50 Jahre Sesamstraße in Deutschland
Wollen Sie eine Neun kaufen? Oder eine Handvoll Luft? Dann versuchen Sie es doch mal in der Kindersendung Sesamstraße. Da treibt Schlemihl sein Unwesen: ein windiger Händler im Trenchcoat, der Ernie in schöner Regelmäßigkeit Buchstaben oder Zahlen andrehen will – oder einen leeren Pappkarton für den Fall, dass es mal Himbeerdrops regnet.
Es sind Schrägheiten wie diese, die in der Bundesrepublik der frühen 70er-Jahre besorgte Eltern und Pädagogen aufschrecken ließen. Vor 50 Jahren, am 8. Januar 1973, ging die erste Folge der Sesamstraße über deutsche Bildschirme – gut drei Jahre nach der Ursendung Sesame Street vom 10. November 1969 beim US-Sender National Education Television.
Ein ganz neues pädagogisches Konzept
Was für ein alternativer Aufschlag, dieser chaotische Hinterhof in einer fiktionalen Straße mitten in New York, mit rauchenden Gullys und scheppernden Mülltonnen! Schwarze und weiße Kinder spielen zusammen oder sitzen um die beiden Lehrer herum, die Verkehrsregeln erklären oder eine Geschichte vorlesen: Gordon und Bob, die Erklärer und Streitschlichter der Sesamstraße.
Medienpädagogen und Kirchenvertreter witterten einen schädlichen Einfluss durch das hier propagierte egalitäre US-Weltbild – nicht wenige deutsche Kinder bekamen zur Sesamstraßen-Zeit Fernsehverbot. Und erst diese ganzen Monster: ein übellauniger Griesgram namens Oscar, der in einer Mülltonne lebt, Müll über alles mag und nie um eine Beleidigung verlegen ist. Grobi, ein liebenswerter Chaot und meist der Loser in seinen Sketchen. Egal ob er versucht, „nah und weit weg“ anschaulich zu machen oder als Kellner von einem unschlüssigen Gast in die Küche und zurückgescheucht wird: Meist ist sein Einsatz vergeblich.
Und natürlich das Krümelmonster: Es will immer nur „Kekse...!!!“, verschlingt in seiner Gier aber auch schon mal Gartengeräte oder Telefone. Die gesamte anarchische Monstertruppe, lila-, gelb- oder grüngesichtig: geniale Schöpfungen des Handpuppen-Virtuosen Jim Henson, der später mit der Muppet Show einen weiteren Welterfolg landete.
Die unbestrittenen Superstars der Sesamstraße waren aber Ernie und Bert, die in einer Wohngemeinschaft lebten: Der verpeilte Ernie trieb den lebensklügeren, aber schnell genervten Bert immer wieder in den Wahnsinn, etwa durch seine schreckliche Unordnung oder das Telefonieren mit einer Banane. Wie absurde Szenen einer Ehe wirkte das für erwachsene Zuschauer. Und tatsächlich reklamierte die Gay-Community Ernie und Bert irgendwann als das erste schwule Paar einer Kinderserie für sich. Da widersprachen allerdings die Sesamstraßen-Macher - denn ihre Puppen führen ein Leben ohne Sexualität.
Zu amerikanisch für bayerische Kinder
Dem Bayerischen Rundfunk war das alles zu bunt und zu amerikanisch. Er stieg aus der Sesamstraße aus und brachte stattdessen eine eigene Kindersendung an den Start. Die Worte aus Bayern gegen die Sesamstraße“ fielen drastisch aus, über „pädagogische Infamie“ etwa wegen einer Verherrlichung des Lebens in der Mülltonne durch die Puppe Oscar schimpften die Programmverantwortlichen und hielten die Sesamstraße viele Jahre vom Freistaat fern.
Dabei war die Sesamstraßen-Pädagogik damals absolut wegweisend. Durch Nonsens, Zeichentrick und Albernheiten – kurz: mit Spaß – wurden Vorschulkinder an Zahlen, Lebensweisheiten und Verhaltensregeln herangeführt. Immer wieder wurde ihnen das ABC und das Zählen vermittelt – ob in Liedform, durch kurze Filmsequenzen oder die intensive Behandlung einzelner Buchstaben und Zahlen.
Steter Tropfen höhlt den Stein. Und so sollte – nach dem Zauber der unsortierten Anfangsjahre – die Sesamstraße am Ende doch deutscher werden. Der Norddeutsche Rundfunk NDR übernahm die Federführung für eine Adaption der US-Vorlage. Der leichtgläubige Bär Samson, die altkluge Tiffy und Herr von Bödefeld sollten Oscar, Bibo und Konsorten aus der New Yorker Chaosstraße bürgerlich-deutsch ersetzen. Entsprechend mittelspannend sind sie auch ausgefallen. Statt Gordon und Bob führten nun damals bekannte deutsche Schauspielerinnen und Schauspieler wie Lilo Pulver, Henning Venske und Horst Janson mit den Puppen durch die Sendung.
Sesamstraße gestern und heute
„Die Wahrnehmung und Stärkung der Eigenkompetenz, eine positive Wertevermittlung und ein unmittelbarer Bezug auf die Lebens- und Erfahrungswelt der Vorschulkinder hierzulande sind Grundlage aller Geschichten der Sesamstraße seit 50 Jahren“, sagt NDR-Redakteur Holger Hermesmeyer über die deutsche Version der Sesamstraße.
Standen früher noch Zahlen und Buchstaben im Vordergrund, stehen heute eher soziales und emotionales Lernen auf dem Programm. „Leitfragen sind zum Beispiel: Wie gehe ich mit mir und meinen Mitmenschen um? Oder: Wer bin ich? Welche Gefühle habe ich?“, sagt Hermesmeyer. Auch Themen wie Natur- und Umweltschutz, Klimawandel, Ernährung, Diversität, Leben mit Behinderung oder Krankheit werden passend für die Zielgruppe der Drei- bis Sechsjährigen aufbereitet.
Zum 50-jährigen Jubiläum schaffte es nun sogar einer der anarchischen Puppen ins Allerheiligste des ARD-Programms: Das Krümelmonster durfte am 8. Januar seinen ersten Kommentar in den tagesthemen, einer der bekanntesten Nachrichtensendungen im deutschen Fernsehen, sprechen – wenn auch nur in einer Sondersendung zu tagesthemen-unüblicher Zeit um 7:20 Uhr morgens.
rh/sts (mit KNA, afp, dpa)