Aufarbeitung mit Lücken: Hat die Wahrheitskommission Südafrika versöhnt?

Unermüdlich harren sie aus, auf dem Constitution Hill oberhalb des Zentrums von Johannesburg. Ihr Gesang hallt über das Gelände des alten Gefängnisses und früheren Militärforts. Dort steht auch das moderne Verfassungsgericht des Landes, teilweise erbaut aus den Ziegelsteinen eines abgerissenen Gefängnisblocks.

Diesen symbolträchtigen Ort hat die Gruppe von älteren Menschen schon seit fünf Monaten als Stätte für ihren Protest und als Schlafplatz eingenommen - in ihrem Kampf für Gerechtigkeit: Sie sind Opfer der Gewalttaten des Apartheid-Regimes. Aber haben von den Anhörungen der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission vor 28 Jahren nicht profitiert.

Im Stich gelassen

Thabo Shabangu war 1990 bei einer Demonstration gegen die Unterdrückung der mehrheitlichen schwarzen Bevölkerung durch das weiße Regime von Polizisten in den Rücken geschossen worden, sagt er im DW-Interview. "Ich bin enttäuscht. Wir sind die Revolutionäre von damals, wir haben diese Regierung gebildet und dafür gekämpft," sagt Shabangu.

Am Verfassungsgericht sitzen Südafrikaner auf dem Boden, Plakate hängen zwischen den Bäumen und fordern Entschädigungen für Apartheid-Opfer
Constitution Hill in Johannesburg: Apartheid-Opfer fordern Entschädigungennull Dianne Hawker/DW

Die südafrikanische Regierung sei nicht für das Volk da. Er fühlt sich im Stich gelassen und fordert finanzielle Entschädigung für das ihm widerfahrene Leid im Anti-Apartheid-Kampf, aber auch für medizinische und soziale Unterstützung. Diese Hilfen waren von der Kommission für anerkannte Opfer empfohlen worden. Shabangu ist - wie rund ein Drittel der Südafrikaner - arbeitslos, das Geld für die Ernährung der Familie und Schulbildung ist knapp.

"Wir haben geglaubt, die Kommission bringe uns Gerechtigkeit", klagt er. Aber niemand der Angehörigen der Khulumani Support Group für Opfer und Überlebende schwerer Menschenrechtsverletzungen, die mit ihrer Schwesterorganisation Galela nach Anerkennung suchen, fühlt sich versöhnt.

"Keine Reparationen - keine Wählerstimme"

Nach 30 Jahren Demokratie im neuen Südafrika ist für sie die grausame Vergangenheit nicht abgeschlossen: "Keine Reparationen - keine Wählerstimme", sagt Shabangu. So wollen es die meisten in der Gruppe halten, wenn Südafrika am 29. Mai einen neuen Präsidenten wählt.

Ein Blick zurück: Die Anhörungen vor der Wahrheits- und Versöhnungskommission (TRC) begannen im April 1996 und endete im Oktober 1998. Der damalige Präsident Nelson Mandela hatte Erzbischof Desmond Tutu mit dem Vorsitz beauftragt. Ihr Ziel war es, Versöhnung und Vergebung - anstatt Vergeltung - zwischen Tätern und Opfern der Apartheid zu fördern.

Südafrika historische Aufnahmen vom "Sharpeville massaker"
Sharpeville 1960: Ein Massenbegräbnis fand in dem Township statt, nachdem weiße Polizisten in einem Massaker 69 Schwarze erschossen hattennull AP Photo/picture alliance

Betroffene wurden ermutigt, sich zu melden und Zeugnis abzulegen. Die Kommission konzentrierte sich in dieser Zeit auf Beweise für Tötung, Entführung und Folter von Menschen sowie für schwere Misshandlungen.

Amnestie für Täter

Täter, die vollständig über die Geschehnisse berichteten, erhielten Amnestie - ein schmerzhafter Kompromiss für viele Opfer. Aber durch die Zusage der Straffreiheit kam die Wahrheit über das Schicksal vieler Menschen ans Licht, die spurlos verschwunden waren: verschleppt, umgebracht und irgendwo verscharrt.

In den Gemeindehallen und Kirchen landesweit saßen sich Opfer und Täter häufig gegenüber, erstmals gab es Live-Berichte aus Anhörungen einer Wahrheitskommission. Nur zwei Jahre nach der Machtübernahme durch den Afrikanische Nationalkongress (ANC) drangen die Gräueltaten der Vergangenheit öffentlich ins Bewusstsein. Überwiegend schwarze Südafrikaner hatten unter der Staatsgewalt gelitten, aber auch Weiße, deren Angehörige bei Anschlägen der Freiheitskämpfer starben.

Als die Kommission 2002 ihre komplette Arbeit abschloss, empfahl sie, den mehr als 21.000 anerkannten Opfern monatliche Zuschüsse als Entschädigungen aus dem eingerichteten "President's Fund" zu zahlen. Der damalige Präsident Thabo Mbeki veranlasste jedoch eine einmalige Hilfe in Höhe von damals 30.000 Rand (nach damaligem Kurs knapp unter 3600 Euro), die rund 17.000 Menschen erhielten.

Türen nicht verschließen

Laut Jahresbericht des Fonds standen 2023 noch knapp zwei Milliarden Rand (heute 97 Millionen Euro) zur Verfügung. Kritiker behaupten, die Empfehlungen der Kommission werden nur schleppend umgesetzt. Die Regierung sagt, sie werde den Entschädigungsfonds für Wohnraum, Bildung und Gesundheitsversorgung für die 22.000 Menschen auf der aktuellen Liste verwenden.

Eine Gruppe  Frauen und Männer stehen vor Südafrikas Verfassungsgericht und klatschen. Sie singen, protestieren und fordern Entschädigungen
Opfer der Apartheid singen und klatschen in Protest vor dem Verfassungsgericht. Sie fordern Entschädigungen vom Staatnull Thuso Khumalo

Mehr als 82.000 Südafrikaner haben sich Khulumani seit der Gründung 1995 angeschlossen, die bislang keinerlei Ansprüche geltend machen können. Der Staat habe damals nicht ausreichend bekannt gegeben, wie die Opfer ihre Erklärungen an die Kommission abgeben konnten, sagte Marjorie Dobson, Direktorin der Organisation.

Viele hätten kein Geld gehabt, um an entsprechende Stellen zu gelangen. "Wir haben das alles für das Justizministerium dokumentiert. Es ist völlig ungerechtfertigt, die Türen einfach zu schließen, wenn die Fehler tatsächlich auf der Seite des Staates liegen", sagt Dobson zur DW.

Auch Danisile Mabanga hofft noch auf Entschädigung. Ihre Familie war während der Apartheid gewaltsam vertrieben worden. "Wir wussten von der Kommission, aber wir haben es nicht geschafft, dorthin zu gehen", sagt sie zur DW. "Die Zeiten waren hart und wir hatten Angst." Mandela hätte eine sinnvolle Sache angestoßen, aber die Täter seien zu gut dabei weggekommen, ist ihr Eindruck, den viele Südafrikaner teilen.

Ungenutzte Chancen

Insgesamt baten 7000 Täter um Amnestie, die Kommission gewährte 1500 Anträge. Es waren hauptsächlich Fußsoldaten der Sicherheitskräfte und bereits Inhaftierte. Hochrangige Politiker der Apartheid-Regierung stellten keinen Antrag auf Amnestie.

Die Strafverfolgung von Tätern kam damals kaum voran, heute sind einige Hauptverdächtige bereits tot. "In vielen dieser Fälle ist die Zeit gegen uns, in einigen besteht noch eine Chance auf Strafverfolgung, und wir werden weitermachen", sagt Zaid Kimmie, Direktor der NGO Foundation for Human Rights. "Letztendlich wird es um die Frage gehen, warum wir dazu nicht in der Lage waren, welche Entscheidungen getroffen wurden und wer daran beteiligt war." Familien hätten ein Recht auf Antworten.

Bei Demonstrationen gegen die Apartheidregierung  hält ein schwarzer Südafrikaner in blauem Overall ein Plakat hoch, ein weißer Polizist weist ihn zurück
Unruhen vor den freien Wahlen 1994: Ein Polizist der damaligen Apartheidregierung weist einen Demonstranten zurücknull ALEXANDER JOE/AFP/Getty Images

Das kurze Zeitfenster für die Wahrheit ergab 2500 Anhörungen - ein Anstoß zur Bildung einer versöhnten Nation, das war ihr Zweck. "Wir hatten damals Hoffnung, denn es ging um den Prozess des Wiederaufbaus des Landes, der Friedenskonsolidierung. Wir wollten Teil des Wandels sein", sagt Nomarussia Bonase, Koordinatorin von Khulumani, zur DW. "Von der jetzigen Regierung werden wir wieder zum Opfer gemacht."

Justizminister Ronald Lamola sieht keinen Grund für die Menschen, am Constitution Hill zu sitzen. Sie sollten nach Hause gehen, sagt er. "Das Parlament hat die Liste, sie ist geschlossen. Und es wäre eine Unregelmäßigkeit, wenn wir die Liste wieder öffnen würden."

 

Mitarbeit: Dianne Hawker

Südafrika: Der geplatzte Traum der Regenbogennation

Mit großer Euphorie war Südafrika mit den ersten freien Wahlen 1994 neu gestartet. Stundenlang warteten die Menschen darauf, ihre Stimmen abzugeben. Die Aufbruchstimmung begleitete Nelson Mandela, der nach 27 Jahren Haft zum Präsidenten gewählt worden war, ins Amt.

Der Afrikanische Nationalkongress (ANC), die politische Partei Mandelas und ehemalige Anti-Apartheid-Bewegung, regiert bis heute. Doch im Rückblick auf die vergangenen 30 Jahre im "Land der Hoffnung" fällt die Bilanz nüchtern aus. Die Wirtschaft am Kap ist marode, die Gesellschaft sozial gespalten, die Menschen fühlen sich von der Politik nicht verstanden.

Nelson Mandela - 10. Todestag
Historischer Moment für Südafrika: Nelson Mandela - hier mit seiner Ehefrau Winnie Mandela - wird 1990 aus der Haft entlassennull epa/picture alliance/dpa

Die Schere zwischen Arm und Reich wächst - dabei war es ein zentrales Anliegen der Schwarzen Regierung bei Amtsantritt, diese Kluft zu überwinden und gleiche Chancen für alle zu schaffen. Die Frustration über diesen zerplatzten Traum sitzt tief.

Aber es gibt auch wichtige Errungenschaften. Fredson Guilengue, Programmleiter für das südliche Afrika bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Johannesburg, hebt einige hervor: "Es ist gelungen, eine der fortschrittlichsten Verfassungen der Welt einzuführen, eine unabhängige Justiz, eine freie Presse, freie und faire Wahlen zu etablieren." Darüber hinaus nennt er im DW-Interview die LGBTQ-Rechte, ein erweitertes Bildungswesen - und größeren Zugang zu Elektrizität, zu Wohnraum und Sozialleistungen für die Ärmeren.

So war zum Beispiel die Verfassung des demokratischen Südafrika die erste der Welt, die eine Diskriminierung aufgrund der sexuellen Ausrichtung verbot. Schon 2006 erlaubte der Staat als fünftes Land der Welt und erstes Land in Afrika die Ehe für gleichgeschlechtliche Partner.

Korrupte Interessen

Darüber hinaus hat Südafrika noch immer eine robuste und aktive Zivilgesellschaft, die für ihre Rechte lautstark eintritt. In den letzten Jahren hat das Land jedoch unter der internen Dynamik innerhalb des regierenden ANC gelitten. Machtkämpfe und korrupte Interessen warfen das Land immer wieder zurück.

Menschen sitzen in Dunkelheit um eine brennende Kerze, ein Lagerfeuer brennt im Hintergrund
Die Energieversorgung war 2023 mit bis zu zehn Stunden täglichem Stromausfall für Südafrikaner zur Krise geworden null Siphiwe Sibeko/REUTERS

Die Folgen: tagtäglicher Stromausfall - verursacht durch den von Korruption und Verschuldung geplagten staatlichen Energieversorger Eskom -, hohe Arbeitslosigkeit, Kriminalität und Armut, steigende Lebenshaltungskosten.

Die Jugendarbeitslosigkeit - etwa jeder zweite junge Mensch unter 34 Jahren gilt als arbeitslos - hat laut Guilengue die soziale Instabilität weiter befeuert. Denn sie verstärke das Gefühl, dass Ausländer den Einheimischen die wenigen verfügbaren Arbeitsplätze wegnehmen.

Enttäuschung über die Politik

Die Regierungspartei hat über die Jahre stetig an Vertrauen verloren. So könnte der ANC bei der Wahl im Mai - bei der Präsident Cyril Ramaphosa zum zweiten Mal kandidiert - erstmals unter die 50-Prozent-Hürde sinken.

Laut Wirtschaftsanalyst Daniel Silke macht sich eine tiefe Enttäuschung über die Befreiungspartei breit. Diese sei "unfähig, ethische Standards aufrechtzuerhalten, die insbesondere von Nelson Mandela gesetzt wurden", sagt Silke zur DW.

Die Südafrikaner seien wütend auf die Führung, weil sie die Chance vertan habe, Südafrika nach seinem einzigartigen Übergang an die Spitze der Nationen zu bringen. "Die Bemühungen, die Menschen zu einer Nation zusammenzubringen, die in den frühen Mandela-Jahren wirklich spürbar waren, haben sich verflüchtigt."

Absturz unter Jacob Zuma

In die folgenschwerste Krise schlitterte das Land unter der Führung von Jacob Zuma, der von 2009 bis zu seiner Absetzung 2018 regierte. In dieser Zeit plünderte er den Staat mit Hilfe seines weiten Korruptionsnetzes bis an den Rand des Bankrotts. Davon hat sich Südafrika nicht erholt. Vielmehr hielten Klientelismus und Vetternwirtschaft bis heute an, betont Silke.

Symbolbild Südafrika soziale Ungleichheit | Johannesburg Skyline
Infrastruktur in Südafrikas Wirtschaftsmetropole Johannesburg ist wegen massiver Korruption marodenull Graham de Lacy/Greatstock/IMAGO

Der Zusammenbruch der Infrastruktur und Logistik bei stagnierender Wirtschaft erinnert täglich an den Abstieg des einst reichsten Industrielandes in Afrika. "Es herrscht ein großes Unbehagen in der Bevölkerung", sagt Silke.

Tiefe Wunden aus der Apartheid-Ära

Kritische Beobachter stellen auch die Frage, ob drei Jahrzehnte ausreichen, um das Erbe der langen und tiefgreifenden Prozesse des Kolonialismus und der Apartheid zu beseitigen. So sieht Verne Harris, geschäftsführender Direktor der Nelson Mandela Stiftung, die Gesellschaft in großen Schwierigkeiten: "Wir müssen uns fragen, warum haben wir es nicht besser gemacht," sagt er zur DW.

Denn die Messlatte war hoch gesetzt: "Einige junge Leute sagen, Mandela war ein Verräter", so Verne mit Blick auf die Versprechungen auf ein besseres Leben in einem geeinten Land. "Wir müssen uns mit diesen Diskursen auseinandersetzen und einige unserer Kompromisslösungen überdenken."

Anfang der 1990er Jahre sei allen bewusst gewesen, dass es einige Generationen dauern würde, die Gesellschaft zu heilen, zu reparieren und die Demokratie in ihr zu verankern. "Doch wir haben uns zu dem Glauben verleiten lassen, wir könnten die Dinge sehr schnell in Ordnung bringen", bilanziert Harris. "Das hat in einigen Fällen zu Schnellschuss-Lösungen geführt, die uns nicht geholfen haben."

Internationaler Friedensstifter

International scheint sich Südafrika - gerade nach seinen Erfahrungen der Apartheid - als Verfechter des Kampfes gegen Unterdrückung auf globaler Ebene positionieren zu wollen, sagt Guilengue.

Südafrika | 15th BRICS Gipfel in Johannesburg
Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa war Gastgeber des BRICS-Gipfels 2023 in Johannesburgnull Prime Ministers Office/Zuma Press/picture alliance

Deshalb leite das Land friedensstiftende Initiativen, entsende Truppen in Länder der Region, ziehe vor internationale Gerichtshöfe: Ende Dezember 2023 hatte Südafrika Israel vor dem Internationalen Gerichtshof (IStGH) in Den Haag beschuldigt, im Gaza-Krieg gegen die Völkermordkonvention verstoßen zu haben.

Südafrika habe verstanden, dass die traditionelle Partnerschaft mit dem Westen nicht ausgewogen sei und sich ändern müsse. "Aus diesem Grund drängt Südafrika auf Reformen im UN-Sicherheitsrat und ist Mitglied des BRICS-Blocks, der für sich in Anspruch nimmt, für faire Regeln und Wirtschaftspartnerschaften zu kämpfen", sagt Guilengue und fügt an: "Vielleicht werden wir in Zukunft ein aktiveres Südafrika sowohl in Afrika als auch weltweit erleben."

Afrika: Wie relevant ist das Commonwealth heute noch?

Das moderne Commonwealth of Nations ist so alt wie sein Oberhaupt, der britische König Charles III.: Seit 75 Jahren besteht der Bund souveräner Staaten in seiner heutigen Form, aber für viele junge Menschen hat die einst aus dem britischen Weltreich hervorgegangene Gemeinschaft offenbar nur wenig politischen Nutzen.

Das Commonwealth ist für Khalil Ibrahim eine Organisation, die zwar aktiv ist, aber "nicht wirklich", sagt der 32-jährige Aktivist aus Accra im DW-Interview: "Sie bietet Stipendien an, Praktika für junge Fachkräfte aus den Mitgliedsländern, kostenlose Online-Kurse." Auch er habe von einigen Kursen profitiert. "Aber auf politischer Ebene ist es eine nutzlose Organisation."

Kenianische Demonstranten protestieren über den Besuch von König Charles III und halten ein weißes Plakat hoch mit der Aufschrift: König Charles ist nicht willkommen
Im Commonwealth-Mitgliedsland Kenia wurde König Charles III. im vergangenen Oktober nicht von allen Menschen herzlich empfangennull Luis Tato/AFP

Keine Relevanz - zu wenig Einfluss

Auch Eyram Yorgbe glaubt weder an Relevanz noch Wirksamkeit des Commonwealth, insbesondere für die afrikanischen Mitgliedsstaaten. Die Organisation behaupte, dass sie die wirtschaftlichen Partnerschaften zwischen ihren Mitgliedern erleichtere, sagt die 34-jährige Verwaltungsangestellte einer ghanaischen Firma. "Aber diese Partnerschaften gelten hauptsächlich für stärker entwickelte Volkswirtschaften im Commonwealth." Die afrikanischen Länder seien nur deshalb im Commonwealth, weil sie historisch mit der Monarchie verbunden seien, sagt Yorgbe zur DW. "Aber es ist höchste Zeit, dass wir unsere Strategien überdenken."

Von den 56 Mitgliedstaaten liegen 21 in Afrika. In keinem dieser Länder ist der britische Monarch Staatsoberhaupt. Die Mitgliedschaft wurde über die Jahrzehnte auch auf nicht-britische ehemalige Kolonien, darunter Mosambik (1995) und Ruanda (2009) ausgedehnt. Gabun und Togo sind 2022 als jüngste Mitglieder dazugekommen. Die Organisation setzt nach wie vor auf gemeinsame Werte.

Nutzen: Ein diplomatisches Netzwerk

Aber laut Philip Murphy, Direktor für Geschichte und Politik am Institut für historische Forschung an der University of London, gibt es zu viele verschiedene Länder und Herangehensweisen. Damit lasse sich kein klarer Konsens zu den wichtigsten politischen Themen finden, sei es der Krieg in der Ukraine oder der Klimawandel.

König Charles III - hier 2018 als Prinz - im blauen Anzug vor einer Holzbank mit Commonwealth-Plakate vor dem stellvertretenden Hochkommissariat in Lagos
König Charles III. 2018 in Nigeria, damals war er noch Prinz und zu Gast im britischen stellvertretenden Hochkommissariat in Lagos null Sunday Alamba/AP Photo/picture alliance

Das moderne Commonwealth hat eine Gesamtbevölkerung von 2,5 Milliarden Menschen, von denen mehr als 60 Prozent unter 30 Jahre alt sind. Die Mehrheit der Bürger lebt im globalen Süden und stammt zumeist aus ehemaligen britischen Kolonien.

"Es ist ein Relikt aus der Vergangenheit, aber es ist ein nützliches diplomatisches Netzwerk, insbesondere das Netzwerk der Hohen Kommissare in London", betont Murphy. Gerade für die mehrheitlich kleinen Mitgliedsländer und Inselstaaten sei auch der Zugang zur britischen Regierung und Außen- und Bildungsminister des Commonwealth von Vorteil. Dazu zählten reiche Geberstaaten wie Kanada und Australien.

Sekretariat zu schwach

"Das Netzwerk ist also wichtig genug, um zu verhindern, dass Mitglieder die Organisation verlassen oder sie auflösen, aber der Commonwealth ist sehr schwach und das hat mit seiner Geschichte zu tun", bilanziert Murphy im DW-Interview.

Das 1965 gegründete Commonwealth Secretariat sei nicht befugt, Politik zu machen. Es hatte laut Murphy nie einen ausreichend starken Durchsetzungsmechanismus, um die souveränen Mitgliedsstaaten zu verpflichten, sich den westlichen Werten wie Demokratie, Menschenrechte oder Rechtsstaatlichkeit anzuschließen. Oft seien sie nur dem Namen nach Demokratien. Die aktuelle Kritik am Commonwealth ziele häufig darauf, dass Menschenrechtsverbrechen in einzelnen Mitgliedstaaten und repressive homophobe Gesetze nicht nachdrücklich genug angeprangert werden.

Frauen in afrikanischen Kleidern applaudieren zu den Vorträgen auf dem Frauen-Forum des Commonwealth 2022 in Kigali
Das Commonwealth-Frauen-Forum fand 2022 im ostafrikanischen Kigali stattnull SIMON WOHLFAHRT/AFP

Neue Mitglieder treten ein

Erfolgreiches Engagement zeigte das Commonwealth in den Zeiten der Entkolonialisierung der weißen Siedlerkolonien in seinen Ex-Kolonien im damaligen Rhodesien (heute Simbabwe) und Südafrika, sagt Murphy. Und spielte eine wichtige Rolle bei der Sicherstellung eines friedlichen Machtwechsels in Südafrika in den 1990iger Jahren. Danach habe die Organisation an Bedeutung verloren.

Das Commonwealth sei aber keine sterbende Organisation, betont Alex Wines, Leiter des Afrika-Programms in der Londoner Denkfabrik Chatham House. Sie gewinne neue Mitglieder. Das habe nichts mit der imperialen Vergangenheit des Vereinigten Königreichs zu tun, sondern mit handfesten Interessen.

Neben Angola steht auch Simbabwe auf der Warteliste für die Mitgliedschaft. Das Land war 2003 wegen schweren Menschenrechtsverletzungen unter der Präsidentschaft des Autokraten Robert Mugabe aus dem Staatenbund ausgeschlossen worden. Eine eher seltene Sanktion innerhalb der Gemeinschaft, sagt Murphy.

Simbabwe will wieder Mitglied werden

Seit 2018 bemüht sich das international isolierte Land um einen Wiedereintritt. Aus strategischen Gründen, so der politische Analyst Gibson Nyikadzino in Harare: "Es geht um das Ansehen, Mitglied innerhalb des Komitees der Nationen zu sein, um Zugang zu billigen Märkten mit geringen Handelszöllen zu haben."

Prinz Charles in weißer Militäruniform wendet den Kopf zu Robert Mugabe im Anzug - dazwischen stehen britische und simbabwische Offizielle
Aus der Kolonialherrschaft ins Commonwealth: Prinz Charles (rechts) mit dem späteren Diktator Robert Mugabe am 16. April 1980 - einen Tag vor der Unabhängigkeit Simbabwesnull picture alliance/AP Photo

Die junge Rechtsanwältin Fortunate Nyamayaro findet das überflüssig: Simbabwe könne auf sich allein gestellt sein und auch mit anderen regionalen Blöcken zusammenarbeiten, und bilaterale Abkommen schließen, die für beide Seiten von Vorteil sind, sagt sie zur DW. "Für mich ist das Commonwealth ein koloniales Erbe, mit dem sich Simbabwe nicht zu identifizieren braucht."

Reformen notwendig

Zu den Funktionen der Organisation gehört auch die Wahlbeobachtung in Mitgliedsländern. Vor wenigen Tagen veröffentlichte die Beobachtergruppe des Commonwealth ihren Bericht über die Präsidentschaftswahlen in Nigeria 2023. Darin stellte sie erhebliche Mängel fest, die die Glaubwürdigkeit und Transparenz der Wahlen insgesamt beeinträchtigten.

Prinz Harry wird bei seiner Ankunft auf dem Flughafen in Lusaka von afrikanischen Tänzern in traditionellen Kostümen begrüßt
Der inzwischen aus den Diensten des Palasts ausgeschiedene Prinz Harry reiste 2018 im Auftrag des Commonwealth-Büros zum Staatsbesuch nach Sambianull Tsvangirayi Mukwazhi/AP Photo/picture alliance

Diese Kritik begrüßt der Anti-Korruptions-Aktivist Bishir Dauda im Bundesstaat Katsina: "Das ist wichtig für gute Regierungsführung", sagt er zur DW. Aber er fordert auch Reformen im Commonwealth, um den sich ändernden Anforderungen und Herausforderungen der Welt gerecht zu werden.

Für die Studentin Rabi Marafa überwiegen die negativen Auswirkungen des Kolonialismus: Nigeria profitiere in keiner Weise vom Commonwealth, sagt sie zur DW. "Es erinnert mich an unsere dunkelste Vergangenheit und ist das letzte Überbleibsel des Imperialismus."

Mitarbeit: Isaac Kaledzi in Ghana, ⁠Privilege Musvanhiri in Simbabwe, Muhammad Al-Amin in Nigeria

50 Jahre nach der Nelkenrevolution in Portugal: Afrika gehört zur Staatsräson

Sie wurde von einer linken "Bewegung der Streitkräfte" angeführt und von der großen Bevölkerungsmehrheit Portugals unterstützt: Die Nelkenrevolution beendete nicht nur die fast 50 Jahre währende Diktatur der Machthaber Salazar und Caetano - sie ebnete auch den Weg für das Ende der portugiesischen Kolonialkriege und die Unabhängigkeit von Angola, Mosambik, Guinea-Bissau, Kap Verde und São Tomé und Príncipe. Die fünf lusophonen Länder Afrikas blicken in diesem Jahr mit besonderem Interesse auf Lissabon, wo am 25. April 2024 der 50. Jahrestag der Nelkenrevolution gemeinsam begangen werden soll.

Angola: Nelkenrevolution ermöglichte Verhandlungen

"In Angola erweckt die Nelkenrevolution positive Gefühle", sagt der Analyst Nkikinamo Tussamba, der selbst 13 Jahre später in der nordangolanischen Provinz Zaire geboren wurde. Für ihn ist klar: "Die portugiesische Revolution hat den Unabhängigkeitsprozess unseres Landes maßgeblich beeinflusst. Dank ihr konnte die Unabhängigkeit unseres Landes bereits anderthalb Jahre später - am 11. November 1975 - proklamiert werden."

Januar 1975: Portugiesische Regierung unterschreibt mit Vertretern von drei angolanischen Befreiungsbewegungen das Abkommen von Alvor, das der MPLA, der UNITA und der FNLA die Macht in Angola überträgt
Mit dem Abkommen von Alvor vereinbarte Portugal im Januar 1975, die Macht an die Befreiungsbewegungen in Angola zu übertragennull casacomum.org/Arquivo Mário Soares

Tatsächlich wurden im Zuge des Regimewechsels in Lissabon direkte Verhandlungen zwischen der portugiesischen Regierung und den Unabhängigkeitsbewegungen in Angola aufgenommen. Im Januar 1975 unterschrieb die Regierung Portugals im südportugiesischen Algarvestädtchen Alvor Unabhängigkeitsabkommen mit den drei Befreiungsorganisationen Angolas MPLA, UNITA und FNLA.

Mosambik: Abkommen mit Portugal kurz nach der Nelkenrevolution

Auch für Mosambik war der 25. April ein Meilenstein, bestätigt der Journalist Fernando Lima: "Die Nelkenrevolution war ausschlaggebend dafür, dass die Befreiungsfront FRELIMO im September 1974 in Lusaka ein Unabhängigkeitsabkommen mit Portugal unterschreiben konnte." Als in Mosambik geborener Sohn portugiesischer Siedler entschied sich Lima nach der Unabhängigkeit für die mosambikanische Staatsangehörigkeit, also dafür, "als Afrikaner in Afrika" zu bleiben.

Juni 1974: Portugals damaliger Außenminister Mário Soares (links) trifft den Präsidenten Mosambiks und der FRELIMO Samora Machel in der sambischen Hauptstadt Lusaka
Juni 1974: Portugals damaliger Außenminister Mário Soares (links) trifft den Präsidenten Mosambiks und der FRELIMO Samora Machel in der sambischen Hauptstadt Lusakanull casacomum.org/Arquivo Mário Soares

Anders Fernando Cardoso, Professor für Internationale Beziehungen und Geopolitik an der Autonomen Universität Lissabon: Er wuchs zu Kolonialzeiten ebenfalls in Mosambik auf, siedelte aber kurz nach der Unabhängigkeit mit seinen Eltern nach Lissabon über. Als Erwachsener reiste er dann als Dozent und Leiter von mehreren Forschungsprojekten nach Mosambik, Angola und Kap Verde.

Wachsender Druck auf die Kolonialmacht Portugal

Die Nelkenrevolution habe die Dekolonisierung "ohne Zweifel" beschleunigt, sagt Cardoso. Aber: "Die Unabhängigkeit der portugiesischen Kolonien wäre auch ohne die Nelkenrevolution in Portugal früher oder später eingetreten." Das portugiesische Kolonialimperium sei in den 1970-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts international als "großer Anachronismus" angesehen worden.

Die internationale Gemeinschaft habe damals enormen diplomatischen Druck auf Portugal, die "erste und letzte Kolonialmacht in Afrika", ausgeübt: Praktisch die gesamten Vereinten Nationen (UN) hätten Portugal in mehreren Resolutionen aufgefordert, seine Kolonien in die Unabhängigkeit zu entlassen, so der Politikwissenschaftler.

Auch der militärische Druck auf Portugal wurde erhöht: Angolas Befreiungsorganisationen MPLA, UNITA und FNLA bekamen immer größere Waffenlieferungen und militärische Ausbildung aus der Sowjetunion und anderen Ländern des Ostblocks, aber auch aus China. Vor allem im ländlichen Raum konnten sie so Druck auf die Kolonialmacht ausüben.

In Mosambik rückten die Kämpfer der Befreiungsbewegung FRELIMO immer weiter vom Norden in Richtung Mitte des Landes vor. Es galt nur als eine Frage der Zeit, bis die portugiesische Kolonialarmee die Kontrolle über weite Gebiete des Landes verlieren würde.

Allein was mit São Tomé und Príncipe und den Kapverdischen Inseln ohne die Nelkenrevolution geschehen wäre, ist nach Meinung von Cardoso nicht ganz klar: "In beiden Archipelen gab es keine bewaffneten Befreiungsbewegungen, wohl aber laute Stimmen, die eine umfassende Autonomie oder gar die vollständige Unabhängigkeit der Inseln forderten."

Guinea-Bissau: tonangebend für Portugal und die Kolonien

In Guinea-Bissau war der Unabhängigkeitsprozess am weitesten vorangeschritten: In dem westafrikanischen Land hatte die Unabhängigkeitsbewegung unter Amílcar Cabral bereits am 25. September 1973 - also genau sieben Monate vor der Nelkenrevolution - einseitig die Unabhängigkeit von Portugal erklärt. Als die portugiesische Diktatur und damit das Kolonialregime zusammenbrachen, hatten bereits 34 UN-Mitgliedsstaaten Guinea-Bissau als unabhängigen Staat anerkannt. Militärisch hatte die portugiesische Armee längst die Kontrolle über weite Teile des Landes verloren.

Guinea-Bissau, 1972: Die Befreiungsorganisation PAIGC, unter der Führung von Amílcar Cabral (auf dem Foto im Vordergrund), übernimmt nach und nach die militärische Kontrolle über weite Teile des Landes
Guinea-Bissau, 1972: Die Befreiungsorganisation PAIGC, unter der Führung von Amílcar Cabral (im Vordergrund), übernimmt nach und nach die militärische Kontrolle über weite Teile des Landesnull casacomum.org/Documentos Amílcar Cabral

"Wir Guineer wollen nicht unbescheiden sein, aber ich wage dennoch zu behaupten, dass wir einen wichtigen Beitrag zum Erfolg der Nelkenrevolution geleistet haben", sagt die Juristin und ehemalige Justizministerin Guinea-Bissaus, Carmelita Pires, im DW-Gespräch. "Durch unseren erfolgreichen Befreiungskrieg haben wir die Forderungen der portugiesischen Bevölkerung nach einem Ende der Kolonialzeit und des Krieges und nach Freiheit indirekt unterstützt." Und sie fügt hinzu: "Gleichzeitig haben wir dazu beigetragen, dass die anderen, von den Portugiesen kolonisierten Länder unserem Beispiel folgten. Wir waren damals echte Vorbilder für unsere Brüderländer, die ebenfalls gegen den Kolonialismus kämpften."

Beziehungen in der Lusophonie: "Nie besser als jetzt"

In den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit galten die Beziehungen zwischen den befreiten Staaten und der ehemaligen Kolonialmacht als schwierig. Ideologisch ging man getrennte Wege: Während sich Portugal der Europäischen Union zuwandte, begaben sich die fünf afrikanischen Staaten auf den Weg zum Sozialismus und errichteten mit Hilfe des Ostblocks marxistische Einparteiensysteme.

Der Präsident von São Tomé und Príncipe, Carlos Vila Nova, wird im März 2023 vom Präsidenten von Kap Verde, José Maria Neves, in Praia empfangen
Die Inselstaaten Kap Verde und São Tomé und Príncipe erlangen 1975 die Unabhängigkeit von Portugal. Foto: Der Präsident von São Tomé und Príncipe, Carlos Vila Nova, im März 2023 mit dem Präsidenten von Kap Verde, José Maria Nevesnull Semedo, Àngelo

In den Anfangszeiten bezichtigten diese neuen Regime Lissabon immer wieder, Vertreter von Rebellenorganisationen, vor allem der mosambikanischen RENAMO und der angolanischen UNITA, die die marxistischen Regime in ihren Ländern bekämpften, bei sich aufzunehmen und diplomatisch zu unterstützen.

Die Missstimmung zwischen Portugal und den Ex-Kolonien habe aber nicht lange angehalten, betont die guineische Juristin Carmelita Pires: "Nach einer gewissen Übergangszeit haben wir Guineer uns erneut Portugal angenähert. Für uns war immer klar, dass unser Befreiungskampf gegen das portugiesische Kolonialsystem gerichtet war - und keinesfalls gegen das portugiesische Volk." 

Familiäre und kulturelle Bande

Es seien vor allem familiäre Bande, die Menschen aus Guinea-Bissau und aus Portugal verbänden, so Carmelita Pires. Man dürfe nicht vergessen, dass Portugiesen und Bissau-Guineer über Jahrhunderte interagiert und untereinander geheiratet hätten. Sie selbst sei Nachfahrin eines einfachen portugiesischen Siedlers, der eine Frau aus der Fulani-Ethnie geheiratet und mit ihr eine Familie gegründet habe. "Viele Guineer tragen heute noch portugiesische Namen. Das unterscheidet uns von Völkern aus anderen - etwa anglophonen oder frankophonen - Kolonialsystemen."

Carmelita Pires, Ex-Justizministerin Guinea-Bissaus: "Die kulturellen familiären Bande zwischen Portugal und Guinea-Bissau sind nach wie vor stark"
Carmelita Pires, Ex-Justizministerin Guinea-Bissaus: "Die kulturellen familiären Bande zwischen Portugal und Guinea-Bissau sind nach wie vor stark"null DW/F. Tchumá

Ähnlich sieht es der mosambikanische Schriftsteller Adelino Timóteo, dessen letzter Roman mit dem Titel "Das Jahr des Abschieds von Übersee" zur Zeit der Nelkenrevolution spielt: "Die Portugiesen haben im Vergleich zu anderen Kolonialmächten länger und intensiver mit den Völkern in den Kolonien zusammengelebt und sich ausgetauscht", sagt er der DW.

"Bei uns in Mosambik gab es schon immer enge Kontakte zwischen afrikanischen, europäischen und arabischen Kulturen, später kamen auch Inder und Chinesen aus den ehemaligen portugiesischen Kolonien in Asien dazu. Sie alle wurden bei uns integriert. Von diesem Erbe der portugiesischen Kolonialzeit sind wir immer noch beeinflusst und sind deshalb heute besser in der Lage, trotz aller Wunden der Vergangenheit, gute Beziehungen zu Portugal und den Portugiesen zu pflegen."

Gründung der Gemeinschaft portugiesischsprachiger Länder

"Nach der Nelkenrevolution stellten die Leute in Portugal bange Fragen: Was wird aus den Beziehungen Portugals zu Afrika?", erinnert sich André Thomashausen, Professor für Internationales Recht und Verfassungsrecht an der University of South Africa: "Ich war damals in Portugal und vertrat die dezidierte Meinung, dass das Land eine wichtige und besondere Rolle in Afrika spielen sollte, und dass Portugal das Potential habe, als Tor Afrikas nach Europa zu fungieren."

CPLP-Gipfeltreffen im August 2023 in São Tomé und Príncipe
CPLP-Gipfeltreffen im August 2023: Die Gemeinschaft der Portugiesisch-sprachigen Länder, CPLP, wurde 1996 in Lissabon gegründetnull Ricardo Stuckert/PR

Und das sei auch gelungen, so Thomashausen. Alle ehemaligen Kolonien hätten Portugiesisch als Amtssprache übernommen und für viele junge Menschen, aber auch Geschäftsleute aus den ehemaligen Kolonien, sei Portugal heute tatsächlich das wichtigste Eingangstor nach Europa, betont der Verfassungsrechtler mit deutschen Wurzeln. Portugal habe es verstanden, sehr schnell eine enge Kooperation mit den lusophonen Ländern aufzubauen. Die Lusophonie gehöre für Portugal zur "Staatsräson".

1996 habe man deshalb die CPLP gegründet: die Gemeinschaft der portugiesischsprachigen Länder, die alle neun Staaten der Welt umfasst, in denen Portugiesisch Amtssprache ist. Thomashausen: "Die CPLP ist heute wichtiger und funktioniert besser als die Frankophonie der Franzosen. Die portugiesische Diplomatie hat Hervorragendes geleistet."

Wirtschaftliche oder zwischenmenschliche Beziehungen?

Die Beziehungen zu allen ehemaligen Kolonien seien auf allen Ebenen gut. Auf Regierungsebene, im kulturellen und im Ausbildungsbereich. Und auch wirtschaftlich seien die lusophonen Länder Afrikas sehr eng mit Portugal verquickt, fügt Thomashausen hinzu.

Fernando Cardoso von der Autonomen Universität Lissabon bestätigt, dass sich Portugals wirtschaftliche Beziehungen zu den ehemaligen Kolonien gut entwickelt hätten: "Von viel größerer Bedeutung als der Handelsaustausch ist für die Portugiesen aber die historische und emotionale Dimension: In Portugal ist man davon überzeugt, dass eine privilegierte kulturelle und politische Partnerschaft mit den portugiesischsprachigen Ländern unabdingbar ist. Das war auch die Hauptmotivation für der Gründung der CPLP."

Eine Befestigungsanlage auf der Ilha de Moçambique
Ilha de Moçambique: Die Insel in der Provinz Nampula im Norden Mosambiks ist die ehemalige Hauptstadt des Landes und gab Mosambik auch seinen Namennull DW/J.Beck

Portugal habe viel unternommen, um die negativen Seiten der gemeinsamen Geschichte zu verarbeiten und gleichzeitig die positiven Seiten der historischen Verbindungen hervorzuheben, so Cardoso: "Die positiven Aspekte beruhen vor allem auf der gemeinsamen Sprache. Wenn sich São-Tomeser, Kapverder, Angolaner oder Portugiesen im Ausland treffen, dann unterhalten sie sich selbstverständlich auf Portugiesisch und verbrüdern sich."

Das heiße nicht, dass die jeweiligen Regierungen immer im Einklang seien. Ein Beispiel für konträre Positionen in internationalen Fragen sei die Positionierung bezüglich des Krieges zwischen Russland und der Ukraine. "Die Trennlinien in der Ukrainefrage verlaufen quer durch die portugiesischsprachigen Länder. Einige der Länder Afrikas haben sich bei den Abstimmungen in der UNO über die Verurteilung des russischen Angriffskrieges der Stimme enthalten, im Gegensatz zu Portugal", so Cardoso.

Bei allen Auseinandersetzungen, die immer wieder auf Regierungsebene in Erscheinung treten: Die Begegnungen zwischen den Menschen in den verschiedenen lusophonen Ländern nehmen stetig zu. "Die Leute treten gemeinsam auf, nehmen gemeinsam Schallplatten auf, sie organisieren gemeinsame Feste und Konzerte oder Sportveranstaltungen, oder sie geben gemeinsam Bücher über transnationale Themen heraus", fasst Fernando Cardoso zusammen. "Vor 50 Jahren, in den Wirren der Nelkenrevolution, hätte ich nicht zu träumen gewagt, dass sich die Begegnungen - sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht - so gut entwickeln."

Portugiesen wandern nach Angola aus

 

ECOWAS-Staatenbund vor Reform oder Untergang

"Die ECOWAS wird nur eine Zukunft haben, wenn ihre Mitgliedsländer sich auf den Geist des Panafrikanismus besinnen, sich zusammenraufen und an einem Strang ziehen", sagt Carlos Pereira, politischer Analyst und Aktivist aus Guinea-Bissau, im DW-Interview. Die Zusammenarbeit und Integration der Region sei wichtiger denn je - aber zurzeit praktisch inexistent, fügt Pereira, der seit vielen Jahren die Entwicklung der ECOWAS beobachtet, hinzu.

Lange galt die ECOWAS als institutionell am weitesten entwickelte Regionalorganisation in Afrika. Diesen Ruf hat sie jetzt in den Augen vieler verspielt, denn nach Militärputschen in verschiedenen Ländern ist die Region an der Belastungsgrenze. Der Organisation fehle es an Autorität, Legitimation und effektiven Sanktions- und Interventionsinstrumenten, sagt Pereira. Deutlich sichtbar seien die Probleme hervorgetreten, als die drei Sahel-Länder Mali, Niger und Burkina Faso im Januar 2024 ihren Austritt aus der ECOWAS erklärten. Diese Austritte hätten die Regionalorganisation in eine tiefe Krise gestürzt, fasst der Analyst die Lage zusammen.

Auslöser waren Militärputsche in allen drei betroffenen Staaten, auf die die ECOWAS zunächst konsequent reagierte: Auf eilig einberufenen Gipfeltreffen beschloss man regelmäßig Sanktionen gegen die Putschisten und forderte vehement die Wiedereinsetzung der abgesetzten Machthaber. Diese Linie ließ sich aber nicht durchhalten. Inzwischen gelten die Sanktionen in allen drei Fällen als komplett gescheitert.

Senegal fordert radikale Reformen der ECOWAS

Vor Kurzem ist ein weiterer potenzieller Instabilitätsfaktor für die Region hinzugekommen: Der im März gewählte neue Präsident Senegals, Bassirou Diomaye Faye, der sich bereits im Wahlkampf als "Kandidat des Bruchs mit der Vergangenheit" bezeichnet hatte, äußerte wiederholt Verständnis für die Putschisten-Regime in Mali, Burkina Faso und Niger - und ruft immer lauter nach "radikalen Veränderungen in der ECOWAS".

Für Senegals neuen Präsidenten stehen viele Gewissheiten aus der Vergangenheit längst zur Disposition: So gehört es zu Fayes wichtigsten Wahlversprechen, zu prüfen, ob die Währung der Region - der Franc CFA - abgeschafft werden soll. Der stammt noch aus der französischen Kolonialzeit und ist heute an den Euro gebunden. Faye will außerdem Fischereiverträge mit der EU neu verhandeln und Verträge mit europäischen Firmen, die große Erdgasvorkommen vor Senegals Küsten ausbeuten wollen, einer kritischen Prüfung unterstellen. Möglichst viele ECOWAS-Partner sollten dem Beispiel Senegals folgen, appelliert die Regierung in Dakar.

Senegals neu gewählter Präsident Bassirou Diomaye Faye
ECOWAS- und europakritisch: Senegals neu gewählter Präsident Bassirou Diomaye Fayenull Zohra Bensemra/REUTERS

Viele politische Beobachter in der Region fragen sich seit Fayes Wahl, ob im Senegal ein Präsident regiert, der die ECOWAS zum Sündenbock für die Fehler der Vergangenheit machen wird, so wie das die Putschisten-Regierungen in Mali, Burkina Faso und Niger tun. Letztere wenden sich nicht nur immer mehr von der ECOWAS und auch vom Westen ab, sondern wenden sich gleichzeitig - vor allem in Sicherheits- und Militärfragen - Russland und China zu.

Wird die ECOWAS Bestand haben?

Angesichts dieser Entwicklungen müsse sich in der ECOWAS vieles ändern, sagt der nigrische Politikanalyst Dicko Abdourahamane im DW-Interview. Wenn nichts unternommen werde, könne dies ihr "systematisches Verschwinden" bedeuten.

Welche Schritte wären jetzt nötig, um das Überleben der ECOWAS langfristig sicherzustellen? Für den Bissau-guineischen Aktivisten Carlos Pereira kann das nur gelingen, wenn die politischen Führer der Region es schaffen, eine neue "panafrikanistische Vision" zu entwickeln.

Übergangspräsidenten von Mali: Assimi Goïta. Niger: Abdourahamane Tiani, von Burkina Faso: Ibrahim Traoré
Übergangspräsidenten von Mali, Niger und Burkina Faso: Assimi Goïta, Abdourahamane Tiani, Ibrahim Traoré (von links)null Francis Kokoroko/REUTERS; ORTN - Télé Sahel/AFP/Getty; Mikhail Metzel/TASS/picture alliance

Eine ähnliche Position vertritt der senegalesische Journalist Hamidou Sagna: "Das Überleben der ECOWAS ist nur möglich, wenn alle beteiligten Länder der Region das Konzept der Demokratie als wichtiger erachten als ihre partikulären wirtschaftlichen Interessen", formuliert er gegenüber der DW. "Nur dann ist es möglich, echte Reformen durchzuführen, sodass die ECOWAS wirklich den Völkern der Mitgliedsstaaten in dieser Region Afrikas dient."

Rückkehr der Putschisten-Regime zur ECOWAS?

Ein schneller Wiedereintritt von Niger, Burkina Faso und Mali in die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft gilt den meisten politischen Beobachtern in der Region als sehr unwahrscheinlich. Die betreffenden Länder hätten sich der Kontrolle der ECOWAS entzogen und hätten sich mit ihrer neuen Rolle arrangiert, beschreibt Analyst Pereira die Lage. Der einzige Weg, diese Länder vielleicht noch zu einem Wiedereintritt in die ECOWAS zu bewegen, sei, alle Sanktionen aufzuheben.

Malischer Mann sitzt vor einem Porträt des russischen Präsidenten Putin während einer Demonstration zur Feier der Ankündigung Frankreichs, französische Truppen aus Mali abzuziehen
Frankreichs Truppenabzug aus Mali war auch ein Sieg für Russland - wie dieses Banner zeigt, mit dem Malier die Ankündigung 2022 feiertennull Florent Verges/AFP

Genau diese Strategie verfolgt augenscheinlich Nigerias Präsident Bola Tinubu, der zurzeit den ECOWAS-Vorsitz innehat. Bereits Ende Februar erklärte er, dass die gesperrten Land- und Luftgrenzen zu den sanktionierten Ländern wieder geöffnet werden sollten. Handels- und Finanztransaktionen zwischen den Staaten sollten wieder möglich sein. Nur persönliche und politische Sanktionen sollten bis auf Weiteres weiterbestehen.

Militärdiktaturen kehren ECOWAS den Rücken

Der nigrische Politikanalyst Dicko Abdourahamane bleibt dennoch skeptisch: Die drei Länder unter Militärherrschaft hätten mit ihrer eigenen Organisation namens "Sahel-Staaten-Allianz" (AES) längst Tatsachen geschaffen, die nicht so einfach rückgängig zu machen seien: "Wenn Niger, Burkina Faso und Mali wirklich irgendwann wieder beitreten sollten, wird das höchstwahrscheinlich nur im Rahmen und im Namen der AES geschehen können."

Wenn es darum gehe, die drei Staaten zur Rückkehr zu überreden, könne Senegals neuer Präsident eine Schlüsselrolle übernehmen, sagt Journalist Hamidou Sagna: "Diese drei Sahel-Länder haben die Position von Senegals neuem Präsidenten ihnen gegenüber überaus positiv aufgenommen. Sie haben die große Hoffnung, dass sich Senegal ihren Positionen annähert."

Und tatsächlich gebe es in mehreren Punkten gewisse Übereinstimmungen. Doch auch Sagna rechnet kurz- und mittelfristig nicht damit, dass das Wirtschaftsbündnis wieder zusammenwächst. Damit steht das Fortbestehen der ECOWAS weiter auf dem Spiel.

Mitarbeit: Djariatú Baldé

Pariser Sudan-Konferenz: ein Fünkchen Hoffnung?

Die mit Goldverzierungen dekorierte Decke und die eleganten Kronleuchter des Raums, in dem an diesem Montagmorgen die Auftaktpressekonferenz stattfand, standen in starkem Kontrast zu deren Anlass: der Bürgerkrieg im Sudan. "Wir bringen Regierungen, internationale und regionale Organisationen zusammen, um sie zu unterstützen", sagte Stéphane Séjourné, der Außenminister Frankreichs. Das Land richtete die Konferenz gemeinsam mit Deutschland und der Europäischen Union aus. "Wir wollen, dass humanitäre Hilfe in alle Teile des Sudans gebracht werden kann, und wir wollen auf eine Waffenruhe und einen demokratischen Übergang zu einer zivilen Regierung hinarbeiten."

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock fügte hinzu, dass man dem Sudan dringend mehr Beachtung schenken müsse. "Nichtsdestotrotz schwingt am heutigen Tag auch die angespannte Lage im Nahen Osten mit – wir sehen in der Welt, dass wir so viele Konflikte haben, die aus den Schlagzeilen geraten", sagte sie. Experten begrüßten die Initiative, auch wenn nicht alle glauben, dass sie einen entscheidenden Friedensanstoß geben könne.

Frankreich I Internationale humanitäre Konferenz für Sudan und Nachbarländer
Der für Krisenhilfe zuständige EU-Kommissar Janez Lenarcic, Deutschlands Außenministerin Annelena Baerbock, Frankreichs Außenministerin Stéphane Séjourné und der EU-Außenbeauftragte Josep Borell (v. r.) bei der Konferenz in Parisnull Thomas Koehler/IMAGO

Dabei drängt die Zeit. Seit einem Jahr herrscht im Sudan zwischen den sudanesischen Streitkräften (SAF) und den sogenannten schnellen Eingreiftruppen (RSF) sowie verbündeten Milizen Krieg. Der  hatte sich entzündet, als sich der Kommandeur der RSF, Mohammed Hamdan Dagalo alias Hemedti, geweigert hatte, seine Truppen der Befehlsgewalt der SAF – unter der Führung von Abdel Fattah al-Burhan – zu unterstellen. Al-Burhan war Teil einer Übergangsregierung, nachdem der Diktator Omar al-Bashir nach 30 Jahren autoritärer Herrschaft im April 2019 gestürzt worden war. Eigentlich sollten auf diese Übergangsregierung 2022 demokratische Wahlen folgen, doch Al-Burhan blieb durch einen Putsch an der Macht, zunächst mit Hemedtis Unterstützung – bis die beiden sich überwarfen. Laut Vereinten Nationen (UN) könnte es dort bald zur größten Hungerkatastrophe der Welt kommen – mit etwa 18 Millionen Menschen, etwa der Hälfte der sudanesischen Bevölkerung kurz vor der Hungersnot. Experten sprechen von der größten Vertreibungskrise der Welt – mehr als acht Millionen Menschen sind auf der Flucht.

Die Hälfte der laut UN benötigten Gelder sind zusammengekommen

In Paris fand nun die zweite humanitäre Konferenz seit Beginn des Krieges statt. Im Juni 2023 hatten in Genf europäische Länder, die USA und arabische Staaten 1,4 Milliarden Euro Hilfszahlungen versprochen. Für dieses Jahr sprechen die UN von einem Bedarf an humanitärer Hilfe in Höhe von rund vier Milliarden Euro für den Sudan und die Nachbarländer, in die Hunderttausende Flüchtlinge geflohen sind. In Paris versprachen jetzt mehr als 50 Staaten und die EU mehr als zwei Milliarden Euro.

Der sudanesische Machthaber Abdel Fattah al-Burhan (l.)
Der sudanesische Machthaber Abdel Fattah al-Burhan (r.)null Mahmoud Hjaj/AA/picture alliance

Doch laut Ibrahim Modi, Gründer der sudanesischen Hilfsgruppe Vereinigte Friedensorganisation (UPO) und ehemaliger Vorsitzender des Forums der Sudanesischem Nichtregierungsorganisationen, zu dem 700 lokale Organisationen gehören, wären eigentlich Hilfsgelder in Höhe von acht Milliarden Euro nötig. "Zudem ist in der Vergangenheit immer nur ein Bruchteil des versprochenen Geldes vor Ort angekommen – auch deswegen, weil wir uns auf ein altes System verlassen", sagt er zu DW.

"Anstatt hauptsächlich Hilfskonvois zu nutzen, sollte man lokale NGOs stärker mit einbeziehen – die kommen vor Ort zurecht und haben die nötigen Verbindungen." Damit spielt Modi darauf an, dass Al-Burhan im Februar ankündigte, die Grenzen zum Tschad zu schließen. Von dort soll Hemedti, dessen Basis im westlichen Darfur liegt, mutmaßlich Waffen erhalten haben. Internationale Hilfsorganisationen berichten seitdem von Schwierigkeiten, an Visa und andere Genehmigungen zu kommen. Cindy McCain, geschäftsführende Direktorin des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen, pflichtet Modi bei. "Wir brauchen die Hilfe lokaler NGOs. Sie arbeiten in Teilen des Landes, zu denen wir keinen Zugang haben", sagte sie in  Paris gegenüber der Presse.

Bürokratische Hürden, um mit lokalen NGOs zusammenzuarbeiten

Aus französischen Diplomatenkreisen hieß es zwar, man unterstütze auch lokale NGOs, aber Gerrit Kurtz, Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, bestätigt, dass nur ein kleiner Teil der Gelder bei lokalen Organisationen ankomme. "Internationale Geldgeber tun sich sehr schwer, mit denen zusammen zu arbeiten, weil das keine registrierten Organisationen mit einem langen Track-Record sind. Sie haben Schwierigkeiten, in ihren bürokratischen Prozessen mit so etwas umzugehen. Das muss besser werden – obwohl man natürlich auch weiterhin die UN braucht", erklärt er gegenüber DW.

Teilnehmer der Konferenz am Verhandlungstisch
Teilnehmer der Konferenz am Verhandlungstischnull Sarah Meyssonnier/REUTERS

Vertreter von rund 15 Regierungen – aus Europa, Nachbarländern und den USA – verhandelten zudem in Paris über bestehende Friedensinitiativen. Das begrüßte der Außenminister des Tschads: "Wir müssen Druck aufbauen, um eine unmittelbare Waffenruhe zu ermöglichen. Der Sudan ist kurz davor, auseinanderzufallen", sagte Mahamat Saleh Annadif vor Ort.

Doch Thierry Vircoulon, Koordinator der Beobachtungsstelle für Zentral- und das südliche Afrika der Pariser Denkschmiede Ifri, bezweifelt, dass diese Konferenz unter europäischer Ägide viel zu einer friedlichen Lösung des Konfliktes beitragen wird. "Bisher haben sich beide Seiten nicht auf Friedensverhandlungen eingelassen", sagt er gegenüber DW. "Und europäische Staaten haben in dieser Region wenig Einfluss – man wird sie wohl kaum als Vermittler akzeptieren."

Experte Kurtz glaubt, eine Konferenz in Paris könne durchaus die internationale Aufmerksamkeit auf den Sudan-Konflikt lenken. Auf positiven Elan hofft auch Ehsan Babiker von der sudanesischen NGO Nida, die an der Konferenz teilnahm – selbst wenn sie sich mehr als zwei Milliarden Euro Zusagen erhofft hätte. "Der Sudan braucht massive Unterstützung – ich hoffe, diese Konferenz ist nur ein erster Schritt", sagte sie zu DW.

Die Entführung von Chibok: Zehn Jahre und kein Ende

In der Nacht des 14. April 2014 stürmen Dutzende Kämpfer der militanten islamistischen Gruppe Boko Haram ein Schulwohnheim für Mädchen in der abgelegenen Stadt Chibok, einer kleinen christlichen Enklave im überwiegend muslimischen Nordosten Nigerias.

Die 276 Schülerinnen, die meisten im Alter zwischen 16 und 18 Jahren, werden mit vorgehaltener Waffe durch den Wald zu wartenden Lastwagen getrieben, nachdem die Kämpfer die Schulgebäude in Brand gesetzt haben. Es ist ein Überfall, der in die Geschichte eingehen wird - auch, weil viele der Mädchen für Jahre verschollen bleiben.

Erst nach und nach wurden Details der Entführung bekannt. Die Berichte von Rückkehrenden haben daran einen entscheidenden Anteil. 57 Mädchen gelang in den Stunden nach der Entführung die Flucht. Einige versteckten sich im Gebüsch, andere sprangen von den Fahrzeugen, als sie durch die dunkle Nacht des Sambisa-Waldes fuhren, der zum Versteck von Boko Haram geworden war.

Eine derjenigen, denen die Flucht gelang, erzählte Human Rights Watch, dass ein Milizionär die Schülerinnen im Lastwagen fragte: "Nach welcher Art von Wissen sucht ihr hier [in der Schule]? Da ihr hier nach westlicher Bildung sucht, sind wir hier, um sie zu bekämpfen und euch den Weg des Islam zu lehren.

Warum war es so einfach, die Schülerinnen zu entführen?

Nach Angriffen von Boko Haram waren zahlreiche Schulen in der Region bereits im März geschlossen worden, darunter die Sekundarschule von Chibok. Die Terrorgruppe hatte 2009 eine bewaffnete Rebellion gegen die nigerianische Regierung begonnen, um einen islamischen Staat zu gründen. Sie war bekannt für ihre feindselige Haltung gegenüber dem westlichen Bildungssystem.

Doch die von der Regierung betriebene Schule in Chibok wurde extra geöffnet, damit die Schülerinnen ihre Abschlussprüfungen ablegen konnten. Viele Mädchen reisten aus umliegenden Dörfern an, deren Schulen geschlossen blieben.

Obwohl im Bundesstaat Borno der Ausnahmezustand galt, waren keine Soldaten an der Schule stationiert, und die beiden Wächter, die das Gelände bewachten, flohen, als sich die Kämpfer näherten.

Eine andere Gruppe von Boko-Haram-Kämpfern schoss auf die 17 im Stadtzentrum stationierten Sicherheitskräfte, die vor der Übermacht in den nahen Wald flohen.

Laut Untersuchungen, die unter anderem von der Menschenrechtsorganisation Amnesty International angestellt wurden, rollte der Boko-Haram-Konvoi zuvor bereits durch Nachbardörfer. Deren Bewohner hätten daraufhin - mehrere Stunden vor dem Angriff - auch die Militärbasis in Maiduguri, der Hauptstadt des Bundesstaats Borno, angerufen. Doch das Militär war offenbar nicht in der Lage, kurzfristig Truppen für die 125 Kilometer lange Fahrt nach Chibok zu mobilisieren. So konnte Boko Haram die schutzlosen Mädchen entführen.

Was geschah mit den Schülerinnen?

Kurz nach den Entführungen drohte der Anführer der Gruppe, Abubakar Shekau, damit, die Mädchen als Sklavinnen zu verkaufen. Tatsächlich zwangen die Entführer viele der Mädchen, zum Islam zu konvertieren, Boko-Haram-Kämpfer zu heiraten und ihnen Kinder zu gebären. Oft wurden sie mehrfach verheiratet, da viele der Männer bei Kämpfen getötet wurden.

In den folgenden Jahren gab es kaum Lebenszeichen von den entführten Schülerinnen, allein zwei junge Frauen wurden zwischen Mai und September 2016 gefunden. Doch durch Vermittlung des Internationalen Roten Kreuzes wurden schließlich zahlreiche Mädchen freigelassen - laut Berichten geschah dies im Rahmen eines Gefangenenaustauschs.

Zwei halb geschlossene Hände halten mit den Zeigefingern das Passbild eines jugendlichen Mädchens
Zainabu Mala hält 2019 ein Bild ihrer entführten Tochter Kabunull Audu Ali Marte/AFP

Mehr als 100 Mädchen sind seitdem freigelassen worden. Diejenigen, die zurückgekehrt sind, berichteten von Schlägen, ständigem Hunger und Schlimmerem. Sie wurden meist in einfachen Hütten im Sambisa-Wald gefangen gehalten.

"An dem Ort, wo ich gefangen gehalten wurde, war es sehr schlimm. Das hatten wir nicht erwartet. Wir haben dort gelitten. Wir waren hungrig", sagte die Chibok-Überlebende Mary Dauda gegenüber Amnesty International. 82 der jungen Frauen werden bis heute vermisst.

Welche Rolle hat #BringBackOurGirls gespielt?

Die Regierung des damaligen Präsidenten Goodluck Jonathan gab die Entführungen nur zögerlich zu und unternahm lediglich halbherzige Versuche, die Mädchen zu retten. Doch dann startete eine Gruppe von Nigerianern die Twitter-Kampagne #BringBackOurGirls. Sie wurde von Prominenten wie der Hollywood-Schauspielerin Angelina Jolie und der amerikanischen First Lady Michelle Obama geteilt und löste in den sozialen Medien eine weltweite Empörung aus.

Nigeria Lagos 2019 | Plakat am Straßenrand: "112 #ChibokGirls are still missing; darunter Schattenrisse von vermissten Schülerinnen, im Hintergrund Verkehr
Bis heute bleiben Dutzende der Chibok-Schülerinnen vermisst - und das Mittel der Entführung kommt weiter zum Einsatznull Olukayode Jaiyeola/NurPhoto/picture alliance

Infolge der Social-Media-Kampagne kam es in Nigeria und anderswo auch zu tatsächlichen Demonstrationen. Daraufhin versprach Präsident Jonathan, die Schülerinnen zu finden, und die Polizei setzte eine Belohnung von 300.000 Dollar aus, damals umgerechnet rund 220.000 Euro. Der damalige US-Präsident Barack Obama entsandte sogar ein Team von Beratern, um das nigerianische Militär bei der Suche zu unterstützen, obwohl die nigerianischen Behörden zögerten, internationale Hilfe anzunehmen.

Warum wirken die Chibok-Entführungen noch heute nach?

Boko Haram hat im Jahr vor dem Überfall in Chibok etwa 50 Schulen angegriffen und Dutzende von Kindern entführt. Doch mehrere Faktoren haben dazu beigetragen, dass die Entführung der Chibok-Mädchen auch zehn Jahre später noch große Aufmerksamkeit erfährt.

Chibok war der Beginn groß angelegter Entführungen in Nigeria, wie sie auch heute noch stattfinden - auch wenn heute eine größere Zahl von Akteuren an Entführungen beteiligt ist.

Anfang März dieses Jahres wurden fast 300 Kinder aus einer Schule in Kigura im Nordwesten Nigerias entführt. Viele von ihnen kamen später frei. Wenige Tage zuvor waren im Bundesstaat Borno bereits 200 Menschen entführt worden - größtenteils Frauen und Kinder.

Fast 300 Schulkinder in Nigeria entführt

Dazu kommt der mangelnde Einsatz der Behörden, die Schülerinnen von Chibok zu befreien. Damit wurde der Fall zu einem berüchtigten Beispiel für das Versagen der nigerianischen Regierung beim Schutz der Menschen - damals wie heute.

Vor allem Schülerinnen und Schüler sind die Leidtragenden. Nach Angaben der Kinderhilfsorganisation Save the Children wurden in Nigeria von April 2014 bis Mitte 2023 mehr als 1680 Kinder entführt.

Allein im Bundesstaat Katsina blieben im Jahr 2023 fast 100 Schulen wegen der unsicheren Lage geschlossen. Und die Angst vor Entführungen ist ein wichtiger Grund für Nigerias Kinder, der Schule fernzubleiben.

Aus dem Englischen adaptiert von Philipp Sandner.

Tod von Soldaten im Kongo stellt SADC-Mission infrage

Der Einsatz gegen Rebellen im Osten der Demokratischen Republik Kongo hat erneut Soldaten aus dem Ausland das Leben gekostet. Die drei Tansanier waren im Rahmen einer Mission der südafrikanischen Entwicklungsgemeinschaft SADC dort stationiert. Sie wurden getötet, als Rebellen ihre Stellungen mit Granaten beschossen. Drei weitere SADC-Soldaten wurden bei dem Angriff verletzt.

Wieder steht die Frage im Raum, inwieweit die noch junge SADC-Mission im Kongo (SAMIDRC) in der Lage ist, die Rebellion der M23 (Bewegung des 23. März) zu beenden.

Neben tansanischen Soldaten kämpfen auch Südafrikaner und Malawier in der Mission. Die ersten SADC-Truppen waren im Dezember entsandt worden, nachdem das Mitgliedsland DR Kongo einen Hilferuf gestartet hatte. Die Regierung in Kinshasa hatte sich auf den Verteidigungspakt des Staatenbunds berufen.

Dass Soldaten bei ihrem Einsatz ums Leben gekommen sind, nennt Gilbert Khadiagala, Experte für internationale Beziehungen, im DW-Gespräch "in hohem Maß besorgniserregend". Der Vorfall zeige die Entschlossenheit der M23, ihre weitreichenden Angriffe im Osten des Landes fortzuführen.

Die M23, die als zerschlagen galt, hatte Ende 2021 erneut zu den Waffen gegriffen. Seitdem hat sie weite Teile der kongolesischen Provinz Nord-Kivu erobert. Zuletzt auch mehrere strategisch wichtige Städte am Rande der Provinzhauptstadt Goma.

Durch das jüngste Aufflammen der Kämpfe hat sich die ohnehin schon katastrophale humanitäre Situation weiter verschlechtert: Mehr als 6,3 Millionen Menschen sind im Kongo auf der Flucht.

Angriff auf Stützpunkt bei Goma

Die drei Soldaten wurden bei einem Angriff auf den SAMIDRC-Stützpunkt in Mubambiro getötet. Der Stützpunkt liegt etwas außerhalb der Stadt Sake, etwa 20 Kilometer von Goma entfernt. Hier waren bereits Mitte Februar zwei südafrikanische Soldaten durch eine Mörsergranate getötet und drei weitere verletzt worden.

Soldaten geleiten einen Sarg mit südafrikanischer Flagge, trauernde Frauen im Hintergrund
Erst vor Kurzem waren zwei südafrikanische Soldaten beim Einsatz im Kongo getötet wordennull Marco Longari/AFP

"Das zeigt, wie verletzlich dieser Stützpunkt ist", antwortet Piers Pigou, Programmleiter für das südliche Afrika beim Institut für Sicherheitsstudien in Pretoria, auf eine DW-Nachfrage. "Und weil die Kämpfer weiter auf Artillerie setzen, ist es wahrscheinlich, dass dies so bleiben wird. Das wirft die Frage auf, ob die SAMIDRC in der Lage ist, solche Stützpunkte zu verteidigen und wann sie über die erforderlichen Verteidigungsmöglichkeiten verfügen wird."

M23 gewinnt an Stärke

Die Demokratische Republik Kongo, die Vereinten Nationen (UN) und viele westliche Länder beschuldigen Ruanda, die M23-Rebellen zu unterstützen, um die reichen Bodenschätze der Region zu kontrollieren. Diese Anschuldigung hat Kigali wiederholt zurückgewiesen.

Die M23-Rebellen verfügen inzwischen über militärische Waffen, die normalerweise nicht mit Milizen in Verbindung gebracht werden. Darunter befinden sich hochentwickelte Sturmgewehre, GPS-gesteuerte Langstreckenmörser und Boden-Luft-Raketen.

Die M23 sei heute "ganz anders" ist als 2013, als internationale Truppen die Rebellengruppe im Kongo besiegten, nachdem sie vorübergehend Goma eingenommen hatte, sagt Stephanie Wolters, Expertin für die Region der Großen Seen. Jetzt sei die M23 eine "sehr entschlossene militärische Kraft" und werde "stark von Ruanda unterstützt".

"Ruanda ist hoch motiviert", stellt die Senior Research Fellow am Südafrikanischen Institut für Internationale Angelegenheiten (SAIIA) fest. "Ich denke, es wird so viel wie möglich in die Unterstützung der M23 investieren, um eine Niederlage zu vermeiden."

SADC-Mission ist unterbesetzt und unterversorgt

Der M23 steht eine SADC-Truppe gegenüber, die deutlich kleiner ist als die ursprünglich zugesagten 5000 Soldaten. Die Leiterin der UN-Friedensmission MONUSCO im Kongo, Bintou Keita, sagte dem UN-Sicherheitsrat Ende März, dass 2000 SADC-Soldaten im Kongo eingesetzt seien.

Immer mehr Flüchtlinge in der DR Kongo

Südafrika hatte 2900 Soldaten angekündigt, doch südafrikanische Medien haben bislang nur etwa 600 Soldaten gezählt. Malawi und Tansania wollten 2100 Soldaten schicken. Analyst Piers Pigu hält es für unwahrscheinlich, dass die zugesagte Truppenstärke voll ausgeschöpft werden wird - eine Einschätzung, die andere Analysten teilen.

Außerdem mangelt es der SAMIDRC an essenzieller Ausrüstung. In einem Interview mit dem südafrikanischen Sender Newzroom Afrika erklärte die Gewerkschaft des südafrikanischen Militärs, die Soldaten hätten nicht genügend Feldküchen, Feldlazarette oder medizinisches Personal. Insbesondere haben Experten wiederholt kritisiert, dass es der Mission an Luftfahrzeugen wie Transport- und Kampfhubschraubern mangele. Diese gelten als unverzichtbar, um die M23 im schwierigen Gelände des Ostkongo zu besiegen.

Die dichten Wälder und die "hohe Mobilität der Rebellengruppen" verlangen besondere Maßnahmen. "Das bedeutet, dass robuste Luftkapazitäten für eine effektive Gebietsüberwachung, eine schnelle Verlegung der Truppen und logistische Unterstützung von entscheidender Bedeutung sind", schrieb Militäranalyst Darren Oliver in einem Artikel für SA Flyer, Afrikas größtes Luftfahrtmagazin. Nur so gebe es eine realistische Chance, die Rebellen aufzuspüren, einzudämmen und zu besiegen.

Vielfalt der Akteure

Die SADC-Truppen bekämpfen die Rebellen jedoch nicht allein. Sie sind Teil einer informellen Koalition, zu der die kongolesische Armee, Streitkräfte aus den Nachbarländern Burundi und Uganda sowie mit der kongolesischen Regierung verbündete bewaffnete Gruppen gehören.

Blick aus einem PKW auf einen Pickup mit burundischen Soldaten in Minova, Kongo
Burundis Beteiligung ist nicht offiziell - aber Soldaten des Nachbarlandes wurden schon gesichtet, wie hier in Minova im Südkivunull ALEXIS HUGUET/AFP

Die Vereinten Nationen haben unterdessen mit dem Abzug ihrer 15.000 Einsatzkräfte begonnen: Seit Jahren hatte es Kritik am Vorgehen und der vermeintlichen Untätigkeit der Blauhelme gegeben. Zuletzt hatte Kinshasa die MONUSCO aufgefordert, zu gehen, weil es ihr nicht gelungen sei, die Sicherheit im Land zu garantieren.

"Die beste denkbare Situation ist, dass die SADC ausreichend militärischen Druck auf die M23 ausüben, um Ruanda zu zwingen, sich auf Verhandlungen einzulassen und seine Unterstützung der M23 zurückzufahren", sagt Analystin Stephanie Wolters. "Es muss eine politische Lösung geben. Das hier wird sich nicht militärisch lösen lassen."

Aus dem Englischen adaptiert von Philipp Sandner.

Sudan: Ausländische Akteure befeuern den Krieg

"Zentral-Darfur ist eine humanitäre Wüste." So umriss Christos Christou, der Direktor der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen, Anfang dieser Woche die Auswirkungen des vor einem Jahr ausgebrochenen Krieges im Sudan. In den Flüchtlingslagern in einem der am stärksten betroffenen Gebiete herrschten entsetzliche Zustände. Es fehle an Trinkwasser, Lebensmitteln und sonstiger Versorgung. Die hygienischen Bedingungen seien katastrophal. Im Kurznachrichtendienst X forderte er die Weltgemeinschaft zu verstärkter Hilfe auf.

Rund 18 Millionen Menschen litten unter Hunger, meldete vor wenigen Wochen das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen. Die meisten von ihnen hielten sich in Regionen auf, die für Hilfsorganisationen kaum oder gar nicht zugänglich seien, so das UN-Hilfswerk. Es drohe eine humanitäre Katastrophe.

Sudanesische Kriegsflüchtlinge nehmen in einem Lager im Tschad Lebensmittelhilfen entgegen
Angewiesen auf das Nötigste: Sudanesische Kriegsflüchtlinge im Tschad null David Allignon/MAXPPP/dpa/picture alliance

Militärs und Politiker gleichermaßen für Gewalt verantwortlich

Seit April vergangenen Jahres stehen sich im Sudan zwei große militärische Gruppen gegenüber: die sudanesischen Streitkräfte (SAF) und die sogenannten schnellen Eingreiftruppen (RSF) sowie zunehmend verbündete Milizen- und Splittergruppen. Der Konflikt hatte sich daran entzündet, dass sich der Kommandeur der RSF, Mohammed Hamdan Dagalo alias Hemedti, geweigert hatte, seine Truppen der Befehlsgewalt der SAF zu unterstellen, obwohl dies zuvor in einem nationalen Dialog vereinbart worden war.

Aber auch Teile der zivilen Akteure trügen Verantwortung für die Gewalt, sagt Osman Mirghani, Chefredakteur der sudanesischen Zeitung "Al-Tayyar", im Gespräch mit der DW. Trotz des im Dezember 2022 unterzeichneten Rahmenabkommens hätten einige Akteure ihre Interessen um jeden Preis durchsetzen wollen und darum Verbindungen zu den militärischen Gruppen des Landes aufgenommen. "Leider versuchen alle politischen Parteien, ihre Macht auch um den Preis des Krieges zu behalten."

Systematische Vernichtung von Lebensmitteln

Für ihre Anliegen nehmen die beiden Parteien offensichtlich auch eine humanitäre Katastrophe in Kauf, sagt Marina Peter, Gründerin und Vorsitzende des Sudan- und Südsudan-Forum, im DW-Interview. In vielen Landesteilen könnten die Bauern aufgrund der Kämpfe und deren Auswirkungen nichts mehr anbauen. Zudem würden in traditionell fruchtbaren Regionen wie Dschasira oder White Nile Ernten und andere Lebensmittel gezielt vernichtet. "Insbesondere die RSF zünden in Gebieten, die sie zu unterwerfen trachten, Kornlager an. Außerdem verhindern sie gezielt den Zugang zu humanitärer Hilfe in diesen Gebieten."

Die Rolle internationale Akteure

Hinzu kämen die internationalen Akteure in dem Krieg, sagt Marina Peter. Ägypten etwa unterstütze die regulären Streitkräfte der SAF. "Die Regierung in Kairo steht der friedlichen Revolution und der Aussicht einer zivilen sudanesischen Regierung seit jeher skeptisch gegenüber. Sie wünscht sich eine Herrschaftsform wie im eigenen Land, also eine militärische Führung mit demokratischem Antlitz." Zugleich fürchte man, der Konflikt könne auch auf das eigene Land überspringen. Und aus Sorge um die Wasserversorgung durch den Nil suche die Regierung in Kairo vorzugsweise die Nähe zu den jeweiligen Machthabern. "Und das ist aus ägyptischer Sicht derzeit eben Abdel Fatah Burhan." 

Zudem hätten die SAF zuletzt einen neuen Partner gewonnen, so Peter: den Iran. "Sie haben dorthin einige stabile Beziehungen geknüpft. Inzwischen bekommen sie von dort etwa Drohnen geliefert."

Überleben im Sudan

Die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) hingegen setzen auf Mohammed Hamdan Dagalo. "Im Sudan befinden sich erhebliche Goldvorräte", so Peter. Deren Verkauf laufe ganz wesentlich über die VAE. "Die RSF haben seit langem Truppen aufgebaut, die den Abbau und Transport des Goldes organisieren." Zudem seien die VAE rigorose Gegner des politischen Islam und wollten unbedingt verhindern, dass wieder ein Islamist wie Omar al-Baschir die Macht in dem Land übernehme. "Das ist natürlich bizarr, denn sowohl Burhan als auch Hemedti sind politische Ziehsöhne des gestürzten Präsidenten Omar al-Baschir, der einen islamistischen Kurs fuhr. Allerdings versuchen die RSF sich als Gegner der alten Kader zu inszenieren - und haben darüber die VAE auf ihre Seite gezogen." Im Gegenzug werden die RSF von den VAE mit Waffen versorgt. 

Geliefert werden die unter anderem auch über Libyen. Diese Aufgabe hatte bis zum Sommer vergangenen Jahres die russische Söldnertruppe Wagner übernommen. Doch nach dem Tod ihres Kommandanten Jewgeni Prigoschin im August letzten Jahres nannte sich der Teil der in Afrika aktiven Gruppe um: Nun heißt sie "Afrikakorps" - in Anlehnung an die gleichnamige Armee des deutschen Feldmarschalls Erwin Rommel in Libyen während des Zweiten Weltkrieges. Deren Aufgabe sollte es sein, die britischen und französischen Kolonialreiche in Nordafrika zu erobern. Auch die russischen Söldner wollen den Einfluss ihres Landes in dieser Region offenbar ausweiten: "In Sudan verfolgt Russland bereits seit 2017 Pläne zum Bau eines Marinestützpunkts am Roten Meer - an der zentralen Schlagader des globalen Handels zwischen Europa und Asien", heißt es in einem Bericht der Tageszeitung (TAZ) vom März dieses Jahres.

Ein Stapel mit Getreidesäcken in Gedaref im Süden des Landes
Im Visier der Kriegsparteien: Lebensmittelvorräte. Im Bild ein Stapel mit Getreidesäcken in Gedaref im Süden des Landes null EBRAHIM HAMID/AFP/Getty Images

Ende des Konflikts wenig wahrscheinlich

Dass der Konflikt absehbar ein Ende finden würde, sei wenig wahrscheinlich, schreibt die Politologin Hager Ali vom Hamburger GIGA-Institut in einer Analyse. Die beiden Konfliktparteien seien womöglich gar nicht mehr in der Lage, die Gewalt einzuhegen, da sich ihre jeweiligen Kommandostrukturen teils aufgelöst hätten. Weitere Fraktionen seien bereits dabei, die Autorität von Al-Burhan und Dagalo auf kommunaler Ebene zu verdrängen und den Krieg für ihre eigenen Interessen zu nutzen.

Auch unter internationalen Aspekten sei ein Ende des Krieges derzeit eher unwahrscheinlich, so Ali. Der Sudan sei von großen Waffenschmuggelzentren umgeben. "Treibstoff, Munition, Waffen und andere Güter werden über Libyen, den Tschad, die Zentralafrikanische Republik und über das Rote Meer geschmuggelt. Waffen kommen auch aus Uganda und dem Südsudan. Die Vereinigten Arabischen Emirate und die Wagner-Gruppe arbeiten bei der Versorgung des Krieges über diese Länder eng zusammen."

Die Regierungen Norwegens und anderer westlicher Staaten sowie der EU veröffentlichten anlässlich des ersten Jahrestages des Kriegsausbruchs einen Appell, in dem sie die Kriegsparteien dazu aufriefen, die Kämpfe zu beenden und einen sofortigen Waffenstillstand auszuhandeln.

Sudanesische Binnenflüchtlinge: Zuflucht in den Nuba-Bergen

Afrika: Schmutzige Luft erhöht Gesundheitsrisiko

Im Herzen der kamerunischen Hauptstadt Yaoundé vibriert die Luft vom Brummen der Motoren. Abgase aus den Autos, von Fabriken, dazu der Qualm brennender Abfälle in Wohngebieten - das alles hüllt als grauer Smog die Stadt ein.

Felix Assah ist Mitarbeiter der Forschungsgruppe für Bevölkerungsgesundheit an der Universität Yaoundé. "Mit der Verstädterung und der wirtschaftlichen Entwicklung nehmen die Luftverschmutzung in städtischen Gebieten, aber auch die Krankheiten zu", sagt Assah zur DW. Dazu zählten Erkrankungen des Herzkreislaufsystems, der Atemwege und Krebs.

Fachleute und Organisationen, die sich für eine sauberere Luft in Afrika einsetzen, trafen sich kürzlich in Yaoundé. Sie diskutierten wie sie zusammen die Luftqualität mit moderner und günstiger Sensortechnologie kontrollieren können.

Innovative Technologie

Bisher sei die Messung kostspielig gewesen, doch es gebe innovative Fortschritte, sagt Deo Okure, Wissenschaftler für Luftqualität an der Makerere-Universität in Kenia. Mit Forscherkollegen entwickelte Okure 2015 ein "lokales Luftüberwachungssystem", das günstiger ist, aber trotzdem wirksam. Ein Vorteil: Das System könne mit verschiedenen Energiequellen betrieben werden, erklärt Okure: "Gleichzeitig sind wir in der Lage, Daten über GSM oder Sim-Karten zu übertragen, die in allen Teilen Afrikas verwendet werden, anstatt WLAN zu benötigen." Die Technologie liefere zwar wichtige Daten, aber das sei immer noch unzureichend, sagt Okure, da damit noch nicht die Quellen der Luftverschmutzung eindeutig bestimmt werden können.

Männer verbrennen Elektroschrott unter freiem Himmel
Diese Männer nahe Accra in Ghana wollen an Kupferkabel gelangen und verbrennen Elektroschrott unter freiem Himmel - der Qualm gelangt ungehindert in die Atmosphärenull The Yomiuri Shimbun/AP Photo/picture alliance / ASSOCIATED PRESS

In Yaoundé wurden im Rahmen eines Projekts Geräte installiert, die die Luftqualität in Echtzeit überwachen. Trotz technologischer Einschränkungen erwartet Ashu Ngono Stephanie vom kamerunischen Amt für Meteorologie, dass der Staub so besser im Blick behalten werden kann: "Es ist sehr wertvoll, Messgeräte vor Ort zu haben, denn so können wir genau verfolgen, was mit den Staubkonzentrationen in der Atmosphäre geschieht."

Yaoundé ist die zehnte afrikanische Stadt, die diese Technologie zur Überwachung der Luftqualität einsetzt. Mehr als 200 Überwachungsgeräte sind auf dem gesamten Kontinent installiert. Die gesammelten Daten dienen auch als Grundlage für politische Entscheidungen zur Verbesserung der Luftqualität.

Hohe Luftverschmutzung in Afrika

Aber Organisationen warnen: Die Messkapazitäten hinken der raschen Urbanisierung in Afrika hinterher. Der Kontinent ist in Studien unterrepräsentiert, weil Daten unzureichend oder gar nicht erhoben werden. So steht es auch im World Air Quality Report des Schweizer Technologie-Unternehmens IQAir, das sich auf den Schutz vor Luftschadstoffen, die Entwicklung von Produkten zur Luftqualitätsüberwachung und Luftreinigung spezialisiert hat.

In den Bericht fließen Daten von Messstationen in 134 Ländern und Gebieten aus dem Jahr 2023 weltweit. Allerdings: 34 Prozent der afrikanischen Bevölkerung sei gar nicht im Bericht vertreten, da es an öffentlich zugänglichen Daten zur Luftqualität mangelt, sagen die Autoren. Aus diesem Grund seien beispielsweise Länder wie Tschad und Sudan nicht Teil des aktuellen Berichts.

Der Bericht bezieht sich auf die sogenannten PM2,5-Werte. Das sind Feinstaubpartikel, die im Durchmesser nicht größer als 2,5 Mikrometer sind. Das entspricht ungefähr der Dicke von Spinnweben. Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt, dass von diesen Partikeln im Jahr durchschnittlich nicht mehr als 5 Mikrogramm je Kubikmeter in der Luft vorhanden sein sollten. 

Ägypten Kairo | Luftverschmutzung | Morgenansicht von Kairo mit Smog: Über dem Häusermeer von Kairo hängt grauer Dunst
Smog über Kairo: Ägypten zählt zu den größten Luftverschmutzern in Afrika laut Greenpeace Internationalnull imageBROKER/dpa/picture alliance

Die schmutzigsten Städte in Afrika, die in dem Bericht berücksichtigt wurden, überschreiten diesen Wert um das Acht- bis Elffache. Dazu gehören die Hauptstädte Kinshasa (Demokratische Republik Kongo), Kairo (Ägypten), Abuja (Nigeria) und Ouagadougou (Burkina Faso). Die Top-Plätze nehmen zwei Städte in Südafrika ein: Bloemfontein und die Kohlebergbau-Stadt Benoni. 

Vorzeitige Todesfälle

In punko Krankheiten durch Luftverschmutzung sind Ägypten, Nigeria und Südafrika die am stärksten verschmutzten Länder Afrikas. Zu diesem Ergebnis kommt die internationale Umweltschutzorganisation Greenpeace, die Ende März ihren Bericht zu den hauptsächlichen Luftverschmutzern in Afrika veröffentlichte. Untersucht wurden die wichtigsten Industrie- und Wirtschaftssektoren, einschließlich der Industrie für fossile Brennstoffe.

Daten von Satelliten und sogar Kraftstoffverkäufen in den einzelnen Ländern ermöglichten es, die Emissionsquellen zu untersuchen. "Wir haben herausgefunden, dass Satelliten, die die Luftverschmutzung überwachen, regelmäßig Emissionsschwerpunkte finden, die mit Wärmekraftwerken, Zementwerken, Metallhütten, Industriegebieten und städtischen Gebieten übereinstimmen", sagt Cynthia Moyo, Klima-und Energie-Kampagnenleiterin bei Greenpeace Africa in Johannesburg zur DW. "Sechs der zehn größten Stickstoffdioxid-Emissions-Hotspots der Welt und zwei der zehn größten Schwefeldioxid-Emissions-Hotspots befinden sich hier in Südafrika", betont Moyo.

Südafrika Kohlekraftwerk Lethabo: Kühltürme eines Kohlekraftkwerkes im Abendlicht, Rauchschwaden steigen aus den Türmen
Kohlekraftwerk Lethabo in Südafrika: Das Land nutzt hauptsächliche fossile Brennstoffe zur Energiegewinnungnull Themba Hadebe/dpa/AP/picture alliance

Gebiete wie Mpumalanga im Osten des Landes, wo die Kohleverbrennung zur Stromerzeugung ein wichtiger Wirtschaftszweig ist, stechen laut Moyo besonders hervor. Eskom, ein öffentliches Versorgungsunternehmen, dessen einziger Anteilseigner die südafrikanische Regierung ist, betreibt laut Greenpeace viele der umweltschädlichsten Kraftwerke Südafrikas.

Alarmierend findet Moyo, dass keine der Schlussfolgerungen zu den Schadstoffbelastungen in Afrika neu ist: Die Luftverschmutzungskrise in Afrika ist gut dokumentiert, sagt sie. Doch es fehle an Investitionen in saubere Energie. "Wenn die Menschen über Daten verfügen, haben sie eine Stimme, um Veränderungen zu fordern. Wir brauchen eine angemessene Umweltüberwachung, um unsere Regierung und die Verursacher von Umweltverschmutzung zur Rechenschaft zu ziehen."

Ruanda gedenkt der Opfer des Völkermords von 1994

Mehr als eine Million Menschen wurden in Ruanda 1994 zu Opfern - vor allem Angehörige der ethnischen Minderheit der Tutsi, aber auch gemäßigte Angehörige der Hutu-Mehrheit, die versuchten, die Tutsi zu schützen. Während eines 100-tägigen Massakers, das am 7. April begann, wurden sie systematisch von Hutu-Extremisten ermordet

Die Vereinten Nationen organisieren Veranstaltungen, um der Opfer zu gedenken und die Überlebenden zu ehren: "Wir werden die Opfer dieses Völkermordes niemals vergessen", sagte UN-Chef Antonio Guterres in einer Erklärung. "Ebenso wenig werden wir jemals den Mut und die Widerstandskraft derer vergessen, die überlebt haben."

Familienmassaker: ein persönliches Schicksal

Freddy Mutanguha, ein Tutsi, ist einer der Überlebenden. Zum Zeitpunkt des Völkermords war er 18 Jahre alt. Er hatte gerade Schulferien und war in seinem Heimatdorf in der Nähe der Stadt Kibuye, rund 130 Kilometer von Ruandas Hauptstadt Kigali entfernt. Hutu-Extremisten machten dort Jagd auf junge Männer, weil sie sie verdächtigten, mit der Ruandischen Patriotischen Front (RPF) zu sympathisieren, einer hauptsächlich von Tutsi geführten Rebellengruppe unter Paul Kagame, der später Ruandas Präsident werden sollte.

Ruandas Präsident Pasteur Bizimungu (links, im Anzug und Sonnenbrille) und Verteidigungsminister Paul Kagame (rechts, in Militäruniform) sitzen lachend Seite an Seite, die Blicke einander zugewandt, Ellbogen aufgestützt
Rebellenführer Paul Kagame, dessen RPF den Völkermord in Ruanda beendete, galt schon früh als eigentlicher Machthaber - hier im Juli 1994 mit Präsident Pasteur Bizimungunull epa/dpa/picture alliance

Da sie das Schlimmste für ihren Sohn befürchtete, riet ihm seine Mutter, sich im Haus einer Hutu-Familie zu verstecken, deren Sohn mit ihm zur Schule gegangen war. Während Freddy Mutanguha bei seinem ehemaligen Schulfreund in Sicherheit war, musste seine Familie, die sich in einem nahe gelegenen Ort aufhielt, zu anderen Methoden greifen: Um am Leben zu bleiben, bestach sie eine Gruppe von Hutu-Extremisten mit Geld und Alkohol.

Doch am 14. April ging der Familie das Geld aus. Das hatte dramatische Folgen: Die Extremisten ermordeten Freddys Eltern und vier seiner Schwestern - 4, 6, 11 und 13 Jahre alt - auf brutale Weise. "Ich konnte die Schreie meiner Geschwister hören, als sie erbarmungslos getötet wurden", erinnert sich Mutanguha im Gespräch mit der DW. "Sie flehten ihre Angreifer an, ihr Leben zu verschonen, und versprachen, nie wieder Tutsi zu sein, aber vergeblich. Sie warfen meine Schwestern in eine nahegelegene Grube - einige waren noch am Leben - und töteten sie mit Steinen. Meine Eltern wurden mit Macheten hingerichtet."

Nur eine einzige Schwester, Rosette, konnte entkommen und überlebte. Die Mörder suchten auch nach Freddy - er blieb die ganze Zeit in seinem Versteck. "Es wäre Selbstmord gewesen, wenn ich es verlassen hätte", so Mutanguha gegenüber der DW. Neben seinen Eltern und den vier Schwestern hat er durch den Völkermord mehr als 80 Mitglieder seiner Großfamilie verloren.

Fotos von oft jungen Ruanderinnen und Ruandern hängen an Drahtseilen
Das Kigali Genocide Memorial, das Mutanguha leitet, will die Erinnerung an die Völkermordopfer wachhaltennull Ben Curtis/AP Photo/picture alliance

Einige der Mörder von Mutanguhas Angehörigen wurden im Rahmen eines Vergleichs freigelassen. Dieser ermöglichte es den Tätern, nur die Hälfte ihrer Strafe zu verbüßen, wenn sie den Staatsanwälten dafür wichtige Informationen über die Verdächtigen und die Orte lieferten, an denen die Leichen beseitigt worden waren.

Freddy Mutanguha war früher der Vizepräsident von IBUKA, einer Gruppe für ruandische Überlebende des Völkermords. Heute ist er Direktor des Kigali Genocide Memorial, der Gedenkstätte für den Völkermord in Ruandas Hauptstadt - dort sind die Überreste von rund 250.000 Opfern begraben.

Ein schwieriger Heilungsprozess für Überlebende

Trotz der Bemühungen Ruandas, die Versöhnung zwischen Überlebenden und Tätern voranzutreiben, ist der Weg zur Heilung der tiefen Wunden für Menschen wie Mutanguha oder seine Schwester äußerst steinig. "Die Täter sagen oft nicht die ganze Wahrheit. Das behindert die Versöhnungsbemühungen und ist für die Überlebenden beunruhigend", sagt er.

Einer der Mörder seiner Familie zum Beispiel habe viele Informationen zurückgehalten, erklärt er. "Er wurde freigelassen, nachdem er 15 der 25 Jahre, zu denen er verurteilt worden war, abgesessen hatte - und das nur wegen der spärlichen Informationen, die er den Staatsanwälten mitgeteilt hatte", bedauert Mutanguha. "Wir müssen damit leben - denn unsere Angehörigen werden nie wieder zurückkommen."

Trotzdem habe sein Land bedeutende Fortschritte gemacht, räumt Mutanguha ein - eine Ansicht, die er mit Phil Clark teilt. Der Professor für internationale Politik an der Londoner School of Oriental and African Studies (SOAS) hat die Entwicklungen in Ruanda in den letzten 20 Jahren erforscht. 

"Ruanda hat enorme Fortschritte bei der Versöhnung nach dem Völkermord gemacht, wenn man bedenkt, dass Hunderttausende verurteilte Völkermord-Täter heute wieder in denselben Gemeinden leben, in denen sie ihre Verbrechen begangen haben - Seite an Seite mit Überlebenden des Völkermords", so Clark gegenüber der DW. "Die meisten dieser Gemeinschaften sind friedlich, stabil und produktiv." Viele Kommentatoren hätten vorausgesagt, dass Ruanda nach dem Völkermord weitere Zyklen der Gewalt durchlaufen würde - so wie es in den meisten Nachbarstaaten der Fall sei. Doch dem Land sei es gelungen, dieses Schicksal zu vermeiden.

Wie soziale Medien die Versöhnung behindern

Die Überlebenden mussten ihre Gefühle überwinden und mit den Tätern zusammenarbeiten, sagt Mutanguha. Der größte Stolperstein für die Einheit seien die Ruanderinnen und Ruander in der Diaspora: "Sie sind berüchtigt dafür, spaltende Informationen auf sozialen Medien zu verbreiten und an ihre Familien in der Heimat weiterzugeben. Das behindert die Versöhnungsbemühungen - insbesondere unter der Jugend, die nur wenig über die Geschehnisse vor 30 Jahren weiß", so Mutanguha.

Ruandas traumatisierte Männer

Tatsächlich hatten Jahrzehnte der interethnischen Spannungen und Gewalt schon vor dem Völkermord von 1994 mehrere Migrationswellen zur Folge. Viele der Vertriebenen sind nie zurückgekehrt. Die größte Herausforderung für die Versöhnung liege in der ruandischen Diaspora, sagt auch Politikwissenschaftler Clark - also bei den Menschen, die gar nicht selbst an den wichtigen Versöhnungsprozessen in ihrem Heimatland teilgenommen haben. "Die zerstörerischste interethnische Dynamik findet derzeit unter der ruandischen Bevölkerung in Nordamerika, Westeuropa und anderen Teilen Afrikas statt", so Clark. "Diese wirkt auf Ruanda selbst zurück. Die nächste entscheidende Phase der Versöhnung muss in den Gemeinschaften außerhalb Ruandas stattfinden."

Repatriierung ruandischer Flüchtlinge

Die Versöhnung sei ein noch weit entfernter Traum, sagt Victoire Ingabire Umuhoza, die prominenteste Kritikerin von Präsident Paul Kagame. Um sie wirklich zu erreichen, müssten alle ruandischen Flüchtlinge weltweit in die Heimat zurückgeholt werden, findet sie. "Es gibt immer noch viele ruandische Flüchtlinge, vor allem in den Nachbarländern, die repatriiert werden müssen, damit eine echte Versöhnung stattfinden kann", sagte Ingabire in einer Neujahrsbotschaft auf dem YouTube-Kanal ihrer Partei. "Wir leben in Frieden - aber die Versöhnung ist immer noch gering und es herrscht ein tiefes Misstrauen unter den Ruandern", so Ingabire.

"Die ruandische Regierung ist auch besorgt über die Flüchtlinge in den Nachbarländern, die sich entschieden haben, zu den Waffen zu greifen und gegen sie zu kämpfen. Dieses Problem wird niemals enden, wenn wir, die wir im Land sind, uns nicht zuerst vereinen und versöhnen." Ingabire bezog sich dabei auf die Rebellen der Demokratischen Kräfte zur Befreiung Ruandas (FDLR), einer ethnischen Hutu-Rebellengruppe.

Menschen in Uniformen sitzen auf einem Panzer, dicht gedrängt darum laufen Flüchtlinge mit Bündeln auf den Köpfen und Uniformierte
Viele Täter des Völkermords flüchteten sich 1994 ins benachbarte Zaire (heute Kongo)null dpa/picture alliance

Ruandas Präsident Paul Kagame betrachtet die FDLR seit Langem als eine existenzielle Bedrohung für sein Land. Die Gruppe wurde von den USA als terroristische Organisation eingestuft. Die anhaltende Existenz der FDLR, die angeblich von der Regierung im benachbarten Kongo geduldet wird, hat zu Anschuldigungen geführt, dass Ruanda konkurrierende Rebellengruppen wie die M23-Bewegung unterstützt. Ruanda bestreitet, die M23 zu unterstützen.

Das jüngste Wiederaufflammen der Kämpfe im Osten der DR Kongo hat zu ernsthaften Spannungen zwischen Kigali und Kinshasa geführt - einschließlich der Androhung eines Krieges durch den kongolesischen Präsidenten Félix Tshisekedi.

All das deutet darauf hin, dass die Lücken im Versöhnungsprozess auch 30 Jahre nach dem Völkermord in Ruanda eine ernsthafte Sicherheitsbedrohung für die gesamte Region darstellen.

Ein langer Weg: Annäherung, Sinneswandel, Hoffnung

Die Regierung, die Zivilgesellschaft und die Bürger haben zahlreiche Anstrengungen unternommen, um die Ideologie des Völkermords hinter sich zu lassen - doch nicht alle haben den für eine Annäherung erforderlichen Sinneswandel vollzogen.

Wöchentliche Dialogclubs und Vereinigungen auf Gemeindeebene, in denen die Menschen über vergangene und gegenwärtige Konflikte diskutieren, haben den Ruandern entscheidend dabei geholfen, zu heilen und sich positiv zu entwickeln. Die Situation sei heute viel positiver als noch vor fünf oder zehn Jahren, sagt Politikwissenschaftler Clark. "Aber die meisten Ruander, mit denen ich spreche, sagen, dass noch ein langer Weg vor uns liegt."

Freddy Mutanguha weist darauf hin, wie wichtig es ist, weltweit des ruandischen Völkermords zu gedenken: "Die Erinnerung an die Geschehnisse in Ruanda vor 30 Jahren sollte nicht nur für die Tutsi gelten, die den Völkermord überlebt haben, sondern für die ganze Welt. Um daraus zu lernen - denn es war ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit."

Kolonialismus und der Völkermord in Ruanda

Übersetzung aus dem Englischen: Nikolas Fischer

Ruanda: Vom Kolonialismus zum Genozid

"Wir sprechen die gleiche Sprache, teilen die gleiche Kultur, das gleiche Land - was hat uns auseinandergebracht?" Es ist diese grundlegende Frage, die Samuel Ishimwe, ruandischer Filmemacher und Gewinner eines Silbernen Bären der Filmfestspiele Berlinale 2018, umtreibt. Wie wurde der Hass in Ruanda gesät? Von wem? Ab April 1994 wurden innerhalb von 100 Tagen rund eine Million Menschen brutal ermordet, darunter auch die Eltern und ein Großteil der Familie von Samuel Ishimwe.

Ein Familienfoto aus den frühen 1980ern zeigt Familienmitglieder von Samuel Ishimwe und ihre Nachbarn.
Von 10 Geschwistern von Samuel Ishimwes Vater überlebten nur drei den Genozidnull Samuel Ishimwe/DW

Dass er nun ausgerechnet im Auftrag eines deutschen Senders der Frage nach dem "Warum" nachgeht, hat für ihn eine besondere Bedeutung. Wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass Deutschland als erste Kolonialmacht bereits Ende des 19. Jahrhunderts die einheimische Bevölkerung in verschiedene "Rassen" einteilte. Wurde hier der Keim für das spätere Morden gelegt? Während des Völkermords töteten Hutu-Milizen ihre Nachbarn, weil sie der Propaganda glaubten, dass die Minderheit der Tutsi keine Menschen seien.

Bosco Nshimiyimana (Ton), Samuel Ishimwe und Matthias Frickel (Regie), Robert Richter (Kamera), Roméo Dallaire (UN-Mission für Ruanda 1993-1994)
DW-Filmteam (stehend): Bosco Nshimiyimana (Ton), Samuel Ishimwe und Matthias Frickel (Regie), Robert Richter (Kamera) - vorne im Bild: Roméo Dallaire (UN Mission für Ruanda 1993-1994) null Matthias Frickel/DW

Wie Feindbilder entstehen

Im 19. Jahrhundert teilten europäische Wissenschaftler die Menschheit in eine Hierarchie verschiedener Rassen ein. Die "weiße Rasse" galt als die überlegene und fortschrittlichste. Die so genannte "negroide" oder "schwarze Rasse" galt als minderwertig. Der Hamiten-Mythos wurde von den Deutschen nach Ruanda gebracht. Sie sahen in den Tutsi "Hamiten", die aus Nordafrika eingewandert seien und seit Jahrhunderten die angeblich einheimischen Hutu beherrschten. Hamiten, eine "Rasse", die der "weißen Rasse" näher stehe. Sie galten daher als höher entwickelt als die "negroide" Rasse. Dieses Narrativ hielt sich lange Zeit. Und wurde für die Tutsi zum Verhängnis. 

Deutschlands Anteil am Genozid in Ruanda

Die DW-Dokumentation "Reclaiming History - Kolonialismus und Völkermord in Ruanda" untersucht die Rolle des deutschen und belgischen Kolonialismus beim Völkermord an den Tutsi 1994 in Ruanda. Der ruandische Regisseur Samuel Ishimwe, dessen Eltern während des Genozids ermordet wurden, begibt sich auf die Suche nach den Ursprüngen des "Rassenhasses" zwischen Tutsi und Hutu. Die Ausstrahlung des 86-minütigen Dokumentarfilms beginnt am 5. April 2024 im weltweiten DW-Linearprogramm sowie auf den YouTube-Kanälen von DW Documentaries.

Schwarzweiß-Aufnahmen von schwarzen Menschen
Kolonialisten behaupteten, Tutsi seinen eine "fremde Rasse"null Public Domain/Deutsche Digitale Bibliothek

DW-Regisseur Matthias Frickel begleitet Ishimwe auf seiner Reise durch Ruanda, Deutschland und Belgien, wo Historikerinnen und Historiker, Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ihm helfen, seiner Geschichte und der seines Landes auf den Grund zu gehen. So berichtet Roméo Dallaire, ehemaliger Chef der UN-Blauhelmtruppe in Ruanda, wie er 1994 mit ansehen musste, wie die westliche Welt das Morden zuließ. Trotz seiner eindringlichen Warnungen. 

Schädel aus Ruanda nach Deutschland verschleppt

In Deutschland trifft Samuel Ishimwe auf eine Gesellschaft, die mit der Erinnerung an den Holocaust ähnliche Erfahrungen gemacht hat wie die Ruander mit dem Genozid. Dass deutsche Ethnologen 1907/1908 in Ruanda mehr als 900 Schädel für die zu dieser Zeit populäre "Rassenforschung" stahlen, die bis heute in Berliner Institutionen lagern, wird erst jetzt zum Thema.

Eine historische Karte zeigt Schädel im Profil, die Menschentypen nach ihrer Herkunft einteilen sollte.
Die Rassenideologie, die zum Genozid führte, stammt bereits aus der Zeit des deutschen Kolonialismus in Ruandanull Public Domain/Deutsche Digitale Bibliothek

Andre Ntagwabira, Archäologe, Ethnographisches Museum, Huye: "Diese menschlichen Überreste wurden gesammelt, um die Ruander zu klassifizieren und zu beweisen, dass es in Ruanda ethnische Zugehörigkeiten gab. Und die Folge war der Völkermord an den Tutsi". Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, bestätigt die deutsche Verantwortung. Heute stelle sich aber die Frage: "Musste es nach der Einteilung in 'Rassen', die die Deutschen nach Ruanda brachten, 100 Jahre später zum Völkermord kommen?"

Dutzende menschliche Schädel liegen auf der Erde
Schädel von Genozid-Opfern im Nyamata Church Genocide Memorialnull DW

Die Kulturanthropologin Dr. Anna-Maria Brandstetter forscht seit 20 Jahren über und in Ruanda. Sie sagt, der Kolonialismus habe den Grundstein gelegt, greife aber als alleinige Erklärung für den Völkermord zu kurz: "Koloniale Gewalt führt nicht automatisch zu postkolonialer Gewalt wie dem Völkermord an den Tutsi. Man tötet einen Nachbarn nicht, weil man ihn für einen Tutsi oder Hutu hält. Man tötet ihn, weil er nicht mehr als Mensch angesehen wird."

Belgier schürten den Hass zwischen Hutu und Tutsi

Wie die Belgier als spätere Kolonialmacht den Hass zwischen Hutu und Tutsi schürten, um ihre Herrschaft zu erhalten, erfährt Ishimwe in Brüssel und Lüttich. Der ruandische Historiker Dantès Singiza, der dort über die belgische Kolonialherrschaft forscht, zeigt ihm Dokumente, die die rassistische Politik der Belgier in Ruanda belegen. 1932 führte Belgien einen Personalausweis ein, der eine "Rassentrennung" zementierte, die es laut Historikern vorher nicht gegeben hatte. Von nun an war man dauerhaft Tutsi, Hutu oder Twa. Aus durchlässigen sozialen Kategorien wurden in der Kolonialzeit feste ethnische Kategorien. Samuel Ishimwe: "Es hat mich schockiert, dass das alles kein unschuldiger Fehler der Kolonialmächte war. Es gab eine systematische Absicht, diese Ideologie zu verbreiten und die Menschen zu spalten. Sie haben hart daran gearbeitet, bis die Ruander glaubten, sie seien wirklich anders."

Wie kann man mit diesem schwierigen Erbe umgehen? Die Traumatherapeutin Esther Mujawayo-Keiner gibt Ishimwe einen Hinweis: "Wir müssen darüber reden, wir dürfen dem Thema nicht ausweichen. Aber wie soll man darüber reden? Schweigen ist gefährlich. Aber auch Reden kann gefährlich sein. Es kommt darauf an, wie man redet." Sie hat den Völkermord an den Tutsi überlebt und arbeitet seit 20 Jahren in Deutschland.

Gibt es eine Zukunft der Erinnerung in Ruanda?

Zurück in Ruanda trifft Ishimwe verurteilte Völkermörder und ihre Opfer, die heute in einem Versöhnungsdorf zusammenleben: "Ich weiß, dass wir Ruander eine große Verantwortung dafür tragen, dass wir uns gegenseitig hassen und dass es zum Völkermord gekommen ist. Wir Ruander haben den Genozid begangen. Niemand sonst hat es getan. Aber der Hass und die Ideologie dahinter sind Ideen, die vor allem während der belgischen Kolonialzeit gewachsen und kultiviert worden sind." Ishimwe fragt sich, wie die Zukunft der Erinnerung aussehen kann.

Kongos erste Regierungschefin vor großen Aufgaben

Mehr als drei Monate nach der Präsidentschaftswahl hat die Demokratische Republik Kongo eine neue Premierministerin: Der für eine zweite und letzte Amtszeit wiedergewählte Präsident Félix Tshisekedi hat Judith Suminwa Tuluka am Ostermontag offiziell ernannt. Seit das Land im Jahr 1960 unabhängig wurde, ist sie die erste Frau, die eine Regierung leitet. Tuluka war bereits ein Jahr lang Planungsministerin unter ihrem Vorgänger Jean-Michel Sama Lukonde. Das Planungsministerium ist für die wirtschaftliche und soziale Entwicklungspolitik des Landes zuständig. Lukonde, der die Regierung seit Februar 2021 leitete, hatte im Februar seinen Rücktritt eingereicht.

Demokratische Republik Kongo Stadt Kinshasa Panorama Freies Format
Kongos Megastadt Kinshasa ist auch die Hauptstadtnull AP

Tuluka, 56, stammt aus Zentralkongo, der Provinz von Joseph Kasavubu, der von 1960 bis 1965 der erste Präsident des Landes war. Sie besitzt einen Master-Abschluss in angewandten Wirtschaftswissenschaften der Freien Universität Brüssel und ein Diplom für Zusatzstudien im Bereich Personalmanagement in Entwicklungsländern.

Enge Vertraute von Präsident Tshisekedi

Die neue kongolesische Regierungschefin arbeitete im Bankensektor, bevor sie zum Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) wechselte. Dort war sie Koordinatorin der Säule "Friedenskonsolidierung und Stärkung der Demokratie".

Tuluka ist Mitglied der "Union pour la Démocratie et le Progrès Social" (UDPS), der sozialliberalen Partei von Félix Tshisekedi. Die enge Vertraute des Präsidenten war Expertin in einem nationalen Projekt zur Unterstützung der Gemeinschaft im Osten der Republik. Anschließend arbeitete sie im Finanzministerium und später als stellvertretende Koordinatorin des "Conseil présidentiel de veille stratégique" (CPVS), eines Gremiums, das den Präsidenten in strategischen Fragen berät.

Kongos Regierungschefin: ermutigendes Beispiel für viele Frauen

Vor allem bei den Frauen in der DR Kongo hat die Ernennung Tulukas zur neuen Premierministerin viele zufriedene Reaktionen hervorgerufen, wie die DW in der Hauptstadt Kinshasa erfuhr.

DRK Jean-Michel Sama Lukonde und Félix Tshisekedi
Tuluka Suminwas Vorgänger Jean-Michel Sama Lukonde (links) hatte seinen Rücktritt eingereichtnull Giscard Kusema/Press Office Presidency DRC

"Ich hoffe sehr, dass es auf jeden Fall neue Dinge geben wird, gute Dinge", sagt etwa die Studentin Sefora Wameh. "Es gibt Männer, die sagen, dass Frauen nicht können, was sie tun. Aber ich glaube fest daran, dass wir Frauen dieses Mal die Möglichkeit haben, es besser zu machen als die Männer".

Antomiss Mangaya, Staatsbeamtin im Ministerium für Grund- und Sekundarschulbildung, stimmt zu. Auch sie fühlt sich ermutigt und wünscht sich positive Veränderungen durch Tuluka: "Sie ist ein sehr gutes Beispiel für uns Frauen. Das ist sehr zu loben. Da es das erste Mal ist, soll sie es besser machen als die Person, die vor ihr da war. Sie soll viel arbeiten und uns zeigen, dass Frauen das auch können".

Anhaltende Gewalt an der Grenze zu Ruanda im Ostkongo

Tulukas Ernennung erfolgt in einer Zeit, in der die Sicherheitslage im Osten des Landes, der an Ruanda grenzt, nach wie vor äußerst schwierig ist: Rebellen der sogenannten M23 (Bewegung des 23. März), eine von weit über 100 bewaffneten Gruppen im rohstoffreichen Osten des Kongo, kämpfen dort gegen die kongolesische Armee - in den vergangenen Wochen sind sie der Regionalhauptstadt Goma schon sehr nahe gekommen, einige Ortschaften werden noch immer von den Rebellen kontrolliert.

Die diplomatischen Beziehungen der Nachbarländer DR Kongo und Ruanda sind angespannt: Die Regierung in Kinshasa, die Vereinten Nationen und westliche Länder beschuldigen Ruanda seit Jahren, die M23-Rebellen zu unterstützen, um die lukrativen Bodenschätze der Region zu kontrollieren - Kongo verfügt unter anderem über Diamanten, Kupfer und Gold.

DR Kongo | Die Goldmine Nzani-Kodo in der Provinz Ituri
Goldmine in der Provinz Ituri: Der Osten des Kongo ist besonders rohstoffreichnull Marcus Loika/DW

Die Regierung in Kigali hat die Vorwürfe wiederholt bestritten, doch UN-Experten haben Beweise für ruandische Eingriffe im Kongo gefunden. Das US-Außenministerium hat Ruanda aufgefordert, seine Truppen und Boden-Luft-Raketensysteme aus dem Osten Kongos abzuziehen. Das ruandische Außenministerium hat erklärt, die Truppen würden ruandisches Territorium verteidigen, da der Kongo eine "dramatische militärische Aufrüstung" in Grenznähe durchführe. Von einer Bedrohung der nationalen Sicherheit war die Rede.

Schwere humanitäre Krise im Osten des Kongo

Nach Angaben der Vereinten Nationen hat der schon lange andauernde Konflikt bereits mehr als sieben Millionen Menschen vertrieben. Das macht ihn zu einer der schlimmsten humanitären Krisen der Welt - und zur größten Herausforderung, der sich die neue Premierministerin stellen muss. Dafür wird sie nun ein Kabinett zusammenstellen, in dem sie die Kräfte der "Union sacrée de la nation" (USN) zu bündeln versucht, der seit Dezember 2020 bestehenden Mehrparteien-Koalition im Parlament der DR Kongo.

Demokratische Republik Kongo |  Geflüchtete in Minova
Der Vormarsch der M23-Rebellen im Ostkongo hat hunderttausende Menschen in die Flucht getriebennull ALEXIS HUGUET/AFP

Bis die neue Regierung gebildet ist und die Ministerposten verteilt sind, könnten allerdings Monate vergehen - der Prozess erfordert nämlich intensive Verhandlungen mit den verschiedenen politischen Parteien.

Die Erwartungen an Judith Suminwa Tuluka sind hoch. Laurette Mandala Kisolokele, Beraterin im Ministerium für regionale Integration, zeigt sich dennoch optimistisch. Denn die Themen und Probleme seien für die Spitzenpolitikerin ja nicht neu: "Sie kennt die Sicherheitslage im Osten des Landes. Was wir jetzt von ihr wollen, ist, dass sie kluge Entscheidungen bei ihren Mitarbeitern trifft, damit sie sie effektiv begleiten und wir die unsichere Situation im Osten des Landes beenden können."

"Meine Gedanken gehen in den Osten"

In ihrer ersten Rede im staatlichen Fernsehen nach ihrer Ernennung versprach die neue Ministerpräsidentin, sich für Frieden und Entwicklung einzusetzen: "Meine Gedanken gehen in den Osten und in alle Ecken des Landes, die heute mit Konflikten mit - manchmal versteckten - Feinden konfrontiert sind", sagte Judith Suminwa Tuluka. "Ich denke an all diese Menschen, und mein Herz schlägt für sie."

Immer mehr Flüchtlinge in der DR Kongo

Nachhaltige Mobilität: Grüne Hoffnung in Afrika

An den zwölf Zapfsäulen am Rasthof herrscht reger Betrieb: Ständig kommen neue Autos vom Highway N3, der die südafrikanische Hafenstadt Durban mit der Metropolregion Johannesburg verbindet. Etwas abseits hinter den Zapfsäulen, unter einem grünen Sonnensegel, ist hingegen nichts los: Hier steht ein Ladeterminal für Elektroautos bereit.

Benzindurst, aber Elektro-Flaute - das ist ein Bild, das sich auch anderswo in Afrika fortsetzt. Dabei ist im teils wohlhabenden Südafrika die Abdeckung mit E-Ladesäulen noch vergleichsweise dicht, auch wenn dort Stromabschaltungen an der Tagesordnung sind. Von Dakar bis Daressalam, von Kairo bis Kapstadt ist Mobilität weiter vom Verbrennungsmotor abhängig - häufig unter der Motorhaube von alternden Gebrauchtwagen. Doch die Mobilität in Afrika verändert sich, wenn auch nicht unbedingt in Richtung klassischer Pkw mit Elektroantrieb.

Eine Ladesäule auf einem gepflasterten Parkplatz
Einsame Ladesäule am Rasthof - die Elektromobilität entwickelt sich in Afrika anders als im globalen Nordennull David Ehl/DW

Trend zu Motorrädern und Tuk-Tuks - und zwar gerne elektrisch

Genaue Zahlen, wie viele Autos in Afrika unterwegs sind, gibt es nicht - Schätzungen liegen zwischen 26 und 38 Millionen Pkw. Tendenz steigend: "Es gibt eine riesige Nachfrage nach Autos", sagt Godwin Ayetor, Dozent an der Kwame Nkrumah University of Science and Technology (KNUST) im ghanaischen Kumasi. "Aber im Vergleich zwischen Autos und Motorrädern verschiebt sich die Nachfrage von Vierrädern zu Zweirädern, die sich eine kleine Familie eher leisten kann. Und sie kommen besser durch Stau und Buckelpisten. Auch Wartungsaufwand und Treibstoffkosten sind niedriger", sagt Ayetor im Gespräch mit der DW. Eine ähnliche Entwicklung lasse sich auch bei Dreirädern beobachten - wegen ihres Motorengeräuschs auch besser bekannt als Tuk-Tuks.

Elektrisch mobil in Nairobi

Insbesondere bei den Motorrädern verstärkt sich derzeit ein Trend hin zu Elektroantrieb. Eines von ihnen fährt Thomas Omao, der als einer von zehntausenden gewerblichen Motorradfahrern in Nairobi unterwegs ist.

Thomas Omao sitzt auf seinem modernen Motorrad, im Hintergrund sind viele ältere Modelle abgestellt
Thomas Omao fährt in Nairobi ein elektrisches Motorrad von ARC Ride - und konnte dank besserer Verdienstmargen bereits ein zweites kaufennull David Ehl/DW

Mit seinem elektrischen Boda-Boda fährt er Essen für verschiedene Lieferdienste aus - und klingt hoch zufrieden: "Ein großer Vorteil ist, dass Elektro-Motorräder sehr angenehm zu fahren sind", sagt er der DW. Dazu sei es sehr kostengünstig: "Ein Freund von mir fährt ein Boda-Boda mit Benzin. Er gibt jeden Tag 1000 Shilling (derzeit umgerechnet 6,90 Euro) beim Tanken aus. Mich kostet der Strom 400 Shilling. Ich spare also gegenüber dem Kollegen 600 Shilling pro Tag." Von seinen Ersparnissen hat Omao im Januar ein zweites Motorrad gekauft und beschäftigt nun einen Angestellten.

Omao nutzt die Technologie des Start-ups ARC Ride. Das Motorrad hat er gekauft, für die Akkus nutzt er eine Leih-Flatrate. Für den Batteriewechsel, der kaum eine Minute dauert, sind knapp 80 Ladeschränke in der kenianischen Hauptstadt verteilt. "Am meisten machen sich die Leute Sorgen um die Reichweite", sagt Felix Saro-Wiwa, der bei ARC Ride für die strategische Entwicklung zuständig ist. "Deshalb haben wir so viele Ladeschränke aufgestellt. In der ganzen Stadt ist man niemals weiter als drei bis vier Kilometer vom nächsten Schrank weg." Ziel seien maximal zwei Kilometer - also eine ähnliche Dichte wie bei Tankstellen.

Felix Saro-Wiwa steht vor einem weißen Schrank mit nummerierten Türen; er hält einen Motorradhelm in der Hand
Felix Saro-Wiwa vor einem der Ladeschränke seines Arbeitgebers - statt Reichweitenangst geht der Batteriewechsel mit wenigen Handgriffen über die Bühnenull David Ehl/DW

In diesem Jahr will das junge Unternehmen in zwei weitere Städte der Region expandieren. Und es ist dabei nur eins von vielen Anbietern in ganz Afrika, die Wechselbatterien für Motorräder zum Leihen anbieten. Für Godwin Ayetor ist dieses Konzept zukunftsweisend: "Die Start-ups verkaufen elektrische Zweiräder ohne den Akku - und das reduziert den Kaufpreis für die Besitzer. Die mieten die Batterie dauerhaft. Bisher funktioniert das sehr gut."

Gebrauchtwagen drängen auf den Markt

Dennoch nehmen Elektro-Bodas in der riesigen Motorrad-Flotte afrikanischer Länder vorerst weiter eine Nische ein - für die Mobilität vieler Afrikanerinnen und Afrikaner sind Autos unverzichtbar.

In den Werken des Kontinents laufen Jahr für Jahr Hunderttausende neue Autos vom Band. Die sind allerdings zu großen Teilen für den Export bestimmt - so verschifft Großproduzent Südafrika zwei Drittel seiner Produktion nach Übersee.

Insgesamt spielen Neuwagen jedoch eine untergeordnete Rolle. Im Schnitt sind laut Schätzungen der UN-Umweltorganisation UNEP sechs von zehn in Afrika neu zugelassenen Fahrzeugen importierte Gebrauchtwagen. Mit starken Schwankungen: In Kenia liegt die Quote sogar bei 97 Prozent, Südafrika beispielsweise verbietet den Import von gebrauchten Autos.

Dabei haben viele afrikanische Regierungen Höchstalter festgesetzt, die Autos beim Import nicht überschreiten dürfen. In Kenia liegt die Grenze bei acht Jahren, so dass die meisten Wagen zum Zeitpunkt des Imports sieben Jahre alt sind. Das benachbarte Uganda hingegen zieht die Grenze erst bei 15 Jahren, Ruanda sogar gar keine. Das führt dazu, dass die Autos dort im Schnitt wesentlich älter sind - und laut einer UNEP-Studie im Schnitt ein Viertel mehr Benzin als in Kenia verbrauchen und folglich mehr CO2 ausstoßen.

Importverbote sind keine Lösung

In Ghana verschärfte die Regierung 2020 die Einfuhrbedingungen: Sie führte ein generelles Alterslimit von zehn Jahren ein; auch Unfallwagen dürfen nicht mehr importiert werden. Gleichzeitig befreite sie Neuwagen oder Autoteile für die heimische Produktion von Einfuhrzöllen. "Die Regierung glaubte, das würde den Preis von Neuwagen reduzieren, so dass Ghanaer sich neue statt gebrauchte Autos leisten könnten", sagt Ayetor.

Festival Boateng erforscht an der britischen Oxford University Gesetzgebung rund um Mobilität. Aus seiner Fallstudieüber Ghana schlussfolgert er: "Wenn man Importe von Gebrauchtwagen verbietet, haben die Menschen nicht plötzlich mehr Geld, um Neuwagen zu kaufen. Aber sie müssen mobil sein. Dadurch verschieben sich Angebot und Nachfrage auf den Schwarzmarkt", sagt Boateng im Gespräch mit der DW.

Nicht nur regionale Zwischenhändler waren perplex, als die äthiopische Regierung Ende Januar einen sofortigen Import-Stopp für Autos mit Verbrennungsmotor verkündete. Und das, obwohl Elektroautos derzeit noch verhältnismäßig teuer sind und ohnehin nur die Hälfte der Bevölkerung Zugang zu Elektrizität hat. Mitte März ruderte die Regierung zurück, so dass wieder Verbrenner eingeführt werden können.

Elektrischer Druck aus dem Globalen Norden

Als eines der ersten afrikanischen Länder stellte Kenia 2020 einen Ausbauplan vor: Bis 2025 sollen mindestens fünf Prozent der importierten Fahrzeuge elektrisch angetrieben werden.

Kenias Präsident William Ruto ist gerade aus einem gelben Elektroauto gestiegen und wird von einem Mann im Anzug begrüßt
Kenias Präsident William Ruto (l.) gibt sich als Transformations-Vorreiter - als Gastgeber des Afrika-Klimagipfels im September fuhr er medienwirksam im Elektroauto aus kenianischer Produktion vornull Simon Maina/AFP

Über kurz oder lang dürfte sich das Gebraucht-Angebot auch in Afrika stärker auf E-Autos umstellen. Denn die Gebrauchtwagen für den afrikanischen Markt kommen hauptsächlich aus dem globalen Norden - und dort soll sich die Mobilität zugunsten des Klimas verändern: Die EU hat neue Autos mit Verbrennungsmotor ab 2035 verboten; dasselbe Datum gilt in Großbritannien und dem bevölkerungsreichsten US-Bundesstaat Kalifornien. Gerade erst haben die USA strengere Schadstoffgrenzwerte verhängt, die ebenfalls die E-Mobilität ankurbeln dürften.

Rollt also die Verkehrswende durch die Hintertür auf Afrika zu? "Wir gehen nicht davon aus, dass Europa oder die USA alle Elektrifizierungs-Ziele direkt erreichen werden", sagt Godwin Ayetor, der auch dem Technischen Komitee für Fahrzeug-Standards in Ghana vorsitzt. "Aber ich glaube, wir müssen uns dafür wappnen. Und das Thema Gebrauchtwagen wird auch in Zukunft bleiben."

Zwischen Spritschluckern, Elektro-Motorrädern und radikaleren Ideen

Doch noch sind weite Teile Afrikas nicht auf E-Autos eingestellt: Mechanikern fehlt das nötige Spezialwissen, für Ersatzteile wie Batterien existieren schlicht keine Lieferketten, nicht einmal Afrika-weit einheitliche Standards für Ladestecker gibt es. Vielerorts mangelt es auch an Investitionen in Ladeinfrastruktur - als der Ölkonzern Shell im März große Pläne für ein mehr oder weniger weltweites Ladenetz präsentierte, tauchte Afrika darin nicht auf. Und so setzt der Kontinent vorerst weiter auf gebrauchte Verbrenner - oder eben die neuartigen Elektro-Motorräder und Tuk-Tuks mit Wechselbatterien.

E-Motorrad-Taxis schonen den Geldbeutel

Aus Sicht von Festival Boateng eröffnet der aufkeimende Wandel aber noch Möglichkeiten, andere Probleme mit zu lösen: "Wir haben sehr viele Verkehrsunfälle, Staus und andere Probleme. Der Umstieg auf elektrische Fahrzeuge ändert daran nichts. Wir brauchen ein Gesamtkonzept, das Investitionen in öffentlichen Personenverkehr berücksichtigt. Solche Investitionen könnten dabei helfen, die Notwendigkeit für Autos zu verringern."

So baut die senegalesische Hauptstadt Dakar gerade ein elektrisch betriebenes Busliniennetz auf. Die erste Phase läuft bereits, bis nächstes Jahr soll das Projekt auf rund 120 Busse anwachsen, die nachts geladen werden. Sie fahren dann teilweise auf eigenen Spuren - vorbei am Stau der Autos.

Tunesien: Harter Kurs gegen Oppositionelle und Kritiker

Wann genau werden sie stattfinden, welche Kandidaten werden teilnehmen? Noch sind mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen in Tunesien mehrere Fragen offen. Festgelegt sind diese auf den Zeitraum zwischen September und Dezember dieses Jahres, doch ein konkretes Datum ist noch nicht bekannt. Ebenso ist noch nicht ganz klar, ob der amtierende Staatspräsident, Kais Saied, sich noch einmal zur Wahl stellen wird. 

Dass er dies tun wird, gilt aber allgemein als wahrscheinlich. Als Indiz dafür gilt manchen Beobachtern der Umstand, dass der tunesische Staat unter der Herrschaft des seit 2021 zunehmend autokratisch regierenden Said verschärft gegen Journalisten, politische Gegner und die Zivilgesellschaft vorgeht. 

"Die jüngste Repressionswelle steht offenbar in engem Zusammenhang mit den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in Tunesien", sagt Marwa Murad, Sprecherin der Schweizer Menschenrechtsorganisation Komitee für Gerechtigkeit, der DW. Durch die Unterdrückung der Zivilgesellschaft und die Einschränkung der Meinungs- und Vereinigungsfreiheit wolle Saied seine Macht festigen und seine Autorität gegen mögliche Anfechtungen im Vorfeld der Wahlen verteidigen.

Ähnlich sieht es Lamine Benghazi vom Thinktank Tahrir Institute for Middle East Policy in Washington. "Das mit der Überwachung der Wahlen beauftragte Wahlgremium hat seine Unabhängigkeit verloren. Darum ist das Wahljahr in Tunesien von Angst, Unterdrückung und fehlender Rechtsstaatlichkeit geprägt."

Unabhängige Gremien seien demontiert, die Unabhängigkeit der Justiz eingeschränkt worden, so Benghazi. Ein großer Teil der politischen Opposition sei inhaftiert oder sehe sich Prozessen gegenüber, sagt Benghazi. Zudem unterlägen die Medien einer drakonischen Zensur. Darum gebe es ernsthafte Sorgen, dass Saied die Zivilgesellschaft noch stärker unter Druck setzen könnte, so Benghazi.

Protestierende mit tunesischen Fahnen gegen Kais Saied in Tunis
Es gibt immer wieder Proteste gegen Tunesiens Präsident Saied - so wie hier im Januar in der Hauptstadt Tunisnull Hasan Mrad/DeFodi Images/picture alliance

Journalisten verhaftet und zum Schweigen gebracht

Erst kürzlich verhaftete die tunesische Staatsanwaltschaft den beliebten TV-Journalisten und Saied-Kritiker Mohamed Boughalleb. Zuvor war er von einer Einheit für Cyberkriminalität verhört worden.

Lokalen Medien zufolge hatte eine Mitarbeiterin des tunesischen Ministeriums für religiöse Angelegenheiten Boughalleb in Facebook-Posts beschuldigt, er habe "ihre Ehre und ihren Ruf" beschädigt.

"Die Inhaftierung von Mohamed Boughalleb spiegelt eine systematisch betriebene Politik wider, die darauf zielt, Journalisten zum Schweigen zu bringen und rechtliche Verfahren zu verletzen", sagt Ziad Dabbar, Leiter des tunesischen Journalistenverbandes, der DW. Die Inhaftierung verstoße gegen das tunesische Pressegesetz.

Angriff auf die Meinungsfreiheit

Auch die in der Schweiz ansässige Menschenrechtsorganisation Euro-Med Human Rights Monitor zeigt sich zunehmend besorgt über das, was sie als "gefährliche Ausweitung der staatlichen Repression in Tunesien" bezeichnet. Mit ihrer Erklärung reagiert die Organisation auf einen weiteren Fall, in dem der tunesische Staat gegen Journalisten vorgeht: Ghassan Ben Khalifa, Chefredakteur der Website Inhiyaz, wurde zu sechs Monaten Haft verurteilt. Ihm wurde vorgeworfen, hinter einer Facebook-Seite zu stehen, die sich gegen Kais Saied richte.

Ebenso zeigt sich die Menschenrechtsorganisation besorgt über die Vorladung von Lotfi Mraihi, dem Generalsekretär der Partei der Republikanischen Volksunion. Er hatte kurz zuvor in einem privaten Radiosender den Präsidenten kritisiert.

"Das gezielte Vorgehen gegen Mraihi ist ein Beispiel für das seit zwei Jahren anhaltende systematische Vorgehen der Regierung gegen Persönlichkeiten aus der Politik", so Euro-Med Human Rights Monitor. Dies gelte insbesondere für die Zeit vor den Präsidentschaftswahlen. 

Tunis: gegen die Politik von Präsident Kais Saied, April 2023 - mehrere Personen vor einem Gebäude, mehrere recken Hände oder Fäuste hoch oder halten Papptafeln mit Aufschriften und Fotos von (inhaftierten) Personen
Die Unzufriedenheit mit dem Präsidenten ist in Teilen der Bevölkerung groß, während viele andere ihn gleichzeitig unterstützen: Demonstration gegen Kais Saied in Tunis, April 2023 null Hasan Mrad/DeFodi Images/picture alliance

Allerdings genieße die Regierung Saied weiterhin sichtbare Zustimmung in der Bevölkerung, sagt Uta Staschewski, Leiterin des Tunis-Büros der deutschen Hanns-Seidel-Stiftung, im DW-Gespräch. Vieles deute darauf hin, dass die Politik des Präsidenten bei einem bedeutenden Teil der Bevölkerung gut ankomme. Andere hingegen gingen zuletzt gegen den Präsidenten auf die Straße.

Aufschwung trotz Repression in Tunesien

Saied selbst legitimiert seine Herrschaft mit dem Hinweis, dass die Wirtschaft sich stabilisiere. So konnten Angaben der Regierung zufolge die Auslandsschulden abgebaut werden, und zwar ohne Inanspruchnahme internationaler Kredite. Da zudem der Tourismus wieder das Niveau von vor der Corona-Pandemie erreicht habe, sei das Geschäftsklima positiv. Zudem sank nach Angaben des tunesischen Statistikamtes die Inflation im März 2024 weiter auf 7,8 Prozent.

Einem kürzlich erschienenen Bericht der Financial Times zufolge plant die Europäische Union, den tunesischen Sicherheitskräften über einen Zeitraum von drei Jahren bis zu 164,5 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen. Die Mittel stehen im Zusammenhang mit einem 2023 vereinbarten Migrationsabkommen.

Ein überfülltes kleines Boot mit über 40 Flüchtlingen nahe der tunesischen Hafenstadt Sfax, 2023
Im Rahmen des Migrationsabkommens mit der EU fangen die tunesischen Behörden nach Europa startende Boote mit Flüchtlingen abnull Hasan Mrad/ZUMA Wire/IMAGO

Kritiker weisen jedoch darauf hin, dass das Wirtschaftsmodell des Landes trotz der wirtschaftlichen Stabilisierung nicht reformiert worden sei. "Man kann von einem Auseinanderdriften der offiziellen Narrative und der gelebten Realität sprechen", so Staschewski. Offiziell werde seitens der Regierung immer wieder von einer wirtschaftlichen Erholung gesprochen. Das treffe zu einem gewissen Teil auch zu. "Aber für die Menschen auf der Straße ist dies eher weniger spürbar."

Wahlkampf und Wirtschaft 

Anfang März noch gingen viele Tunesier auf die Straße, um gegen ihren sich verschlechternden Lebensstandard zu protestieren. Die Fähigkeit des Staates, seine Auslandsschulden bis 2023 zu bedienen, gehe zu Lasten der Bevölkerung und habe zu einer Verknappung von Grunderzeugnissen geführt, sagte der Vorsitzende des tunesischen Gewerkschaftsbundes (UGTT), Noureddine Taboubi, kürzlich auf einer Kundgebung.

Die Kandidaten für das Präsidentschaftsamt werden also auch erklären müssen, wie sie den wirtschaftlichen Druck von Land und Bevölkerung zu nehmen gedenken. Unter anderem daran dürften sie am Wahltag wesentlich gemessen werden.

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

Menschenschmuggel hat Hochkonjunktur in Tunesien

Senegal: Wandel nach dem Wahlsieg von Diomaye Faye?

Der "Neue" an der Spitze des Staates hat vor allem bei der jungen Wählerschaft Hoffnungen auf Veränderungen im Senegal geweckt: Im Wahlkampf bezeichnete sich Bassirou Diomaye Faye als "Kandidat für den Systemwechsel" und als Vertreter eines "linken Panafrikanismus".

Mit seinen Vorschlägen für währungspolitische Reformen und die Neuverhandlung von Öl-, Gas- und Bergbauverträgen begeisterte er seine Anhänger. "Ich verpflichte mich, mit Bescheidenheit und Transparenz zu regieren", sagte Faye in seiner ersten Rede nach der Wahl zum Präsidenten des Landes.

Senegals gewählter Präsident Bassirou Diomaye Faye spricht mit erhobener Hand vor einem Pult, mit der Landesflaage im Hintergrund
Wahlsieger Faye sagte Korruption den Kampf an und will mehr Transparenz in seiner Regierung zeigennull Luc Gnago/REUTERS

Die "Souveränität Senegals" müsse wieder gestärkt werden. Analysten sehen darin die Absicht Fayes, den Senegal von den westlichen Mächten, insbesondere dem ehemaligen Kolonialherren Frankreich, zu distanzieren. Dazu gehört auch die Abschaffung des CFA-Franc, der streng von der französischen Zentralbank kontrolliert wird und an den Euro gekoppelt ist. 

"Die erste Veränderung, die bereits stattfindet, ist die Abkehr von der politischen Klasse, die rücksichtslos, sehr hart und gewalttätig mit unseren Bürgern und Institutionen umgegangen ist", sagte Hawa Ba, Abteilungsleiterin bei Open Society-Africa im Senegal, im DW-Interview.

Laut Ba ist die Wiederherstellung der demokratischen Institutionen die wichtigste Aufgabe, die jetzt von Faye erwartet wird. "Die Macht des Präsidenten zu beschneiden und die Bürger an die Spitze der Regierungsprozesse zu stellen."

"Ohne Sonko kein Diomaye"

Oppositionsführer Ousmane Sonko, der Fayes Kandidatur unterstützt hat, fordert entsprechende Reformen schon lange. Der 44-jährige Faye scheint seine politische Linie fortzusetzen. Wahlplakate mit dem Slogan "Diomaye ist Sonko" zeigen Sonko und Faye Seite an Seite. Beide Politiker waren die führenden "Köpfe" der senegalesischen Oppositionsbewegung.

Bei den Präsidentschaftswahlen am 24. März durfte jedoch nur einer kandidieren - Sonko war wegen einer Verurteilung in einem Verleumdungsprozess ausgeschlossen worden. Bassirou Diomaye Faye trat als unabhängiger Kandidat an, nachdem er sich mit dem charismatischen Oppositionsführer zusammengetan hatte. Sie war von den senegalesischen Behörden aufgelöst worden.

Präsidentschaftswahlen I Amadou Ba, Kandidat der Regierungspartei, sitzt im weißen Hemd vor zahlreichen Mikrofonen der Presse und spricht
Der Kandidat der Regierungspartei, Amadou Ba, gestand noch vor der Verkündung der offiziellen Wahlergebnisse seine Niederlage einnull Luc Gnago/REUTERS

Nach dem vorläufigen Endergebnis hat Faye 54,28 Prozent der Stimmen erhalten. Sein Hauptkonkurrent, der 62-jährige Amadou Ba, konnte 35,79 Prozent der Stimmen auf sich vereinen, eine deutliche Niederlage für die Regierungspartei "Allianz für die Republik". Der bisherige Premierminister Ba war mit Unterstützung des noch amtierenden Präsidenten Macky Sall angetreten.

Für die Analystin Hawa Ba - die mit dem Wahlverlierer nicht verwandt ist - war Ousmane Sonko ein wichtiger Teil dieses Puzzles, denn er sei der Kopf hinter dem Erfolg der Opposition: "Seine Vision, Führungsstärke und unerschütterliche Unterstützung für Präsident Faye in den letzten zehn Tagen des Wahlkampfes haben zum Wahlsieg geführt. Ohne Sonko gibt es keinen Diomaye."

Sonko, der Königsmacher

Auch für Ismaila Diack, Jurist und Projektleiter bei der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Dakar, ist die Wahl des Oppositionskandidaten vor allem auf Sonko zurückzuführen: Junge Senegalesen verehrten ihn als Kritiker elitärer Politiker und als Verfechter der Korruptionsbekämpfung, sagt er. "Das Volk hat offiziell für Bassirou Diomaye Faye gestimmt, aber das geschah mit der Garantie von Ousmane Sonko", sagte Diack der DW. Sonko habe die Kampagne wirklich getragen und das gesamte politische Projekt unterstützt.

Senegal Dakar | Anstehende Wahlen | Anhänger von Ousmane Sonko und Wahlsieger Diomaye Faye halten Plakate mit den Porträts beider Politiker
Junge Senegalesen stimmten für den Oppositionskandidaten Faye, der von seinem Parteifreund Ousmane Sonko unterstützt wirdnull Muhamadou Bittaye/AFP/Getty Images

Sonko wurde im Juni 2023 wegen Verleumdung verurteilt - aus seiner Sicht ein Komplott, um ihn von den Präsidentschaftswahlen auszuschließen. Bereits zuvor lieferte er sich seit 2021 einen erbitterten Machtkampf mit Präsident Macky Sall, der nach zwei Amtszeiten nicht mehr kandidieren durfte. Sall hatte aber den für den 25. Februar gesetzten Wahltermin kurzfristig verschoben. Der Verfassungsrat lehnte diesen Schritt jedoch ab und forderte einen zeitnahen Termin. Die Amtsübergabe findet somit wie vorgesehen am 2. April statt.

Vom Gefängnis in den Präsidentenpalast

Sonko ist Gründer und Vorsitzender der PASTEF-Partei. Faye, der bei der Gründung 2014 zunächst als Gast dabei war, stieg schnell zu einer der wichtigsten Persönlichkeiten der Partei auf. Als Absolvent der Ecole Nationale d'administration arbeitete er in der Generaldirektion für Steuern und Immobilien.

Dort lernte er Sonko kennen. Doch der wurde 2016 aus dem Staatsdienst entlassen, nachdem er Präsident Sall und seine "Entourage" der Unterschlagung bei der Verwaltung der natürlichen Ressourcen des Landes beschuldigt hatte.

Senegal | Präsidentschaftswahl. Ousmane Sonko gibt seinen Stimmzettel im Wahllokal Zinguinchor ab
Oppositionsführer Ousmane Sonko durfte nicht als Kandidat zur Präsidentenwahl antreten, ist aber weiterhin populär bei seinen Anhängernnull Muhamadou Bittaye/AFP

Nach Sonkos Verhaftung wurde Faye Generalsekretär der "Partei Afrikanische Patrioten Senegals für Arbeit, Ethik und Brüderlichkeit" (PASTEF) und Ersatzkandidat für Sonko. Nach der Ungewissheit über eine mögliche Kandidatur Sonkos bei den Präsidentschaftswahlen 2024 unterstützte PASTEF Faye als ihren Kandidaten im November 2023, obwohl auch er seit April 2023 inhaftiert war - wegen Missachtung des Gerichts, Verleumdung und Gefährdung des öffentlichen Friedens.

Sonko und Faye konnten das Gefängnis erst zehn Tage vor der Wahl im Rahmen einer von Präsident Sall nach politischen Unruhen gewährten Amnestie verlassen. Obwohl Faye nicht annähernd über die Erfahrung und das Charisma seines Mentors Sonko verfügt, konnte er auf eine breite Unterstützung zählen.

Könnte Sonko Faye in den Schatten stellen?

Man müsse damit rechnen, dass der charismatische Sonko Faye eines Tages übertrumpfen könnte, analysiert Ismaila Diack von der FES in Dakar. "Aber sie haben den Senegalesen versprochen, dass sie zusammenarbeiten wollen, um die Probleme des Landes zu lösen - indem sie ein soziales Konzept für die Gesellschaft entwerfen." 

Sonko könnte aktiv an der nächsten Regierung beteiligt sein, glaubt Hawa Ba. Entweder als Premierminister oder in einer ähnlichen Position mit Einfluss auf die Tagespolitik. "Allerdings ist nicht auszuschließen, dass er im Hintergrund bleibt."

Mitarbeit: Marco Wolter, Carole Assignon, George Okach

Sudan: Hungersnot nimmt zu, Kriegsparteien blockieren Hilfe

Endlich sei das richtige Wort gefallen, meinen die Aktivisten in der sudanesischen Regionalhauptstadt Al-Faschir: Die Vereinten Nationen (UN) warnen vor einer "Hungerkatastrophe" im Sudan. Damit, so die Helfer, sei die Dramatik der Lage angemessen beschrieben.

Seit einem Jahr betreibt die Aktivistengruppe eine Gemeinschaftsküche, um Hungernde zu versorgen. Doch über Monate waren ihre Mitglieder nicht in der Lage, die nötigen Gelder aufzutreiben oder Lebensmittel zu beschaffen.

"Zum Schluss gingen uns am 15. Februar die Lebensmittel aus", sagt einer der Gründer der Initiative im Gespräch mit der DW. "Seither konnten wir niemanden mehr versorgen". 

Seinen Namen will der Helfer aus Angst vor möglichen Repressalien nicht nennen. Derzeit ist die Region um Al-Faschir Schauplatz heftiger Auseinandersetzungen. Für viele Familien in der Region habe dies schlimme Konsequenzen, so der Helfer: Sie bekämen nicht einmal eine Mahlzeit am Tag.

Seit Beginn des Krieges im Sudan vor einem Jahr spielen Gemeinschaftsküchen und andere bürgerschaftlich organisierte geleitete Hilfsinitiativen, im Englischen "Emergency Response Rooms" (ERRs) genannt, eine wichtige Rolle für die Versorgung der Bevölkerung.

Unverzichtbare Hilfe

Nach einem aktuellen Bericht der Vereinten Nationen haben die ERRs über vier Millionen Zivilisten mit schneller Hilfe unterstützt. Dazu zählen die Versorgung mit Wasser und Nahrungsmitteln sowie medizinische Hilfe. Außerdem reparieren sie beschädigte Stromleitungen und sorgen sich um sichere Evakuierungsrouten. 

"Teilweise waren die lokalen Helfer die einzigen, die überhaupt humanitäre Hilfeleistungen erbrachten", sagt Michelle D'Arcy, Sudan-Länderdirektorin der humanitären Organisation Norwegian People's Aid, im DW-Interview. "Doch so bewundernswert diese Initiativen auch sind: Letztlich reichen sie nicht aus, um den massiven Bedarf vor Ort zu decken."

Sudanesische Zivilisten diskutieren über Möglichkeiten der Nahrungsmittelbeschaffung
Hilfe gegen den Hunger: Sudanesische Aktivisten beraten über mögliche Wege der Lebensmittelbeschaffungnull ERRFC

Tote, Hungernde, Vertriebene

Der brutal geführte Konflikt zwischen den von General Abdel Fattah al-Burhan geführten Sudanesischen Streitkräften (SAF) und den paramilitärischen Rapid Support Forces (RSF) unter dem Kommando von General Mohamed Hamdan Dagalo (auch Hemeti genannt) begann im April 2023. Anlass war ein Streit um die geplante Integration der RSF in die Armee des Landes. Der Konflikt verursacht die vielleicht schon jetzt größte humanitäre Krise weltweit - oder ist zumindest verantwortlich, dass der Sudan auf dem Weg dorthin ist und die Lage immer kritischer wird.

Nach Angaben des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen sind rund 18 Millionen Menschen im Sudan, also über ein Drittel der Bevölkerung, von akuter "Ernährungsunsicherheit" betroffen. Darunter seien 14 Millionen Kinder, die dringend humanitäre Hilfe benötigten, erklärte Mandeep O'Brien, UNICEF-Vertreterin im Sudan, Mitte März.

Bereits jetzt sind 2,9 Millionen Kinder akut unterernährt, informierte kürzlich der sogenannte Nutrition Cluster im Sudan, eine Partnerschaft internationaler Organisationen und Ministerien. Zudem fürchte man, in den kommenden Monaten könnten rund 222.000 stark unterernährte Kinder und mehr als 7000 junge Mütter sterben, würden ihre Ernährungs- und Gesundheitsbedürfnisse nicht erfüllt. 

Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration wurden durch den andauernden Konflikt rund 8 Millionen Menschen aus ihrer Heimat vertrieben. Zudem wurden Tausende getötet.

Trotz dieser ernsten humanitären Lage ist keine der verfeindeten Parteien bereit, humanitären Organisationen und Gütern uneingeschränkten und ungehinderten Zugang zu gewähren.

"Leider muss ich berichten, dass es vor Ort keine großen Fortschritte gegeben hat", erklärte der Direktor für humanitäre Einsätze der UNO, Edem Wosornu, kürzlich vor dem UN-Sicherheitsrat.

Systematisches Aushungern

"Mehrere Aspekte erschweren die Schaffung von Korridoren für humanitäre Hilfe und die Einrichtung entmilitarisierter Zonen", sagt die Politologin Hager Ali, die am Hamburger GIGA-Institut zur Rolle von Streitkräften in den arabischen und nordafrikanischen Ländern forscht, im DW-Gespräch.

"Um die sudanesischen Streitkräfte zu sabotieren, besetzen die Rapid Support Forces (RSF) bestimmte Straßen oder Engpässe und blockieren damit den Nachschub für die Truppen." Dies betreffe dann aber auch nicht-militärische Güter, so Ali. Die RSF plünderten alles, was ihnen in die Hände fiele. Anstatt es vor Ort an die Gemeinden zu verteilen, verkauften sie es. 

Umgekehrt kontrollierten und blockierten auch die regulären Streitkräfte (SAF) den Zugang für humanitäre Hilfe auf dem Weg in die von der RSF gehaltenen Gebiete, so Ali weiter.

Die andauernde Gewalt hindere die Bauern daran, ihre Felder zu bestellen. "Eine der Taktiken der RSF-Kriegsführung ist es, die Bevölkerung auszuhungern. Genau das passiert derzeit im Bundesstaat Dschasira", sagte Ali gegenüber DW. Unter normalen Umständen produziere der Bundesstaat im Südosten des Landes nahezu die Hälfte der gesamten sudanesischen Weizenproduktion.

"Als die RSF die Macht übernahm, verbrannten sie Ernten und plünderten Lager, stahlen Landmaschinen und sogar Saatgut für die Aussaat", sagt Ali. Außerdem würden die Bauern vor die Wahl gestellt, sich den Milizen anzuschließen oder hingerichtet zu werden.

Vertriebene Kinder suchen unter der Veranda eines Hauses Schutz vor der Sonne
Hunderttausenden sudanesischen Kindern droht der Hungertod null -/AFP/Getty Images

Hoffnung auf Geberkonferenz

Zivilgesellschaftliche Aktivisten und andere humanitäre Helfer blicken nun bereits in Richtung einer Mitte April angesetzten Geberkonferenz in Paris. Der Bedarf des Landes ist weiterhin riesig: Der diesjährige humanitäre Hilfsplan der Vereinten Nationen in Höhe von 2,7 Milliarden US-Dollar (knapp 2,5 Milliarden Euro) ist nur zu vier Prozent finanziert. Er umfasst bisher lediglich 131 Millionen US-Dollar (knapp 121 Million Euro).

Doch trotz aller Herausforderungen geben die Aktivisten der Gemeinschaftsküche in Al-Faschir nicht auf. "Wir werden weiterhin Vorschläge Vorschläge an humanitäre und Nichtregierungsorganisationen schicken. Wir hoffen, dass die Finanzierung irgendwann wieder anläuft", sagen sie.

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

Sudan: Leben in permanenter Panik und Unsicherheit

Senegal: Wahlen mit Vuvuzelas

An diesem Sonntag wurde im Senegal gewählt. Der Wahlkampf war voller Schwung, mit Kundgebungen, Autokorsos und Politikern, die von Tür zu Tür gingen, um die Wähler für sich zu gewinnen.

Weil die ursprünglich für Februar angesetzten Wahlen verschoben wurden, verkürzte sich die Zeit für die offizielle Wahlkampagne. So blieben den 19 Kandidaten, die sich um das Präsidentenamt in dem westafrikanischen Land bewerben, nur zwei Wochen, die mehr als sieben Millionen registrierten Wähler von sich zu überzeugen.

Bassirou Diomaye Faye, einer der Spitzenkandidaten in dieser Wahl, hatte noch weniger Zeit. Er war seit April 2023 inhaftiert und konnte das Gefängnis im Rahmen eines Amnestieabkommens erst am Donnerstag in der Woche vor den Wahlen verlassen. So blieb ihm nur wenig mehr als eine Woche für persönliche Begegnungen mit den Wählern.

Amadou Ba, Macky Salls Wunschkandidat

Präsident Macky Sall sähe es am liebsten, wenn ihm Amadou Ba im Amt folgen würde. Dieser trat dafür von seinem Amt als Premierminister zurück, um für die Präsidentschaft zu kandidieren.

Der 62-Jährige, der auf eine lange Karriere im Staatsdienst zurückblicken kann und auch schon das Amt des Wirtschafts- und des Außenministers bekleidete, ist mit dem Slogan "Prosperity Shared" (Gemeinsamer Wohlstand) angetreten.

Präsident Macky Sall und der damalige Premierminister Amadou Ba geben sich die Hand
Präsident Macky Sall (r.) hofft, dass Amadou Ba (l.) seine Nachfolge antrittnull SEYLLOU/AFP/Getty Images

Bevor Sall die Wahlen im Februar unvermittelt aussetzte, wurde Ba allgemein als wahrscheinlicher Gewinner betrachtet. Doch die Verschiebung der Wahlen schürte die schwelende Verdrossenheit der Menschen mit der regierenden Benno-Bokk-Yakaar-Koalition nur noch weiter.

Ba habe die Wähler nicht begeistern können, schreibt Amy Niang vom "Council for the Development of Social Science Research in Africa", einem regierungsunabhängigen Forschungsinstitut, in einem Artikel in der Online-Publikation The Conversation.

Dort heißt es: "Ba steht für den Status Quo. Er ist ein wohlhabender Kandidat, dem es schwer fällt, die verarmte Wählerschaft davon zu überzeugen, dass er der Aufgabe gewachsen ist."

Trotz massiver Investitionen in den Gas- und Ölsektor des Landes mit 18 Millionen Einwohnern leben drei von fünf Senegalesen unterhalb der Armutsgrenze.

Bassirou Diomaye Faye: viele Monate in Haft

Der erst kurz vor der Wahl aus der Haft entlassene Kandidat Faye wiederum war wegen Missachtung des Gerichts, Verleumdung und möglicher Gefährdung des öffentlichen Friedens angeklagt worden.

Die Veröffentlichung einer Nachricht, die als kritisch gegenüber dem Justizsystem des Landes angesehen wurde, hatte im April 2023 zu seiner Verhaftung geführt.

Der 49-jährige Steuerprüfer wurde einer größeren Öffentlichkeit erst durch die Unterstützung des charismatischen Oppositionspolitikers Ousmane Sonko bekannt. Der war im vergangenen Jahr ebenfalls inhaftiert worden und wurde am Donnerstag, dem 14. März zusammen mit Faye freigelassen.

Sonko galt als wichtigster Herausforderer der Regierungspartei von Macky Sall. Aufgrund einer Verurteilung wegen Verleumdung wurde er jedoch von der Kandidatur ausgeschlossen. Im Volk genießt er weiterhin breite Unterstützung.

Wahlplakat von Bassirou Diomaye Faye
Auf seinen Wahlplakaten wirbt Diomaye Faye (r.) mit der Unterstützung durch Sonko (l.)null SEYLLOU/AFP

Tausende von Unterstützern strömten auf die Straßen der Hauptstadt Dakar, um seine Freilassung zu feiern. Autos hupten und singende und tanzende Menschen riefen "Sonko, wir haben dich vermisst". Wahlplakate mit dem Slogan "Diomaye ist Sonko" zeigen nun Sonko und Faye Seite an Seite.

Bassirou Diomaye Faye hat nicht nur versprochen, die Korruption zu bekämpfen, er will auch Verträge zwischen der Regierung und Unternehmen in zahlreichen Bereichen, von Energie über Bergbau bis zu Fischerei, neu verhandeln.

Seine Unterstützung durch Sonko sendet ein Signal der Hoffnung, denn Sonko ist bei den jungen Menschen in den Städten beliebt, die vom Mangel an Arbeitsplätzen und die wirtschaftlichen Not frustriert ist. Etwa 60 Prozent der senegalesischen Bevölkerung ist jünger als 35 Jahre.

Schon vor seiner unerwarteten Entlassung aus dem Gefängnis gingen die Wahlkämpfer seiner Partei von Tür zu Tür, um um Stimmen zu werben. "Jeden Abend zwischen 18 und 22 Uhr, klopften wir an die Türen", erzählt Fatou Bintou Sarr der DW. Sie leitet in der Gemeinde von Pikine Nord in der Nähe von Dakar die Kampagne der Frauen. "Wir waren bereits in der gesamten Gemeinde. Jetzt müssen wir die Leute nur noch motivieren, wählen zu gehen."

Unter den Kandidaten ist nur eine Frau

Zu den 19 Kandidaten zählen auch der 63-jährige ehemalige Premierminister Idrissa Seck, der bei den Wahlen 2019 auf dem zweiten Platz landete, sowie Khalifa Sall, 68, der zweimal Bürgermeister von Dakar war und nicht mit dem Präsidenten verwandt ist, und – als einzige Frau – die 40-jährige Unternehmerin Anta Babacar Ngom.

"Man kann nicht über die Entwicklung des Senegal sprechen, ohne über Frauen und junge Menschen zu sprechen", sagt Fatou Sylla, die für Ngoms Wahlkampagne arbeitet, zur DW. "Sie ist nicht nur eine Frau, sie ist auch jung und Unternehmerin. Wir sind sehr stolz."

Erstmals wird im Fastenmonat Ramadan gewählt

Zum ersten Mal wird in dem überwiegend muslimischen Land während des Ramadan gewählt, für Muslime weltweit ein Monat des Fastens, Betens und der inneren Einkehr. Iman Moctar Ndiaye von der Großmoschee "Liberte 6" in Senegals Hauptstadt Dakar findet mahnende Worte für seine Landsleute während des Wahlkampfes.

"Niemand sollte das Fasten brechen und untertags in Autokolonnen herumfahren, mit Beleidigungen um sich werfen und sich so verhalten, dass der soziale Frieden und die Stabilität des Landes gefährdet wird", erklärte er.

Jubelnde Menschen nach der Freilassung der Oppositionspolitiker Sonko und Faye
Nach Freilassung der Oppositionspolitiker Sonko und Diamaye feierten ihre Anhänger in den Straßen von Dakarnull Zohra Bensemra/REUTERS

Wahlexperte El Hadji Saidou Nourou Dia befürchtet, dass es mitten im Ramadan schwierig wird, eine hohe Wahlbeteiligung zu erreichen. "Aber wenn jeder Senegalese gewillt ist, zur Entwicklung des Landes beizutragen, sollte das Fasten einen nicht davon abhalten, zur Wahl zu gehen. Jeder einzelne von uns sollte die Verantwortung dafür tragen, welchen Präsident wir wählen", sagt er zur DW.

Warum blickt die Welt auf den Senegal?

Seit der Senegal 1960 die Unabhängigkeit von Frankreich errang, werden regelmäßig Wahlen abgehalten. Zu einem Staatsstreich kam es nie. Das macht den Senegal zu einem Bollwerk der Stabilität in einer ansonsten instabilen Region, die in den vergangenen Jahren durch militärische Machtübernahmen in Mali, Burkina Faso, Guinea und Niger erschüttert wurde und durch eine sich verschlechternde Sicherheitslage und wachsenden islamistischen Terror gezeichnet ist.

Protest in Dakar: Rauch und rennende Menschen
Nach der Verschiebung der Wahlen kam es zu Protestennull John Wessels/AFP

Die Verschiebung der für den 25. Februar geplanten Wahlen stürzte den Senegal jedoch zunächst in eine politische Krise. Denn acht Stunden vor dem offiziellen Beginn des Wahlkampfs hatte der scheidende Präsident Sall die Wahlen abgesagt und damit gewaltsame Proteste und Festnahmen ausgelöst.

Der Verfassungsrat, die oberste Wahlbehörde des Senegal, machte Salls Entscheidung, die Wahlen bis in den Dezember zu schieben, allerdings wieder rückgängig und entschied, dass sie vor dem Ende seiner Amtszeit am 2. April abzuhalten seien.

Für Djibril Gningue, Exekutivdirektor der Plattform der zivilgesellschaftlichen Akteure für die Transparenz der Wahlen im Senegal, besteht die Herausforderung für sein Land nun in der Rückkehr zu, "friedlichen, ehrlichen und transparenten Wahlen, die dem Wahlkalender folgen".

Mit Wahlergebnissen wird erst in den Tagen nach der Wahl gerechnet. Erhält keiner der 19 Kandidaten mehr als 50 Prozent der Stimmen, kommt es zu einer Stichwahl.
 

Zu diesem Artikel hat Robert Ade in Dakar beigetragen.

Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.

Sissoco Embaló: Guinea-Bissaus starker Mann oder Diktator?

Seitdem Umaro Sissoco Embaló Präsident Guinea-Bissaus ist, führt er sein Land sukzessive in den Ausnahmezustand: Sissoco, wie er im Volksmund genannt wird, ging in den letzten vier Jahren systematisch auf Kollisionskurs mit politischen Gegnern, dem Parlament und anderen Instanzen des Staates. Ausgangspunkt war der misslungene Putschversuch gegen ihn vom 1. Februar 2022, auf den er mit einer Verhaftungswelle von Oppositionellen reagierte. Auf ein ihm widerstrebendes Parlamentswahlergebnis im Juni 2023 reagierte der ehemalige Brigadier-General und Premierminister mit der Auflösung des Parlaments. Anschließend entließ er die gewählte Regierung. Schließlich drängte er im Dezember 2023 den Präsidenten des Obersten Gerichtshofes aus dem Amt.

All diese Schritte begründete der 51-Jährige mit der Notwendigkeit einer "Säuberung des Landes von destruktiven und korrupten Elementen". Er wolle zudem die "Ordnung und Disziplin" im Land wiederherstellen. Bis diese Ziele erreicht seien, werde Guinea-Bissau von einer "Übergangsregierung auf Initiative des Präsidenten", also von ihm selbst, regiert. Noch im Lauf dieses Jahres solle es Neuwahlen geben, verspricht er. Erst danach könne eine verfassungskonforme Normalität im Lande wieder hergestellt werden.

Kritische Stimmen

Carmelita Pires vor einer roten Wand
Juristin und Ex-Justizministerin Carmelita Pires: "Präsident Sissoco missachtet die Verfassung von Guinea-Bissau"null DW/F. Tchumá

Viele Bürger sehen Freiheit und Demokratie gefährdet und das Land auf dem Weg in die Diktatur. Doch nur wenige trauen sich, offen Kritik am Präsidenten zu äußern. Ex-Justizministerin Carmelita Pires ist eine der wenigen, die kein Blatt vor dem Mund nehmen. Seit Sissoco an der Macht ist, fühle sie sich an die dunklen Zeiten des marxistischen Einparteiensystems erinnert, das in Guinea-Bissau erst 1994 reformiert wurde: "Sissoco missachtet sämtliche Prinzipien unseres Rechtstaates, indem er sämtliche Gewalten auf sich vereinigt: Als Präsident und selbsternannter Regierungschef kontrolliert er die Exekutive. Gleichzeitig setzt er die Judikative unter Druck. Und nach der Auflösung des Parlaments konditioniert er auch die Legislative", so die Juristin in einer Videobotschaft an die DW. Sissoco lege eindeutig ein "diktatorisches Verhalten" an den Tag, so das Fazit von Carmelita Pires.

Bucar Turé steht vor einem Transparent, Reporter halten ihm Mikrofone hin
Bubacar Turé, Präsident der guineischen Liga für Menschenrechtenull Alison Cabral/DW

Auch Bubacar Turé, Präsident der guineischen Liga für Menschenrechte, sieht die Demokratie in Gefahr: "Wir haben eine Regierung, die allein auf Initiative des Präsidenten, also ohne Zustimmung des Parlaments, zusammengesetzt wurde. Damit ist zu viel Macht in der Person des Staatspräsidenten konzentriert. Zurzeit sind der Rechtstaat und die Demokratie in Guinea-Bissau de facto außer Kraft gesetzt."

Wann gibt es Neuwahlen?

Im Juni 2023 hatte ein Bündnis unter Führung der früheren Befreiungsbewegung PAIGC die absolute Mehrheit gewonnen - und nicht Sissocos Partei Madem G15, die sich einst von PAIGC abgespalten hatte. Sissoco weigerte sich aber, den Vorsitzenden der PAIGC, seinen Erzfeind Domingos Simões Pereira, mit der Regierungsbildung zu beauftragen. Erst mit großer Verzögerung ernannte er dessen Stellvertreter Geraldo Martins zum Regierungschef.

Doch die Regierung hielt nur wenige Monate: Im Dezember 2023 nahm Präsident Sissoco die Verhaftung mehrerer PAIGC-Regierungsmitglieder, die unter Korruptionsverdacht standen, zum Anlass, das Parlament aufzulösen und damit gleichzeitig die PAIGC-Regierung abzusetzen.

Parlamentsgebäude in Bissau: Seit Dezember 2023 ist das Parlament aufgelöst. Gewählte Parlamentarier dürfen das Gebäude nicht mehr betreten
Parlamentsgebäude in Bissau: Seit Dezember 2023 ist das Parlament aufgelöst. Gewählte Parlamentarier dürfen das Gebäude nicht mehr betreten null Alison Cabral/DW

Sissoco kündigte an, dass noch in diesem Jahr, vorzugswiese im Juni, ein neues Parlament gewählt werden soll. Doch die Voraussetzungen für Neuwahlen sind nach Meinung von Beobachtern - rein organisatorisch - nicht gegeben. Die Amtszeit der Kommissionsmitglieder, die vom Parlament bestimmt werden müssten, sei längst abgelaufen, beklagt Juristin Carmelita Pires. Und da das Parlament aufgelöst sei, sei es quasi unmöglich, dass sich die verschiedenen Parteien mittelfristig auf die Zusammensetzung einer neuen Wahlkommission einigen. Sie glaubt: "Unter diesen Umständen werden wir auf keinen Fall in der Lage sein, in den nächsten Zeiten freie, faire und legale Wahlen durchzuführen."

Sissoco verteidigt sich und setzt seinen Kurs unbeirrt fort

Sissoco weist Vorwürfe, eine Diktatur errichten zu wollen, entschieden zurück. "Das ist typisch für Afrika: Wenn einer, wie ich, für Ordnung und Disziplin sorgt, dann wird er sofort als Diktator beschimpft. Dabei habe ich nichts von einem Diktator! Ich bin ein Mann des Volkes!", sagte Sissoco Embaló in einer Videobotschaft, die er Ende 2023 über Facebook verbreitete.

Menschen halten Fahnen und Transparente vor winterlicher Stadtkulisse
Kritik aus dem Exil: In Lissabon wurde im Februar gegen den Präsidenten von Guinea-Bissau protestiertnull João Carlos/DW

In dieser Woche drohte er auf einer Pressekonferenz indirekt seinen Kritikern: Menschen, die ihn diffamierten, würden gnadenlos, "notfalls bis nach China" verfolgt werden, so der Staatspräsident. Kritischen Journalisten weicht Sissoco normalerweise aus. Seit seinem Amtseintritt bleiben auch mehrere Interviewanfragen der DW unbeantwortet.

Erfolge auf internationaler Bühne

Gleichzeitig versucht Sissoco sein Image auf internationaler Ebene aufzupolieren. Im Juli 2022 übernahm er für ein Jahr den Vorsitz der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS und hat während der Zeit bei Staatschefs mächtiger Staaten der Region viel Lob geerntet und Respekt erworben. Senegals Präsident Macky Sall habe er, zum Beispiel, als engen Verbündeten für sich gewinnen können, behauptete Sissoco immer wieder in den sozialen Medien.

Im Mai 2023 nahm er an einer Mission von sechs afrikanischen Staatschefs teil, die im Krieg zwischen Russland und der Ukraine vermitteln wollen. Dafür fuhr er auch nach Kiew und Moskau. Vor wenigen Wochen reiste Sissoco zudem nach Israel und ins Westjordanland, wo er mit Palästinenserführer Mahmud Abbas zusammentraf und die Möglichkeiten eines Waffenstillstands im Gazastreifen erörterte.

Ukraine |  Wolodymyr Selenskyj empfängt Umaro Sissoco Embalo
Vermittlungsversuch im Kriegsgebiet: Umaro Sissoco Embaló im Oktober 2022 zu Gast beim ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyjnull Ukraine Presidency/ZUMA/IMAGO

Sissoco gefällt sich in der Rolle des friedlichen afrikanischen Friedensstifters: "Es ist mir gelungen, Guinea-Bissau im Konzert der Nationen neu zu positionieren. Guinea-Bissau ist zwar ein kleines Land, was die Größe seines Territoriums angeht, aber ich habe den Beweis erbracht, dass es keine kleinen Staaten gibt", sagte Sissoco auf einer Pressekonferenz.

Kritische Beobachter wie die Juristin Carmelita Pires sehen das anders: Das Land stecke in einer Sackgasse. Präsident Sissoco habe sich verrannt und müsse sofort umkehren: "Guinea-Bissau steht am Rande des Abgrunds. Ein Schritt weiter, und dieser Staat fällt ins Bodenlose."

Mitarbeit: Braima Darame, Djariatú Baldé

Die Zahl neurologischer Erkrankungen ist in Afrika sehr hoch

Die Prävalenz neurologischer Erkrankungen ist in Afrika sehr hoch und hat verheerende Auswirkungen auf die örtlichen Gemeinschaften.

"Psychische Gesundheit und neurologische Erkrankungen werden in Kenia oft missverstanden", sagt Penny Wangari-Jones, Gründungsmitglied von Hidden Voices , einer in Kenia ansässigen Wohltätigkeitsorganisation für psychische Gesundheit. "Die Menschen werden oft in Kirchen gebracht, um dort für sie zu beten oder man sagt ihnen, sie seien besessen. Viele Patienten werden vernachlässigt, in Häuser eingesperrt oder in Anstalten zurückgelassen, um zu Sterben. Es ist erschütternd."

Neurologische Erkrankungen sind heute weltweit die häufigste Krankheitsursache - etwa 3,4 Milliarden Menschen leben mit neurologischen Problemen. Im Vergleich zu anderen Regionen sind neurologische Erkrankungen in Afrika südlich der Sahara unverhältnismäßig häufig.

50 Prozent der Menschen, die in Afrika eine Notaufnahme aufsuchen, haben irgendeine Art von neurologischer Beeinträchtigung. Die Zahl neurologischer Erkrankungen ist oft doppelt so hoch wie in Regionen mit höherem Einkommen. Die Prävalenz von Epilepsie zum Beispiel ist in Afrika südlich der Sahara zwei- bis dreimal so hoch wie in Europa.

"Da es oft keine Gesundheitsdienste oder Anlaufstellen für die Menschen gibt, haben die örtlichen Gemeinschaften keine Möglichkeit, sich um Menschen mit neurologischen oder psychischen Erkrankungen zu kümmern", so Wangari-Jones gegenüber DW.

Klinik in der Zentralafrikanischen Republik - Zimmer mit mehreren Betten
Die meisten Regionen in Afrika haben einen Mangel an medizinischem Personalnull BARBARA DEBOUT/AFP/Getty Images

Warum gibt es in Afrika so viele neurologische Erkrankungen?

Die wichtigsten Faktoren, die zu neurologischen Erkrankungen beitragen, sind Schlaganfall, neonatale Enzephalopathie (Hirnverletzungen), neuropathische Schmerzen oder Nervenschmerzen, Alzheimer und andere Formen von Demenz.

Ein Grund für die höhere Prävalenz in Afrika sind Infektionskrankheiten wie HIV, Meningitis und Malaria. Sie können neurologische Komplikationen wie Enzephalitis - eine Entzündung des Gehirns - verursachen.

Laut Jo Wilmshurst, Leiter der pädiatrischen Neurologie am Red Cross War Memorial Children's Hospital im südafrikanischen Kapstadt, sind die Probleme jedoch auch auf verschiedene sozioökonomische und gesundheitspolitische Faktoren zurückzuführen.

"Es kann sein, dass ein Kind [mit neurologischen Erkrankungen] eher in einem Umfeld geboren wird, das sozioökonomisch benachteiligt ist und die Mutter möglicherweise mit HIV infiziert ist. Sie könnten auch Tuberkulose haben. Und dann gibt es noch all die Probleme mit dem Zugang zu Therapien", so Wilmshurst.

Neurologische Probleme begännen oft schon vor der Geburt, fügt sie hinzu. Komplikationen oder Infektionen während der Geburt können zu bleibenden neurologischen Schäden führen. Der Mangel an Neonatologen, die sich um Neugeborene kümmern, bedeutet, dass die Schäden oft nicht rechtzeitig diagnostiziert oder behandelt werden, um dauerhafte neurologische Schäden zu verhindern.

"Dann ist da noch die Gesundheit von Müttern. In Westkap haben wir pandemische Ausmaße von Toxinbelastung durch das fetale Alkoholsyndrom [FASD]. Dieses verursacht bei Kindern neurologische Störungen", erklärt Wilmshurst.

Abwanderung medizinischer Fachkräfte stoppen

Derzeit gibt es in Afrika nicht genügend Fachärzte und anderes medizinisches Personal, um das Ausmaß an neurologischen Erkrankungen zu bewältigen. Das gilt auch für die Belastung, die dadurch entsteht.

"Das Hauptproblem ist, dass die Ausbildung von Fachärzten in Afrika nicht richtig Fuß gefasst hat. Man kann die höchste Prävalenz neurologischer Erkrankungen in Regionen feststellen, in denen es keine Neurologen gibt", so Wilmshurst.

Die Zahl der Neurologen in den afrikanischen Ländern unterscheidet sich auffallend von der in Europa: In Afrika kommen auf 100.000 Einwohner 0,03 Neurologen, in Europa sind es 8,45 Neurologen pro 100.000.

Wilmshurst konstatiert, dass sich die Dinge verbessern. Der Ausbau neurologischer Dienst habe auch in Afrika begonnen. Dazu gehört auch die Ausbildung von Fachärzten.

"Wir nehmen für die Dauer von zwei Jahren einen Kliniker [aus Afrika] auf und machen mit ihm [in Südafrika] eine intensive Ausbildung. Der erste von ihnen, der nach Tansania zurückgekehrt ist, war der erste Kinderneurologe im ganzen Land", erzählt Wilmshurst.

Obwohl das Programm in den letzten 16 Jahren nur etwa 200 Fachärzte ausgebildet hat, ist die Wirkung enorm.

"Einer unserer Auszubildenden ist zurück nach Kenia gegangen, wo er sich für die Einführung der Rotavirus-Impfung eingesetzt hat. Wir wissen, dass die Sterblichkeitsrate auf Grund von Komplikationen mit dem Rotavirus dann drastisch gesunken ist. Er hat dort ein paar Millionen Leben gerettet", sagt Wilmshurst.

Zusammenarbeit im Kampf gegen neurologische Erkrankungen

Wangari-Jones ist der Auffassung, dass es bei der Bekämpfung belastender neurologischer Erkrankungen wichtig ist, die verschiedenen Hilfsprogramme in die örtliche Gemeinschaft zu integrieren.

"Es gibt viele Ängste und Befürchtungen bezüglich der Medikamente oder der modernen Medizin. Sie sind oft auf ein Trauma aus der Kolonialzeit zurückzuführen. Eine der Herausforderungen besteht darin, bei neurologischen Erkrankungen nicht zu sehr auf Medikamente zu setzen. Die Menschen könnten sich sonst von der ursprünglichen Art entfernen, wie in den Kommunen Menschen gepflegt werden."

Wangari-Jones arbeitet mit Hidden Voices daran, Stigmatisierung und Ängste im Zusammenhang mit neurologischen und psychischen Erkrankungen abzubauen. Deshalb spricht sie oft vor Kirchengruppen in Kenia und in Schulen.

"In diesen Gesprächen erzählen die Menschen oft von ihren Problemen und von Vorfällen, die Familienmitglieder betreffen. Auf diese Weise erreichen wir die Menschen in der Gemeinde und helfen ihnen, Zugang zu Gesundheits- und Sozialdiensten zu erhalten", sagt sie.

Das Gesundheitswesen ist für Wilmshurst ebenfalls ein wichtiges Thema, zu dem sie spezielle Trainingsprogramme organisiert. Die Gesundheit der Bevölkerung ist dabei ein wichtiges Ziel. Gesundheits- und Pflegepersonal der Gemeinden werden darin geschult, neurologische Krankheiten zu erkennen und zu behandeln. Das geschieht oft im Rahmen bestehender Programme für HIV- oder Tuberkulosebehandlung.

"Die Menschen in Afrika sind vielbeschäftigt", sagt Wilmshurst. "Die Arbeitsbelastung ist enorm und es gibt viele Verpflichtungen. Der einzige Weg, die Situation zu ändern, besteht darin, Lösungen zu finden, die in der betreffenden Arbeitsumgebung machbar und anpassungsfähig sind."

 

Quellen:

Nervous System Disorders Collaborators (2024). Global, regional, and national burden of disorders affecting the nervous system, 1990-2021: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2021. Lancet Neurology. DOI: 10.1016/S1474-4422(24)00038-3

 

Islamisten sorgen im Norden von Mosambik für Panik

Seit Anfang 2024 erleben die Menschen im nordmosambikanischen Cabo Delgado eine neue Welle der Gewalt. In mehreren Küstenorten kam es zu Kämpfen zwischen Dschihadisten und Sicherheitskräften. In der Folge flohen zwischen Anfang Februar und Anfang März rund 100.000 Menschen aus ihrer Heimat, darunter mehr als 61.000 Kinder, wie die Internationale Organisation für Migration der Vereinten Nationen angibt.

Der Konflikt in der nördlichsten Provinz Mosambiks schwelt bereits im siebten Jahr. Immer wieder berichten Augenzeugen von Enthauptungen und Entführungen, denen auch Kinder zum Opfer fallen. Insgesamt wurden seit Beginn des bewaffneten Konflikts 2017 rund 780.000 Menschen vertrieben.

Ein ähnliches Bild im Osten der Demokratischen Republik Kongo, wo rund sieben Millionen Menschen auf der Flucht sind: Hier kämpft die kongolesische Armee mit ihren Verbündeten vor allem gegen die Rebellengruppe M23, auch Kämpfer der islamistischen Miliz ADF verübten Angriffe mit zahlreichen Toten. Laut UN-Angaben sind im Verlauf eines Monats mindestens 250.000 Menschen vor den Auseinandersetzungen geflohen.

Islamisten überqueren Grenzen

"Was hat der Krieg im Osten der Demokratischen Republik Kongo mit den dschihadistischen Umtrieben in Cabo Delgado zu tun?", fragt  Fernando Cardoso, Ökonom und Experte in Internationalen Beziehungen an der Autonomen Universität Lissabon - und liefert die Antwort gleich mit: "Islamistische Kämpfer wandern scheinbar ungehindert zwischen beiden Kriegsschauplätzen hin und her: Wenn sie im Osten der Demokratischen Republik Kongo unter Druck der kongolesischen oder ugandischen Regierungstruppen geraten, weichen sie einfach nach Cabo Delgado aus - und umgekehrt."

Afrikaexperte Cardoso bezieht sich vor allem auf Angehörige von bewaffneten Gruppen, die seit Jahrzehnten im Osten der Demokratischen Republik Kongo aktiv sind, wie die aus Uganda stammenden "Vereinigten Demokratischen Kräfte" (ADF).

"Nicht wenige dieser schwerbewaffneten dschihadistischen Kämpfer, die die ostkongolesischen Provinzen Ituri und Nordkivu unsicher machen, sind in den vergangenen Monaten in die nordmosambikanische Provinz Cabo Delgado ausgewichen. Dort verfolgen sie ihre politischen Ziele nach einem vom "Islamischen Staat" (IS) vorgegebenen Drehbuch." Der IS verfolge das Ziel, ein Kalifat entlang der gesamten ostafrikanischen Swahili-Küste zu gründen.

Auf einer Straße sind viele Passanten, bepackte Autos und LKW sowie ein Militärfahrzeug zu sehen
Die mosambikanischen Sicherheitskräfte kontrollieren nur die wichtigsten Distrikthauptstädte und Straßen in der Provinz Cabo Delgadonull Delfim Anacleto

Weite Teile der Provinz Cabo Delgado sind ungeschützt

Fernando Cardosos These: Islamistische Terrorgruppen in Afrika sind immer besser vernetzt und können so immer leichter auf Vorstöße der Sicherheitskräfte reagieren. Besonders abgelegene Gebiete wie Nordmosambik seien schwerbewaffneten Dschihadisten schutzlos ausgesetzt.

Die mosambikanische Sicherheitsexpertin Egna Sidumo teilt diese Ansicht: "Nach Cabo Delgado strömen immer mehr Kämpfer unterschiedlicher Nationalitäten, hauptsächlich Kongolesen, Ugander und Tansanier, aber auch Kenianer und Südafrikaner", sagt Sidumo, die an der norwegischen Universität Bergen zur Konfliktlösung in Cabo Delgado forscht, im DW-Interview.

Es gebe nur eine Lösung: Die Sicherheitskräfte müssten ebenfalls verstärkt international zusammenarbeiten. Doch das geschehe bislang nur in sehr unzureichendem Maße. 

"Wenn sie unter Druck gesetzt werden, ziehen sich islamistische Kämpfer mit ihren Waffen aus dem Kongo ins benachbarte Tansania zurück. Und von dort ist es nicht mehr weit bis nach Mosambik."

Das Land müsse jetzt begreifen, dass nationale Lösungen für das Problem des Dschihadismus nicht mehr ausreichten. Der Kampf gegen den Islamismus müsse vielmehr den afrikanischen Kontinent als Ganzes im Blick haben, so Sidumo.

Die kongolesische Perspektive

Auch der kongolesische Investigativjournalist Fiston Mahamba weiß von Verbindungen zwischen beiden Kampfschauplätzen. "Es sind schon mehrmals Kämpfer aus dem Ostkongo in Mosambik festgenommen worden", sagt Mahamba der DW. "Und es gibt gesicherte Erkenntnisse darüber, dass es vor allem Mitglieder der ugandischen ADF sind, die die sogenannten ‘Shabaabs‘ in Mosambik ausgebildet haben." So werden die islamistischen Kämpfer in Mosambik genannt.

Andererseits seien aber auch schon mosambikanische Dschihadisten im Kongo gefasst worden, so Mahamba, der an der Sorbonne forscht und Mitgründer des kongolesischen Faktencheck-Portals "Congo Check" ist, im DW-Interview. Die verschiedenen Dschihadistischen Gruppen in den unterschiedlichen Regionen des Kontinents hätten ihre Kontakte in letzter Zeit erheblich intensiviert.

Mehrere bewaffnete Soldaten laufen bei einer gemeinsamen Aktion eine unbefestigte Straße entlang
Soldaten der Demokratischen Republik Kongo und Ugandas 2021 bei einer Operation gegen die islamistischen Rebellen der ADFnull Alain Uaykani/Xinhua/picture alliance

Mahamba hat vor allem die Einnahmequellen der islamistischen Organisationen im Kongo untersucht. "Sie finanzieren sich vor allem durch Schmuggel von Drogen und Waffen, aber auch durch Entführungen. Im Ostkongo überfallen sie regelmäßig Dörfer und rauben zum Beispiel die Ernten von Kakaobauern."

Zudem würden ausländische Organisationen mit Verbindungen zum IS Geld schicken, sagt Mahamba: "Regelmäßig kommen Emissäre aus dem Nahen Osten mit Koffern voller Geld, etwa aus Syrien oder Irak." Dieses im Kongo erprobte System solle jetzt nach und nach auf die Nachbarländer der Region, vor allem auf Nordmosambik, übertragen werden.

"Der Einfluss der islamistischen Terroristen im Ostkongo auf die mosambikanischen 'Shabaabs' ist unübersehbar", resümiert Mahamba. Für ihn zeigt sich das gerade auch in der Sprache: "Die meisten Propaganda-Videos, die von den ‘Shabaabs‘ in Cabo Delgado veröffentlicht werden, werden auf Kisuaheli verfasst und eingesprochen."

Mahambe erkennt hier Dialekte, wie sie in Uganda und im Ostkongo, aber auch in Tansania gesprochen werden." Allein das deute darauf hin, dass der Einfluss dieser Länder auf den Dschihadismus in Cabo Delgado sehr groß ist, und dass zumindest ein Teil der Hintermänner aus Tansania, Uganda oder dem Ostkongo stammten.

Mitarbeit: Nádia Issufo

Dschihadistische Gewalt in Mosambik eskaliert

Kobalt aus dem Kongo: Die harte Arbeit in den Minen

Ein schmaler Schacht führt senkrecht in die Tiefe. Pierre Amani Kangenda kann das Ende nicht sehen, dafür die Stirnlampen junger Männer, die einen 20 Kilogramm schweren Sack nach dem anderen nach oben hieven. Kupfer und Kobalt sind es, wonach sie hier im Süden der Demokratischen Republik Kongo mit Spitzhacken und Schaufeln graben.

"Sobald sie die Ader erreichen, fangen sie an, die Rohstoffe abzubauen", sagt Kangenda, der auf seinem täglichen Kontrollgang die Mine am Stadtrand von Kolwezi abschreitet. "Wenn sie 30 Meter Tiefe erreichen, dann hören sie auf und suchen sich einen anderen Ort zum Graben. So schreiben es die Regeln vor." Ein Standard, der im Kleinbergbau bei Weitem nicht selbstverständlich ist: Anderswo gehen die Stollen bis zu 100 Meter tief in die Erde.

Die Arbeit ist hart und gefährlich - aber etwas sicherer als andernorts. Dafür trägt Kangenda Sorge, ein gelernter Bergbauingenieur, ausgestattet mit greller Sicherheitsweste, der als Kontrolleur und Ausbilder im Auftrag des Dienstleistungsunternehmens RCS Global für das Gelände zuständig ist. "Ich überprüfe, welche Probleme es gibt. Sind Kinder vor Ort? Gibt es Rohstoffe, die von außerhalb kommen und die Lieferkette verunreinigen? Gibt es Gewalt und Vergewaltigungen?"

Amani Kangenda Pierre steht in schwarzem T-Shirt und neongelber Weste auf einem Minengelände, die Hand an eine Mauer aus prallgefüllten Säcken gelehnt
Pierre Amani Kangenda kontrolliert, ob in den Minen Standards eingehalten werdennull Jonas Gerding/DW

Die Stollen müssen gesichert sein, bei Rissen geschlossen werden. Ein Wellblechdach schützt die Löcher vor Regen. Schwangere Frauen dürfen nicht aufs Gelände und keine Militärs. "Wenn es Vorfälle gibt, dann teilen wir sie unseren Partnern mit. Wir versuchen, sie zu korrigieren, damit die Lieferkette international akzeptabel ist", sagt er.

Den Ruf der E-Mobilität retten

Die Informationen trägt Kangenda in ein Computerprogramm ein. Über das Programm "Better Mining" werden noch sieben weitere Minen in der Region überwacht. Partnerfirmen entlang der Lieferkette können die Daten einsehen - und darauf reagieren.

Gerade für Hersteller von E-Autos steht viel auf dem Spiel. Der Kongo stemmt zwei Drittel der weltweiten Förderung von Kobalt, einem Rohstoff, den es für die gängigen Lithium-Ionen-Batterien braucht. Damit belegt das Land einen sicheren ersten Platz vor Australien und Russland. 15 bis 20 Prozent des kongolesischen Kobalt werden im Kleinbergbau gefördert. Berichte über Kinderarbeit und verschüttete Bergleute schaden dem als nachhaltig vermarkteten Geschäft der E-Mobilität.

Initiativen für mehr Transparenz und Arbeitssicherheit sollen daher zeigen, dass der Rohstoff auch guten Gewissens aus dem Kongo bezogen werden kann. Ein schwieriges Vorhaben.

Drei Männer schieben unter großen Anstrengungen ein Fahrrad, das mit prall gefüllten Säcken geladen ist; Wellblechbaracken im Hintergrund, leere Wasserflaschen auf dem erdigen Boden
Auf Fahrrädern werden die Rohstoffe transportiert - eine erschöpfende Arbeitnull Jonas Gerding/DW

Transporteure schieben Fahrräder auf eine Anhöhe hinauf, hoch beladen mit den staubigen Säcken. Holzverschläge reihen sich aneinander, an denen "Boss Adou" und die Namen von anderen chinesischen Aufkäufern gesprüht sind. In den sogenannten "Depots" schlagen Männer das Gestein klein, lassen den Rohstoffgehalt bestimmen und abwiegen.

Kein Ankauf von Kobalt aus Kinderhand

Das Verbot von Kindern in den Stollen lässt sich gut umsetzen. Aber wie mit den Minderjährigen aus der Nachbarschaft umgehen, die übers Gelände streifen, um Rohstoffreste aufzusammeln?

"Wir versuchen, die Besitzer der Depots darüber aufzuklären, dass sie die Rohstoffe, die Kinder hierherbringen, nicht kaufen dürfen. Das ist die Bedingung, die wir ihnen stellen", sagt Kontrolleur Kangenda.

In den umliegenden Schulen und Kirchen haben sie Informationskampagnen gestartet, um die Kinder von der Mine fernzuhalten.

Alain Mpalanga ist der stellvertretende Leiter der Kooperative "Somikas", in der die Begleute von "UCK Drain" organisiert sind, wie die Mine heißt, auf der täglich bis zu 5000 Bergleute tätig sind. "Wir denken darüber nach, wie wir das Gelände absperren können. Wenn uns das gelingt, einschließlich der Depots und dem Bereich der Bistros, dann werden keine Kinder mehr Zugang haben", sagt er.

Einstürzende Stollen

Zehn Prozent verdient die Kooperative an jedem geförderten Kilogramm Kupfer und Kobalt, sagt Mpalanga im engen Büro einer Baracke am Eingang des Geländes. Die Bergleute selbst sind nicht angestellt. Sie teilen sich das, was sie gemeinsam in einem Stollen erwirtschaften. In 59 Schächten fördern Bergleute Rohstoffe zu Tage.

"Wir arbeiten in Symbiose", sagt er über das Dienstleistungsunternehmen RCS Global: Sie würden ihn zu Transparenz verpflichten, im Gegenzug jedoch unterstützen. "Seitdem die Rohstoffe in großem Stil gekauft wurden, gab es viele Tote. Aber da wir heute Techniker und Ingenieure haben, konnten wir der Serie der ständig einstürzenden Stollen ein Ende setzen." Nach wie vor kommt es vor, dass Wände einbrechen. Dabei kommen jedoch nicht Dutzende Menschen zu Tode wie bei Erdrutschen andernorts. "Wir hatten nie mehr als fünf Tote bei einem Unfall", sagt er.

Green Mobility: Batterie-Recycling

Ein Programm wie Better Mining ist kein Zertifikat über eine einwandfreie Lieferkette. Es soll vielmehr die Unternehmen am Ende der Lieferkette dazu befähigen, unternehmerische Sorgfaltsplichten im Ausland wahrzunehmen, wie es mittlerweile auch deutsche Gesetze verlangen.

So erklärt es Lucien Bahimba in einem klimatisierten Konferenzraum in der Provinzhauptstadt Kolwezi, wo er das Programm für RCS Global koordiniert. "Das ist eine fortschreitende Aufgabe, bei der die Leute begreifen lernen, dass sie innerhalb von vielleicht einem Monat oder einem Jahr Verhaltensweisen ablegen müssen, die sie seit fünf oder zehn Jahren praktizieren. Das ist nicht immer einfach."

Lücken in der Lieferkette

Er zeigt auf den Bildschirm seines Laptops. In einem Fenster sind die Minen aufgelistet, die sie überblicken. Die einzelnen Missstände sind aufgelistet, Korrektiv-Maßnahmen, die anstehen und bereits umgesetzt sind. Jede Mine hat eine Bewertung. Auch Firmen am Ende der Lieferkette können die Informationen einsehen. Die Autobauer Volvo und Ford hat RCS Global auf seiner Homepage aufgeführt. 

Wenige Meter neben den Hütten, in denen die Rohstoffe gehandelt werden, hat ein LKW geparkt. Arbeiter heben Rohstoffe auf die Ladefläche. Später werden sie zu den Fabriken transportiert, wo sie weiterverarbeitet werden.

Mann hantiert auf einem roten, mit prall gefüllten Säcken beladenen Lkw
Mit Lkw gehen die Erze in die Weiterverarbeitung. Nicht alles, was dort ankommt, ist gleich sicher und transparent abgebaut worden.null Jonas Gerding/DW

Es ist ein kritischer Punkt der Lieferkette. "Unsere Arbeit beschränkt sich darauf, Informationen  über die Minen zu geben, die wir überwachen", sagt Bahimba von RCS Global. Das Problem: Die Weiterverarbeiter beziehen ihre Rohstoffe als Mischung aus unterschiedlichen Minen. Unmöglich zu sagen, wie die Bedingungen in sämtlichen Minen aussieht.

Better Mining allein kann den Firmen nicht das Risiko nehmen, dass Problemrohstoffe in ihre Lieferkette gelangen. Dafür müssten derlei Programme die Minen im Kongo großflächig abdecken, sagt Bahimba. "Das wäre tatsächlich das Ideal."

Warum Ungarn ausgerechnet im Tschad militärisch aktiv wird

Man dürfte wohl weder den Menschen im Tschad noch jenen in Ungarn zu nahe treten, wenn man sagt: Viele von ihnen würden das jeweils andere Land auf der Landkarte erst nach einiger Suche finden. Kein Wunder, denn das eher kleine mitteleuropäische Ungarn und der riesige, aber wesentlich dünner besiedelte Sahelstaat Tschad hatten bislang wenig miteinander zu tun. Ungarn unterhält im Tschad noch nicht einmal eine diplomatische Vertretung, umgekehrt ist es genauso.

Und doch kommt seit dem vergangenen Herbst Bewegung in die Beziehungen beider Länder: Ungarn will 200 Soldaten in den Tschad schicken, dazu kommen Entwicklungs- und humanitäre Hilfe. Anfang des Jahres eröffnete die staatliche Organisation "Hungary Helps" ihr erstes Repräsentationsbüro in Afrika - in Tschads Hauptstadt N'Djamena. Das Büro werde von einem seriösen Profi geleitet, sagt András Rácz von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik im Gespräch mit der DW: "Natürlich hängt es davon ab, wie viel Geld bereitgestellt wird. Aber die zivile Mission hat das Potenzial, einen bedeutsamen Beitrag zu leisten."

Größere Fragen wirft hingegen die Militärmission auf.

Blick über die Hütten des Flüchtlingslagers Dschabel im Osttschad
Das Flüchtlingslager Dschabel im Osttschad - die strukturschwache Region grenzt an Sudans Krisenprovinz Darfurnull Michael Knief/AP Content Services for Global Partnership for Education/picture alliance

Flüchtlinge im Tschad in schwieriger Lage

Im Oktober würdigte Verteidigungsminister Kristóf Szalay-Bobrovniczky den Tschad als "einzigen stabilen Staat der Region", um gleich danach zu warnen, welche Folgen eine Destabilisierung hätte: "Wenn auch der Tschad instabil würde, könnten wir beobachten, dass sich die Fluttore öffnen und sich hunderte Millionen weiterer Migranten auf den Weg nach Europa machen", zitierte die regierungsfreundliche englischsprachige Onlinezeitung "Hungary Today" den Minister.

Nun ist die Größenordnung "hunderte Millionen" maßlos übertrieben. Dennoch hat der Tschad mit rund 1,1 Millionen Flüchtlingen in Relation zu den 18 Millionen Einwohnern so viele Flüchtlinge aufgenommen wie kein anderes afrikanisches Land. Die Hälfte von ihnen stammt aus dem benachbarten Sudan, wo seit 11 Monaten rivalisierende Militäreinheiten einander bekämpfen und weitere Menschen in die Flucht treiben. Die Versorgungslage ist schlecht; im osttschadischen Grenzgebiet zur Krisenregion Darfur ist laut UN-Angaben seit über einem Monat überhaupt keine Hilfslieferung mehr angekommen.

Wie stabil ist der Tschad noch?

Zur Lage der Flüchtlinge kommen andere innenpolitische Probleme hinzu: Anfang Mai soll im Tschad gewählt werden. Spätestens mit dem Mord an einem Oppositionspolitiker vor zwei Wochen hat sich die Sicherheitslage weiter verschlechtert; Beobachter befürchten, dass Übergangspräsident Mahamat Déby den Tschad in eine Diktatur verwandeln könnte.

Bislang war Déby - anders als die Putschisten in Niger, Mali und Burkina Faso - ein treuer Verbündeter des Westens inklusive der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich. Allerdings ließ er sich im Januar im Kreml in Moskau empfangen - und Ungarn gibt sich manchmal pro-russischer, als es der restlichen EU lieb ist.

Tschads Übergangspräsident Mahamat Idriss Déby Itno
Dieses Foto von Mahamat Idriss Déby Itno veröffentlichten staatliche russische Medien - der tschadische Übergangspräsident im Kreml, das könnte auch als Signal an den Westen zu verstehen seinnull Mikhail Metzel/dpa/AP/picture alliance

Der tschadische Politikwissenschaftler Evariste Ngarlem Toldé glaubt, dass Ungarn mit seiner Mission nur seine eigenen Ziele im Blick hat: "Es ist schwer vorstellbar, dass Frankreich die ungarische Präsenz im Tschad unterstützen könnte. Dasselbe gilt für Russland, das ebenfalls beschlossen hat, den Tschad bei der Stabilisierung zu unterstützen", sagt Toldé im Gespräch mit der DW. "Die ungarische Präsenz im Tschad lässt sich einfach mit dem Ziel Ungarns erklären, die Zahl der ihm von der Europäischen Union auferlegten Flüchtlinge zu reduzieren."

Trotzdem bleibt Tschad ein zentrales Land bei den geopolitischen Interessen von Paris, Budapest und Brüssel. "Tschad ist für die Europäer ein bisschen der wunde Punkt", meint Ulf Laessing, der die Projekte der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung in der Sahelregion leitet. Während Europa immer wieder Kritik an den Militärregimes in Mali, Niger und Burkina Faso übe, gebe es trotz Defiziten in den Bereichen Demokratie und Menschenrechte keine Kritik in Richtung Tschad. Und doch, sagt Laessing zur DW: "Es macht sicherlich Sinn, den Tschad zu stabilisieren, weil das Land so bedeutend ist für Zentralafrika; umgeben von Nachbarn, in denen Russland expandiert."

Mit 200 Soldaten in ein riesiges Land

Die Frage ist nur, was 200 ungarische Soldaten im Tschad bewirken können. "Ich glaube nicht, dass irgendjemand realistisch erwarten kann, dass man mit 200 Personen etwas in einem Land mit 1,2 Millionen Quadratkilometern Fläche ausrichten kann", sagt der Ungarn- und Sicherheitsexperte Rácz. "Allein mit Blick auf die Größenordnung hat diese Mission praktisch keine Chance, einen signifikanten Wandel zu bewirken." Schließlich hätten auch Frankreichs Streitkräfte mit einem wesentlich größeren Kontingent das Land nicht entscheidend stabilisieren können.

Demonstranten halten Protestplakate hoch
Auch im Tschad sind französische Soldaten nicht durchweg willkommen - hier eine anti-französische Demonstration im Mai 2021null AFP

Frankreichs Streitkräfte sind mit mehr als 1000 Soldaten vor Ort, die sie auf Druck der Juntas in Mali und Niger von dort in den Tschad verlegt haben.

Warum geht Ungarn ausgerechnet in den Tschad?

Dem Startschuss der ungarischen Mission stehen noch ein paar bilaterale Formalitäten im Wege. Somit ist offen, ob der Einsatz noch vor oder erst nach der Wahl am 6. Mai beginnt. So oder so wäre es das erste Mal, dass Ungarn ganze Einheiten nach Afrika in einen potenziell gefährlichen Einsatz schickt - noch dazu ohne internationales Mandat.

Ein Soldat läuft eine Schotter-Straße entlang in Afghanistan entlang
Ungarische Spezialkräfte haben sich bei der NATO-Mission in Afghanistan (hier ein Bild von 2012) offenbar die Anerkennung der Amerikaner erarbeitetnull Szilard Koszticsak/dpa/picture alliance

Was sind also Ungarns Motive neben der vordergründig genannten Vermeidung von Migration? Eine wirklich schlüssige Erklärung dafür hat auch András Rácz nicht. Nur eine Theorie, die ihm nach seiner Darstellung immer wieder begegnet. Sie hängt zusammen mit dem Ende des NATO-Einsatzes in Afghanistan 2021, an dem auch ungarische Spezialkräfte beteiligt waren und die seitdem nur noch Trockenübungen abhalten können: "Um diese Art von Fähigkeiten unter den Spezialkräften aufrecht zu erhalten, braucht es reale Einsätze in hochintensiven Umgebungen. Diese grundsätzliche Logik ergibt Sinn. Aber sie erklärt nicht, warum ausgerechnet Tschad", sagt der DGAP-Wissenschaftler im DW-Gespräch.

Die mysteriöse Mission des Herrn Orban

Quell zusätzlicher Irritationen ist eine Personalie: Unter den ungarischen Diplomaten, die in den letzten Monaten mehrmals in N'Djamena verhandelten, war Gáspár Orbán. Der Sohn von Ministerpräsident Viktor Orbán ist zwar erst 32 Jahre alt, sein englischsprachiger Wikipedia-Artikel listet jedoch schon Karrieren in den Bereichen Fußball, Religion, Militär und nun eben Diplomatie auf. Er ist einer der wenigen Ungarn, die an der britischen Militärakademie Sandhurst studiert haben.

Screenshot eines Facebook-Videos, das Gáspár Orbán im Tschad zeigt
Gáspár Orbáns Präsenz im Tschad haben ungarische und französische Investigativjournalisten unter anderem mithilfe eines Videos nachgewiesen, das die tschadische Flüchtlingsbehörde auf Facebook postetenull Cnarr-Tchad/Facebook

Welche Rolle der Orbán-Sohn in der Tschad-Mission genau einnimmt, ist unklar. Aus Sicht von Sicherheitsexperten Rácz wirft das einige Fragen auf - zum Beispiel nach den Risiken, einen Prominenten wie den Sohn des Ministerpräsidenten in einen solchen Einsatz zu entsenden. Geht es am Ende auch um dessen persönliche Karriere? Rácz zufolge sei das zumindest "eine der möglichen Erklärungen, die im Raum stehen".

Mitarbeit: Blaise Dariustone, N'Djamena

Fabienne Königstein fordert mehr Hilfen für Mütter im Sport

Der Himmel leuchtet in unterschiedlichsten Farbtönen, Grillen und kleine Insekten zirpen und die ersten Vögel machen lautstark auf sich aufmerksam. Es ist 6 Uhr morgens in Kenia. In der kleinen Stadt Iten, rund 2400 Meter über dem Meeresspiegel, gut 350 Kilometer nordwestlich von der Hauptstadt Nairobi, gehen in kleinen Bungalows die ersten Lichter an. Mehrere hundert Athletinnen und Athleten reisen regelmäßig hierher ins Höhentrainingslager. Das "Home of Champions", wie der kleine Ort genannt wird, ist ein Läuferparadies. Hier bereitet sich die Laufelite auf Marathonläufe und auf die Olympischen Spiele vor.

Der Ort bietet fantastische Aussichten auf das Kerio Valley. Doch dafür haben die angereisten Läuferinnen und Läufer nur wenig Zeit. Auch die deutsche Marathonläuferin Fabienne Königstein ist in das ostafrikanische Land gereist. Gemeinsam mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter Skadi hat sich die 31-Jährige für vier Wochen in Iten einquartiert, um sich für die bevorstehenden Wettkämpfe - unter anderem dem prestigeträchtigen Boston-Marathon - in eine gute Form zu bringen.

Während Königstein sich die Laufschuhe schnürt, wickelt ihr Mann Karsten noch schnell Tochter Skadi, bevor es zur ersten Trainingseinheit des Tages geht. "Es ist wunderschön die Familie hier zu haben", sagt Königstein im DW-Interview. "Ich genieße die Zeit und vor allem, dass ich neben dem Training auch viel Qualitätszeit mit meiner Tochter verbringen kann."

Ohne Tochter geht es nicht

Während ihrer Karriere war die Sportlerin schon oft in Kenia im Trainingslager. Damals gemeinsam mit ihrem Team und fast immer ohne familiäre Begleitung. Doch seit Königstein 2022 Mutter geworden ist, hat sich ihr Leben verändert: privat, aber auch sportlich.

Fabienne Königstein sitzt mit ihrer kleinen Tochter Skadi auf einer Laufbahn und schnürt sich die Laufschuhe
Fabienne Königstein mit ihrer kleinen Tochter Skadi beim Training in Itennull Königstein

"Skadi ist erst anderthalb Jahre alt und ohne meine Tochter könnte ich gar nicht hier sein", erklärt die Marathonläuferin, die sich zwischen den Trainingseinheiten im Wechsel mit ihrem Mann Karsten um das jüngste Familienmitglied kümmert. "In dem Alter ist die Mutter immer noch die wichtigste Bezugsperson", sagt sie. So richtig daran geglaubt, auch mit Familie weiterhin ins Höhentrainingslager fahren zu können, hat Königstein nicht, denn der Aufwand ist nicht gerade gering.

"Eigentlich habe ich gedacht, dass ich nach der Geburt öfter im kalten Winter trainieren muss und nicht in der Höhe", verrät sie und ergänzt: "Da Karsten sich beruflich umorientiert hat und wir als Familie meine sportlichen Ziele priorisiert haben, können wir nun aber hier oben sein."

Königstein: "Finanzielle Unterstützung ist nicht vorhanden"

Karsten Königstein hat seine Festanstellung als Kinder- und Sportmediziner aufgegeben und seine wissenschaftliche Karriere pausiert. Er hält derzeit die Familie als Honorararzt mit Nachtdiensten finanziell über Wasser. Ohne seine Hilfe wäre eine Fortsetzung der Laufkarriere seiner Frau nur schwer möglich gewesen, denn es hapert an Unterstützung für Sportlerinnen wie Königstein, die während ihrer aktiven Zeit Mutter geworden sind oder es werden wollen.

Marathonläuferin Fabienne Königstein psoiert mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter Skadi mit einer kenianischen Familie für ein Foto
Ohne die Unterstützung der ganzen Familie wäre ein Trainingslager in Kenia für Fabienne Königstein (2.v.r.) nicht möglich null Königstein

Die Zusatzkosten für Skadi und ihren Mann Karsten für Flüge, Hotel und Essen, muss die Familie selbst tragen, denn "die finanzielle Unterstützung der Verbände ist nicht vorhanden", kritisiert Königstein. Sie hielte es daher für wünschenswert, wenn die Verbände oder auch Olympiastützpunkte mehr für Sportlerinnen mit Kindern tun würden.

Anders als bei Arbeitnehmerinnen im "normalen" Berufsleben, haben Profisportlerinnen keinerlei Unterstützung. "Mich ärgert es, wenn ich zum Beispiel an meine Rentenvorsorge denke, wo wir nicht unterstützt werden. Ich bin nicht bei der Bundeswehr oder Bundespolizei, also komplett selbstständig. Ich muss meine gesamte Vorsorge privat regeln", sagt Königstein, die während ihrer Schwangerschaft keine Einnahmen hatte, weil sie keine Wettkämpfe absolvieren konnte.

Viele Sportlerinnen entscheiden sich gegen ein Kind

Königstein fordert mehr Verbindlichkeiten der Verbände für Athletinnen, die Mutter werden wollen. "So könnten sie besser planen und hätten die Sicherheit, dass sie im Bundeskader bleiben und weiterhin die Sporthilfe bekommen." Die studierte Molekularbiologin ist aktuell auf ihren Mann angewiesen, der ihre Karriere mitfinanziert. "Wenn man ein abgeschlossenes Masterstudium hat, würde man gerne auf eigenen Füßen stehen und selber Geld verdienen", ärgert sich Königstein.

Marathonläuferin Fabienne Königstein trainiert in Iten mit anderen Läufern
Marathonläuferin Fabienne Königstein trainiert in Iten mit anderen Läuferinnen und Läufernnull Königstein

Doch ihr Mann ist nicht nur ihr finanzieller Rückhalt, auch beim Sport unterstützt er sie. Der Sportmediziner hat vor einigen Jahren das Training seiner Frau übernommen. Während der ersten Einheit sitzt Karsten im Begleitfahrzeug, Skadi sitzt auf seinem Schoß. Während Skadi sich für Giraffen und Vögel am Straßenrand begeistert, gibt Karsten immer wieder Anweisung an seine Frau weiter.

Nicht jede Sportlerin hat die Möglichkeit auf die Familie zurückzugreifen. Daher wünscht sich Königstein mehr Unterstützung bei der Betreuung. Denn viele Athletinnen würden sich aufgrund der Unsicherheit immer noch gegen ein Kind während der Karriere entscheiden, so die Marathonläuferin. "Sie haben keine verlässliche Säule, auf die sie sich stützen können, wenn sie gerne eine Familie gründen würden."

Königstein: "Keiner fühlt sich verantwortlich"

Die Übungseinheit, ein 30-Kilometer-Dauerlauf ist beendet. Kurze Pause, dann geht es für die Mutter schon wieder weiter: Video-Call mit dem Verein "Athleten Deutschland". Königstein kämpft auch auf der sportpolitischen Bühne für mehr Aufmerksamkeit für Frauen im Sport. "Natürlich ist 'Muttersein im Profisport' ein Baustein, der mir sehr am Herzen liegt", sagt sie. "Ich habe das Gefühl die Dringlichkeit und Wichtigkeit des Themas ist bekannt, aber es fehlt schlichtweg an finanziellen Ressourcen und an Verantwortlichkeiten."

Fabienne Königstein und die anderen Präsidiumsmitglieder auf der Bühne bei der DOSB-Mitgliederversammlung im Dezember 2022
Fabienne Königstein (3.v.r.) ist als Athletenvertreterin Mitglied im Präsidium des DOSBnull Helge Prang/GES/picture alliance

Die große Frage sei, wen man in die Verantwortung nimmt: den Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB), als Dachorganisation des deutschen Sports? Die einzelnen Sportverbände oder doch die Olympiastützpunkte? "Es fühlt sich keiner so richtig verantwortlich", beklagt Königstein.

Dennoch gibt es Athletinnen, die den Schritt gewagt haben und auch als Mütter weiterhin ihre Karrieren als Sportlerinnen verfolgen. Hindernisläufern Gesa Krause, Fußballerin Melanie Leupolz oder eben auch Königstein, die nur neun Monate nach Skadis Geburt beim Marathon in Hamburg mit einer Zeit von 2:25:48 ihre persönliche Bestzeit um fast sieben Minuten verbessern konnte.

"Ich bin stolz, dass ich gesund bin und Familie und Sport unter einen Hut bekomme, was nicht immer einfach ist und ich auch immer mal an meine Grenzen stoße", sagt Königstein der DW. Die Marathonläuferin will mit ihrer Geschichte anderen Frauen Mut machen und Vorbild sein - dafür kämpft sie auf der Laufstrecke und wird nicht müde das Thema "Mutter sein im Profisport" immer wieder anzusprechen.

Nigerias Präsident verweigert Lösegelder bei Entführungen

Die Angehörigen der mehr als 280 entführten Schulkinder in Nordwestnigeria können sich keine Hoffnung machen, dass die Regierung ein Lösegeld für deren Freilassung aufbringt: Präsident Bola Tinubu erklärte, dass "nicht ein Groschen" in Richtung der Entführer gezahlt werde - schließlich seien Lösegeldzahlungen in Nigeria im Jahr 2022 verboten worden.

Am 7. März hatten bewaffnete Männer eine Schule in Kuriga im Bundesstaat Kaduna gestürmt. In Nigeria ereignen sich Jahr für Jahr mehrere Tausend Entführungen - gerade auch von Schulkindern - mit dem Ziel, Lösegeld zu erpressen. Im aktuellen Fall fordern die Entführer umgerechnet rund 570.000 Euro für die Freilassung aller Kinder und des ebenfalls entführten Schulpersonals. Außerdem verlangen sie elf Toyota-Pickups und 150 Motorräder.

Nun stehen die örtlichen Behörden unter Zeitdruck, die Befreiung der Geiseln ohne Lösegeld zu erwirken - im Raum steht die Drohung der Entführer, sie zu ermorden. Der Gouverneur von Kaduna, Uba Sani, sagte, dass die Behörden "alles in ihrer Macht Stehende tun, um die sichere Rückkehr der Schüler zu gewährleisten".

Nigerias Präsident Bola Tinubu am Tag seiner Vereidigung, im Hintergrund unscharf ein mehrstöckiges Gebäude mit Nigeria-Fahne
Präsident Bola Tinubu steht unter Druck - wegen wirtschaftlicher Krisen, aber immer mehr auch wegen der Entführungennull Temilade Adelaja/REUTERS

Präsident Tinubu forderte nach Angaben von Informationsminister Mohammed Idris das Militär zum Eingreifen auf. "Der Präsident hat die Sicherheitsbehörden angewiesen, dies als dringliche Angelegenheit zu behandeln, um zu erwirken, dass die Kinder und alle Entführten sicher zurückgebracht werden", sagte Idris vor Journalisten.

Islamisten und Banditen stecken hinter Trend zu Entführungen

Die nigerianische Regierung hat mit einer schweren Wirtschaftskrise zu kämpfen. Nun kommt ein regelrechter Trend zu solchen Entführungen als politisches Problem hinzu: In den vergangenen anderthalb Wochen sind insgesamt an die 400 Menschen in Nigeria in Verbindung mit Lösegeldforderungen entführt worden, darunter 15 weitere Schüler. So ereignete sich vor wenigen Tagen eine weitere Massenentführung in Kaduna mit rund 60 Opfern.

Nigeria hat eine lange Geschichte solcher Massenentführungen. Weltweites Aufsehen erregte die Entführung von 276 Schülerinnen aus Chibok durch Anhänger der islamistischen Terrormiliz Boko Haram. Unter dem Hashtag #BringBackOurGirls machten damals ungezählte Nigerianer, aber auch internationale Stars auf den Fall aufmerksam.

Grundsätzlich gebe es zwei Typen von Entführern, sagt der Sicherheitsexperte Ryan Cummings der DW: "Die einen sind militante Islamisten, die anderen sind Banditen, die von der nigerianischen Regierung als Terroristen eingestuft werden." Cummings leitet die Analysefirma Signal Risk, die sich auf Afrika fokussiert. "Islamisten stellen oft Forderungen an die Politik als Bedingung für eine Freilassung der Geiseln - etwa, eigene Kämpfer aus dem Gefängnis zu entlassen."

Für die Banditen im westlichen und zentralen Norden Nigerias gehe es offenbar eher um Geld und in zweiter Linie auch um ihre territorialen Interessen, sagt Cummings: "Sie stellen eher finanzielle Forderungen, aber setzen Geiseln in manchen ihrer Camps auch zum Beispiel als Mittel ein, um das nigerianische Militär von Luftschlägen darauf abzubringen. Sie nutzen also Zivilisten als menschliche Schutzschilde."

Sind die Entführer verhandlungsbereit?

Trotz allem gibt es auch immer wieder Verhandlungen zwischen der Regierung und kriminellen Banden. Sheikh Ahmad Gumi, ein angesehener muslimischer Kleriker mit militärischer Erfahrung, hat sich als Vermittler angeboten - aber es gibt kaum Hoffnung auf Erfolg.

Kinder und Erwachsene stehen auf einer Dorfstraße; im Hintergrund ein Pick-up in Tarnfarben, auf dessen Pritsche ein Soldat sitzt
Bewohner von Kuriga sorgen sich um die entführten Schulkindernull AP/dpa/picture alliance

Mögliche Verhandlungen werden ohnehin kritisch gesehen, weil dies die Täter in der Folge zu noch höheren Forderungen ermutigen könnte. So sieht es zum Beispiel der nigerianische Analyst und Journalist Aliyu Othman: "Mit Banditen zu verhandeln, wird in vielen Fällen nicht unbedingt Frieden bringen. Sheikh Gumi hat das schon unter Präsident Buhari angeboten." Muhammadu Buhari stand bis vor einem Jahr an der Staatsspitze. "Sind die Entführer bereit zu Verhandlungen oder Schlichtung? Das ist die wichtige Frage hier", sagt Othman der DW.

"All unsere bisherigen Versuche sind gescheitert"

Während auch auf Regierungsseite viele einer Verhandlungslösung skeptisch gegenüberstehen, finden manche Nigerianer, Tinubus Regierung sollte im Umgang mit der Krise keine Option ausschließen. Die DW hat sich in der Hauptstadt Abuja umgehört. Eine Anwohnerin sagte, sie finde, die Regierung müsse größere Anstrengungen für die Sicherheit der Familien unternehmen, die im ganzen Land den Aktivitäten von Banditen ausgesetzt sind. "Wir wachen jeden Morgen mit einer neuen Entführungs-Nachricht auf, wenn man es am wenigsten erwartet. Und das Traurige ist, dass die Schwächsten die Opfer sind - Kinder, Frauen und ganze Familien", sagte sie.

Soldaten sitzen auf einem Pick-up in Tarnfarben
Sind Nigerias Sicherheitskräfte für den Kampf gegen die Entführerbanden gewappnet?null Mosa'ab Elshamy/AP Photo/picture alliance

Eine andere Frau äußerte sich resigniert: "Etwas muss passieren - denn all unsere bisherigen Versuche sind gescheitert. Alle Sicherheitsmaßnahmen, die die Regierung ergriffen hat, sind gescheitert."

Ein männlicher Bewohner der Hauptstadt sagte der DW, die Regierung müsse mehr unternehmen. "Die Attacken nehmen Überhand. Wenn wir uns fragen, wie viele Sicherheitskräfte wir vor Ort haben und wie gut sich um sie gekümmert wird, könnten wir etwas erreichen. Ich appelliere an die Regierung, die modernste Ausrüstung zu kaufen, um diesen Kriminellen das Handwerk zu legen, denn das ist der einzige Ausweg."

Korruption behindert den Kampf gegen Entführungen

Auch Sicherheitsanalyst Cummings sieht Luft nach oben im Einsatz der Behörden. "Die nigerianische Regierung muss zunächst die Ressourcen ausweiten, die den Sicherheitskräften der Bundesstaaten zur Verfügung stehen. Sie muss spezialisierte Einheiten ordentlich ausbilden, die an Anti-Kidnapping-Operationen beteiligt sind. Die meisten Mitglieder der Sicherheitskräfte sind nicht adäquat ausgerüstet - es fehlt an Munition, Nahrungsvorräten und anderen Dingen", sagt Cummings der DW.

Pick-ups in Tarnlackierung stehen bei Dämmerung vor einem Schulgebäude
Mit diesen Pick-ups fuhr die Armee in Kuriga auf, nachdem in der im Hintergrund sichtbaren Schule eine Entführung stattfandnull AP Photo/picture alliance

Dazu kommt aus seiner Sicht, dass Korruption innerhalb der Sicherheitskräfte die Verteilung und effiziente Nutzung der Ressourcen behindert. "Der Staat ist nicht in der Lage, zusätzliche Ressourcen bereitzustellen. Das muss sich ändern. Die Strategie muss sich ändern."

Denn durch das Ausschließen von Lösegeldzahlungen allein wird die nigerianische Regierung die gegenwärtige Zunahme von Entführungen wohl kaum in den Griff bekommen.

Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.

Große gegenseitige Toleranz: Christen und Muslime in Afrika

Das gemeinsame Fastenbrechen im Ramadan ist in Sierra Leone nicht auf Muslime beschränkt. Auch Christen stellen ihren muslimischen Freunden und deren Familien Essen bereit.

Der Fastenmonat Ramadan, der für Muslime auf der ganzen Welt eine Zeit des Fastens, Betens und Innehaltens darstellt, hat in Sierra Leone am Montag begonnen. In dem westafrikanischen Land bekennen sich 77 Prozent der Einwohner zum Islam und 22 Prozent zum Christentum. Die beiden Religionen haben ein stabiles Miteinander entwickelt, das auch den Bürgerkrieg überstanden hat, durch den zwischen 1991 und 2002 geschätzt 50.000 Menschen ums Leben kamen.

Sierra Leone, Freetown | Jamiatul Haque Moschee
Gebet zum Fastenbrechen in der Jamiatul-Haque-Moschee in Freetownnull Carmen Abd Ali/AFP/Getty Images

"Beim Thema Religion ist Sierra Leone einzigartig", sagt Mariama Binta Caulker, die mit einem Pastor verheiratet ist, im DW-Gespräch. "Wir glauben, dass Christen und Muslime keine Unterschiede haben. Worauf es ankommt, sind unsere Herzen."

Sierra Leones beneidenswerte religiöse Toleranz

Zahlreiche Studien untermauern Caulkers Aussage. Dazu zählt eine 2022 in Freetown durchgeführte Studie des Hamburger GIGA-Instituts. Einer der Befunde: Viele Bewohner der Hauptstadt unterhalten "enge soziale Beziehungen" mit Menschen anderen Glaubens, sagt Doktorandin Julia Köbrich, die an der Studie mitgewirkt hat - und das sei "recht ungewöhnlich".

"Menschen leben in interreligiösen Familien, in denen beispielsweise Vater und Mutter unterschiedlichen Glaubensrichtungen angehören. Sie haben Freunde aus verschiedenen Religionen, oft haben sie sich in der gemeinsamen Schulzeit angefreundet. Aber auch an anderen Orten gibt es viel interreligiöse Durchmischung", sagt Köbrich der DW. Die Sierra Leoner zeigten großen Respekt für Angehörige verschiedener Religionen, erläutert die Forscherin - und zwar sowohl in ihrem Umgang mit ihnen als auch im Gespräch über sie. "Sie zeigen, dass sie Angehörige anderer Religionen als gleichwertig sehen."

Ein weißes Kirchengebäude hinter einer Mauer
Die St. John's Maroon Methodist Church ist eine von vielen christlichen Kirchen in Freetownnull Alida Latham/DanitaDelimont/imago images

Bailor Amid Saheed Kamara bezeichnet sich selbst als gutes Beispiel für Sierra Leones Offenheit gegenüber unterschiedlichen Religionen: "Ich habe gerade eine Christin geheiratet und versuche in keiner Weise, sie für meinen Glauben zu gewinnen. Ich habe Freunde und sogar Geschwister, die Christen sind. So läuft das hier, seitdem ich geboren bin. Wir leben friedlich zusammen, es gibt keine Feindseligkeiten."

Im vergangenen Juni bestätigten die mehrheitlich muslimischen Sierra Leoner sogar ihren Präsidenten Julius Maada Bio im Amt - einen Christen, der mit einer Muslima verheiratet ist.

Afrika ist tief religiös

Ähnlich wie in Sierra Leone existiert auch in vielen anderen afrikanischen Ländern südlich der Sahara eine große religiöse Toleranz. Das mag auf den ersten Blick überraschen - schließlich gilt Afrika als zutiefst religiöser und dabei mitunter konservativ eingestellter Kontinent, zum Beispiel beim Umgang mit sexuellen Minderheiten, Abtreibung oder Sex vor der Ehe.

Menschenmassen schwenken Fähnchen, im Hintergrund steht eine Tribüne
Für katholische Päpste sind Afrika-Reisen ein Heimspiel: Hier zu sehen sind Gläubige vor einer Messe von Papst Franziskus in der Demokratischen Republik Kongo Anfang 2023null Moses Sawasawa/AP Photo/picture alliance

Laut einer Afrobarometer-Studie von 2020 ist Afrika der religiöseste Kontinent der Welt: 95 Prozent seiner Bewohner bezeichnen sich als gläubig. Mit 56 Prozent gehören mehr als die Hälfte einer christlichen Untergruppierung an, 34 Prozent sind Muslime.

Grob vereinfacht kann man die beiden Religionen auch geografisch verorten: Muslime findet man vor allem im Norden des Kontinents; Christen weiter im Süden. Dazwischen erstreckt sich eine Übergangszone von Guinea, Sierra Leone und Liberia im Westen bis nach Äthiopien und Eritrea im Osten, in der einzelne Länder eher christlich oder muslimisch geprägt sind.

Starke Kultur der religiösen Harmonie

Das Afrobarometer gibt auch einen Einblick in die Kultur der religiösen Toleranz: Im Durchschnitt der verschiedenen Länder sagten 87 Prozent, dass sie "sehr mögen", "eher mögen" oder "gleichgültig" eingestellt sind, wenn ihre Nachbarn einer anderen Religion angehören. In Côte d'Ivoire und Gabun war der Wert mit 98 Prozent am höchsten, gefolgt von Sierra Leone (94 Prozent). Dieser Toleranz-Indikator war in Sudan (65 Prozent) und Niger (56 Prozent) am niedrigsten ausgeprägt.

Auch auf der rechtlichen Ebene ist religiöse Harmonie teilweise verankert: Von den weltweit 47 Ländern mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung schützen zwar nur elf das Recht auf Religionsfreiheit in ihrer Verfassung oder einzelnen Gesetzen. Von diesen elf befinden sich jedoch gleich acht in Afrika, darunter Senegal, Gambia und Sierra Leone. "In der Region existiert eine Kultur interreligiöser Harmonie, die im weltweiten Vergleich eher unüblich ist", schreibt der Politikwissenschaftler Daniel Philpott in seinem Buch "Religiöse Freiheiten im Islam".

Bröckelt der Religionsfriede?

Doch es gibt auch Anzeichen für Probleme, etwa in Nigeria, Mali, Burkina Faso und auch in Gambia. Darunter finden sich Anstiege von religiös motivierter Gewalt und religiösem Extremismus, aber auch die Ausgrenzung von religiösen Minderheiten. In Nigeria gaben 22 Prozent der Befragten laut Afrobarometer an, in den zurückliegenden zwölf Monaten religiöse Diskriminierung erfahren zu haben. Das war der höchste Wert unter den 34 betrachteten Ländern. Zum Vergleich: In Sierra Leone berichteten nur sechs Prozent von solchen Erfahrungen.

Muslimas posieren für ein Handyfoto
Nigeria ist das Land mit den meisten Muslimen in Afrika - und auch das bevölkerungsreichste insgesamtnull Adeyinka Yusuf/AA/picture alliance

Auch dort gibt es Herausforderungen im Bereich religiöser Toleranz, betont Sozialwissenschaftlerin Julia Köbrich. Doch die Gesellschaft von Sierra Leone unternehme Anstrengungen, um für Frieden zu werben und verschiedene Gruppen zur Lösung von Problemen zusammenzubringen - und zwar nicht nur religiösen Problemen.

In Freetown ist die Kultur der interreligiösen Harmonie während des Ramadan allgegenwärtig. "In dieser Zeit ist jeder Sierra Leoner direkt oder indirekt ein Muslim", sagt der Christ Joseph Mannah Brima. "Wir teilen alles miteinander, wir beschenken uns gegenseitig. Christen bereiten Essen vor - das tun sie für ihre muslimischen Brüder und Schwestern."

Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.

Mitarbeit: Murtala Mohammad Kamara (Freetown)

Warum in Nigeria so viele Menschen entführt werden

Die Dorfschule von Kuriga im Nordosten Nigerias ist nur der jüngste Schauplatz: Fast 300 Kinder entführten die Täter dort am 7. März. Erst eine Woche zuvor ereignete sich im östlichen Bundesstaat Borno ein ähnlicher Vorfall.

Diese Ereignisse werfen ein Schlaglicht auf ein schon länger bekanntes Problem: In Nigeria stellen Entführungen eine immer präsente Bedrohung der öffentlichen Sicherheit dar.

Die auf Afrika fokussierte Beratungsfirma SBM Intelligence zeichnet in einem Bericht ein Bild der Größenordnung. Demnach wurden zwischen Juli 2022 und 2023 mindestens 3620 Menschen in Nigeria entführt. Im Schnitt kommen sechs Opfer auf einen Vorfall.

In dem Zeitraum wurden dem Bericht zufolge Lösegelder in Höhe von mindestens 5 Milliarden Naira gefordert - nach den Wechselkursen im Juni 2023 waren das 6,4 Millionen US-Dollar oder 5,8 Millionen Euro. Bezahlt wurden jedoch nur umgerechnet gut 350.000 Euro - was vermutlich mit Nigerias strauchelnder Wirtschaft und der gestiegenen Arbeitslosigkeit zu tun hat. Zwischen Juli 2021 und 2022 wurde laut SBM Intelligence mehr als 900.000 Euro bezahlt.

Wer steckt hinter den Entführungen?

Es gibt mehrere Gruppen in Nigeria, die Einnahmen über Entführungen generieren. Zunächst wären bewaffnete Banden zu nennen, die sich im Norden des Landes gebildet haben. In den letzten zwei Jahrzehnten haben sie sich von umherziehenden Viehdieben und Plünderern zu regelrechten Gangs entwickelt, die in Geschäftsfeldern der organisierten Kriminalität wie Drogen- und Waffenschmuggel involviert sind. Und nun eben auch in Massen-Entführungen lokaler Dorfbewohner oder Schulkinder mit dem Ziel, Lösegeld zu erpressen.

Der Norden, insbesondere der Nordosten, wird auch immer wieder von militanten Islamisten heimgesucht. Zu den bekanntesten Akteuren zählen der sogenannte Islamische Staat - Westafrika-Provinz (ISWAP) und Boko Haram. Letztere machten 2014 weltweit auf sich aufmerksam, als sie 276 Schülerinnen in Chibok entführten. Boko Haram nimmt hauptsächlich Mädchen und junge Frauen ins Visier, die oft in Internaten oder Wohnheimen für Studierende leben.

Nigeria Symbolbild | Befreite Mädchen in Abuja
Die hier 2017 fotografierten Frauen sind aus der Gewalt von Boko Haram befreit worden - nachdem die internationale Kampagne #BringBackOurGirls jahrelang öffentlichen Druck gemacht hattenull Sunday Aghaeze/AFP

Auch im ölreichen und stark umweltbelasteten Niger-Delta sind bewaffnete Gruppen aktiv. Diese gehen oft auf die in den 1990er-Jahren gegründeten Milizen zurück, die den Staat gewaltsam zwingen wollten, sich der Ölverschmutzung anzunehmen. Der sorglose Umgang mit stark schädlichem Rohöl zerstörte die Lebensgrundlage vieler Landwirte, sodass die Armut im Niger-Delta trotz oder gerade wegen des Ölreichtums zunahm. Die Organisationen dort entführen immer wieder ausländische Ölarbeiter, was mediale Aufmerksamkeit sichert. Aber auch Regierungsbeamte, Kinder prominenter Personen und andere eher exponierte Personen sind ihre Ziele.

Was wollen die Entführer?

Viele der Entführungen gehen auf wirtschaftliche Not zurück und werden als Einnahmequelle angesehen. In der Regel fordern Entführer Lösegeld, allerdings gibt es auch Fälle, in denen Lebensmittel, Motorräder und sogar Benzin als Tauschobjekte gegen die Freilassung der Entführten gefordert wurden.

Militärjeeps parken bei Dämmerung vor einer Schule
Nach der Entführung vom 7. März zeigte die Armee in Chikuna Präsenznull AP/dpa/picture alliance

Manchmal haben Entführungen in Nigeria auch ein politisches Motiv. Die Aktionen von Boko Haram werden zum Beispiel als Mittel gesehen, um vor der Regierung und der nigerianischen Bevölkerung ein Image der Stärke aufzubauen. Der Name lässt sich frei mit "westliche Bildung ist Sünde" übersetzen. Viele Beobachter sehen in den Entführungen von Frauen und Mädchen auch das Ziel, diese einzuschüchtern und letztlich von ihrer Schulbildung abzubringen.

Wer wird entführt?

Die unterschiedlichen Täter nehmen klar voneinander abgegrenzte Gruppen ins Visier: Zum einen entführen sie vulnerable Personen wie Frauen, die allein auf der Suche nach Feuerholz unterwegs sind. Auch Schulkinder oder Dorfbewohner, die weit entfernt von der nächsten Polizeiwache leben, sind besonders gefährdet. Bei ihnen handelt es sich oft um Massenentführungen.

Eine weitere Gruppe sind Personen, durch die sie sich ein hohes Lösegeld erhoffen: Aktive oder ehemalige Regierungsvertreter, Politiker, reiche Nigerianer oder deren Angehörige.

Auch katholische Priester zählen zu einer Risikogruppe. Es gab sogar Fälle, in denen Priester vom Altar weg entführt wurden. Im Zeitraum vom Juli 2022 auf 2023 wurden insgesamt 21 Entführungen von Priestern registriert. Mutmaßlich wegen der Reichtümer der Kirche werden sie als ertragreiche Zielgruppe für Lösegeldforderungen gesehen.

Nigeria: Kidnapping als lukratives Geschäft

Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.