Wissen oder Kulturgut über Generationen weitergegebenes Wissen ist, das meist mündlich überliefert wird.

Das betrifft das Wissen über Nahrungsmittel, Landwirtschaft, Gesundheitsversorgung. Biodiversität und anderes. Kulturelles Erbe sind künstlerische Werke, die die Überlieferung und die Identität einer Gruppe spiegeln, wie etwa Musik, Design oder Kunst allgemein. "Das verändert das klassische Verständnis von 'geistigem Eigentum'", sagt Dornis. "Es könnte das System aufbrechen, in dem viele Dinge einfach ungeschützt sind."

Bei der gegenwärtigen IP-Gesetzeslage endet der Schutz für Werke geistiger Arbeit einige Jahre nach dem Zeitpunkt ihrer Entstehung. Viele Kulturgüter und -praktiken sind über hunderte von Jahren entwickelt und weiter gegeben worden, so dass sie gar nicht geschützt sind. Und es gibt auch nicht einen einzelnen Schöpfer oder Urheber, dem ein Patentrecht zustehen könnte. Schließlich ist dieses Wissen kollektiv entstanden und entwickelt worden und es ist daher schwierig, seine Entstehung einer bestimmten Gemeinschaft oder Region zuzuordnen.

Das macht es einer fremden Partei leichter, sich dazwischenzuschalten, das Wissen einer Gemeinschaft zu sammeln und zu nutzen und es dann in ihrem eigenen Land patentrechtlich schützen zu lassen. Das, sagt Dornis, ermöglicht es weiterentwickelten Ländern, Wissen zu nutzen, ohne dessen Urheber dafür zu bezahlen. "Wenn Sie eine pharmazeutische Entwicklung dringend brauchen, dann müssen sie für das medizinische Produkt, das auf Ihren genetischen Ressourcen beruht und ihrem traditionellen Wissen entspringt, bezahlen - weil es ja patentgeschützt ist."

Eine traditionelle Öl-Behandlung im Ayurveda, ein 'Janu Basti', zur Behandlung von Knieschmerzen
Ayurveda: Eine traditionelle Öl-Behandlung, ein 'Janu Basti', zur Behandlung von Knieschmerzennull Sam Panthaky/AFP/Getty Images

Offenlegung und Entschädigung

Die Konferenz im Mai fokussiert sich auf die genetischen Ressourcen. Es soll gesetzliche Voraussetzungen schaffen, damit jene, die innerhalb der WIPO ein Patent beantragen, offenlegen müssen, woher die Pflanze oder das traditionelle Wissen, das sie nutzen wollen, kommt und ob sie die Erlaubnis haben, es auch zu nutzen. Solle es zu einer solchen Übereinkunft kommen, wird sich der Fokus im Anschluss darauf richten, wie man die anderen Kriterien klarer definieren kann.

Der Gesetzesentwurf zielt auch darauf ab, Datensammlungen wie die von Sattigeri aufzubauen. Das TKDL in Indien, die weltweit erste Datenbank ihrer Art, hat über Jahrzehnte hinweg Information - viele von ihnen in Sanskrit - gesammelt und übersetzt und eine Datensammlung geschaffen, mit der Patentanwälte arbeiten können. Sattigeri zur DW: "Wir haben uns auf indische Gesundheitssysteme, namentlich Ayurveda und Unani, konzentriert und darauf, welche Yoga-Schulen es hier gibt und auf ein große Wissen über alles, was Gesundheit - einschließlich Tier- und Pflanzengesundheit - angeht und über Kosmetik."

Bei einem Patentantrag können Anwälte solche Datenbanken nutzen und herausfinden, ob es Ähnliches nicht bereits schon gibt. Auch Staaten können profitieren, wenn sie Patentrechten nachspüren und sie herausfinden wollen, ob diese nicht vielleicht auf Ressourcen oder Traditionen fußen, deren Ursprung in ihren Ländern liegt.

Geld und Respekt

Länder mit einer reichen Biodiversität fordern schon seit Jahrzehnten solche Offenlegungspflichten. Die WIPO-Übereinkunft, sollte sie zustande kommen, wird keine Entschädigungsverpflichtungen formulieren. Aber bereits bestehende Umwelt-Gesetze legen bereits jetzt fest, dass finanzielle Gewinne von Erfindungen mit dem Land, in dem sie ihren Ursprung haben, geteilt werden müssen. Strengere Entschädigungsgesetze könnte so zu höheren Ausgleichszahlungen für solche Länder führen.

Laut Wend Wendland von der WIPO sehen viele Entwicklungsländer die angestrebte Regulierung als einen wichtigen Schritt nach vorn: "Deshalb ist es ihnen wichtig. Es ist sehr technokratisch, aber es hat eine lange Geschichte. Und darin liegt auch sehr viel Symbolismus für viele Länder, ganz besonders in den Entwicklungsländern."

 

Türkei stoppt Handel mit Israel – was nun?

"Die intensiven Handelsbeziehungen halten wir nicht mehr am Laufen. Die Sache ist vorbei." Mit einem Lächeln antwortete der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan so vor rund zwei Wochen beim Staatsbesuch des deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier auf die Frage der DW nach dem Stand der Beziehungen zu Israel.

Zu diesem Zeitpunkt galt noch die vage Ansage, die Türkei werde den Export von 54 Produkten nach Israel "einschränken". Wenige Tage nach Erdogans Statement kam dann die Ankündigung des türkischen Handelsministeriums, Ankara werde seine Handelsbeziehungen mit Israel vollständig aussetzen.

Nicht mehr "problemlos"

Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die beiden Länder trotz der angespannten politischen Beziehungen lukrativen Handel gepflegt.

In einem 2022 veröffentlichten Bericht des türkischen Exporteursverbands TIM wird der bilaterale Handel als der "problemloseste Bereich" zwischen den beiden Ländern beschrieben: "Der Handel zwischen der Türkei und Israel hat eine stabile, von den politischen Besorgnissen unabhängige Struktur." Davon kann nun keine Rede mehr sein.

Das Volumen des gemeinsamen Handels lag 2022 bei gut neun Milliarden US-Dollar. Israel lieferte Waren im Wert von mehr als zwei Milliarden Dollar in die Türkei. Umgekehrt beliefen sich die Exporte der Türkei nach Israel auf rund sieben Milliarden Dollar.

Im Jahr 2023 ging das gemeinsame Handelsvolumen laut Reuters dann bereits auf rund sieben Milliarden US-Dollar zurück.

Negative Aussichten für die Türkei

Wie wird sich der Handelsstopp nun auf die bereits angeschlagene türkische Wirtschaft auswirken?

Oguz Oyan, emeritierter Ökonom und ehemaliger Politiker der größten Oppositionspartei CHP (Republikanische Volkspartei) prognostiziert, dass diese Entscheidung die Suche der Türkei nach ausländischen Investitionen beeinträchtigen wird.

Die ohnehin schwierige Lage der türkischen Wirtschaft könnte sich daher noch verschlimmern: "Der Westen - also die USA und Europa - sieht Länder, die Israel sanktionieren, nicht positiv", so Oyan.

"Der Handelsstopp wird nicht nur die Beziehungen zu Israel negativ beeinflussen, sondern auch die zu den Finanzmärkten - und somit auch den Geldfluss in die Türkei."

Tourismus in Gefahr

Zu den Branchen, die durch den Handelsstopp Schaden nehmen könnten, gehört der türkische Tourismus.

Für israelische Touristen war die Türkei bisher ein populäres Reiseziel. Rund 850.000 Israelis besuchten das Land 2022, im Jahr nach dem Corona-Lockdown. 2023 waren es neun Prozent weniger.

Kritik aus Israel

Israels Außenminister Israel Katz zeigte sich nach der türkischen Entscheidung zum vollständigen Stopp der Handelsbeziehungen empört: "Erdoğan verletzt die internationalen Abkommen, indem er die Häfen blockiert. Er ignoriert die Interessen des türkischen Volkes und der türkischen Geschäftsleute. So handelt ein Diktator", sagte Katz.

Drohen rechtliche Konsequenzen? "Nein", denkt Professorin Funda Başaran Yavaşlar aus der Marmara-Universität in Istanbul, die sich auf internationales Finanzrecht spezialisiert hat.
 
Bisher habe keine der beiden Vertragsparteien Schritte unternommen, Verträge aufzulösen. Başaran ist der Meinung, dass dies so bleiben wird.
 
Eine mögliche Lösung könnte im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) gefunden werden, so Başaran. Die Länder seien beide Mitglieder und könnten von den WTO-Mechanismen profitieren.

Netanjahu und Erdogan sitzen zusammen
Eine Szene, die wahrscheinlich nie wieder vorkommen wird: Tage vor dem Hamas-Angriff auf Israel lächelten Netanjahu und Erdoğan vor laufenden Kameras. Heute wirft Erdoğan Netanjahu Kriegsverbrechen vornull AK Party/Zuma/picture alliance

Harscher Ton seit der Wahlniederlage

Warum hat Ankara seinen Ton gegenüber Israel so verschärft? Einige Experten sehen einen Grund in Erdogans historische Niederlage bei den Kommunalwahlen am 31. März.

Gabriel Haritos, in Jerusalem ansässiger Forscher bei der griechischen Denkfabrik ELIAMEP, wertet den Handelsstopp im DW-Gespräch als "eine politische Taktik".

Ökonom Oyan sieht das ähnlich. "Im Wahlkampf hatte die AKP-Regierung Probleme wegen ihrer guten Handelsbeziehungen mit Israel." Vor laufenden Kameras hätten AKP-Politiker Israel zwar Kriegsverbrechen vorgeworfen, doch die wirtschaftlichen Beziehungen seien reibungslos weiter gelaufen. "Das hat das Wahlverhalten der islamisch-konservativen Wähler beeinflusst."

Oyan glaubt, Erdogans AKP wolle sich nach der Wahl neu aufbauen und alles wiedergutmachen. "Sie haben bei der Wahl große Verluste erlitten. Die AKP möchte ihr beschädigtes Prestige und den Vertrauensverlust in der Gesellschaft reparieren", so Oyan.

Pharma: Mehr Produktion in Europa gewünscht

Es brauche keine Atombombe, um Europa einen empfindlichen Schlag zu versetzen, glaubt die Arzneimittelexpertin Ulrike Holzgrabe. Die Chinesen könnten die Europäer auch durch einen Lieferstopp bei Antibiotika hart treffen.

"China hat schon in den 1980er Jahren erkannt, wie wichtig es ist, eine eigene Antibiotikaproduktion zu haben", erzählt Jasmina Kirchhoff vom Institut der deutschen Wirtschaft in Köln (IW). "Es wurde massiv in Werke investiert, die im Vergleich kostengünstig produzieren, am Anfang in erster Linie für den heimischen Markt. Den 'Überschuss' hat China dann exportiert", so Kirchhoff.

Auch ein großer Teil der chemischen Vorprodukte, die für die Pharmaindustrie essenziell sind, wird in China hergestellt.

Neben China hat sich Indien zu einem Hauptlieferanten von Pharmaprodukten gemausert. Hier werden vor allem Generika produziert, also Medikamente, bei denen der Patentschutz ausgelaufen ist. Aber auch Indien hängt am Tropf von China, weil viele Pharmawirkstoffe von dort importiert werden müssen.

Schon die Definition des Problems ist schwierig

"Öffentliche Gesundheit ist eine geostrategische Waffe, die einen Kontinent in die Knie zwingen kann", hieß es schon 2020 vom Europäischen Parlament.

Um die Problematik klar zu umreißen, wurde auf EU-Ebene eine Liste mit Medikamenten erstellt, bei denen es keine Abhängigkeit von Asien geben sollte. Der nächste Schritt wäre, herauszufinden, wo diese Medikamente und ihre Vorprodukte hergestellt werden - sprich, wie groß die Abhängigkeit genau ist, sagt Holzgrabe, die an der Universität Würzburg lehrt.

Und da fängt es auch schon an, schwierig zu werden. Gerade bei einzelnen Medikamenten seien solche Informationen sehr schwer herauszubekommen, meint Kirchhoff. "Welche Hersteller, welche Zwischenprodukte, Hilfsstoffe, Wirkstoffe woher beziehen, ist Teil des Geschäftsgeheimnisses und daher kaum bekannt."

China: Pharmazie-Herstellung
Im Jahr 2000 wurde etwa ein Drittel der Wirkstoffe für zugelassene Arzneimittel in Asien hergestellt, 2020 waren es mehr als zwei Drittel, heißt es von der Bundesregierungnull DreamstimexZhanglian/Panthermedia/IMAGO

Sowohl die Rezepturen als auch die Lieferketten seien oftmals sehr komplex und es sei daher unklar, wie viele Firmen in welchen Ländern involviert seien, so Kirchhoff. Gerade im Bereich der Generika, deren Erfolg am niedrigen Preis hängt, sei es für die Hersteller besonders wichtig, Marktvorteile vor Konkurrenten geheim zu halten.

Dass Vorsorgemaßnahmen nötig sind, haben immer wieder Lieferengpässe bei einzelnen Medikamenten in den vergangenen Jahren gezeigt. Schon während der Corona-Pandemie deutete sich das an - und mit dem russischen Gaslieferstopp im Herbst 2022 rückte das Thema 'Abhängigkeiten' grundsätzlich in den Fokus.

Deutschland will eigene Produktion

In Deutschland hat das Bundeskabinett im Dezember vergangenen Jahres die Nationale Pharmastrategie beschlossen. Unter anderem soll so die Pharmaproduktion in Europa gestärkt werden. Das will die Regierung beispielsweise mit dem Abbau von Bürokratie und Zuschüssen zu Investitionen in Produktionsstätten erreichen.

Dabei ist es nicht so, dass es gar keine Pharmaproduktion mehr in Europa gibt. Die europäische Pharmaindustrie stellt hier vor allem innovative, patentgeschützte Medikamente her. In diesem Bereich wird auch investiert, sagt Holzgrabe. "Deutschland ist im Bereich der Pharmaindustrie, der Medizin, Forschung und Entwicklung wirklich Spitze", sagt auch Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) gegenüber der DW

Bayer-Arzneimittelanlage in Leverkusen
275 Millionen Euro hat Bayer in eine neue Arzneimittelanlage in Leverkusen investiert. 2024 soll sie fertig sein. Dann sollen hier Medikamente zur Behandlung von Krebs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen produziert werden.null Bayer AG

Irgendwann läuft aber bei Arzneimitteln der Patentschutz aus und sie gehen in den generischen Markt über. Und gerade im Bereich der Generika lohnt sich eine Produktion in Europa kaum oder gar nicht, weil hier die Margen sehr niedrig sind. Dabei sind Generika sehr wichtig für das Gesundheitssystem, denn sie decken rund 80 Prozent der Grundversorgung mit Medikamenten ab. In diesem Bereich fallen auch viele Antibiotika.

Deswegen sei es so wichtig, Strukturen aufzubauen, dass es sich für Unternehmen lohnt, ihr Produkt auch nach Ablauf des Patentschutzes weiterhin produzieren zu können, meint Kirchhoff. Der Schlüssel dafür sei weniger eine Förderung von Investitionen, sondern vielmehr ein anderes Preissystem, findet Bork Bretthauer, Geschäftsführer von Pro Generika. "Wir brauchen keine Zombiewerke in Europa, die dauerhaft subventioniert werden müssen", sagt der Vertreter des Interessenverbandes der Generika- und Biosimilarunternehmen. Mit anderen Worten: Für europäische Medikamente aus Europa und damit mehr Unabhängigkeit muss Europa bereit sein, höhere Preise zu zahlen.

Deutschland | Wirtschaftsminister Habeck besucht das Biotechnologie-Unternehmen Zedira in Darmstadt
Wirtschaftsminister Robert Habeck besucht Anfang Mai Pharma-Firmen: "Immer dann, wenn Produkte, nachdem sie zehn Jahre am Markt waren, Massenware wurden, also günstig ohne Patente irgendwo produziert werden konnten, ist die Produktion häufig abgewandert."null Helmut Fricke/dpa/picture alliance

ALBVVG: Krankenkassen müssen Produktion in Europa berücksichtigen

Ein erster Schritt in diese Richtung wurde in Deutschland bereits gemacht. Seit Mitte 2023 ist in Deutschland ein Gesetz in Kraft, mit dem umständlichen Namen Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz, kurz ALBVVG. Auch dieses Gesetz soll Pharmafirmen motivieren, sich wieder in Europa niederzulassen beziehungsweise weiterhin hier zu produzieren, in dem ihnen bessere Preise gewährt werden.

Bislang ging es in Deutschland vor allem darum, die Kosten im Gesundheitssystem möglichst niedrig zu halten. Dafür haben die gesetzlichen Krankenkassen mit den Medikamentenherstellern Verträge über die Lieferung bestimmter Mengen von Medikamenten vereinbart. Die Preise sind gedeckelt. Für rund 80 Prozent der Medikamente, darunter vor allem Generika, gibt es Festbeträge. Das sind Höchstbeträge, die die gesetzlichen Krankenkassen bezahlen. Den Zuschlag bekommt die Firma, die am günstigsten liefern kann.

Österreich | Neue Penicillin-Produktionsanlage von Sandoz
Der Generika-Hersteller Sandoz hat 200 Millionen in den Ausbau seiner Penicillin-Produktion in Kundl investiert und wurde vom österreichischem Staat dabei mit 50 Millionen Euro unterstützt. Dafür muss Sandoz über zehn Jahre die Penicillin-Produktion für ganz Europa sicherstellen.null Peter Ginter Fotografie/Sandoz

Das neue Gesetz ändert dieses Vorgehen zum Teil. Wenn Krankenkassen nun Ausschreibungen machen für bestimmte Wirkstoffe und für patentfreie Antibiotika, soll immer auch ein Vertrag an eine europäische Firma gehen.

"Beim Rest der Generika bleibt alles, wie es ist", beklagt der Verband Pro Generika. Ulrike Holzgrabe findet den Ansatz des Gesetzes grundsätzlich gut. Allerdings meint sie, die Bestimmungen würden in vielen Bereichen nicht umsetzbar sein, weil es schlichtweg keine europäische Produktion gebe.

Auch wenn das ALBVVG bislang nicht dafür sorgt, dass sich hier mehr Hersteller ansiedeln, habe es immerhin geholfen, dass nicht noch mehr Hersteller aus dem Markt ausgestiegen sind, so Kirchhoff.

Gesundheitswesen verhindert Produktion in Europa

Höhere Preise scheinen unumgänglich, wenn Europa mehr Sicherheit möchte. So günstig wie in Asien lässt sich in Europa nicht produzieren. "Wir haben ein schlechtes Quartett aus überbordender Bürokratie, Fachkräftemangel, zu hohen Energiekosten und bröckelnder Infrastruktur", sagte der Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Chemischen Industrie, Wolfgang Große Entrup, Ende April.

In China profitierten Firmen neben den niedrigeren Arbeits- und Energiekosten davon, dass ihnen der Staat Grund und Boden zur Verfügung stellen würde, wenn sie eine Produktion errichten, so Holzgrabe. Und sie müssen auch nicht so strenge Umweltauflagen erfüllen wie in Europa. Hier verpflichtet beispielsweise das 2007 eingeführte Reach-Gesetz alle Hersteller sicherzustellen, dass die von ihnen produzierten Stoffe keinen nachteiligen Einfluss auf die menschliche Gesundheit oder die Umwelt haben. Eine riesige Hürde für Hersteller von Generika, hier zu produzieren.

Das mache es schwer, vor allem die Wirkstoffproduktion zurück nach Europa zu holen, so Holzgrabe. "Eine Unabhängigkeit von China wird es da nicht geben", glaubt sie. Viel wichtiger sei es, dass die Produktion, die man hier habe, nicht auch noch abwandere. Zumal die europäische Pharmaindustrie nicht nur wichtig sei, um bei Krankheiten Hilfe zu bieten. Während der Corona-Pandemie hätten nur deswegen schnell Impfstoffe entwickelt werden können, weil es noch eine forschende Pharmaindustrie in Europa gegeben habe, ist Holzgrabe überzeugt.

Frauen in Führungspositionen: Chefinnen nur Ausnahmen

Eine rein männlich besetzte Geschäftsführung ist bei deutschen Firmen nicht die Ausnahme, sondern die Norm. Um das zu ändern, erstellt die deutsch-schwedische AllBright-Stiftung regelmäßig Reports, in denen sie untersucht, wie es um Gleichberechtigung und Diversität in den deutschen Führungsetagen bestellt ist.

Nun hat die Stiftung die 100 größten Familienunternehmen untersucht. Der Frauenanteil in deren Geschäftsführungen beträgt demnach 12,6 Prozent.

Seit der letzten Untersuchung 2022 ist der Anteil um gut vier Prozentpunkte gestiegen. Es tut sich also was bei den Familienunternehmen. "Das Ende des Dornröschenschlafs", nennen das die Geschäftsführer der AllBright-Stiftung, Wiebke Ankersen und Christian Berg, in ihrem am Dienstag veröffentlichten Bericht mit dem Titel: "Generationswechsel als Chance".

Sie sehen den altersbedingten Rückzug einiger Patriarchen als Chance für die Frauen. "In den Familien sind es oft über eine ganze Generation hinweg dieselben Personen, die strategisch den Ton angeben", heißt es dort. In börsennotierten Unternehmen erfolge der Wechsel dagegen meist schneller.

"Je privater das Unternehmen, desto männlicher"

So hinken die Familienunternehmen gegenüber börsennotierten Konzernen deutlich hinterher. Bei den Vorständen der 160 Firmen, die in den drei wichtigsten Indizes der Frankfurter Börse gelistet sind - die großen im DAX, die mittleren im MDAX und die kleineren im SDAX, liegt der Frauenanteil inzwischen bei 19 Prozent.

Von den 100 größten Familienunternehmen sind 20 an der Frankfurter Börse notiert, die Familien halten jeweils einen signifikanten Anteil der Aktien. Dazu gehören der Autobauer BMW, der Autozulieferer Continental, der Konsumgüter- und Klebstoffhersteller Henkel und der Chemie- und Pharmakonzern Merck.

Der Frauenanteil in den Vorständen der börsennotierten Familienunternehmen entspricht mit 19,6 Prozent dem Durchschnitt aller Aktiengesellschaften. In Familienunternehmen, die nicht an der Börse gelistet sind, ist der Anteil der Frauen in der Geschäftsführung nur gut halb so hoch (10,6 Prozent). "Je privater das Unternehmen, desto männlicher die Führung", heißt es dazu im Bericht der Stiftung.

Tradition und Familie

Noch traditioneller geht es zu, wenn man die Familien betrachtet, denen die Unternehmen gehören. Nur bei jedem dritten untersuchten Unternehmen (34 Prozent) spielen Mitglieder der Eigentümerfamilien eine aktive Rolle im Management. Aber wenn das der Fall ist, sind es weit überwiegend Männer. Frauen kümmern sich mehrheitlich um die Stiftungen der Unternehmen, sei es zu wohltätigen Zwecken oder zur Förderung von Kunst und Kultur.

Egal ob angestellte Manager oder jemand aus der Familie der Gesellschafter: Von den 100 untersuchten Familienunternehmen gab es bei knapp der Hälfte (47) mindestens eine Frau in der Geschäftsführung. Der Pharmakonzern B. Braun Melsungen und der Motorwerkzeughersteller Stihl hatten sogar drei Frauen im Vorstand.

Keine einzige Frau im Führungsteam

Umgekehrt heißt das: etwas mehr als die Hälfte der Firmen (53 Prozent) hat keine einzige Frau im Führungsteam. Dazu gehört die Schwarz-Gruppe, die unter anderem die Supermarktketten Lidl und Kaufland betreibt.

Die Blick von außen auf die Filiale der Supermarktkette Lidl
Die Schwarz-Gruppe, zu der auch die Supermarktkette Lidl gehört, ist eines von vielen Unternehmen mit rein männlichem Vorstandnull Jelena Djukic Pejic/DW

Auf ihrer Webseite betont die Gruppe, die fast 600.000 Mitarbeitende beschäftigt, 41,7 Prozent der Führungspositionen seien mit Frauen besetzt. Da aber, wo die wirklich wichtigen Entscheidungen getroffen werden - im neunköpfigen Vorstand - gibt es keine einzige Frau.

Von der DW nach den Gründen gefragt, schrieb eine Sprecherin des Unternehmens: "Seit Jahren sind zahlreiche Frauen bei uns in der Geschäftsführung, der Geschäftsleitung sowie im Vorstand tätig." Dabei bezog sie sich vermutlich auf die diversen Unternehmen der Schwarz-Gruppe. Zu den Gründen für den ausschließlich männlich besetzen Gruppen-Vorstand äußerte sich die Sprecherin nicht.

Die Fressnapf-Gruppe, nach eigenen Angaben "Europas Nummer Eins im Heimtierbedarf", ist mit 18.000 Mitarbeitenden deutlich kleiner. Doch in ihrer zehnköpfigen Geschäftsführung sieht es aus wie bei Schwarz: keine einzige Frau.

"Langfristiger Transformationsprozess"

Auf Anfrage der DW bat ein Sprecher des Unternehmens um Geduld. "Wir befinden uns in einem langfristigen Transformationsprozess", so der Sprecher per E-Mail. Es gebe "interne Programme zur Förderung von Chancengleichheit", aber man sei sich bewusst, das "Zielbild" noch nicht "in allen Bereichen und auf allen Ebenen" erreicht zu haben.

Der Hamburger Handelskonzern Otto-Group ist da schon weiter. Bisher gab es eine Frau im sechsköpfigen Vorstand. Im Frühjahr 2025 kommen zwei weitere hinzu: Petra Scharner-Wolff als Vorstandsvorsitzende und Katy Roewer als Finanzchefin.

Hildegard Müller: "Deutsche Autoindustrie nimmt Wettbewerb an"

Deutsche Welle: Kann sich die deutsche Autoindustrie vor der chinesischen E-Mobility-Offensive in Europa und weltweit behaupten?  

Hildegard Müller: Die deutsche Autoindustrie nimmt den Wettbewerb an - in allen Märkten. Gerade im Heimatmarkt sind wir stark, sechs von zehn E-Auto-Käufern in Deutschland entscheiden sich für das Modell eines deutschen Herstellers. In China haben sich deutsche Hersteller bereits frühzeitig Marktanteile gesichert und eine starke Position erarbeitet. Etwa jeder sechste neue Pkw dort trägt das Logo einer deutschen Konzernmarke. Aktuell stehen sie durch die Transformation zur Elektromobilität vor großen Veränderungen, gehen diese aber mit großem Engagement und hohen Investitionen an. Klar ist, dass das Marktwachstum in China extrem dynamisch ist und wir daran teilhaben wollen. Übrigens sollte man aufgrund des Marktwachstums hier nicht nur auf die prozentualen Marktanteile, sondern auch auf die absoluten Zahlen schauen.
 
Ich haben vor Kurzem die Automesse in Peking besucht und bin noch immer beeindruckt von den Auto-Modellen und den Innovationen, die auch die deutschen Automobilhersteller dort präsentiert haben. Die Messe hat deutlich gezeigt, dass sie die Herausforderung angenommen haben. Und ich bin mir sicher, dass sie im Wettbewerb bestehen können. Wir blicken zuversichtlich in die Zukunft.
 
Wie schätzen Sie die Wettbewerbsbedingungen für deutsche Automarken in China ein?
 
Grundsätzlich gilt: Konstruktiver Dialog ist wichtig. Das gilt auch im Verhältnis zu China. Herausforderungen beim Namen zu nennen, gehört dazu. Und einer der Punkte ist das Thema faire Marktzugangsbedingungen. Natürlich kritisieren wir gegenüber unseren Gesprächspartnern in China klar die Tendenzen zu einer Abschottung des chinesischen Marktes und die Ungleichbehandlungen von deutschen und chinesischen Unternehmen. Es braucht gleiche Voraussetzungen.

Chinas Autohersteller BYD bereit zur Eroberung Europas

Für uns ist jetzt wichtig, dass wir schnell Produktionslinien umstellen können und entsprechende Genehmigungen bekommen. Die Unternehmen der deutschen Automobilindustrie – Hersteller und Zulieferer – investieren bis 2028 rund 280 Milliarden in Forschung und Entwicklung und weitere 130 Milliarden in den Neubau und Umbau von Werken. Deshalb sind schnelle Planungs- und Genehmigungsverfahren für uns entscheidend, um die Autos, die wir technologisch entwickelt haben, auch in Serie und auf die Straße zu bringen.
 
Sie hatten in Peking Gespräche mit dem chinesischen Handelsminister Wang Wentao geführt.  Wie hat Chinas Regierung auf die Einleitung der Untersuchung wegen staatlicher Subventionen durch die EU-Kommission reagiert? 
 
China hat genau wie wir ein Interesse am gemeinsamen Handel. Unser Hauptgesprächsthema mit den chinesischen Ansprechpartnern - egal ob Politik, Verbände oder Unternehmen - war daher genau das Thema der wechselseitig fairen Marktbedingungen. Die Frage, inwiefern Europa als Reaktion auf chinesische Subventionen für die heimische Industrie mögliche Gegenmaßnahmen ergreifen wird, muss gut überlegt werden. Die Exportquote für Pkw aus chinesischer Produktion beträgt 16 Prozent. Von uns werden wiederum drei von vier Autos in den Export gegeben. Was es jetzt braucht, sind kritischer Dialog und Verhandlungen auf Augenhöhe. 

"Demokratisiert" China die E-Mobilität?

Die Antisubventionsuntersuchung der EU-Kommission sehen wir kritisch. China spielt eine entscheidende Rolle für eine erfolgreiche Transformation hin zu Elektromobilität und Digitalisierung. Ein Handelskonflikt würde also auch diese Transformation gefährden. Antisubventionsmaßnahmen wie zusätzliche Zölle würden die Herausforderungen für die europäische und deutsche Automobilindustrie nicht lösen. Im Gegenteil: Der von der EU-Kommission beabsichtigte Zweck von Ausgleichszöllen könnte sich bei einem Handelskonflikt entsprechend schnell negativ auswirken.

Was es statt einer Protektionismusspirale braucht, ist eine Stärkung des eigenen Standortes. Entscheidend dafür ist eine aktive Industriestrategie von Brüssel und Berlin, einschließlich einer aktiven Handelspolitik. Ein starker Heimatstandort ist die Grundlage für eine erfolgreiche Strategie im zunehmenden internationalen Wettbewerb und insbesondere im Umgang mit China. Nur als globale Wirtschaftsmacht können wir auf Augenhöhe mit China kommunizieren, selbstbewusst auftreten, unsere Interessen international deutlich machen und Verhandlungen in unserem Sinne führen.

Aufholjagd für deutsche E-Autos in China

 
Sehen Sie weiterhin Potenzial für eine vertiefte Zusammenarbeit mit China?
 
Die Unternehmen prüfen fortlaufend, wo Kooperation und Zusammenarbeit sinnvoll sind. Und erst vor zwei Wochen haben Deutschland und China eine gemeinsame Absichtserklärung unterzeichnet. Ziel ist es, bei der Entwicklung von internationalen Normen und Standards für das assistierte und automatisierte Fahren eng zusammenzuarbeiten. Wir unterstützen das sehr. Denn weltweit gleiche Sicherheits- und Umweltanforderungen an das Produkt helfen, Ressourcen in Entwicklung und Produktion zu sparen. Außerdem definieren weltweit einheitliche Normen und Standards gleiche Marktzugangskriterien für alle und vermeiden nationale Abweichungen. Das ist gut für alle.
 
Ich bin überzeugt, dass es noch mehr Potenzial für die Zusammenarbeit zwischen der chinesischen und der deutschen Automobilindustrie gibt. Ein Beispiel: Mit dem Übergang zur Elektromobilität rücken die Emissionen entlang der Wertschöpfungskette in den Fokus der Unternehmen. Denn ein Großteil der Emissionen von Verbrennungsmotoren entsteht während der Nutzung des Fahrzeugs. Bei Elektroautos hingegen entstehen die Emissionen eher bei der Produktion, insbesondere der Batterie. Diese Emissionen müssen reduziert werden, um mehr Klimaschutz zu erreichen. Der sogenannte Product Carbon Footprint ist hier ein wichtiges Instrument, bedarf aber einer internationalen Harmonisierung. Auch hier sollte der Austausch mit China weiter intensiviert werden.

Das Interview führte Dang Yuan.
 

Das Wirtschaftswunder von Guyana

Die einen nennen Guyana das Dubai Südamerikas, die anderen sprechen vom südamerikanischen Wirtschaftswunder. Tatsache ist: Guyana darf im laufenden Jahr mit Wirtschaftswachstumsraten von bis zu 25,4 Prozent rechnen und steht damit an der Spitze der wirtschaftlichen Entwicklung Lateinamerikas. So jedenfalls steht es im jüngsten Bericht der UN-Abteilung für wirtschaftliche und soziale Angelegenheiten (Department of Economic and Social Affairs - DESA).

So etwas weckt Begehrlichkeiten. Zuletzt vor allem vom Nachbarn Venezuela, der sich die öl- und rohstoffreiche Region Essequibo per Annexion einverleiben will. Die sozialistische Regierung von Machthaber Nicolas Maduro hat bereits neue Landkarten veröffentlicht, die ein Groß-Venezuela inklusive der Region Essequibo zeigen.

Rasant wachsende Erdölindustrie

Hinter dem Wirtschaftswachstum steckt vor allem die rasant wachsende Erdöl- und Erdgas-Industrie Guyanas. "Guyana hat sich für private Akteure mit umfassenden Kompetenzen entschieden, um diese Art von Projekten durchzuführen", sagte William Clavijo von der Universität Rio de Janeiro jüngst der Zeitung El Mostrador. Guyanas Weg stehe damit in diametralem Gegensatz zu der Strategie, die Venezuela verfolge.

Beamter einer venezolanischen Anti-Korruptionseinheit mit dem festgenommenen Ex-Ölminister des Landes, Tareck El Aissami
Korruptionsverdacht: Festnahme des Ex-Ölministers von Venezuela, Tareck El Aissami, am 9. April null Venezuelan Public Prosecutor's Office/AFP

Venezuelas staatlicher Ölkonzern PDVSA erlebte in den letzten zwei Jahrzehnten einen kontinuierlichen Abstieg. Fachkräfte wurden durch linientreues Personal ersetzt, dass über das "richtige" Parteibuch, aber nicht über die notwendige Kompetenz verfügt. Hinzu kommen Fälle von Korruption und Misswirtschaft. Das Duell Planwirtschaft gegen Markwirtschaft hat derzeit Guyana klar gewonnen.

Denn Guyana geht den gegensätzlichen Weg: die dort tätigen Ölunternehmen setzen auf Fachkräfte mit Knowhow und Erfahrung im Geschäft. Dem US-amerikanischen Ölkonzern ExxonMobil gelang vor fast zehn Jahren eine der größten Ölentdeckungen der jüngeren Geschichte. Allein im sogenannten Stabroek-Block werden bis zu elf Milliarden Barrel Öl (ein Barrel entsprechen 159 Liter) vermutet. Seitdem kennt die Entwicklung des Landes nur eine Richtung: nach oben.

"Einerseits möchte Guyana natürlich weiterhin seine Ölvorkommen ausbeuten, ohne dass ein internationaler Konflikt droht. Andererseits hat die venezolanische Regierung einen jahrhundertealten Konflikt als politisches Ablenkungsmanöver für ihren gescheiterten Versuch genutzt, die mangelnde Unterstützung der Bevölkerung zu überwinden", sagt Carolina Jiménez Sandoval, Präsidentin des Washington Office on Latinamerica (WOLA) im Gespräch mit der DW. "In jedem Fall sollten beide Länder Konfliktlösungsmechanismen nutzen, um ihre Differenzen friedlich beizulegen."

Guyana verändert die Marktlage

Neben der politischen Komponente hat der wirtschaftliche Aufschwung Guyanas natürlich auch wirtschaftliche Auswirkungen. Zuletzt gab es durch die geopolitischen Konflikte wie dem russischen Überfall auf die Ukraine oder den Angriff der Hamas auf Israel und dessen Gegenreaktion im Gaza-Streifen Turbulenzen auf dem Ölmarkt, weil Sanktionen oder Verschiebungen am Ölmarkt die Karten neu mischten. Ein neuer Player, der zudem dem Westen zugetan ist, könnte die Märkte mittelfristig beruhigen und mehr Versorgungssicherheit garantieren.

Einwohner von Georgetown warten am Stabroek Markt auf eine Fähre
Einwohner von Georgetown warten am Stabroek Markt auf eine Fährenull Matias Delacroix/AP Photo/picture alliance

Schon jetzt Venezuela überflügelt

Guyana mit seinen gerade mal knapp über 800.000 Einwohnern hat schon jetzt eine höhere Pro-Kopf-Produktion als Saudi-Arabien. ExxonMobil teilte mit, dass die Ölproduktion Guyanas von 380.000 Barrel pro Tag im Jahr 2023 auf 640.000 Barrel pro Tag im Januar 2024 steigen wird. Die Ziele sind ehrgeizig: Guyana will nach eigenen Angaben bis 2027 insgesamt 1,2 Millionen Barrel pro Tag fördern.

Zum Vergleich: Das ölreichste Land der Welt Venezuela kommt gerade mal auf 700.000 bis 800.000 Barrel pro Tag und dürfte schon bald von Guyana überholt werden. Laut Experteneinschätzung verfügt Venezuela über nachgewiesene Reserven von fast 300 Milliarden Barrel. Neben den katastrophalen Managementfehlern in Caracas tragen allerdings auch die US-Sanktionen zum schlechten Ergebnis der venezolanischen Ölindustrie bei.

Besonders bitter ist für den Nachbarn, dass Guyana bei den Devisen bringenden Exporten Venezuela bereits abgehängt hat. Nach lokalen Medienberichten übertraf Guyana im Februar mit Ausfuhren von 621.000 Barrel Öl erstmals Venezuelas Exporte von 604.000 Barrel. Unterdessen drückt Guyanas Präsident Irfaan Ali zu Beginn des Jahres bei einer großen Erdöl- und Erdgas-Messe im heimischen Georgetown aufs Tempo: "Es ist nun der Moment, auch unser Gas zu fördern", sagte der Präsident. "Es gibt ein Fenster der Gelegenheit bis zum Ende des Jahrzehnts, um auch das Gas zu kommerzialisieren."

Decoding China: E-Auto als Datenschatz auf Rädern

"Wollen Sie nicht mal in den Macan EV einsteigen und Probe sitzen?", lud Oliver Blume, Vorstandsvorsitzender der Volkswagen AG und der Porsche AG, einen potentiellen Käufer persönlich ein und führte ihn zu dem Sportwagen. Der grau-violette Schlitten auf der Automesse in Peking, die am Samstag (4.5.2024) endete, ist vollelektrisch. Der Hersteller definiert die Farbe als "Provence" - in Anlehnung an die Lavendelfarbe, die typisch für die Provence ist. Die südfranzösische Region ist in China ein sehr beliebtes Touristenziel. "Das Design ist außerordentlich hochwertig!" Blume war nicht sparsam mit Lob für seine Firma.

"Schick!", bejahte der Eingeladene. "Aber ist es nicht vielleicht zu teuer für die Kunden? Ich weiß es nicht." Umgerechnet 125.000 Euro beträgt der Grundpreis dieses Stromers, zu dem die Firma des Hoffierten selbst beigetragen hat . "Für dieses Modell haben wir die beste Batterie der Welt geliefert, die sicherste", sagte der umworbene Kunde, der Zeng Yuqun oder Robin Zeng heißt.

Zulieferer, Kunde und Partner

Zeng ist der Chef des chinesischen Batterieherstellers CATL, einer der größten Zulieferer für die deutschen Autobauer mit einem Riesenwerk im thüringischen Arnstadt. Mit einem Privatvermögen von geschätzten 44 Milliarden US-Dollar ist er einer der reichsten Männer Chinas.

"Wollen Sie nicht für Ihre Firma eine Macan-Flotte bestellen?", bemühte sich der VW-Chef persönlich um den ersten Großauftrag, seit der Macan auf der Automesse vorgestellt worden ist, "I will do that!" (Das werde ich tun), antwortete Zeng auf Englisch.

Blume strahlte, klopfte Zeng auf die Schulter. Seine Mimik zeigte, wie glücklich und zufrieden er war. Die erste Großbestellung läuft. Diese Szene ist sinnbildlich für die Abhängigkeit zwischen der Autoindustrie, dem Stolz Deutschlands, und ihren Zulieferern und Kunden im Fernost.

Wenn es um den chinesischen Automarkt geht, ist Oliver Blume ein Insider. 2001 promovierte er am Institut für Fahrzeugtechnik an der Shanghaier Tongji Universität. Sein Doktorvater war Wan Gang, der spätere Forschungsminister Chinas. Wan, der wiederum an der deutschen Universität Clausthal promovierte, hatte zehn Jahr lang bei der VW-Tochter Audi in der Forschung gearbeitet. Er gilt als Vater der chinesischen E-Mobilität.

Blau-weißes Firmenschild CATL vor Gebäude
CATL-Werk in Thüringen mit einer Investition von bis zu 1,8 Milliarden Euronull Martin Schutt/dpa/picture alliance

Preisverhandlungen als Chefsache

In China seien trotz gesamtwirtschaftlicher Herausforderungen immer mehr Autos verkauft worden, so der Verband der Automobilindustrien (VDA) in seiner jüngsten Studie vom Ende April. "Auf dem chinesischen Pkw-Markt wurden im ersten Quartal 4,8 Millionen Neufahrzeuge verkauft, 13 Prozent mehr als im Vorjahr."

"Unsere Zusammenarbeit ist sehr positiv", sagte Blume. "Wir beziehen die Batterien vom CATL-Werk in Deutschland. Die hochwertige Batterie wird von uns beiden zusammen entwickelt, speziell für dieses Modell, das wir nun den chinesischen Kunden anbieten."

"Mit Porsche arbeite ich sehr gut zusammen, auch persönlich mit Oliver", sagte Zeng. Er und Blume sind beide Jahrgang 1968. "Das Gute daran ist: Ich kann ihn direkt um einen großen Preisnachlass für die Großbestellung bitten!" Zeng lachte und reichte Blume die Hand. Blume streckte auch seine Hand aus und erwiderte: "Und ich erhoffe mir einen großen Rabatt für Ihre Batterien!" So wird in China ein Gentlemen-Agreement geschlossen.

Die Angst vor dem Ende der E-Mobilität

Mobilität der Zukunft

Die Automesse Peking ist inzwischen die wichtigste Schau für die Autobranche weltweit. Die Messe ist zugleich eine Begegnungsstätte für Chefs von Autoherstellern, Lobbygruppen und Spitzenpolitikern, die den Rahmen für die Industrie- und Handelspolitik sowie für technische Innovationen setzen, wie zum Beispiel für die Digitalisierung eines Autos.

Was früher nur aus Schrauben, Zahnrädern und Dichtungen bestand, ist heute bei Weitem nicht nur ein Elektromotor mit Steckdose. Ein modernes E-Auto besteht heute aus Steuergeräten und Apps. Es kommuniziert mit dem Smartphone des Fahrers. Seine Hersteller treiben die neuesten Innovationen wie autonomes und vernetztes Fahren voran. Somit wurde auch schon die komplette Wertschöpfungskette neu geformt. Und China steht dabei im Zentrum dieses Wandels.

Der Volkswagen war der erste ausländische Autobauer in China mit einem Gemeinschaftsunternehmen in Shanghai in den 1980er Jahren. Später dominierte der Wolfsburger mit den Modellen Santana und Jetta das Straßenbild in chinesischen Städten. Inzwischen sind aber mehrere konkurrenzstarke inländische Autohersteller auf dem Markt, die nicht nur preiswerte Stromer an die wachsende Mittelschicht verkaufen. In den Metropolen wie Peking und Shanghai erhalten die E-Autos sofort eine Zulassung, weil sie umweltfreundlich sind. Chinesische Firmen exportieren die günstigen und umweltfreundlichen Fahrzeuge auch in die ganze Welt, inklusive Europa.

Chinas Autohersteller BYD bereit zur Eroberung Europas

EU-Untersuchung zu möglichen Subventionen

Zu günstig, geradezu wettbewerbsverzerrend günstig, glaubt die EU. Im März hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ein Verfahren zu Importen von Elektrofahrzeugen aus China angekündigt. Es soll zunächst festgestellt werden, ob chinesische E-Autos von staatlichen Subventionen profitieren und somit den europäischen Autobauern Schaden zufügen. "Wo immer wir Hinweise darauf finden, dass die EU-Firmen durch Marktverzerrungen und unlauteren Wettbewerb behindert werden, werden wir entschlossen handeln", sagte von der Leyen.

Jedoch hat kein europäischer Autobauer eine solche Untersuchung von Brüssel gefordert. "Wir sehen die Antisubventionsuntersuchung der EU-Kommission kritisch", sagt Hildegard Müller, VDA-Präsidentin im DW-Interview. "China spielt eine entscheidende Rolle für eine erfolgreiche Transformation hin zu Elektromobilität und Digitalisierung. Ein Handelskonflikt würde also auch diese Transformation gefährden. Antisubventionsmaßnahmen wie zusätzliche Zölle würden die Herausforderungen für die europäische und deutsche Automobilindustrie nicht lösen. Im Gegenteil: Der von der EU-Kommission beabsichtigte Zweck von Ausgleichszöllen könnte sich bei einem Handelskonflikt entsprechend schnell negativ auswirken."

VDA-Präsidentin Hildegard Müller (2.v.l.) neben Bundeskanzler Scholz auf der IAA im September 2023 in München. Im Hintergrund stehen VW-Chef Oliver Blume und Bundesverkehrsminister Volker Wissing (4.v.l.)
Eröffnung der Automesse IAA im September 2023 in München mit Bundeskanzler Olaf Scholznull Sven Hoppe/dpa/picture alliance

Auch Chinas Handelsminister Wang Wentao positionierte sich im Gespräch mit Müller gegen mögliche protektionistische Maßnahmen durch die EU. Er bekannte sich zu freien und fairen Marktbedingungen und warf der EU-Kommission "Doppelmoral" im Kampf gegen den Klimawandel vor: "Die EU hält in der einen Hand das Transparent für grüne Transformation, in der anderen die Keule des Protektionismus gegen chinesische E-Autos."

Tesla geht seinen eigenen Weg

Der US-Hersteller Tesla war auf der Automesse Peking 2024 nicht präsent. Der Konzernchef Elon Musk war aber zeitgleich in China zu Besuch. Im Gästehaus Diaoyutai, wo vor zwei Wochen Bundeskanzler Olaf Scholz mit Staatspräsident Xi Jinping spazierte, traf sich Musk mit Premier Li Qiang zusammen. "Wir nehmen auch nicht an den Messen in den USA teil", begründet Musk die Abwesenheit seines Unternehmens. 

Und pünktlich am Tag seiner Ankunft am 28. April verkündete der Chinesische Verband der Autobauer (CAAM), dass zwei Modelle, die Tesla in Shanghai baut, die datenschutzrechtlichen Voraussetzungen in China erfüllt haben. Es geht um die Anonymisierung der Gesichtsdaten des Fahrers, aktive Vorabzustimmung vor Datensammlungen, aktive Vorabzustimmung bei Datentransfer vom Auto zu anderen Endgeräten und die Mitteilungspflicht über die gesammelten und verarbeiteten Daten an den Halter.

Tesla Fabrik in Shanghai mit dem typischen Tesla-Schriftzug
Tesla-Werk Shanghainull Xiaolu Chu/Getty Images

Damit ist Tesla zusammen mit anderen chinesischen Konkurrenten der erste ausländische Autohersteller, der für ein vernetztes Fahren im chinesischen Straßenverkehr zugelassen ist. Und der Aktienkurs von Tesla stieg am ersten Börsentag nach Bekanntgabe dieser Zulassung direkt um elf Prozent.

Brancheninsider berichten, dass Elon Musk in Peking auch über die Zulassung der autonomen Fahrassistenz FSD (Full Self Driving, vollautomatisiertes Fahren) verhandelt hat. Sein Konzern benötigt die Daten aus dem Echtzeit-Straßenverkehr, um die Algorithmen der FSD-Software zu trainieren und zu kalibrieren.

Flaute bei E-Autos: Tesla streicht Stellen

Weiteres Potenzial für Zusammenarbeit

Wo bleibt die chinesisch-deutsche Antwort? Laut Handelsminister Wang ist die Autoindustrie ein "Leuchtturm" der Industriekooperation zwischen China und Deutschland/Europa überhaupt. "Die deutsche Autoindustrie nimmt den Wettbewerb an - in allen Märkten", unterstrich VDA-Chefin Müller. "Klar ist, dass das Marktwachstum in China extrem dynamisch ist und wir daran teilhaben wollen." Die Unternehmen würden fortlaufend prüfen, wo Kooperation und Zusammenarbeit sinnvoll seien. "Ich bin überzeugt, dass es noch mehr Potenzial für die Zusammenarbeit zwischen der chinesischen und der deutschen Automobilindustrie gibt."

Als Beispiel nennt Müller die umweltschädlichen Emissionen bei der Batterieproduktion. Der Produkt CO2-Fußabdruck (PCF) sei als die etablierte Methode zur Ermittlung der Klimawirkung ein wichtiges Instrument. Während des gesamten Lebenszyklus eines E-Autos entsteht Treibhausgas von der Rohstoffgewinnung bis zur Entsorgung. "Der PCF bedarf nun einer internationalen Harmonisierung. Auch hier sollte der Austausch mit China weiter intensiviert werde." 

"Demokratisiert" China die E-Mobilität?

"Decoding China" ist eine DW-Serie, die chinesische Positionen und Argumentationen zu aktuellen internationalen Themen aus der deutschen und europäischen Perspektive kritisch einordnet.

Kupfer - das rote Gold der Energiewende

Lange schwankte der Kupferpreis an den Märkten nur unwesentlich und spielte für Investoren keine große Rolle. Das scheint sich gerade zu ändern. Seit April kratzt das rote Metall hartnäckig an der Marke von 10.000 US-Dollar pro Tonne. Bis dahin hatte es eine verlässliche Korrelation von globalem Wirtschaftswachstum und Kupfernachfrage gegeben. Doch jetzt steigt die Nachfrage trotz weltweit schwächelnder Wachstumsdaten ganz erheblich.

Der Preis für den wichtigen Rohstoff an der London Metal Exchange stieg zum 1. Mai um bis zu 1,7 Prozent auf 10.033,50 Dollar pro Tonne. Damit war er so teuer wie seit April 2022 nicht mehr. "Indexfonds und börsengehandelte Fonds schieben das Geld von Privatkunden in den Metallmarkt", erläuterte Sandeep Daga vom Analysehauses Metal Intelligence Centre der Nachrichtenagentur Reuters.

Wofür Kupfer gebraucht wird

Wenn man die Energieerzeugung vom Verbrauch fossiler Brennstoffe entkoppeln will, geht das nur über eine Elektrifizierung der Wirtschaft - und für die ist das rote Metall unverzichtbar: "Kupfer ist aufgrund seiner physikalischen Eigenschaften - vor allem seiner elektrischen Leitfähigkeit - der wichtigste Rohstoff für die Energiewende", so Joachim Berlebach von Earth Resource Investments in Zürich der DW. "Wollen wir wirklich raus aus den fossilen Brennstoffen, bräuchten wir in den nächsten drei Jahrzehnten etwa die gleiche Kupfermenge wie in der gesamten bisherigen Menschheitsgeschichte."

Michael Widmer, Rohstoffstratege bei der Bank of America (BofA), wies in der Zeitung Handelsblatt ebenfalls auf die Dekarbonisierung der Wirtschaft als Hauptgrund für den Preisanstieg hin: "Kupfer wird in nahezu jeder Branche verwendet und gilt deshalb als Konjunkturindikator."

Drohnenaufnahme: Windrad von oben mit geöffnetem Innenleben
Besichtigung einer Windkraftanlage: Ohne Kupferspulen dreht sich kein Windrad ...null Jens Büttner/dpa/picture alliance

Es gibt nicht genügend Kupferminen

Doch nicht nur die Nachfrage steigt, das Angebot stagniert oder sinkt sogar, was die Preise ebenfalls in die Höhe treibt. Rohstoffexperte Berlebach wundert das nicht: "Aufgrund der fehlenden Investitionen in neue Minen über die letzten zehn Jahre, gibt es nicht genug Kupferminen."

Fehlende Investitionen beklagt auch der BofA-Analyst. Anhand der Daten, die die Internationale Energieagentur (IEA) erhoben hat, so Widmer, "können wir schätzen, wie hoch die jährliche Kupfernachfrage bis 2050 sein wird. Dann können wir berechnen, wie viel wir in neue Minen investieren müssen: mindestens 127 Milliarden Dollar pro Jahr. Im vergangenen Jahr waren es aber nur 104 Milliarden Dollar. Seit 2012 sind die Investitionen immer weiter gesunken."

E-Auto an Ladesäule
... und fährt kein Elektroautonull Christian Charisius/dpa/picture alliance

Neue Minen stoßen oft auf Widerstand

Doch damit nicht genug, ist das Problem auch nicht schnell zu lösen, sagt Berlebach: "Selbst wenn der Kupferpreis weiter steigen würde, könnte die Produktion nicht schnell hochgefahren werden, da es vom ersten Bohrloch bis zur Produktion bis zu 15 Jahre dauert. Aufgrund der fallenden Erzgehalte müssen die neuen Minen auch grösser konzipiert werden."

Neue Minen aber, so Michael Widmer, stießen oft auf Widerstand, denn "der Abbau von Kupfer belastet die Umwelt." Dem Handelsblatt gegenüber weist er auf ein Beispiel aus Zentralamerika hin: Im vergangenen Jahr habe das Bergbauunternehmen First Quantum die größte Kupfermine Panamas schließen müssen: "Zunächst gab es nur einen Konflikt zwischen der Regierung und First Quantum. Dann kamen die Proteste der lokalen Bevölkerung dazu. Letztlich hat die Regierung die Mine geschlossen und gesagt, dass sie auch nicht mehr an den Markt kommen wird."

Menschen mit Fahnen aus Panama: Proteste gegen Bergbauvertrag in Panama-Stadt, November 2023
So kann's kommen: In Panama wurde wegen vielfältiger Proteste eine Kupfermine geschlossennull Aris Martinez/REUTERS

Kupfergewinnung in Deutschland lohnt sich nicht 

Wenn es um Erze oder Metalle geht, ist immer wieder der Hinweis zu hören, diesen oder jenen Rohstoff gäbe es ja auch hier, man müsse ihn nur ans Tageslicht holen. Joachim Berlebach sieht das nicht so. Kupfergewinnung in Deutschland sei unwirtschaftlich, vergleichsweise unergiebig und "nur theoretisch" möglich.

"Bergbau in großem Maße ist in Deutschland wegen fehlender großer Lagerstätten und lange dauernden bürokratischen Prozessen meines Erachtens nicht möglich. Wir sind von den Lagerstätten in Südamerika oder im Kongo abhängig." Seine Antwort auf unsere Frage, ob Deutschland seine Importabhängigkeit beim Kupfer lösen könnte, beantwortet er daher knapp und eindeutig: "Nein!"

Und auf Kupfer, wo auch immer es herkommt, könne man nicht verzichten: "Sie können zwar Aluminium für Überlandleitungen benutzen, aber sobald sie eine Spule benötigen, wie in einer Windturbine oder einem E-Auto, kommen sie an Kupfer nicht vorbei. Aluminium hat nur etwa 65 Prozent der Leitfähigkeit von Kupfer, die Kabel werden zu dick."

Die hohen Kupferpreise bleiben erstmal

Bank-of-America-Analyst Michael Widmer hält das hohe Preisniveau für dauerhaft. "Natürlich kann es zu kurzfristigen Korrekturen kommen, aber langfristig sehe ich steigende Preise", so Widmer im Handelsblatt. Das Metall stehe vor einem wohl lang anhaltendem  sogenannten "Superzyklus".

Auch Joachim Berlebach rechnet nicht mit sinkenden Preisen: "Aktuell weisen die Future Markets auf steigende Preise hin. Die Engpässe bei den Minenbetreibern sind auf Rekordhoch." Gleichzeitig steckten die Kosten die Aufbereitung und Weiterverarbeitung des Metalls "auf einem Rekordtiefpunkt".

Gleichzeitig gibt es aber auch Meldungen wie diese: Die norwegische Regierung bereitet den Beginn des Tiefseebergbaus vor der Küste des Landes vor. Schon Anfang 2023 hatte die zuständige Offshore-Behörde berichtet, in norwegischen Gewässern befänden sich "beachtliche Mengen an Bodenschätzen". Nicht nur Zink und Kobalt, sondern auch Kupfer. Doch dass dies den aktuellen Hunger nach dem roten Gold stillen kann, scheint ausgeschlossen. 

Kann sich die EU die neue Osterweiterung leisten?

"Keine Bauern mehr, kein Brot mehr" war ein beliebter Slogan während der zahllosen Straßenblockaden, die Bauern im vergangenen Winter in Polen organisierten. Sie wollten verhindern, dass billiges ukrainisches Getreide ins Land gelangt.

Die Landwirte befürchten, dass der EU-Beitritt des östlichen Nachbarn Polens ihre Existenz bedrohen könnte. "Sie müssen es vergessen. Das ist eine verrückte Idee", sagte einer der protestierenden Bauern während der Blockade im Gespräch mit der DW.

Mehr als ein Jahrzehnt lang schien die Europäische Union ein geschlossener Club zu sein, vor dem Länder - vor allem auf dem Westbalkan - Schlange standen, um aufgenommen zu werden. Doch mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine hat sich das grundlegend geändert. Im Dezember nahm die EU Beitrittsgespräche mit der Ukraine und der Republik Moldau auf und gewährte Georgien den Kandidatenstatus.

Politisches Anliegen stößt auf Haushaltszwänge

"Aus offensichtlichen Gründen betrachtet die EU die Erweiterung jetzt als Sicherheitsinstrument", sagt Thu Nguyen, stellvertretende Direktorin der unabhängigen Denkfabrik Jacques Delors Centre in Berlin, im Gespräch mit der DW. "Aber der EU-Haushalt ist Teil der Diskussionen, nur muss es nicht unbedingt der entscheidende Faktor sein."

Die jüngsten Proteste in Polen erinnern jedoch daran, dass die Wirtschaft ein unumstößlicher Teil des politischen Antriebes der EU ist. Im Haushalt der EU sind regionale Entwicklung und Landwirtschaft die größten Posten.

Wirtschaftsaufschwung durch EU-Osterweiterung

Darum geht Brüssels neuer Expansionseifer mit der Befürchtung einher, dass die Erweiterung für einige EU-Mitglieder und -Bürger wirtschaftliche Nachteile mit sich bringen könnte. Denn die weniger wohlhabenden Mitgliedstaaten bekommen mehr Geld aus den EU-Töpfen, als sie einzahlen. Die acht Länder, die derzeit für den Beitritt in Frage kommen, sind jedoch allesamt ärmer als die derzeitigen Mitgliedstaaten. Dies gilt auch für die Türkei, deren Beitrittsprozess seit 2018 ausgesetzt ist.

Hoffnung auf wirtschaftliche Besserung

Jasna Pejovic aus Montenegro glaubt, ihrem Staat würde die EU-Mitgliedschaft "mehr Legitimität" verleihen. Montenegro ist das Land, das in der Warteschlange für den EU-Beitritt am weitesten vorne liegt; und 80 Prozent seiner Bevölkerung sind für den Beitritt.

Im Büro ihres E-Learning-Startups "Flourish" in der Hauptstadt Podgorica sagt Jasna der DW, es wäre ein Gütesiegel für ihr Unternehmen, wenn sie EU-Bürgerin wäre: "Investoren sagen: 'Wir haben nie Geschäfte mit Montenegro gemacht, und wir wissen nicht, wie wir das machen sollen.' Ich fragte sie: 'Wäre das anders, wenn wir Teil der Europäischen Union wären?' Und sie sagen: 'Ja, es wäre anders.' Weil sie über die Europäische Union Bescheid wissen."

Mit nur 630.000 Einwohnern ist Montenegro ein kleines Land wie viele andere auf dem Westbalkan. Sein Beitritt wäre keine große Belastung für den EU-Haushalt, sagt Nathalie Tocci, die bereits zwei ehemalige EU-Außenbeauftragte beraten hat. "Wenn die EU morgen früh Montenegro aufnehmen und dafür bezahlen würde: Niemand würde es bemerken." Andererseits habe die EU auch keinen wirtschaftlichen Vorteil davon.

Auch Mila Kasalica, Ökonomin und Finanzchefin der Gemeinde Zeta in Montenegro, glaubt, dass die EU-Mitgliedschaft ihrem Land einen Wandel bescheren würde: "Wir haben etwa 45 bis 48 Prozent des Lebensstandards der EU-Länder. Das ist der große Traum im Beitrittsprozess: eine reale Annäherung an den Lebensstandard der EU."

Die Aufnahme der fünf Beitrittskandidaten auf dem westlichen Balkan würde Millionen von Menschen wirtschaftliche Chancen eröffnen, und das zu überschaubaren Kosten für die EU. Doch vier von ihnen haben diesen Status bereits seit mehr als einem Jahrzehnt.

Die Ukraine - der Elefant im Raum

Vor weitaus kürzerer Zeit ist ein neuer Kandidat für den EU-Beitritt am östlichen Horizont aufgetaucht: die Ukraine. Unter dem Druck der russischen Invasion im Februar 2022 erhielt sie innerhalb desselben Jahres den Kandidatenstatus.

Aber der Beitritt des bevölkerungsreichsten - und ärmsten - aller Kandidatenländer wäre eine ganz andere Hausnummer, sagt Politikberaterin Tocci, "wegen seiner Größe, wegen seines Agrarsektors, wegen seines durchschnittlichen Wohlstands und vor allem, weil es ein Land ist, das sich im Krieg befindet und bereits mit 500 Milliarden US-Dollar (rund 470 Mrd. Euro, d.R.) für den Wiederaufbau kalkuliert." Sollte die Ukraine der EU beitreten, würde sie die EU-Finanzen mit Abstand am meisten belasten.

Infografik Führende Weizenproduzenten weltweit 2021/2022: 1. Platz: EU 138.900 Tonnen, 7. Platz Ukraine: 33.000 Tonnen
Ukraine produzierte vor der russischen Invasion fast 25 Prozent so viel Weizen wie die gesamte EU

Außerdem wäre sie der größte Agrarproduzent des Wirtschaftsraums. Die Fläche des Ackerlandes der Ukraine beträgt mehr als 25 Prozent der Ackerfläche aller EU-Länder zusammen. Für die Landwirte in den derzeitigen Mitgliedstaaten würde dies einen unerwünschten Wettbewerb im Binnenmarkt bedeuten.

Polen zum Beispiel hat sich seit seinem Beitritt im Jahr 2004 zu einem der wettbewerbsfähigsten Lebensmittelproduzenten der EU entwickelt. Doch der industriellen Landwirtschaft der Ukraine mit weit niedrigeren Lohnkosten wären die polnischen Betriebe wohl kaum gewachsen, sagt Lukasz Czech, ein polnischer Getreide- und Schweinebauer aus Parczew, der einen Teil seines Einkommens aus EU-Subventionen bezieht: "Wir würden höchstwahrscheinlich bankrottgehen. Denn unsere Märkte würden leicht mit den viel billigeren Produkten aus der Ukraine überschwemmt werden."

Ukraine-Beitritt könnte Loch in den EU-Haushalt reißen

Laut einer internen Untersuchung des Europäischen Rates würde die Zulassung aller Beitrittskandidaten die EU 256 Milliarden Euro kosten, wobei allein die Ukraine über einen Zeitraum von sieben Jahren schätzungsweise 186 Milliarden Euro erhalten würde - die Wiederaufbaukosten nicht eingerechnet.

Kämpfe und Zerstörung in Bachmut, Ukraine: Ein brennendes Hochhaus in einem zerbombten Stadtteil
Wohnhäuser, Schulen, Krankenhäuser und Teile der Infrastruktur sind in der Ukraine sind durch russische Angriffe zerstört null UKRAINIAN ARMED FORCES/REUTERS

Thu Nguyen glaubt, dass "die finanziellen Auswirkungen nicht so hoch wären, wie einige der Zahlen vermuten lassen." Woher das zusätzliche Geld kommen soll, kann Thu Nguyen allerdings auch nicht genau sagen: "Es ist möglich, dass es aus den jetzigen Mitgliedstaaten kommt. Es ist möglich, dass die EU sich eigenes Geld aus neuen Quellen beschafft. Es gibt zum Beispiel Diskussionen über eine Plastiksteuer oder CO2-Anpassungsmechanismen."

Einige EU-Mitgliedstaaten treiben den Beitrittsprozess in einem noch nie dagewesenen Tempo voran. Ob ihnen das gelingt, hängt jedoch von der künftigen Zusammensetzung des neuen EU-Parlaments ab, das im Juni gewählt wird.

Ukraine-Krieg: Warum kauft die EU weiter russisches Gas?

Mehr als zwei Jahre nach dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine strömt noch immer russisches Gas nach Europa. Damit finanzieren Unternehmen aus der EU den Kreml indirekt weiter - wenn auch in deutlich geringerem Ausmaß als noch vor dem Ukraine-Krieg. Rund 34 Prozent der europäischen Gasimporte stammten damals aus Russland. Länder in Mittel- und Osteuropa waren besonders abhängig.

Als die EU zu Beginn des Ukraine-Krieges ein Import-Verbot vorschlug, sprach sich der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz sofort dagegen aus. Ohne Russland sei "die Versorgung Europas mit Energie für Wärmeerzeugung, Mobilität, Strom und Industrie derzeit nicht zu sichern", argumentierte Scholz.

Dem russischen Präsidenten Wladimir Putin war diese Sorge durchaus bewusst. Er drosselte die Gaseinfuhren nach Europa. Vor dem Winter 2022 befürchteten die europäischen Staats- und Regierungschefs einen Energieschock. Zwar sind diese Befürchtungen nie eingetreten - doch die Angst saß und sitzt noch immer tief. Auch deshalb hat die EU nie wirklich Sanktionen gegen russisches Gas verhängt.

 "Es gab keine Sanktion", sagt Benjamin Hilgenstock, Ökonom von der Kyiv School of Economics. "Es war eine freiwillige und kluge Entscheidung der Länder, die Versorgung zu diversifizieren und nicht länger von Russland erpressbar zu sein", sagte er der DW.

Wie russisches LNG-Gas Pipelinegas ersetzen?

Nach EU-Angaben ist der Anteil des von den Mitgliedstaaten importierten russischen Pipelinegases von 40 Prozent im Jahr 2021 auf etwa acht Prozent im Jahr 2023 gesunken.

Bezieht man jedoch verflüssigtes Erdgas (LNG) mit ein, dann lag der Anteil des russischen Gases an den Gesamteinfuhren der EU im vergangenen Jahr bei 15 Prozent. Flüssiggas; Erdgas, das in abgekühlter und verflüssigter Form mit dem Schiff transportiert werden kann.

Ein Schiff liegt am LNG-Terminal in Wilhelmshafen vor Anker
Deutschland hat schnell seine Abhängigkeit von Russland reduziert durch den Bau von LNG-Terminals - wie hier in Wilhelmshaven. null Michael Sohn/REUTERS

Die EU konnte ihre Russland-Abhängigkeit nach Beginn des Ukraine-Krieges vor allem dadurch verringern, dass sie ihre LNG-Importe aus Ländern wie den Vereinigten Staaten und Katar erhöhte.

Doch damit kam auch vermehrt verbilligtes russisches LNG in die EU. Nach Angaben des Datenanbieters Kpler ist Russland jetzt der zweitgrößte Flüssiggas-Lieferant der EU.

2023 machten die Importe aus Russland 16 Prozent der gesamten LNG-Versorgung der EU aus. Das ist ein Anstieg von über 40 Prozent im Vergleich zu 2021 - also vor Kriegsbeginn. Daten aus dem ersten Quartal 2024 zeigen, dass die russischen Flüssiggas-Exporte nach Europa im Vergleich zum Vorjahr erneut um fünf Prozent gestiegen sind. Frankreich, Spanien und Belgien haben besonders viel LNG importiert. Auf diese drei Länder entfielen 87 Prozent des gesamten Flüssiggases, das im Jahr 2023 in die EU kam.

Länder wollen Verladung von LNG stoppen

Ein großer Teil des russischen Flüssiggases wird jedoch gar nicht für den europäischen Markt benötigt, sondern nur in europäischen Häfen umgeschlagen, sagt der Ökonom Hilgenstock. Das heißt, es kommt an - wird auf andere Schiffe verladen und dann in andere Länder exportiert. "Das hat also nichts mit der europäischen Erdgasversorgung zu tun. Es geht nur darum, dass europäische Unternehmen Geld damit verdienen, russische LNG-Exporte zu ermöglichen."

Einem aktuellen Bericht des Centre for Research on Energy and Clean Air (CREA) zufolge wurde knapp ein Viertel der europäischen Flüssiggasimporte aus Russland (22 Prozent) 2023 wieder auf die globalen Märkte verschifft. Der Großteil ginge an Länder in Asien, sagte Petras Katinas, Energieexperte beim CREA, der DW.

Mehrere EU-Mitglieder wie Schweden, Finnland und die baltischen Staaten üben daher Druck auf die EU aus. Sie wollen ein vollständiges Verbot für russisches LNG. Das aber benötigt die Zustimmung aller Mitgliedsstaaten.

Innerhalb der EU konzentriert sich die Diskussion vor allem auf ein Verbot der Umschlagung von russischem Flüssiggas in den Häfen. Nach Angaben der Nachrichtenagentur Bloomberg wird auch über die Sanktionierung wichtiger russischer LNG-Projekte nachgedacht, wie Arctic LNG 2, das Ust Luga LNG-Terminal und eine Anlage in Murmansk.

"Wir sollten russisches LNG im Grunde verbieten", sagte Hilgenstock on der Kyiv School of Economics. "Wir glauben nicht, dass es eine bedeutende Rolle für die europäische Gasversorgung spielt und relativ leicht durch Flüssiggas aus anderen Quellen ersetzt werden kann." Auch eine Studie der Denkfabrik Bruegel aus dem Jahr 2023 untermauert diese Aussage.

Dennoch warnte die Europäische Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden - kurz Acer - kürzlich: Eine Reduzierung der russischen LNG-Importe sollte nur "schrittweise" erfolgen, um einen Energieschock zu vermeiden.

Auch Pipeline-Gas kommt noch nach Europa

Die Nord-Stream-Pipelines durch die Ostsee sind derzeit nicht in Betrieb. Auch über die Festlandpipeline Jamal-Europa fließt kein russisches Gas mehr nach Europa. Dennoch erreicht russisches Gas weiter über Pipelines durch die Ukraine die österreichische Erdgasdrehscheibe Baumgarten. Der Grund liegt auf der Hand: Das teilstaatliche österreichische Energieunternehmen OMV hat mit dem russischen Gasriesen Gazprom einen Liefervertrag bis 2040 abgeschlossen.

Österreich bestätigte im Februar dieses Jahres, dass 98 Prozent seiner Gasimporte im Dezember 2023 aus Russland stammten. Laut der Regierung in Wien soll der Vertrag so schnell wie möglich gekündigt werden. Dafür seien aber EU-Sanktionen nötig, um diesen Schritt auch juristisch zu rechtfertigen.

Tatort Ostsee - Wer sprengte die Nord Stream-Pipelines?

Auch Ungarn hat weiterhin russisches Gas in großen Mengen über Pipelines importiert. Vor kurzem hat das Land einen Gasvertrag mit der Türkeiabgeschlossen - viele Experten gehen aber davon aus, dass es sich auch dabei um russisches Gas handelt, das über die Pipeline Turkstream die Türkei erreicht.

Der Ökonom Hilgenstock nimmt an, dass einige Länder weiterhin russisches Gas kaufen, weil sie von günstigen Verträgen profitieren. "Solange es also kein Embargo gegen russisches Erdgas gibt, können diese Länder das auch tun."

Für Österreich und Ungarn könnte ein mögliches Ende ihrer Pipeline-Importe aus Russland letztlich durch die Ukraine erfolgen. Kiew beharrt nämlich darauf, dass es den bestehenden Vertrag mit Gazprom über die Durchleitung von Gas durch sein Territorium nicht verlängern wird. Dieses Abkommen läuft Ende 2024 aus.

Zeit für ein Embargo?

Obwohl immer noch russisches Gas nach Europa importiert wird, ist der Anteil an den europäischen Gasimporten insgesamt seit 2021 drastisch gesunken. Die EU strebt an, dass die Union bis 2027 völlig frei von russischem Gas ist.

Ein Ziel, das Hilgenstock für zunehmend realistisch hält. "Ich denke, wenn uns dieses ganze Kapitel eines gezeigt hat, dann dass wir unsere Gasversorgung und andere Energiequellen relativ schnell von Russland weg diversifizieren können."

Dennoch seien die politischen Bedingungen für ein totales Gasembargo - insbesondere für ein Pipelinegas derzeit "nicht besonders günstig". Hilgenstock verweist auch auf die ungarisches EU-Ratspräsidentschaft in der zweiten Hälfte des Jahres 2024 als mögliches Hindernis. Budapest hat engere Beziehungen zu Moskau als die meisten EU-Mitgliedstaaten.

In Bezug auf LNG ist er optimistischer. Neben Maßnahmen der EU müssten aber auch die großen Flüssiggas-Importeure wie Spanien und Belgien selbst die Initiative ergreifen. "Die Einfuhr von russischem Gas durch die Hintertür ist ein großes Problem". Zum einen wegen der Botschaft, die dadurch ausgesendet werde und man helfe Russland bei seinen LNG-Lieferketten. "Das sollten wir nicht tun."

Der Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert. 

Faktencheck: Weicht Biden Sanktionen gegen Iran auf?

Seit der Revolution 1979 wird der Iran, das Land mit den weltweit größten Rohöl- und Gasreserven, immer wieder mit Sanktionen belegt. Angesichts der Drohnenangriffe auf Israel haben sowohl die USA als auch die EU ihre Sanktionen gegenüber Teheran erneut verschärft. Wie wurden die zahlreichen Sanktionen umgesetzt?

UN-Waffenembargo und die USA

Behauptung: "Biden hat dem Auslaufen der UN-Sanktionen gegen iranische Drohnen und ballistische Raketen zugestimmt", schreibt die US-amerikanische Fernsehkommentatorin Morgan Ortagus auf Twitter. Ortagus war von 2019 bis 2021 Sprecherin des US-Außenministeriums unter US-Präsident Trump. 

DW Faktencheck: Falsch.

Das UN-Waffenembargo gegen den Iran ist bereits am 18. Oktober 2020 ausgelaufen. Dies war vor dem Beginn der Amtszeit von Präsident Joe Biden am 20. Januar 2021.

Das Embargo endete genau fünf Jahre nach dem Tag der Annahme des internationalen Abkommens über das iranische Atomprogramm, genannt Joint Comprehensive Plan of Action (JCPOA). 

Im Rahmen des Abkommens beschloss der UN-Sicherheitsrat am 20. Juli 2015 (Resolution 2231), das bis dahin geltende strikte UN-Waffenembargo gegen den Iran zu lockern.

Rafael Mariano Grossi, Generaldirektor, Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO)
Rafael Mariano Grossi, Generaldirektor der Internationalen Atomenergie-Organisation, hat den Iran mehrfach aufgefordert, die Überwachung von Anlagen durch IAEA-Inspektoren wieder zu erlaubennull Roland Schlager/APA/dpa/picture alliance

Die Lockerungen sollten allerdings erst gewährt werden, wenn die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) gegenüber dem UN-Sicherheitsrat bestätigt, dass der Iran die im JCPOA festgelegten Maßnahmen im Zusammenhang mit seinem Atomprogramm ergriffen hat.

Unter Trump zogen sich die USA am 8. Mai 2018 aus dem internationalen Atomabkommen mit dem Iran zurück. Am 6. August 2018 verhängten die USA erneut Sanktionen

Der damalige US-Außenminister Michael Pompeo erklärteim September 2020, dass auch die UN-Lockerungen rückgängig gemacht und die in der Resolution 2231 des UN-Sicherheitsrates verfügten Sanktionen gegen den Iran wieder eingesetzt würden. 

Dies war jedoch nicht der Fall. Der UN-Sicherheitsrat hatte bereits am 26. August 2020 eine entsprechende Initiative der USA mit der Begründung blockiert, dass die USA einseitig aus dem JCPOA ausgestiegen und deshalb nicht befugt seien, Änderungen vorzuschlagen. 

Seitdem haben die USA mehrfach ihre eigenen Sanktionen gegenüber dem Iran verschärft. Eine komplette Liste aller seit 2001 verhängten US-Sanktionen gegen den Iran hat das United States Institute for Peace zusammengestellt. 

Iran | Straßenszene vor Banner mit Raketen in Teheran
Mit einem riesigen Banner macht das Regime in Teheran Werbung für seine ballistischen Raketennull AFP

Israel-Angriff und Urananreicherung dank Sanktionspausen?

Behauptung: "Seit seinem Amtsantritt hat Biden Direktzahlungen an Teheran und Sanktionserleichterungen vorgenommen. Dieses Geld hat der Iran genutzt, um Israel anzugreifen," empört sich eine Twitter Userin . Der republikanische US-Kongressabgeordnete Bryan Steil pflichtet ihr bei und schreibt: "Präsident Biden hat eine Ausnahmeregelung für Sanktionen verlängert, die dem Iran Zugang zu zehn Milliarden Dollar gewährt. In der Zwischenzeit reichert der Iran Uran fast auf nuklearen Niveau an und seine Stellvertreter schießen Raketen auf unsere Soldaten ab, drei wurden getötet". 

DW-Faktencheck: Unbelegt.

Richtig ist, dass US-Präsident Joe Biden während seiner Amtszeit mehrfach Sanktionsaussetzungen angeordnet hat. Es folgen einige Beispiele.

So versuchte Biden im Februar 2022 mit "sanction waivers" für russische, chinesische und europäische Unternehmen eine Wiederbelebung der indirekten amerikanisch-iranischen Gespräche über das Atomabkommen von 2015 zu ermöglichen.

Iran-Atomabkommen: Kommt mit Biden ein neuer Deal?

Im Juli 2023 gab US-Außenminister Antony Blinken nach einem Treffen mit seinem irakischen Amtskollegen Fuad Hussein in Riad die Freigabe von iranischen Guthaben im Irak bekannt. Damit konnte der Irak einen Teil seiner Erdgasschulden in Milliardenhöhe gegenüber dem Iran begleichen. Dieser hatte seine Lieferungen für den Irak eingestellt. 

Im August 2023 gewährte Präsident Biden Teheran Zugang zu rund sechs Milliarden US-Dollar an Erdöldevisen. Das Geld befand sich auf einem gesperrten Bankkonto in Südkorea. Im Gegenzug wurden fünf amerikanische Geiseln aus dem Iran freigelassen.

Im März dieses Jahres erlaubte die US-Regierung dem Iran erneut Zugang zu zehn Milliarden US-Dollar. Auf einer Pressekonferenz am 15. April verteidigte Sprecher John Kirby die Maßnahme: "Von diesen Geldern - die übrigens von der Regierung Trump auf einem Konto eingerichtet wurden - geht nichts direkt an den Obersten Führer der Revolutionsbrigaden IRGC. Sie können nur für humanitäre Zwecke verwendet werden."

Iran I Männer feiern des Raketen- und Drohnenangriff des IRGC auf Israel vor Moschee in Teheran
In Teheran feiern Männer auf der Straße den Angriff der islamistischen Revolutionsbrigaden auf Israel am 15. Aprilnull Morteza Nikoubazl/NurPhoto/picture alliance

Claude Rakisits vom Centre for Security, Diplomacy and Strategy (CSDS) in Brüssel widerspricht. Er ist davon überzeugt, dass "die Sanktionsaussetzungen es Teheran leichter gemacht haben, Waffen zu produzieren und zu kaufen". 

Belegbar ist diese Behauptung nicht. Im Gegensatz zu Kritiker Rakisits verteidigt US-Präsident Biden in einem Statement vom 18. April seine Sanktionspolitik.

"Während meiner Regierung haben die USA über 600 Individuen und Organisationen mit Sanktionen belegt, darunter den Iran und seine Verbündeten Hamas, Hizbollah, und Huthis. Dies werden wir fortsetzen und weitere Sanktionen verhängen, die Irans Rüstungsindustrie schwächen." 

Waffenexporte und Wachstum trotz Sanktionen 

Behauptung: "Die Sanktionen gegen den Iran sind nicht sinnvoll, wenn sie nicht auch China mit einbeziehen", schreibt die deutsch-iranische Fernsehjournalistin Natalie Amiri auf Twitter. Andere User bezeichnen die Sanktionen sogar als "komplett sinnlos", da ihre Einhaltung nicht durchgesetzt werde

DW-Faktencheck: Richtig.

Die Sanktionen schwächen Wirtschaft und Entwicklung, reduzieren Investitionen und führen zu wachsender Arbeitslosigkeit und Armut. Die Entwicklung des iranischen Bruttoinlandsproduktes pro Kopf seit 1979 (siehe Grafik) verdeutlicht die Rückschläge, die der Iran durch die Strafmaßnahmen hinnehmen musste, etwa den rapiden BIP-Rückgang nach dem Ölembargo 2012.

Dennoch liegt die Wirtschaft des Landes trotz der internationalen Strafmaßnahmen nicht am Boden.

"Das Wirtschaftswachstum hat sich in den vergangenen vier Jahren trotz der anhaltenden Sanktionen und erhöhter geopolitischer Unsicherheit als resilient erwiesen", heißt es in der Analyse der Weltbank

Andere Sanktionsexperten bestätigen diese Einschätzung: "Westliche Sanktionen gegen Drohnen und Waffen aus dem Iran haben nicht funktioniert, weil Teheran die Waffen oder Komponenten dafür woanders herbekommt", erklärt Sanktionsexperte Claude Rakisits auf Anfrage der DW. Die Lieferungen kämen hauptsächlich aus China, Nordkorea und Russland. Rakisits: "Es besteht eine effektive Allianz zwischen diesen vier Diktaturen."

Decoding China: Innovationsbedarf umschifft die Politik

Als die weltgrößte Industrieschau ist die Hannover Messe der Trendsetter. Hier erfährt die ganze Welt, wie die industrielle Zukunft aussieht und was die wegweisenden Themen sind. Dass China dabei ein unentbehrlicher Akteur ist, lässt sich direkt an der Zahl der Aussteller ablesen. Fast jeder Dritte der circa 4.000 Teilnehmenden kommt dieses Jahr aus Fernost. Dass die Bundesregierung in ihrer Chinastrategie vom Sommer 2023 das Reich der Mitte als "Partner, Wettbewerber", aber auch "systemischen Rivalen" definiert, schreckt die Aussteller nicht ab.

"Mir ist die Position Deutschlands nicht bekannt", sagt der chinesische Unternehmer Jiang, der auf seinem Standardmessestand von neun Quadratmetern in der Halle 4 Kugellager unterschiedlicher Größen ausstellt. "Das macht aber nichts. Wir wollen Geschäfte machen. Und meine Produkte sind gut, preiswert und für die Industrie unverzichtbar."

Eine kleine Zahl von Ständen bleibt in der Halle 4 leer. Die an der Außenwand angeklebten Firmennamen deuten darauf hin, dass auch diese für Unternehmen aus China vorgesehen waren. Vermutlich haben die Geschäftsleute kein Visum für Deutschland erhalten, murmelten die Nachbarn. Ansonsten spürt man auf dem Gemeinschaftsstand für den chinesischen Mittelstand deutliche Aufbruchsstimmung. Der Messeauftritt in Hannover gibt den Unternehmen die Möglichkeit für mehr Exportgeschäfte, um die nachlassende Nachfrage im chinesischen Inland auszugleichen. "Wir hoffen auf große Bestellungen aus dem Ausland", sagt Jiang. Er räumt aber ein, dass es "überall schwierig" sei.

Zukunft mit KI-getriebener Industrie "Made in China"

Das Logo des Chinastands Make Things Better (Mach die Dinge besser) liest sich dabei wie ein selbstbewusster Slogan. In einigen Bereichen haben sich chinesische Unternehmen schon heute weltweit an die Spitze gesetzt. Themen wie Digitalisierung und Künstliche Intelligenz (KI) wären ohne chinesisches Engagement nicht denkbar. Die Zukunft liegt in der so genannten "Industrie 4.0" - der vernetzten Produktion mit automatisierter Zuteilung der Ressourcen durch KI.

Die Zukunftsfabriken, auch Smart Factories genannt, brauchen dafür schnelle Funknetze und Cloud-Services. Über diese "Daten-Wolken" werden sämtliche Industriedaten in Echtzeit von der Produktion an den Server übermittelt. Nach vorgegebenen Rechenmodellen, den Algorithmen, ermittelt die künstliche Intelligenz über Cloud-Computing die bestmöglichen Lösungen und erteilt den Maschinen die Anweisungen für die nächsten Schritte.

China | Smart Factory in Huzhou
"Smart Factory" in Huzhou, Chinanull Costfoto/NurPhoto/picture alliance

Beim Messerundgang am Montag (22.04.24.) betonte Bundeskanzler Olaf Scholz noch die Stärke Deutschlands, "um die Zukunft für unsere Volkswirtschaft und für gute, sichere Arbeitsplätze auch in 10, 20, 30 Jahren und für die weitere Zukunft zu gewährleisten." Das gehe nur mit technologischen Innovationen, für die Unternehmen aus Deutschland und viele andere, die in Hannover dabei sind, besonders geeignet seien, so Scholz weiter.

Symbiose durch Globalisierung

Wichtige Innovationen kommen dabei aus China. "Wir sind von den Fortschritten durch die Globalisierung überzeugt", sagt Zhiqiang Tao, Vize-Präsident von Huawei Cloud. Der chinesische Telekommunikationsausrüster baut in Europa den Cloud-Service kräftig aus und betreibt Server für europäische Kunden in Irland und der Türkei. "In Deutschland bieten wir unseren Industriekunden zum Beispiel über die Deutsche Telekom zuverlässigen Cloud-Service an. Nur durch Zusammenarbeit werden wir künftig vom Erfolg gekrönt bleiben."

China - der mächtige Konkurrent

Allein in China nutzten laut Tao schon mehr als 8.000 Industrieunternehmen mit globalem Footprint den Cloud-Service von Huawei. Diese dann mit den internationalen Partnern zu vernetzen, würde dann die Digitalisierung der gesamten Wertschöpfungskette beschleunigen. "Wir schaffen für alle einen Mehrwert. Und es entsteht eine Symbiose."

Aber genau mit dieser Symbiose hat Deutschland ein Problem. Zwar fordert die deutsche Chinastrategie keine komplette Entkopplung, aber eine Diversifizierung und ein "De-Risking".

"Wir halten es für nachvollziehbar, wenn Deutschland bei wichtigen Vorprodukten und Rohstoffen versucht, zu große Abhängigkeiten zu reduzieren", sagt Volker Treier, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) in Hannover. "Das ist ein normales kaufmännisches Gebot. Das füllt den Begriff des De-Riskings etwas mit Inhalten. In China sind weiterhin die Themen wie der Schutz geistigen Eigentums und der erzwungene Technologietransfer noch nicht ganz von der Tagesordnung verschwunden."

Investitionsrekord trotz De-Risking-Strategie

Die Statistiken sprechen aber eine andere Sprache. Nach Angaben der Deutschen Bundesbank investierte die deutsche Wirtschaft 2023 trotz De-Risking mit knapp zwölf Milliarden Euro in China - inklusive der Sonderverwaltungszone Hongkong - so viel wie nie zuvor. Laut der Geschäftsklimaumfrage der deutschen Auslandshandelskammer (AHK) wollen 54 Prozent der deutschen Firmen ihre Investitionen in China erhöhen, um dort wettbewerbsfähig zu bleiben.

Abkoppeln von China? - Lieber nicht ganz

"Das zeigt, dass trotz der bestehenden Herausforderung eben doch ein Vertrauen in die Stabilität und in das Potenzial des chinesischen Marktes besteht," sagt Thomas Scheler, Geschäftsführer der Deutsch-Chinesischen Wirtschaftsvereinigung (DCW) in Düsseldorf. Die Komplementarität der beiden Volkswirtschaften sei "ein wesentlicher Treiber" in dem gegensätzlichen Phänomen von politischer Lenkung und wirtschaftlichem Handeln.

Die Chance liege nun darin, dass die Globalisierung weg vom Warenhandel in Richtung Dienstleistungshandel, Dienstleistungsexporte und vor allem auch in Richtung Direktinvestitionen voranschreite, sagt Wirtschaftsjournalist Dieter Beste. "Direktinvestitionen bedeuten, dass man marktnah produziert, und zwar im Markt für den jeweiligen Markt. Das sind Tendenzen, die sich weltweit abzeichnen, insbesondere auch im Verhältnis zwischen Deutschland und China."

Berichte über Wirtschaftsspionage

Die Debatten, ob eine Innovationspartnerschaft mit chinesischen Firmen sinnvoll ist, werden während der Messewoche von Berichten über chinesische Wirtschaftsspionage überschattet.

Eine deutsche Firma soll im Auftrag des chinesischen Sicherheitsministeriums bei deutschen Universitätseinrichtungen Technologien abgefasst haben, die in China militärisch genutzt werden könnten. Zwei Deutsche sitzen seit Dienstag in Untersuchungshaft. Seit der blutigen Niederschlagung der Studentenproteste 1989 auf dem Tiananmen-Platz darf aufgrund des EU-Waffenembargos grundsätzlich keine Ausfuhrgenehmigung für Waffen an China ausgestellt werden.

"Ganz offen gesagt: Die Beziehungen waren schon mal besser", sagt Volker Treier von der Industrie- und Handelskammer. "Die volatile Weltlage hat sich auch auf die wirtschaftspolitische Beziehung zu China ausgewirkt. Trotz starken Gegenwinds: Wir müssen Kooperationsfelder ausbauen und systematisch weiterentwickeln", fordert Treier.

"Decoding China" ist eine DW-Serie, die chinesische Positionen und Argumentationen zu aktuellen internationalen Themen aus der deutschen und europäischen Perspektive kritisch einordnet.

 

Was bringen Sanktionen gegen Iran und Russland?

Der Iran weiß es, China weiß es und die US-Regierung weiß es offenbar auch: Trotz bestehender Sanktionen gegen die Ölwirtschaft der Islamischen Republik wird Öl aus dem Iran in Rekordhöhe ins Reich der Mitte verschifft.

"Wenn man der chinesischen Regierung glaubt, importiert das Land kein Öl aus dem Iran. Null. Kein einziges Barrel. Stattdessen importiert es viel malaysisches Rohöl. So viel, dass das Land nach offiziellen chinesischen Zolldaten mehr als doppelt so viel malaysisches Öl kauft, wie Malaysia tatsächlich produziert", beschreibt der Rohstoff-Spezialist Javier Blas den Etikettenschwindel im Nachrichtenportal Bloomberg.

Mit einem einfachen Trick, so Blas, wird aus iranischem Rohöl malaysisches. Laut Ölhändlern sei das "der einfachste und billigste Weg, die US-Sanktionen zu umgehen". Und so wurde aus Malaysia im vergangenen Jahr Chinas viertgrößter ausländischer Öllieferant, hinter Saudi-Arabien, Russland und dem Irak.

Als Dreh- und Angelpunkt für die Umgehung von Sanktionen nutzt der Iran seit vielen Jahren die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE). Über Dubai kommen häufig die Waren in die Islamische Republik, die auf langen Verbotslisten der USA oder der Europäischen Union stehen. Dazu werden verbotene Öllieferungen über die Emirate eingefädelt und abgewickelt.

VAE Dubai Skyline
Finanzplatz Dubai: Auf der grauen Liste der Financial Action Task Force wegen Problemen bei Geldwäsche und Terrorfinanzierung null Imaginechina/Tuchong/imago images

Ganz gleich, ob es um Ersatzteile für Fahrzeuge oder Flugzeuge geht: Längst hat der Iran seine Lieferketten so modifiziert, dass man über Handels- und Finanzplätze wie Dubai alles beschaffen kann, wofür es im Iran eine Nachfrage gibt. Das ist zwar teurer als der direkte Import. Aber die westlichen Sanktionen, vor allem die der USA, werden so seit vielen Jahren umgangen.

Umschlagplatz Zentralasien

Auch Russland verfügt über solche Umschlagplätze für sanktionierte Güter. Auch hier gibt es kaum ein Produkt, das nicht über ein Drittland beschafft werden kann: Etwa Ersatzteile für deutsche Luxus-Autos oder elektronische Bauteile, die zur Steuerung von Waffen gebraucht werden. Eine Schlüsselrolle spielen dabei frühere Sowjetrepubliken in Zentralasien. Moskaus Vorteil dabei: Die Russische Föderation ist mit Ländern wie Kasachstan oder Kirgisistan in einer Zollunion verbunden, in der der grenzüberschreitende Warenverkehr ein Kinderspiel ist.

So gelangen sanktionierte Produkte aus dem Westen, die nach den Sanktionen tabu für Russland sind, nahezu ungehindert über internationale Grenzen. Kontrolle? Fast unmöglich. Allein die Grenze zwischen der Russischen Föderation und Kasachstan ist rund 7500 Kilometer lang. Auch Armenien ist so ein Beispiel: Um knapp 1000 Prozent legte der Verkauf deutscher Autos und Autoteile im vergangenen Jahr zu.

Seit der Verhängung des mittlerweile 13. Sanktionspakets der EU gegen Moskau am 22. Februar 2024 ist Russland weltweit das Land, das mit den meisten Sanktionen belegt ist. Das belegen Zahlen von Castellum.AI, einer privatwirtschaftlichen Compliance-Plattform aus den USA. Und trotzdem führt Russland seinen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine weiter und die russische Wirtschaft ist alles andere als zusammengebrochen.

Gerade erst hat die russische Regierung ihre Prognose für das Wirtschaftswachstum in diesem Jahr von 2,3 auf 2,8 Prozent angehoben. Der Internationale Währungsfonds (IWF) geht sogar von einem Plus beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 3,2 Prozent aus. Die Begründung ist für westliche Sanktions-Befürworter ernüchternd: Hohe Staatsausgaben und Investitionen im Zusammenhang mit dem Krieg gegen die Ukraine sowie - trotz westlicher Sanktionen - hohe Einnahmen aus dem Ölexport würden Russlands Wirtschaft antreiben, so der der IWF.

Kasachstan Almaty | Filiale der russischen Alfabank
Starke Präsenz in Zentralasien: Filiale der sanktionierten russischen Alfabank in Kasachstannull Anatoly Weisskopf/DW

Noch nie so viele Sanktionen verhängt

Der Iran war bis zum Kriegsausbruch in der Ukraine das am stärksten sanktionierte Land der Welt - bis zum Angriff Russlands auf die Ukraine. Danach wurden von den USA und der EU immer neue Sanktionsrunden beschlossen. Mittlerweile unterliegt Russland mehr als 5000 verschiedenen gezielten Sanktionen, mehr als der Iran, Venezuela, Myanmar und Kuba zusammen.

Die Sanktionen, die als Reaktion auf Putins Angriffskrieg verhängt wurden, richten sich gegen Politiker und Beamte (einschließlich Putin selbst), Oligarchen, Großunternehmen, Finanzinstitute und den militärisch-industriellen Komplex, listet Castellum.AI auf. Ergänzt werden sie durch weitreichende Sanktionen im Finanzbereich, die den Zugang russischer Banken zu den internationalen Finanzmärkten einschränken - etwa durch den Ausschluss vom System für den internationalen Zahlungsverkehr Swift. Außerdem verwehren die Zwangsmaßnahmen der russischen Zentralbank den Zugriff auf Währungsreserven und Goldbestände, die sich in den G7-Ländern befinden.

Der Haken daran ist, dass nur die Sanktionen, die vom UN-Sicherheitsrat verhängt werden, auch völkerrechtlich bindend sind. Und dass es eben eine ganze Reihe von Staaten wie Indien, Brasilien oder China gibt, die sich diesen Sanktionen nicht anschließen.

Kaum eine Alternative

Warum also immer neue Sanktionen verhängen, wenn ihr Ziel, das Verhalten von Staaten zu ändern, nicht erreicht werden kann? "Wir leben im Zeitalter der Sanktionen. Wenn keine Sanktionen verhängt werden würden, wäre das schon fast wie eine unausgesprochene Unterstützung. Oder als ob man auf diesen völkerrechtswidrigen Angriff gar nicht antworten würde", sagt Christian von Soest, Sanktions-Experte vom German Institute for Global and Area Studies (GIGA) im Interview mit der DW.

Für den Autor des Buches Sanktionen: Mächtige Waffe oder hilfloses Manöver?, das vor einem Jahr erschienen ist, haben zwar die Sanktionen nicht zu einer Änderung des Verhaltens Russlands oder des Iran geführt. Doch die USA und die EU sind dabei, ihre Maßnahmen nachzuschärfen. So bereiten die USA nach einem  Bericht des Wall Street Journal Sanktionen gegen eine Reihe von chinesischen Banken vor, um sie vom weltweiten Finanzsystem auszuschließen. Die Behörden wollen so Pekings Finanzhilfen für die russische Rüstungsproduktion unterbinden, berichtet die US-Finanzzeitung unter Berufung auf "mit der Angelegenheit vertraute Personen".

Auch die EU hat sich neu formiert, um ihre Sanktionen besser durchzusetzen. So gibt es seit Januar 2023 mit dem Top-Diplomaten David O'Sullivan einen EU-Sanktionsbeauftragten. "Seine Aufgabe ist es zum Beispiel auch, in die Post-Sowjetstaaten in der Nachbarschaft von Russland zu reisen und die Regierungen dort zu überzeugen, die Sanktionen stärker durchzusetzen", erklärt Christian von Soest.

"Es gibt jetzt auch eine sogenannte No Russia Clause, mit der man Exporteure dazu zwingen will, nachzuweisen, dass die gelieferten Güter, Maschinen, Fahrzeuge, Autoteile, eben nicht nach Russland weitergehen. Eine solche Endverbleibs-Klausel kennen wir aus dem Kriegswaffenkontrollgesetz", fügt der Sanktions-Experte hinzu.

Auch im Fall der Vereinigten Arabischen Emirate steigt der Druck: "Die VAE sind zu einem Zufluchtsort für die Umgehung iranischer und russischer Sanktionen geworden", konstatiert die US-Denkfabrik Atlantic Council. Deshalb hat die Financial Action Task Force (FATF), ein internationales Koordinierungsgremium, das von den G7, der EU und der Industriestaatenorganisation OECD zur Bekämpfung von Geldwäsche gegründet wurde, die VAE auf die so genannte graue Liste gesetzt. Auf dieser Liste landen Länder, in denen die FATF-Ermittler ein erhöhtes Risiko für Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung sehen.

"Man hat das generelle Problem erkannt, dass es Ausweichmöglichkeiten sowohl für Russland, aber auch für den Iran gibt, die Sanktionen zu umgehen", sagt Christian von Soest. Jetzt müsse man sehen, was die verschiedenen Maßnahmen bringen.

Kann sich der Iran einen Krieg mit Israel leisten?

Gefälschte Euro-Münzen aus Spanien vermutlich in ganz Europa

Das Geld, mit dem wir bezahlen, ist nur bedrucktes Papier oder geprägtes Metall. Ist es elektronisch, wie zunehmend üblich, ist es nicht mehr als eine elektronische Datei. Der eigentliche Wert des Geldes besteht in dem Vertrauen, das ihm entgegen gebracht wird: Jeder Mensch soll sich darauf verlassen können, dass das Papier oder das Metall genau den Gegenwert hat, der ihm aufgedruckt oder eingeprägt ist.

Durch das Fälschen von Zahlungsmitteln entsteht ein gesamtwirtschaftlicher Schaden, der alle Menschen betrifft. Jene, die durch einen Zufall mit Falschgeld bezahlt werden oder es als Wechselgeld erhalten, kostet es auch: Denn Falschgeld wird eingezogen und man hat kein Recht auf einen finanziellen Ausgleich. Beim Geldfälschen versteht ein Staat keinen Spaß: Falschmünzerei ist kein Kavaliersdelikt.

Altstadt von Toledo mit königlichen Palast über der Flussschleife des Tejo
In Toledo, der alten Hauptstadt Spaniens, wurden über Jahre hinweg Euro-Münzen gefälschtnull Rudolf Ernst/Zoonar/picture alliance

Bedeutender Ermittlungserfolg in Spanien

Am Mittwoch meldet die Deutsche Presse-Agentur (dpa), die Policía Nacional in Spanien habe eine Geldfälscherbande zerschlagen, die in ganz Europa falsche Zwei-Euro-Münzen in Umlauf gebracht haben soll. Mit Hilfe der über Staatsgrenzen hinweg agierenden Polizeiorganisation EuropoI sei es gelungen, in der Provinzhauptstadt Toledo eine Fälscherwerkstatt auszuheben - "die wichtigste der vergangenen zehn Jahre in Europa", so die Polizei.

Die Bande habe fast 500.000 gefälschte Münzen "von hoher Qualität" auf den europäischen Markt gebracht. Zehn Menschen, die ausnahmslos chinesische Staatsbürger sein sollen, seien festgenommen worden. Die Policía Nacional teilte mit, sie ermittle bereits seit sechs Jahren in diesem Fall. Die Ermittlungen, zitierte die dpa die Beamten "waren äußerst schwierig und langwierig, nicht zuletzt wegen der Geheimhaltung innerhalb der Organisation sowie wegen der praktisch nicht vorhandenen Rückverfolgbarkeit, die für Falschmünzen charakteristisch ist".

Auch wenn der volkswirtschaftliche Schaden in diesem konkreten Fall nicht sehr groß gewesen sein dürfte (eine halbe Million falscher Zwei-Euro-Münzen hat lediglich einen "Gegenwert" von einer Million Euro), ist der Erfolg der Polizei nicht gering zu schätzen. Wer unbehelligt über einen langen Zeitraum hinweg gefälschte Münzen erfolgreich in Umlauf bringt, kann seine Energie und Expertise auch erweitern. Vor allem ist hier der psychologische Aspekt, den Bürgern versichern zu können, ihr Geld sei sicher und behalte seinen Wert, wichtig.

2-Euro-Gedenkmünze „1275. Geburtstag Karl der Große“
Die ist echt: Eine 2-Euro-Gedenkmünze zum 1275. Geburtstag von Karl der Große

Auch Münzen sind in Europa relativ sicher

Gefälschte Geldscheine kann man relativ einfach erkennen. Die Sicherheitsvorkehrungen, die die Notenbanken getroffen haben, sind ausgeklügelt und gut kommuniziert. Beinahe jeder weiß um ihre "Sicherheitsfeatures" - um den Sicherheitsfaden, die eingearbeiteten Hologramme, die nur schwer zu kopierenden Hintergründe, die Qualität des Papiers. Bei Münzen sieht das zwar anders aus, denn bei ihnen gibt es keine Hologramme oder Sicherheitsfäden. Aber es gibt auch beim "Kleingeld" Dinge, die ein Fälscher oft nicht hinbekommt und auf die es sich zu achten lohnt.

Wie erkenne ich falsche Münzen?

In Deutschland ist die Bundesbank für die deutschen Euro-Münzen verantwortlich. Sie gibt auf ihrer Internetseite "Leitfaden Münzen" Hinweise zur Sicherheit der Geldstücke. "Um Fälschungen von echten Münzen unterscheiden zu können, braucht man kein Münzfachmann zu sein", erfährt man dort. Die Bundesbanker geben konkrete Hinweise, wie man Geldstücke beurteilen kann. Für Profis ist das kein Problem, denn "für Münzprüfgeräte" gebe es einen europaweit einheitlichen Test. "Die erfolgreich getesteten Geräte sind auf der Internetseite der Europäischen Kommission zu finden."

Andrej Plenkovic, Ministerpräsident von Kroatien, und Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, begutachten kroatische Euro-Münzen.
Und die ist echt? Aber ja doch! EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Kroatiens Premier Andrej Plenkovic. Kroatien ist jüngstes Mitglied der Euro-Zone. null Darko Bandic/AP/dpa/picture alliance

Dem Laien hilft das natürlich nicht, ihnen empfehlen die Währungshüter, "auf den ersten Eindruck" zu achten. So hebe sich normalerweise "das Münzbild deutlich von der übrigen Münzoberfläche ab." Alle Konturen seien "klar erkennbar". Vorsicht, wenn das nicht zutrifft: Bei Fälschungen "wirkt das Münzbild oft unscharf und weich ausgeprägt. Die Oberfläche ist narbig und weist Flecken, Sprenkeln, Linien oder Einkerbungen auf."

Auf einen anderen Umstand sollte man auf jeden Fall achten: Zur Sicherheit und auch um blinden Personen das Erkennen von Münzen zu erleichtern, ist der Münzrand charakteristisch eingekerbt. "Im Gegensatz zu Falschmünzen, bei denen die Randschrift oft nur undeutlich eingeprägt ist und von der Riffelung im Münzrand überdeckt wird, ist bei echten Zwei-Euro-Münzen die Randschrift deutlich zu erkennen. Auch die Abstände zwischen den einzelnen Symbolen und Wörtern weichen bei Falschmünzen häufig von denen echter Münzen ab."

Der Trick mit dem Magneten

In der Bundesbank-Zentrale scheint man davon auszugehen, dass jeder Mensch einen Magneten mit sich herumträgt: "Aufgrund eines speziellen Sicherheitsmaterials ist der Mittelteil der Ein- und Zwei-Euro-Münzen leicht magnetisch, das heißt: Die Münzen werden von einem Magneten leicht angezogen und fallen bei leichtem Schütteln wieder vom Magneten ab."

Aber: "Der äußere Münzring der echten Ein- und Zwei-Euro-Münzen sowie der echten 10-, 20- und 50-Cent-Münzen ist nicht magnetisch", wissen die Fachleute und fügen hinzu: "Echte Ein-, Zwei- und Fünf-Cent-Münzen aus kupferbeschichtetem Stahl sind stark magnetisch."  Doch neben einem Magneten sollte man auch einen Zettel einstecken, auf dem man sich alle physikalischen Parameter notiert. Dann wird man auch nicht übertölpelt, denn "die gefälschten Ein- und Zwei-Euro-Münzen sind entweder nicht magnetisch oder werden von einem Magneten stark angezogen. Häufig ist auch das Material des Münzrings magnetisch."

Automesse Peking: Letzte Chance für deutsche Hersteller?

In keinem anderen Land werden so viele Elektroautos verkauft wie in China. Und in keinem anderen Land tobt derzeit ein vergleichbar erbitterter Preiskampf, um dabei die Nase vorn zu haben oder vorn zu halten. "Im April haben wir eine weitere Runde von Preissenkungen gesehen, der heftige Preiswettbewerb wird in den nächsten Jahren anhalten", sagte VW-Vorstandsmitglied Ralf Brandstätter vor der am Donnerstag beginnenden Automesse in Peking.

Dabei will sich Volkswagen laut Brandstätter in den kommenden beiden Jahren auf den anhaltenden Preiswettbewerb vorbereiten – und das Geschäft mit seinen E-Autos mit den nach wie vor gut laufenden Verkäufen von Verbrenner-Autos finanzieren. Das bedeute für Volkswagen allerdings auch zwei schwere Jahre. Dem stimmt der unabhängige Auto-Analyst Jürgen Pieper zu. "Der Volkswagen-Konzern steht in China gewaltig unter Druck und wird sich diesem sehr harten Preiswettbewerb stellen müssen. In rund zwei Jahren sollte man die Kurve kriegen. Aber das ist im Moment mehr Hoffnung als fester Glaube."

VW-Chef Oliver Blume auf der Automesse 2024 in Peking
VW-Chef Oliver Blume: Entscheidet sich in China das Schicksal des Konzerns? null Johannes Neudecker/dpa/picture alliance

BYD verkauft in China mehr Autos als VW

China ist der wichtigste Absatzmarkt der deutschen Autohersteller Volkswagen, Mercedes und BMW. Ein Absatzmarkt, den sie in der Vergangenheit mit ihren Verbrennern dominiert haben. Chinesische Hersteller konnten nie mit der historisch langen Tradition und der ausgereiften filigranen Technik von Autos "Made in Germany" mithalten. Nur sieht die Sache bei E-Autos nun anders aus. So hat etwa BYD Volkswagen als den Konzern, der im Reich der Mitte die meisten Autos verkauft, abgelöst.

BYD steht für "Build Your Dreams". Erwachsen sind die Träume auf der grünen Wiese der E-Mobilität. Ausgemalt und vergrößert wurden die Träume auch mithilfe staatlicher Subventionen. Doch mit mindestens ebenso viel Erfindergeist haben sich die Träume mittlerweile tatsächlich auf Chinas Straßen materialisiert. Softwareentwicklung und Technik treffen offenbar den Geschmack: BYD hat mittlerweile einen Marktanteil von 25 Prozent bei Elektroautos. Zum Vergleich: Der E-Auto-Pionier Tesla bringt es auf knapp 12 Prozent, Volkswagen bringt es nicht einmal mehr auf fünf Prozent. Und BYD hat technologisch mit seinen Batterien einen deutlichen Vorsprung.

Besucher betrachten einen Denza D9 am Stand des chinesischen Herstellers BYD auf der Automesse IAA 2023 in München
Wollen Europa und Deutschland erobern: Fahrzeuge von BYD, hier auf der Automesse in München im September 2023null Matthias Balk/dpa/picture alliance

Dabei ist diese Entwicklung in ihrer Brisanz kaum zu unterschätzen. Denn bereits in diesem Jahr erwartet man in China, dass der Anteil von E-Autos an allen verkauften Fahrzeugen bei rund 40 Prozent liegen wird. Im kommenden Jahr soll jedes zweite Auto, das in China verkauft wird, bereits ein Stromer sein.

Schwache Nachfrage nach E-Autos weltweit

Nicht nur für deutsche Autohersteller kommt erschwerend hinzu, dass in jüngster Zeit auch der vorher boomende Automarkt in China an Fahrt verloren hat. Dabei treffen die Auswirkungen dieser Entwicklungen die deutschen Hersteller unterschiedlich. Während Volkswagen derzeit am meisten zu kämpfen hat, sind Hersteller wie BMW oder Mercedes weniger betroffen. Sie sind eher im Markt für hochpreisige Modelle unterwegs - und da können sie, soweit abzusehen, mit anderen Herstellern mithalten.

Besucher drängen sich in den Hallen der Automesse Peking.
Gut besucht: Besucher drängen sich in den Hallen der Automesse Peking. null Johannes Neudecker/dpa/picture alliance

Beim E-Auto-Pionier Tesla warten dagegen mittlerweile viele produzierte Autos auf den Höfen auf Kaufinteressenten. Die vergleichsweise schwache Nachfrage in China und die Konkurrenz chinesischer Autobauer, die auch preiswertere Modelle in ihrem Angebot haben, führt zu Rabattschlachten bei den Herstellern, was die Margen stark eingrenzt.

Dabei schwächelt aber auch in Deutschland der Verkauf von Elektroautos. Im Nachgang der hohen Inflation halten sich Verbraucher mit dem Kauf von Neuwagen zurück, die Ladeinfrastruktur ist gelinde gesagt lückenhaft und dann sind E-Autos im Vergleich zu Verbrennern noch sehr teuer. Hinzu kommt die zuletzt schwächelnde Konjunktur, die die Nachfrage bremst und vergleichsweise hohe Zinsen, die die Finanzierung neuer Autos erschweren. Nach jüngsten Zahlen des Kraftfahrtbundesamtes (KBA) ist die Zahl an Neuzulassungen reiner Elektroautos im ersten Quartal dieses Jahres um mehr als 14 Prozent zurückgegangen.

Der SU7 des chinesischen Handyherstellers Xiaomi steht auf der Automesse in China
Neuester Konkurrent: Xiaomi, eigentlich ein Smartphone-Hersteller, stellte unlängst sein E-Auto vor, den SU7. Er ist auch in Peking ein Blickfang. null Jörn Petring/dpa/picture alliance

Tesla und VW straffen Kosten

Auf den schleppenden Absatz seiner Fahrzeuge hat Tesla in den vergangenen Tagen reagiert: Sein exzentrischer Chef Elon Musk hat angekündigt, weltweit jede zehnte Stelle im Konzern abbauen zu wollen. Am Vorabend der Automesse in Peking hat Tesla den ersten Umsatzrückgang in einem Quartal seit vier Jahren ausgewiesen. Die Gewinne haben sich halbiert. Auch die Auslieferungen an neuen Fahrzeugen lagen im ersten Quartal dieses Jahres um knapp neun Prozent unter dem Vorjahr. Am vergangenen Wochenende hatte Tesla nochmals die Preise für einige seiner Modelle gesenkt.

Auch in Wolfsburg sieht man Handlungsbedarf im Unternehmen. So hat Volkswagen vor wenigen Tagen eine interne Mitteilung verschickt und angekündigt, die Personalkosten in der Verwaltung um 20 Prozent senken zu wollen. Erreichen will man das etwa durch eine Ausweitung von Altersteilzeit oder Abfindungen für jüngere Beschäftigte in der Verwaltung.

Die Neuordnung des Automarktes nimmt weiter Fahrt auf. Nächster Stopp: Die Automesse in Peking.

Automesse Peking: Letzte Chance für deutsche Hersteller?

In keinem anderen Land werden so viele Elektroautos verkauft wie in China. Und in keinem anderen Land tobt derzeit ein vergleichbar erbitterter Preiskampf, um dabei die Nase vorn zu haben oder vorn zu halten. "Im April haben wir eine weitere Runde von Preissenkungen gesehen, der heftige Preiswettbewerb wird in den nächsten Jahren anhalten", sagte VW-Vorstandsmitglied Ralf Brandstätter vor der am Donnerstag beginnenden Automesse in Peking.

Dabei will sich Volkswagen laut Brandstätter in den kommenden beiden Jahren auf den anhaltenden Preiswettbewerb vorbereiten – und das Geschäft mit seinen E-Autos mit den nach wie vor gut laufenden Verkäufen von Verbrenner-Autos finanzieren. Das bedeute für Volkswagen allerdings auch zwei schwere Jahre. Dem stimmt der unabhängige Auto-Analyst Jürgen Pieper zu. "Der Volkswagen-Konzern steht in China gewaltig unter Druck und wird sich diesem sehr harten Preiswettbewerb stellen müssen. In rund zwei Jahren sollte man die Kurve kriegen. Aber das ist im Moment mehr Hoffnung als fester Glaube."

VW-Chef Oliver Blume auf der Automesse 2024 in Peking
VW-Chef Oliver Blume: Entscheidet sich in China das Schicksal des Konzerns? null Johannes Neudecker/dpa/picture alliance

BYD verkauft in China mehr Autos als VW

China ist der wichtigste Absatzmarkt der deutschen Autohersteller Volkswagen, Mercedes und BMW. Ein Absatzmarkt, den sie in der Vergangenheit mit ihren Verbrennern dominiert haben. Chinesische Hersteller konnten nie mit der historisch langen Tradition und der ausgereiften filigranen Technik von Autos "Made in Germany" mithalten. Nur sieht die Sache bei E-Autos nun anders aus. So hat etwa BYD Volkswagen als den Konzern, der im Reich der Mitte die meisten Autos verkauft, abgelöst.

BYD steht für "Build Your Dreams". Erwachsen sind die Träume auf der grünen Wiese der E-Mobilität. Ausgemalt und vergrößert wurden die Träume auch mithilfe staatlicher Subventionen. Doch mit mindestens ebenso viel Erfindergeist haben sich die Träume mittlerweile tatsächlich auf Chinas Straßen materialisiert. Softwareentwicklung und Technik treffen offenbar den Geschmack: BYD hat mittlerweile einen Marktanteil von 25 Prozent bei Elektroautos. Zum Vergleich: Der E-Auto-Pionier Tesla bringt es auf knapp 12 Prozent, Volkswagen bringt es nicht einmal mehr auf fünf Prozent. Und BYD hat technologisch mit seinen Batterien einen deutlichen Vorsprung.

Besucher betrachten einen Denza D9 am Stand des chinesischen Herstellers BYD auf der Automesse IAA 2023 in München
Wollen Europa und Deutschland erobern: Fahrzeuge von BYD, hier auf der Automesse in München im September 2023null Matthias Balk/dpa/picture alliance

Dabei ist diese Entwicklung in ihrer Brisanz kaum zu unterschätzen. Denn bereits in diesem Jahr erwartet man in China, dass der Anteil von E-Autos an allen verkauften Fahrzeugen bei rund 40 Prozent liegen wird. Im kommenden Jahr soll jedes zweite Auto, das in China verkauft wird, bereits ein Stromer sein.

Schwache Nachfrage nach E-Autos weltweit

Nicht nur für deutsche Autohersteller kommt erschwerend hinzu, dass in jüngster Zeit auch der vorher boomende Automarkt in China an Fahrt verloren hat. Dabei treffen die Auswirkungen dieser Entwicklungen die deutschen Hersteller unterschiedlich. Während Volkswagen derzeit am meisten zu kämpfen hat, sind Hersteller wie BMW oder Mercedes weniger betroffen. Sie sind eher im Markt für hochpreisige Modelle unterwegs - und da können sie, soweit abzusehen, mit anderen Herstellern mithalten.

Besucher drängen sich in den Hallen der Automesse Peking.
Gut besucht: Besucher drängen sich in den Hallen der Automesse Peking. null Johannes Neudecker/dpa/picture alliance

Beim E-Auto-Pionier Tesla warten dagegen mittlerweile viele produzierte Autos auf den Höfen auf Kaufinteressenten. Die vergleichsweise schwache Nachfrage in China und die Konkurrenz chinesischer Autobauer, die auch preiswertere Modelle in ihrem Angebot haben, führt zu Rabattschlachten bei den Herstellern, was die Margen stark eingrenzt.

Dabei schwächelt aber auch in Deutschland der Verkauf von Elektroautos. Im Nachgang der hohen Inflation halten sich Verbraucher mit dem Kauf von Neuwagen zurück, die Ladeinfrastruktur ist gelinde gesagt lückenhaft und dann sind E-Autos im Vergleich zu Verbrennern noch sehr teuer. Hinzu kommt die zuletzt schwächelnde Konjunktur, die die Nachfrage bremst und vergleichsweise hohe Zinsen, die die Finanzierung neuer Autos erschweren. Nach jüngsten Zahlen des Kraftfahrtbundesamtes (KBA) ist die Zahl an Neuzulassungen reiner Elektroautos im ersten Quartal dieses Jahres um mehr als 14 Prozent zurückgegangen.

Der SU7 des chinesischen Handyherstellers Xiaomi steht auf der Automesse in China
Neuester Konkurrent: Xiaomi, eigentlich ein Smartphone-Hersteller, stellte unlängst sein E-Auto vor, den SU7. Er ist auch in Peking ein Blickfang. null Jörn Petring/dpa/picture alliance

Tesla und VW straffen Kosten

Auf den schleppenden Absatz seiner Fahrzeuge hat Tesla in den vergangenen Tagen reagiert: Sein exzentrischer Chef Elon Musk hat angekündigt, weltweit jede zehnte Stelle im Konzern abbauen zu wollen. Am Vorabend der Automesse in Peking hat Tesla den ersten Umsatzrückgang in einem Quartal seit vier Jahren ausgewiesen. Die Gewinne haben sich halbiert. Auch die Auslieferungen an neuen Fahrzeugen lagen im ersten Quartal dieses Jahres um knapp neun Prozent unter dem Vorjahr. Am vergangenen Wochenende hatte Tesla nochmals die Preise für einige seiner Modelle gesenkt.

Auch in Wolfsburg sieht man Handlungsbedarf im Unternehmen. So hat Volkswagen vor wenigen Tagen eine interne Mitteilung verschickt und angekündigt, die Personalkosten in der Verwaltung um 20 Prozent senken zu wollen. Erreichen will man das etwa durch eine Ausweitung von Altersteilzeit oder Abfindungen für jüngere Beschäftigte in der Verwaltung.

Die Neuordnung des Automarktes nimmt weiter Fahrt auf. Nächster Stopp: Die Automesse in Peking.

Wohin mit den ganzen E-Autos?

Autos sind eine besondere Ware: Auf der einen Seite sind sie handlicher als etwa Bohrinseln, denn die werden einzeln und "im Stück" ausgeliefert: Andererseits sind sie wieder so groß, dass man sie nicht einfach in ein Regal legen kann. Jedes Auto nimmt eben bis zu zehn Quadratmeter Platz ein, auch wenn es nicht genutzt wird.

Das bereitet den Häfen, in denen Schiffe für den Autotransport be- und entladen werden, Probleme. In Deutschland betrifft das vor allem zwei Städte: Emden und Bremerhaven. Das Autoterminal Bremerhaven gehört zu den größten Autohäfen der Welt. Die dortige BLG Logistics Group teilte der DW mit, sie verlade mehr als 1,7 Millionen Fahrzeuge pro Jahr.

Unternehmenssprecherin Julia Wagner präzisierte, dass der Hafen Platz für ca. 70.000 Fahrzeuge biete: "Alle namhaften Autoreeder bedienen Bremerhaven regelmäßig und jedes Jahr laufen mehr als 1000 CarCarrier das Terminal an." Und dabei stelle die BLG fest, dass "sich der Umschlag von Pkw in den vergangenen Jahren verändert" habe: "Wir hatten lange Zeit 80 Prozent Export und 20 Prozent Import. Dieses Verhältnis liegt mittlerweile bei 50:50."

Das Problem liegt beim Landtransport

Doppelt so viele Autos wie in Bremerhaven werden im belgischen Zeebrügge, dem Hafen der mittelalterlichen Stadt Brügge, verladen. Auch dort sind derzeit viele Autos geparkt, die angelandet, aber noch nicht weitertransportiert wurden. Elke Verbeelen von der Kommunikationsabteilung der Häfen Antwerpen/Brügge bestätigt das der DW: "Das geschieht in allen europäischen Häfen, die große Mengen von Autos verschiffen."

Die verlängerte Verweildauer hängt aber nicht nur an der schieren Menge importierter Wagen: "Das Problem liegt weniger in der Zahl der angelandeten Autos, sondern eher darin, dass sie nicht zügig abtransportiert werden."

Noch reichen die Kapazitäten der großen Terminals aus, um die Autos parken zu können. Julia Wagner aus Bremerhaven betont ausdrücklich: "Eine 'Verstopfung' des Terminals, wie in einigen Medien über die Lage in europäischen Häfen berichtet wurde, stellen wir aktuell nicht fest." Auch aus Antwerpen/Brügge und anderen europäischen Häfen wird derzeit kein akuter Parkplatzmangel gemeldet.

Neuwagen stehen auf dem Autoterminal der BLG Logistics Group vor der Verladung
Neuwagen auf dem Autoterminal der BLG Logistics Group - hier wird so viel importiert wie exportiertnull Ingo Wagner/dpa/picture alliance

Wo kommen sie her, wo gehen sie hin?

Das Verschiffen von Autos ist entgegen dem ersten Augenschein ein eher undurchsichtiges Geschäft, denn es ist nicht auf den ersten Blick zu erkennen, wo ein Auto gebaut und dann verkauft wird. Westliche Hersteller wie Tesla lassen mitunter in China produzieren und bringen ihre Fahrzeuge dann nach Europa. Gleichzeitig produzieren viele Autobauer ihre Fahrzeuge für asiatische Märkte oder für das US-Geschäft jeweils an Ort und Stelle - unter anderem, um Zölle zu vermeiden.

Außerdem gibt es einen Transportweg, den Hafenbetreiber gar nicht einsehen können, so die Häfen Antwerpen/Brügge: "Wir wissen gar nicht, wie viele Autos in Containern verschifft werden." Diese Art des Transports wird oft von Privatleuten oder Händlern, die nur wenige Fahrzeuge expedieren, genutzt. Da diese Autos den ganzen Transportweg über "eingepackt" sind, nehmen sie aber auch keinen Parkplatz in Anspruch.

Ein Autotransporter mit Neuwagen von Volkswagen fährt über die Bundesstraße B3
Fachkräftemangel im Speditionsgewerbe führt zu Unregelmäßigkeiten im Autotransport auf der Straßenull Raphael Knipping/dpa/picture alliance

Veränderte Gewohnheiten

Auf jeden Fall lohne ein genauerer Blick auf Produktion, Distribution und Verkauf von Automobilen, meint Elke Verbeelen. Dabei habe sich in den vergangenen Jahren einiges verschoben. So bleibe das Autoaufkommen in den Häfen hoch oder stiege sogar, weil sich die Kaufgewohnheiten geändert haben. So gebe es etwa neue Geschäftsmodelle bei manchen Marken, wie den "Direktverkauf an die Kunden. Da bleibt das Auto so lange im Hafen und kommt nicht erst in den Showroom des Händlers."

Auch konjunkturelle Gründe führten zur hohen Auslastung der Hafen-Parkplätze. Das liege an den derzeit "relativ geringen Autoverkäufen." Eine Beobachtung, die auch Julia Wagner macht: "Die Standzeiten der Pkw aller Hersteller auf dem Terminal haben sich mit dem Wegfall der staatlichen Förderung der E-Mobilität verlängert, da sich die Verkaufszahlen der E-Autos in Deutschland verringert haben."

Hinzu komme, so Verbeelen, dass der Autoumsatz insgesamt gestiegen sei. Zwar sei das Niveau der Jahre vor der Corona-Pandemie noch nicht wieder erreicht, doch werde  merklich mehr ein- und ausgeführt als "im Vergleich zu 2020-2021". Und auch der Fachkräftemangel im Speditionsgewerbe mache sich bemerkbar: Es sei "eine geringere Kapazität an Straßentransporten von Autos wegen eines Mangels an Lkw-Fahrern" zu beobachten. Das alles führe zu einer "längeren Verweildauer der Autos in den Häfen".

Fahrzeuge im Hafen von Emden vor der Verladung auf ein Autotransportschiff
Noch wird im Emder Hafen "per Hand" verladen - das soll sich in ein paar Jahren ändernnull Jörg Sarbach/picture alliance/dpa

Neue Wege in Emden

Die Volkswagen AG im norddeutschen Emden und das Autoterminal im Hafen der Stadt wollen in Zukunft auf anderem Wege die Verweildauer von Autos in Häfen reduzieren. Das Be- und Entladen der Schiffe soll beschleunigt und dabei auch noch Personal eingespart werden. Einzelheiten dazu berichtete die Ostfriesen-Zeitung am 17. April.

Mit einem vom Bundesverkehrsministerium mit 3,2 Millionen Euro geförderten Testprojekt soll ausprobiert werden, ob autonom fahrende VW-Fahrzeuge sich ohne Fahrer selbständig ver- und entladen können. Die Versuche sollen 2026 beendet werden.                                                                     

Das Projekt AutoLog soll dazu führen, bis zu 2000 Jobs in Emden einsparen zu können. Laut Ostfriesen-Zeitung sei bei Erfolg auch eine Übertragung auf die "gesamte Distributionskette vom Automobilbauer zum Händler" denkbar. Dann wären an Europas Häfen viele Parkplätze dauerhaft frei.

Scholz pocht in China auf fairen Wettbewerb

"Das Einzige, was immer klar sein muss, ist, dass der Wettbewerb fair sein muss", sagte Olaf Scholz am Montag in Shanghai bei einer Diskussion mit Studenten der Tongji-Universität. "Also, dass es kein Dumping gibt, dass es keine Überproduktion gibt, dass man keine Urheberrechte beeinträchtigt." Es sei auch sehr wichtig, dass Unternehmen Produktionsstätten errichten dürften und dies nicht durch bürokratische Hürden erschwert werde. Er dränge deshalb in China immer auf Wettbewerbsgleichheit, also ein sogenanntes Level Playing Field.

Keine Angst vor ausländischer Konkurrenz 

"Wir möchten natürlich, dass unsere Unternehmen keine Beschränkungen haben. Aber umgekehrt verhalten wir uns genauso, wie wir es hier vorhaben", sagte Scholz mit Blick auf deutschen Widerstand gegen protektionistische Tendenzen in Europa. Man müsse vor ausländischer Konkurrenz keine Angst haben. Als japanische und koreanische Autos auf den deutschen Markt gekommen seien, habe man gesagt, dass diese den ganzen Markt erobern würden. "Quatsch! Es gibt jetzt japanische Autos in Deutschland und deutsche Autos in Japan", sagte er. "Und das Gleiche gilt für China und Deutschland."

Kanzler Scholz mit drei Studenten auf einer Bühne
Studenten an der Tongji-Universität hatten viele Fragen an den Bundeskanzler, er gab gerne Auskunftnull Michael Kappeler/dpa/picture alliance

Hintergrund sind Antidumping-Untersuchungen der EU-Kommission gegen China etwa im Bereich von E-Autos. Scholz erwähnte diese nicht, verurteilte Dumping aber. Es sei falsch, etwas mit Verlust zu verkaufen, dies führe am Ende dazu, dass man Güter nicht auf die effizienteste Weise produziere. "Und deshalb muss es so ein bisschen eine Korrektur geben über Märkte, die dazu führt, dass man nur Sachen herstellt, die sich auch vernünftig rechnen", fügte der SPD-Politiker hinzu.

Scholz betonte zudem, dass der Schutz geistigen Eigentums eine "ganz, ganz wichtige Frage" sei. "Das ist ein großes Thema, auch übrigens eine große Sorge deutscher Unternehmen, die hier nicht mehr tätig sind." Zudem pochte er auf Rechtssicherheit.

Der Kanzler wollte im Laufe des Tages in Peking mit der chinesischen Führung auch über weitere Wirtschaftsthemen sprechen. Er wird von einer Wirtschaftsdelegation begleitet, zu der unter anderen auch die Vorstandschefs von BMW und Mercedes gehören.

Kanzler Olaf Scholz und drei weitere Personen stehen vor Forschungsgeräten
Hier informiert sich der Kanzler über ein Forschungsprojekt des Freistaats Sachsen und der Universität Chongqing zum Monitoring der Wasserqualitätnull Michael Kappeler/dpa/picture alliance

"An Regeln der Vereinten Nationen müssen wir uns halten"

Scholz mahnte China zugleich indirekt, seine Nachbarn nicht zu bedrohen. "Die Welt funktioniert, wenn wir ein paar Prinzipien alle gemeinsam haben", sagte er, ohne die Volksrepublik direkt zu nennen. "Eines dieser Prinzipien ist, dass man sich vor seinen Nachbarn nicht fürchten muss. Wenn unser Nachbar ein großer, starker, muskulöser Mensch ist, dann wollen wir immer sagen, guten Tag und sicher sein, dass er uns niemals was tut", sagte er in Anspielung etwa auf die Spannungen und Gebietsstreitigkeiten im Südchinesischen Meer.

Das Gleiche gelte natürlich auch zwischen den Staaten, dass die kleinen Länder sich nicht vor den großen fürchten müssen "und dass man sich überhaupt nicht voreinander fürchten muss", fügte Scholz hinzu. Dafür legten die Vereinten Nationen (UN) wichtige Prinzipien fest. "Grenzen dürfen mit Gewalt nicht verschoben werden. Das ist der zentrale Punkt."

Kritik auch an Russland

Scholz kritisierte, dass sich Russland nicht an dieses Prinzip halte. Der Kanzler will sich bei der chinesischen Führung  dafür einsetzen, dass Peking die Unterstützung für Russland etwa durch die Lieferung von Dual-Use-Gütern, die für zivile und militärische Zwecke genutzt werden können, beendet und auch, dass die chinesische Führung in Moskau auf einen Rückzug der russischen Truppen aus der Ukraine drängt.

Der Bundeskanzler ist drei volle Tage in China. Am Dienstag trifft er den chinesischen Präsidenten Xi Jinping in Peking. Es ist die zweite Reise des Kanzlers nach China seit seiner Vereidigung im Dezember 2021. Der Antrittsbesuch im November 2022 war wegen der noch anhaltenden Corona-Pandemie auf einen Tag begrenzt.

haz/se (rtr, dpa, afp)

China - der mächtige Konkurrent

 

Elektro-Lkw kommen nicht ins Rollen

Der Umstieg auf mit Elektromotoren betriebene Lastkraftwagen ist ins Stottern geraten, bevor er überhaupt ins Rollen gekommen ist. Und damit ist auch das gesteckte Ziel der Bundesregierung, bei den Nutzfahrzeugen bis 2030 den CO2-Ausstoß gegenüber 1990 um über 40 Prozent zu reduzieren, in weite Ferne gerückt.

Nach Angaben des Bundesverbandes Güterkraftverkehr, Logistik und Entsorgung (BGL) rollen täglich 800.000 Lkw über 7,5 Tonnen durch die Bundesrepublik. Davon wurden Ende vergangenen Jahres, so der Verband, lediglich 475 Fahrzeuge elektrisch betrieben. Das entspricht einem Anteil an der Tagesflotte von nicht einmal einem Prozent. Der Großteil der Brummi-Flotte tankt weiterhin Diesel. Dabei bieten Hersteller mittlerweile Elektro-Nutzfahrzeuge mit einer Reichweite von bis zu 500 Kilometern an. Was fehlt, monieren Hersteller und Spediteure, sei vor allem eine fehlende Lade-Infrastruktur.

Und wenn es noch eines Beweises für den schleppenden Markthochlauf bedurft hätte, dann liefern ihn die an diesem Dienstag (9.4.2024) veröffentlichten Auslieferungszahlen des Marktführers Daimler Truck für das erste Quartal: Da legten batterieelektrische Fahrzeuge zwar um 183 Prozent im Vergleich zum Vorjahresquartal zu. In Zahlen sind das aber gerade mal 813 der insgesamt ausgelieferten knapp 109.000 Fahrzeuge. 

Hohe Anschaffungskosten und fehlende Infrastruktur

Ein Leitsatz seiner Branche, so Daimler Truck-Vorstandschef Martin Daum zuvor in einem Interview mit der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ), laute: "Ein Lkw wird nicht aus Spaß gefahren. Es geht darum, Güter effizient von einem Ort zum anderen Ort zu transportieren." Und das, so die Schlussfolgerung, müsse sich rechnen. "Daher dürfen Elektro-Lkw in der Gesamtrechnung nicht teurer sein als Diesel-Lkw."

Martin Daum, Vorstandsvorsitzender der Daimler Truck AG, applaudiert während des Börsengangs des Nutzfahrzeughersteller Daimler Truck, nachdem der erste Preis von 28,00 Euro angezeigt wird
Martin Daum, Vorstandsvorsitzender der Daimler Truck AG, beim Börsengang des Nutzfahrzeughersteller am 10. Dezember 2021null Sebastian Gollnow/dpa/picture alliance

Noch kosten Elektro-Lkw mit über 300.000 Euro in der Anschaffung deutlich mehr als ein Diesel-Lkw, den es ab 100.000 Euro gibt. Seit es aus Sparzwängen im Bundeshaushalt keine Förderung bei den Mehrkosten mehr gibt, halten sich Spediteure bei der Umstellung ihres Fuhrparks auf Elektro-Brummis deutlich zurück.  

"Bei dreifach höheren Kosten für einen E-Lkw im Vergleich zu einem Diesel-Lkw und einer durchschnittlichen Marge von 0,1 bis drei Prozent kann sich kein Mittelständler die Umstellung auf klimafreundliche Antriebe leisten", resümiert BGL-Vorstandssprecher Engelhardt. An der Preisfront könnte sich aber absehbar etwas tun, denn auch hier - wie schon im Pkw-Bereich - holen chinesische Hersteller wie BYD auf.

Chinas Autohersteller BYD bereit zur Eroberung Europas

Für Karin Radström, Vorstandsmitglied der Daimler-Truck Holding AG, steht zudem außer Frage, dass es für die Antriebswende "eine flächendeckende Lade- und Tank-Infrastruktur für batterie- und wasserstoffbetriebene Fahrzeuge braucht." Oder wie es BGL-Vorstandssprecher Engelhardt formuliert: "Was nutzt es dem Transportunternehmer, wenn er E-Lkw kaufen, aber nicht laden kann."

In einer gemeinsamen Erklärung fordern BGL, der Bundesverband Spedition und Logistik (DSLV) sowie die Hersteller Daimler Truck und MAN die Einrichtung von mindestens 10.000 öffentlich zugängliche Ladepunkten für E-Lkw, einschließlich 4000 sogenannter Mega-Charger. Dabei handelt es sich um Ladestationen, an denen Lkw-Batterien binnen 45 Minuten aufgeladen werden können. Denn gerade in der Speditionsbranche lautet das Motto "Zeit ist Geld". Derzeit werden Elektro-Lastwagen vor allem auf den Betriebshöfen der Speditionen über Nacht geladen. Dieses sogenannte Depot-Laden dauert bis zu acht Stunden.

Karin Radström Daimler Truck AG
Karin Radström, aus Schweden stammende Managerin, ist Chefin der Marke Mercedes Benz Trucksnull Uli Deck/dpa/picture alliance

Kommunale Stromnetze sind überfordert

Das Depot-Laden ist übrigens derzeit in den lokalen Stromnetzen allerdings auch nicht ohne weiteres möglich. Erst recht nicht der Betrieb von Schnellladesäulen (Mega-Charger), wie der Bochumer Spediteur Christian Graf erfahren musste.  Rund 100 Schwerlastwagen, also 40-Tonner, umfasst der Fuhrpark von Graf. Gut ein Viertel der Brummis, die durch ganz Europa rollen, fährt aus Klimaschutzgründen mit LNG-Gas. Außerdem neuerdings auch mit Bio-Erdgas, das aus Gülle hergestellt wird. Das heißt, die Lkw stoßen kein CO2 mehr aus.

Elektro-Truck von Tesla
Auch der Elektro-Pionier Tesla hat einen elektrischen Truck in der Pipelinenull Tesla

"Dadurch", so Christian Graf, "kann ich jetzt sicherstellen, dass die Fahrzeuge klimaneutral fahren." Unter dem Strich werden so jedes Jahr rund 4000 Tonnen CO2 eingespart. Damit schont Graf zwar die Umwelt, wird bei der Maut aber wieder zur Kasse gebeten, da nur noch elektrisch oder mit Wasserstoff betriebene Lkw davon befreit sind. Doch selbst wenn der Preis für E-Lkw deutlich sinken würde, bei der Spedition Graf könnte man sie nicht aufladen.

Denn das gibt das Stromnetz der Stadtwerke Bochum nicht her. Über die Installation von fünf Schnelladesäulen hatte Christian Graf nachgedacht, für die jeweils eine Kapazität von einem Megawatt erforderlich gewesen wäre. Insgesamt fünf Megawatt konnten die Stadtwerke aber nicht zusagen, da dies das Stromnetz überfordern würde. Zum Vergleich: einen ganzen Stadtteil versorgen die Stadtwerke mit sieben Megawatt. Und selbst wenn die Versorgung mit fünf Megawatt möglich gewesen wäre, hätte der Speditionschef noch etwa drei Millionen Euro investieren müssen. Und zwar in ein großes Grundstück, auf dem eigens für die Schnellladesäulen ein Umspannwerk hätte errichtet werden müssen. 

Ladestecker an einer Elektro-Ladesäule, im Hintergrund sind elektrisch angetriebene Mercedes-Benz eActros zu sehen.
Großer Stecker, große Ladung: Aber gibt das Stromnetz das her? null Marijan Murat/dpa/picture alliance

Nur grüner Strom macht Sinn

Angesichts derartiger Rahmenbedingungen verwundert es nicht, dass es bei der Verkehrswende alles andere als rund läuft. Ganz abgesehen vom dafür erforderlichen Strom. Mit Blick auf den Klimaschutz gibt Martin Daum von Daimler Truck zu bedenken: "Nur wenn ein Lkw mit regenerativer Energie betrieben wird, hilft die Elektrifizierung weiter." Und BGL-Chef Engelhardt ergänzt, "E-Lkw sind auch nur dann fürs Klima gut, wenn sie mit grüner Energie geladen werden".

Es kommt also auf den Strommix an. Allein für den Straßenverkehr, rechnet Dirk Engelhardt vor, seien dafür theoretisch 18.800 Windkraftanlagen notwendig. "Bei einem derzeitigen Bestand von rund 28.000 Windkraftanlagen eine Riesenherausforderung." Dem Klima, resümiert der BGL-Vorstandssprecher, sei partout nicht geholfen, wenn die E-Lkw ihren Strom aus Braunkohle oder importierten Atomstrom bezögen. Ganz abgesehen von dem enormen Mehrgewicht der Batterien, das bewegt werden muss und zusätzlich Energie kostet.

Nachhaltige Mobilität: Grüne Hoffnung in Afrika

An den zwölf Zapfsäulen am Rasthof herrscht reger Betrieb: Ständig kommen neue Autos vom Highway N3, der die südafrikanische Hafenstadt Durban mit der Metropolregion Johannesburg verbindet. Etwas abseits hinter den Zapfsäulen, unter einem grünen Sonnensegel, ist hingegen nichts los: Hier steht ein Ladeterminal für Elektroautos bereit.

Benzindurst, aber Elektro-Flaute - das ist ein Bild, das sich auch anderswo in Afrika fortsetzt. Dabei ist im teils wohlhabenden Südafrika die Abdeckung mit E-Ladesäulen noch vergleichsweise dicht, auch wenn dort Stromabschaltungen an der Tagesordnung sind. Von Dakar bis Daressalam, von Kairo bis Kapstadt ist Mobilität weiter vom Verbrennungsmotor abhängig - häufig unter der Motorhaube von alternden Gebrauchtwagen. Doch die Mobilität in Afrika verändert sich, wenn auch nicht unbedingt in Richtung klassischer Pkw mit Elektroantrieb.

Eine Ladesäule auf einem gepflasterten Parkplatz
Einsame Ladesäule am Rasthof - die Elektromobilität entwickelt sich in Afrika anders als im globalen Nordennull David Ehl/DW

Trend zu Motorrädern und Tuk-Tuks - und zwar gerne elektrisch

Genaue Zahlen, wie viele Autos in Afrika unterwegs sind, gibt es nicht - Schätzungen liegen zwischen 26 und 38 Millionen Pkw. Tendenz steigend: "Es gibt eine riesige Nachfrage nach Autos", sagt Godwin Ayetor, Dozent an der Kwame Nkrumah University of Science and Technology (KNUST) im ghanaischen Kumasi. "Aber im Vergleich zwischen Autos und Motorrädern verschiebt sich die Nachfrage von Vierrädern zu Zweirädern, die sich eine kleine Familie eher leisten kann. Und sie kommen besser durch Stau und Buckelpisten. Auch Wartungsaufwand und Treibstoffkosten sind niedriger", sagt Ayetor im Gespräch mit der DW. Eine ähnliche Entwicklung lasse sich auch bei Dreirädern beobachten - wegen ihres Motorengeräuschs auch besser bekannt als Tuk-Tuks.

Elektrisch mobil in Nairobi

Insbesondere bei den Motorrädern verstärkt sich derzeit ein Trend hin zu Elektroantrieb. Eines von ihnen fährt Thomas Omao, der als einer von zehntausenden gewerblichen Motorradfahrern in Nairobi unterwegs ist.

Thomas Omao sitzt auf seinem modernen Motorrad, im Hintergrund sind viele ältere Modelle abgestellt
Thomas Omao fährt in Nairobi ein elektrisches Motorrad von ARC Ride - und konnte dank besserer Verdienstmargen bereits ein zweites kaufennull David Ehl/DW

Mit seinem elektrischen Boda-Boda fährt er Essen für verschiedene Lieferdienste aus - und klingt hoch zufrieden: "Ein großer Vorteil ist, dass Elektro-Motorräder sehr angenehm zu fahren sind", sagt er der DW. Dazu sei es sehr kostengünstig: "Ein Freund von mir fährt ein Boda-Boda mit Benzin. Er gibt jeden Tag 1000 Shilling (derzeit umgerechnet 6,90 Euro) beim Tanken aus. Mich kostet der Strom 400 Shilling. Ich spare also gegenüber dem Kollegen 600 Shilling pro Tag." Von seinen Ersparnissen hat Omao im Januar ein zweites Motorrad gekauft und beschäftigt nun einen Angestellten.

Omao nutzt die Technologie des Start-ups ARC Ride. Das Motorrad hat er gekauft, für die Akkus nutzt er eine Leih-Flatrate. Für den Batteriewechsel, der kaum eine Minute dauert, sind knapp 80 Ladeschränke in der kenianischen Hauptstadt verteilt. "Am meisten machen sich die Leute Sorgen um die Reichweite", sagt Felix Saro-Wiwa, der bei ARC Ride für die strategische Entwicklung zuständig ist. "Deshalb haben wir so viele Ladeschränke aufgestellt. In der ganzen Stadt ist man niemals weiter als drei bis vier Kilometer vom nächsten Schrank weg." Ziel seien maximal zwei Kilometer - also eine ähnliche Dichte wie bei Tankstellen.

Felix Saro-Wiwa steht vor einem weißen Schrank mit nummerierten Türen; er hält einen Motorradhelm in der Hand
Felix Saro-Wiwa vor einem der Ladeschränke seines Arbeitgebers - statt Reichweitenangst geht der Batteriewechsel mit wenigen Handgriffen über die Bühnenull David Ehl/DW

In diesem Jahr will das junge Unternehmen in zwei weitere Städte der Region expandieren. Und es ist dabei nur eins von vielen Anbietern in ganz Afrika, die Wechselbatterien für Motorräder zum Leihen anbieten. Für Godwin Ayetor ist dieses Konzept zukunftsweisend: "Die Start-ups verkaufen elektrische Zweiräder ohne den Akku - und das reduziert den Kaufpreis für die Besitzer. Die mieten die Batterie dauerhaft. Bisher funktioniert das sehr gut."

Gebrauchtwagen drängen auf den Markt

Dennoch nehmen Elektro-Bodas in der riesigen Motorrad-Flotte afrikanischer Länder vorerst weiter eine Nische ein - für die Mobilität vieler Afrikanerinnen und Afrikaner sind Autos unverzichtbar.

In den Werken des Kontinents laufen Jahr für Jahr Hunderttausende neue Autos vom Band. Die sind allerdings zu großen Teilen für den Export bestimmt - so verschifft Großproduzent Südafrika zwei Drittel seiner Produktion nach Übersee.

Insgesamt spielen Neuwagen jedoch eine untergeordnete Rolle. Im Schnitt sind laut Schätzungen der UN-Umweltorganisation UNEP sechs von zehn in Afrika neu zugelassenen Fahrzeugen importierte Gebrauchtwagen. Mit starken Schwankungen: In Kenia liegt die Quote sogar bei 97 Prozent, Südafrika beispielsweise verbietet den Import von gebrauchten Autos.

Dabei haben viele afrikanische Regierungen Höchstalter festgesetzt, die Autos beim Import nicht überschreiten dürfen. In Kenia liegt die Grenze bei acht Jahren, so dass die meisten Wagen zum Zeitpunkt des Imports sieben Jahre alt sind. Das benachbarte Uganda hingegen zieht die Grenze erst bei 15 Jahren, Ruanda sogar gar keine. Das führt dazu, dass die Autos dort im Schnitt wesentlich älter sind - und laut einer UNEP-Studie im Schnitt ein Viertel mehr Benzin als in Kenia verbrauchen und folglich mehr CO2 ausstoßen.

Importverbote sind keine Lösung

In Ghana verschärfte die Regierung 2020 die Einfuhrbedingungen: Sie führte ein generelles Alterslimit von zehn Jahren ein; auch Unfallwagen dürfen nicht mehr importiert werden. Gleichzeitig befreite sie Neuwagen oder Autoteile für die heimische Produktion von Einfuhrzöllen. "Die Regierung glaubte, das würde den Preis von Neuwagen reduzieren, so dass Ghanaer sich neue statt gebrauchte Autos leisten könnten", sagt Ayetor.

Festival Boateng erforscht an der britischen Oxford University Gesetzgebung rund um Mobilität. Aus seiner Fallstudieüber Ghana schlussfolgert er: "Wenn man Importe von Gebrauchtwagen verbietet, haben die Menschen nicht plötzlich mehr Geld, um Neuwagen zu kaufen. Aber sie müssen mobil sein. Dadurch verschieben sich Angebot und Nachfrage auf den Schwarzmarkt", sagt Boateng im Gespräch mit der DW.

Nicht nur regionale Zwischenhändler waren perplex, als die äthiopische Regierung Ende Januar einen sofortigen Import-Stopp für Autos mit Verbrennungsmotor verkündete. Und das, obwohl Elektroautos derzeit noch verhältnismäßig teuer sind und ohnehin nur die Hälfte der Bevölkerung Zugang zu Elektrizität hat. Mitte März ruderte die Regierung zurück, so dass wieder Verbrenner eingeführt werden können.

Elektrischer Druck aus dem Globalen Norden

Als eines der ersten afrikanischen Länder stellte Kenia 2020 einen Ausbauplan vor: Bis 2025 sollen mindestens fünf Prozent der importierten Fahrzeuge elektrisch angetrieben werden.

Kenias Präsident William Ruto ist gerade aus einem gelben Elektroauto gestiegen und wird von einem Mann im Anzug begrüßt
Kenias Präsident William Ruto (l.) gibt sich als Transformations-Vorreiter - als Gastgeber des Afrika-Klimagipfels im September fuhr er medienwirksam im Elektroauto aus kenianischer Produktion vornull Simon Maina/AFP

Über kurz oder lang dürfte sich das Gebraucht-Angebot auch in Afrika stärker auf E-Autos umstellen. Denn die Gebrauchtwagen für den afrikanischen Markt kommen hauptsächlich aus dem globalen Norden - und dort soll sich die Mobilität zugunsten des Klimas verändern: Die EU hat neue Autos mit Verbrennungsmotor ab 2035 verboten; dasselbe Datum gilt in Großbritannien und dem bevölkerungsreichsten US-Bundesstaat Kalifornien. Gerade erst haben die USA strengere Schadstoffgrenzwerte verhängt, die ebenfalls die E-Mobilität ankurbeln dürften.

Rollt also die Verkehrswende durch die Hintertür auf Afrika zu? "Wir gehen nicht davon aus, dass Europa oder die USA alle Elektrifizierungs-Ziele direkt erreichen werden", sagt Godwin Ayetor, der auch dem Technischen Komitee für Fahrzeug-Standards in Ghana vorsitzt. "Aber ich glaube, wir müssen uns dafür wappnen. Und das Thema Gebrauchtwagen wird auch in Zukunft bleiben."

Zwischen Spritschluckern, Elektro-Motorrädern und radikaleren Ideen

Doch noch sind weite Teile Afrikas nicht auf E-Autos eingestellt: Mechanikern fehlt das nötige Spezialwissen, für Ersatzteile wie Batterien existieren schlicht keine Lieferketten, nicht einmal Afrika-weit einheitliche Standards für Ladestecker gibt es. Vielerorts mangelt es auch an Investitionen in Ladeinfrastruktur - als der Ölkonzern Shell im März große Pläne für ein mehr oder weniger weltweites Ladenetz präsentierte, tauchte Afrika darin nicht auf. Und so setzt der Kontinent vorerst weiter auf gebrauchte Verbrenner - oder eben die neuartigen Elektro-Motorräder und Tuk-Tuks mit Wechselbatterien.

E-Motorrad-Taxis schonen den Geldbeutel

Aus Sicht von Festival Boateng eröffnet der aufkeimende Wandel aber noch Möglichkeiten, andere Probleme mit zu lösen: "Wir haben sehr viele Verkehrsunfälle, Staus und andere Probleme. Der Umstieg auf elektrische Fahrzeuge ändert daran nichts. Wir brauchen ein Gesamtkonzept, das Investitionen in öffentlichen Personenverkehr berücksichtigt. Solche Investitionen könnten dabei helfen, die Notwendigkeit für Autos zu verringern."

So baut die senegalesische Hauptstadt Dakar gerade ein elektrisch betriebenes Busliniennetz auf. Die erste Phase läuft bereits, bis nächstes Jahr soll das Projekt auf rund 120 Busse anwachsen, die nachts geladen werden. Sie fahren dann teilweise auf eigenen Spuren - vorbei am Stau der Autos.

Decoding China: Wenn Quereinsteiger E-Autos bauen

Der Elektronikhersteller Xiaomi will am 28. März in China sein erstes E-Auto ausliefern. Der Quereinsteiger mit einem Jahresumsatz von knapp elf Milliarden Euro (Stand 2022) hat innerhalb von drei Jahren die Idee eines elektrischen Sportwagens in die Tat umgesetzt. Nun müssen sich die deutschen Autopremiumhersteller mit einem weiteren Konkurrenten aus Fernost auseinandersetzen.

SU7 heißt das neue Gefährt. SU steht dabei für Speed Ultra. Nur 2,78 Sekunden braucht das Auto, um von 0 auf 100 km/h zu beschleunigen. Die Höchstgeschwindigkeit liegt bei 265 km/h. Die maximale Reichweite bei voller Batterieladung wird vom Hersteller mit 800 Kilometer angegeben. Der Grundpreis des SU7 beträgt umgerechnet 33.000 Euro. Der SU7 ist damit eben so teuer wie ein Tesla 3 - ein Drittel des Preises, der für einen grünen Porsche Taycan in China zu zahlen ist.

Konzernchef Lei Jun, laut Forbes mit zwölf Milliarden US-Dollar Privatvermögen auf Platz 159 unter den Reichsten der Welt, hat die Konkurrenten aus Palo Alto und Stuttgart im Visier. "Wir wollen keinen Kompromiss und keine Mittelmäßigkeit", sagt Lei. "Wir wollen ein Traumauto bauen, das Tesla und Porsche die Stirn bietet."

Peking, China 2023 | Xiaomi-Gründer Lei Jun präsentiert erstes Elektrofahrzeug SU7
Xiaomi-Gründer Lei Jun präsentiert das neue Elektrofahrzeug SU7null Florence Lo/REUTERS

Handyhersteller als Autobauer

Längst ist China der größte E-Auto-Hersteller der Welt. Die E-Mobilität wäre ohne Innovationen der dortigen Firmen unvorstellbar. Unter den Anbietern im Reich der Mitte befinden sich viele Quereinsteiger, deren ursprüngliche Geschäftsbereiche mit der Autoindustrie an sich nichts zu tun haben.

Xiaomi stellt überwiegend so genannte intelligente Haushaltsgeräte mit Webfunktionen her wie Türsensoren oder Reiskocher, die über Handy mitteilten, wann der Duftreis fertig ist. In Europa ist Xiaomi vor allem für seine Smartphones bekannt, so wie der andere Telekommunikationsausstatter Huawei, der schon seit 2021 seine E-SUVs unter dem Namen AITO in China auf den Markt bringt.

Dass Quereinsteiger mit diesem Geschäftsfeld liebäugeln, ist nicht auf China beschränkt. Bereits vor 14 Jahren hatte auch der kalifornische Konzern Apple die Idee, Autos zu produzieren. Ende Februar 2024 teilte der iPhone-Hersteller aus Cupertino aber mit, dass das Projekt "Apple Car" endgültig eingestellt worden sei. Der Konzern soll insgesamt zehn Milliarden US-Dollar investiert haben.

USA | Apple-Car-Projekt wird beendet
Apple baute einen Lexus um und testete damit das automatisierte Fahren. Das "Apple Car"-Projekt wurde Ende Februar 2024 eingestellt.null Andrej Sokolow/dpa/picture alliance

Komplett neues Konzept

China ist der größte und am schnellsten wachsende Automarkt der Welt. Die etablierten deutschen Autobauer verkauften 2023 weltweit ungefähr jedes dritte Auto in China. Aber ihre Marktposition wird durch inländische E-Auto-Hersteller jetzt herausgefordert.

Die Gründe liegen auf der Hand: "China führt die globale Lieferkette für Lithium-Ionen-Batterien an", sagt Bernd Diepenseifen, Partner der Beratungsgesellschaft KPMG. Gemessen an Batterieproduktion, Industrieinnovation und Absatz sei China auf der Skala der Wettbewerbsfähigkeit klar die Nummer eins. "Hier haben die asiatischen Anbieter zumindest aktuell eine dominante Position", so der Experte. Schlechte Karten also für Deutschland:  "Die Rohstoffproduktion ist sicherlich kein Feld, auf dem deutsche Zulieferer sinnvoll Chancen suchen, und auch nicht in der Batterieproduktion".

Welche hohen Ansprüche die Fahrzeughersteller aus China erfüllen möchten, wurde auf dem 91. Genfer Autosalon deutlich. Kein einziger Autobauer aus Deutschland war dort präsent, dafür aber jede Menge aus China. Sie zeigten mit ihren Showautos, was sie unter Konnektivität verstehen: integrierte Audio- und Video-Streamingdienste im Entertainmenttool, sowie eine Navigation, die per Countdown anzeigt, wann die nächste Ampel auf grün schaltet. Obendrauf werden für das Interior Massagesessel angeboten - serienmäßig.

Würden Deutsche chinesische E-Autos kaufen?

Spitzenposition in der Technologie

Die Branche in China sieht ein Auto nicht mehr nur als ein Fortbewegungsmittel, das die Fahrgäste über eine größere Entfernung zum Ziel transportiert. Ein Auto ist heute eben nicht mehr bloß ein Ottomotor plus Getriebe, die E-Mobilität nicht nur Karosserie mit Steckdose. China denkt weiter: Es geht um automatisiertes Fahren und Künstliche Intelligenz, um ein umweltfreundliches Verkehrskonzept und die technologische Führung in der industriellen Produktion. Deswegen bringen sich die Elektronik- und Telekommunikationsriesen auf dem umkämpften Markt in Position.

"Derzeit sind fahrende Autos 'mobile Rechenzentren'", sagt Xiaomi-Chef Lei. "Die Automobilindustrie der Zukunft wird fortgeschrittenen und vernetzten 'Smart Space' produzieren." Der andere Hersteller NIO bringt sein Konzept auf den Punkt: Ein NIO als Erweiterung des Wohnzimmers auf vier Rädern. Wan Gang, Ex-Forschungsminister Chinas, schwärmte schon auf der Automesse IAA 2023 in München davon, dass die E-Autos beim Be- und Entladen als Energiespeicher im Stromnetz genutzt werden könnten.

Automesse IAA · Eröffnung
Chinessischer Autobauer BYD auf der IAA 2023 in Münchennull Matthias Balk/dpa/picture alliance

Daten, Daten und Daten - 'Smart' ist die Zukunft

"Für die Produktion und das Fahrzeug der Zukunft ist 'Smart' der nächste große Schritt", sagt Jürgen Unser, der bis zum Januar 2024 China-Präsident von Audi war. "Smart Car, smart Produktion sowie smart Infrastruktur." Die Produktion werde demnächst von Daten und über Künstliche Intelligenz gesteuert. "Es ist sehr wichtig für unsere Gesellschaft, auch in Deutschland, dass wir beim Umgang mit den Daten und bei deren Verwendung deutlich offener werden müssen."

Die chinesischen Autofahrer sind im Vergleich zu anderen Ländern unempfindlich gegenüber dem Sammeln von privaten Daten. Mit den Daten ist dann die innovative Digitalindustrie in der Lage, Algorithmen für die Anwendung der Künstlichen Intelligenz zu entwickeln. Diese Technologien werden als Schlüssel zur Industrie von morgen angesehen.

"Demokratisiert" China die E-Mobilität?

"Die Künstliche Intelligenz wird zu unserem Fortschritt und Wohlstand beitragen", so Unser weiter. "Wir müssen schnell, offen und flexibel sein." Allerdings müssten die gesammelten Daten auch geregelt ausgetauscht werden.

So hatten die Bundesregierung und China im Jahr 2018 eine gemeinsame Absichtserklärung für automatisiertes und vernetztes Fahren unterzeichnet, die der DW vorliegt. Beide Länder wollen "diskriminierungsfreie multilaterale Normen und Anforderungen für Datenzugang und -speicherung, Datenübermittlung und IT-Sicherheit (Cybersecurity) im Bereich automatisiertes und vernetztes Fahren sowie der zugehörigen Infrastruktur" schaffen und entwickeln.

China I Cyberspace Administration
Chinas CAC will jeden Export "wichtiger Daten" prüfennull Thomas Peter/File Photo/REUTERS

Hohe Hürden beim Datentransfer

Die Realität sieht aber anders aus. Laut EU-Kommission beschweren sich viele EU-Unternehmen über Schwierigkeiten bei der Nutzung von Industriedaten ihrer Tochtergesellschaften in China. Ausländische Investoren müssen ihre Rechenzentren in China betreiben. Sie sind meistens eine Insellösung, abgekoppelt von der Datenbank oder dem Cloud-Service des Mutterhauses.

Chinas Daten- und Cybersicherheitsvorschriften seien für die europäische Industrie "ein Problem", ist aus Brüssel zu hören. Der Transfer von Daten aus China heraus bedarf nämlich einer staatlichen Genehmigung durch die Cyberaufsichtsbehörde CAC. Diese will jeden Export von "wichtigen Daten" prüfen.

Auch der Bundesregierung sind die hohen Hürden bekannt. Bundesdigitalminister Volker Wissing hatte bei den deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen 2023 die Notwendigkeit eines freien Datentransfers unterstrichen. Derzeit verhandeln die EU und China über einheitliche Industrienormen der Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) im Interesse der grenzlosen Datenregulierung. Noch suchen sie eine gemeinsame Basis.

"Decoding China" ist eine DW-Serie, die chinesische Positionen und Argumentationen zu aktuellen internationalen Themen aus der deutschen und europäischen Perspektive kritisch einordnet.