Bürgerkrieg in Myanmar: "Viele gegen viele"

Der Bürgerkrieg in Myanmar steht im vierten Jahr. Nach einer Offensive im nordöstlichen Shan-Staat vom Oktober 2023 hat die Militärregierung, der State Administrative Council (SAC), die Kontrolle über große Gebiete an der Grenze zu China verloren. Anfang April fiel die Grenzstadt Myawaddy, ein Knotenpunkt für den Warenverkehr zwischen Thailand und Myanmar, in die Hände der ethnischen Minderheit der Karen. Diese kämpfen seit Jahrzehnten gegen die Zentralregierung. Inzwischen ist das Militär zwar wieder zurück in Myawaddy, aber die Situation bleibt volatil. Im Westen, an der Grenze zu Bangladesch, setzt die Arakan Army (AA) dem Militär zu.

Infografik Karte Vielvölkerstaat Myanmar DE

Das Militär ist in den Grenzregionen des Landes auf dem Rückzug und steht massiv unter Druck. Es ist nur noch in der Lage, Vergeltungsangriffe mit der Luftwaffe oder mit weitreichender Artillerie auszuführen. Doch ein Experte aus Yangon, der aus Sicherheitsgründen nicht namentlich genannt werden kann, sieht das Militär noch nicht vor einer Niederlage:  "Der Bürgerkrieg geht weiter und wird so schnell nicht enden."

Fragmentierung

Im Grunde genommen ist die aktuelle Situation Myanmars nicht völlig neu. Das heutige Myanmar, ehemals Birma, ist seit der Unabhängigkeit 1948 weder ein Staat noch eine Nation. Keiner Zentralregierung ist es je gelungen, das ganze Land zu regieren. Und noch viel weniger hat sich in dem Vielvölkerstaat jemals eine gemeinsame nationale Identität herausgebildet. Dabei wechselten sich in den letzten 76 Jahren Phasen hoher und verminderter Konfliktintensität mit entsprechender weniger oder mehr zentralstaatlicher Kontrolle ab.

Der Militärputsch vom Februar 2021 gegen die Regierung um Staatsrätin und Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi haben das Land in eine neue Phase der Fragmentierung gestürzt. Im Unterschied zu früher ist der Prozess aber heute viel augenfälliger, wie der Experte in Yangon sagt: "Früher war das Land auch fragmentiert, aber es war nicht so sichtbar. Heute sehen es die Menschen, wegen der sozialen Medien und wegen der Vernetzung." Darum werde die Frage nach dem Zerfall des Landes vermehrt diskutiert.

Flickenteppich aus bewaffneten Gruppen

Die ohnehin unübersichtliche Konfliktlandschaft Myanmars hat sich seit dem Putsch nochmal verkompliziert. Vor dem Putsch gab es in Myanmar etwa 24 bewaffnete ethnische Armeen und mehrere hundert Milizen. Die Truppenstärke der Gruppen variierte von einigen Hundert Kämpfern bis zu schätzungsweise 30.000 Kämpfern etwa der United Wa State Army (UWSA), aber auch der Arakan Army.

Seit dem Putsch sind nochmals etwa 250 bis 300 sogenannte People's Defense Forces (PDF) hinzugekommen, die insgesamt über etwa 65.000 Kämpfer verfügen sollen. Die PDFs stehen zum Teil unter Kontrolle der Gegenregierung (dem National Unity Government, NUG), agieren teilweise unabhängig und teilweise in enger Abstimmung mit der ein oder anderen ethnischen Armee. Hinzu kommt eine Vielzahl krimineller Kartelle, die im Chaos der letzten vier Jahre an Einfluss gewonnen haben und bei denen es Überschneidungen mit dem Militär, aber auch einigen ethnischen Gruppen gibt.

Zum Wehrdienst gezwungen: Massenflucht aus Myanmar

Auch zwischen den ethnischen Gruppen gab und gibt es Konflikte, auch wenn zurzeit die Bekämpfung der Militärregierung im Vordergrund steht. "Der Konflikt ist nicht einfach einer gegen viele, sondern viele gegen viele. Es ist nicht nur einfach das Militär gegen den Rest", bestätigt der Experte aus Yangon.

Zerfall des Landes

Die Frage, ob das Land in der aktuellen Lage endgültig auseinanderbricht, gewinnt also an Bedeutung und wird auch bei den Vereinten Nationen und unter Diplomaten diskutiert, wie Charles Petrie, der ehemalige UN-Koordinator für Myanmar im Interview mit der DW bestätigte.

Richard Horsey, Senior Advisor der International Crisis Group und langjähriger Beobachter des Landes, hat im Gespräch mit der DW keinen Zweifel daran, dass die Fragmentierung zunehme. Er glaube aber nicht an einen totalen Zerfall mit einer massiven Ausweitung der Gewalt, wie es sie etwa in Ländern Libyen oder in Somalia gegeben hat, "weil Myanmar kein gut funktionierender, zentralisierter Staat ist, sondern schon immer auf die eine oder andere Weise zersplittert war." Das Chaos und der Zerfall betreffen seit dem Putsch vor allem das Zentrum des Landes.

 

Ein thailändischer Soldat schiebt an der Grenze zu Myanmar Wache. Thailand beobachtet die Lage im Nachbarland genau
Ein thailändischer Soldat schiebt an der Grenze zu Myanmar Wache. Thailand beobachtet die Lage im Nachbarland genaunull Sakchai Lalit/AP/picture alliance

Ist Föderalismus ein Ausweg?

In der Vergangenheit wurde immer wieder diskutiert, wie das multiethnische Land zu einer angemessenen politischen Struktur kommen kann, in der alle ethnischen Gruppen repräsentiert sind. Das Schlagwort lautete: Föderalismus und föderale Demokratie. Deutsche Stiftungen, vor allem die Hanns-Seidl-Stiftung, waren beim Thema Föderalismus sehr aktiv. Auch jetzt gibt es Bestrebungen, eine föderale demokratische Verfassung zu schaffen. Aber der Prozess gestaltet sich schwierig. Immer wieder brechen Gruppen die Verhandlungen ab, andere haben gar nicht erst teilgenommen.

Die Nachbarländer fürchten die Auswirkungen einer weiteren Desintegration des Landes. Indien baut einen Zaun an der Grenze zu Myanmar, Thailand bereitet sich auf den Zustrom weiterer Flüchtlinge vor, China hat im April diesen Jahres Militärmanöver an der Grenze zu Myanmar abgehalten und Bangladesch wird auf absehbare Zeit die Rohingya versorgen müssen. Der Experte in Yangon stellt fest: "Die Nachbarländer befassen sich mehr mit den Folgen als mit den Ursachen der Fragmentierung."

Horsey beobachtet einen "eigennützigen und zynischen" außenpolitischen Ansatz, der alle Optionen offen hält. Die Nachbarn wissen, "dass in Myanmar fürchterliche Dinge geschehen, aber sie halten aus Eigeninteresse die Beziehungen zum Regime aufrecht."

Krypto-Falle - Zwangsarbeit in Asiens Betrugsfabriken

US-Außenminister rügt Chinas Lieferungen für Russlands Krieg

US-Außenminister Antony Blinken hat bei seinem Besuch in Peking die Bedenken der Vereinigten Staaten über chinesische Lieferungen für Russlands Krieg gegen die Ukraine angesprochen. China sei der Top-Lieferant für Maschinenwerkzeuge, Mikroelektronik und andere wichtige Güter, die zu zivilen und militärischen Zwecken verwendet werden könnten und Moskau in seiner Verteidigungsindustrie nutze, sagte Blinken. "Ohne Chinas Unterstützung hätte Russland zu kämpfen, seinen Angriff auf die Ukraine fortzusetzen", erklärte er weiter. 

China habe in der Vergangenheit gezeigt, dass seine Stimme in den Beziehungen zu Moskau Gewicht habe, sagte Blinken. Als Beispiel nannte er Sorgen im vergangenen Jahr, Russland könnte Nuklearwaffen einsetzen. Die russische Verteidigungsindustrie zu "befeuern", gefährde nicht nur die Sicherheit der Ukraine, sondern auch die Europas, sagte der US-Chefdiplomat.

Peking bestreitet Waffenlieferungen

China pflegt enge Beziehungen zu Russland, hat dem Partner nach eigenen Angaben aber keine Waffen für den Ukraine-Krieg geliefert. Zudem pocht die Regierung in Peking darauf, dass die normalen Handelsbeziehungen zwischen Russland und China nicht gestört oder eingeschränkt werden dürfen.

Die USA hätten China schon seit einiger Zeit gesagt, dass die transatlantische Sicherheit ein Kerninteresse Washingtons sei, betonte Blinken. "In meinen Unterredungen heute habe ich klargemacht: wenn China dieses Problem nicht angeht, werden wir das tun", so Blinken.

Blinken war mit Außenminister Wang Yi im Pekinger Staatsgästehaus Diaoyutai zusammengekommen. Nach US-Medienberichten trafen sich die beiden inklusive eines Arbeitsessens rund fünfeinhalb Stunden.

Wang und Xi: USA unterdrücken Chinas Wirtschaftsentwicklung

Der chinesische Außenminister Wang Yi und auch Präsident Xi Jinping warfen Blinken ihrerseits vor, dass die USA die wirtschaftliche Entwicklung der Volksrepublik zu unterdrücken versuchten. Die USA beklagen unter anderem chinesische Billig-Exporte. "Die Beziehungen sind mit allen Arten von Störungen konfrontiert", sagte Wang gegenüber Blinken. "Chinas legitime Rechte auf Entwicklung werden in unangemessener Weise unterdrückt."

So sollten die USA nicht das Thema angeblicher chinesischer Überkapazitäten auf den Weltmärkten in den Vordergrund stellen. US-Finanzministerin Janet Yellen hatte erst kürzlich betont, dass Bidens Regierung keinerlei Maßnahmen ausschließe, um auf Industrie-Überkapazitäten zu reagieren.

Antony Blinken und Wang Yi geben sich die Hand und posieren dabei für die Fotografen. Hinter ihnen stehen die Flaggen der USA und Chinas
Treffen zwischen den Außenministern Antony Blinken (links) und Wang Yi in Pekingnull Mark Schiefelbein/POOL/AFP/Getty Images

Xi bekräftigte bei einem Treffen mit Blinken, dass für ihn die Grundlage guter US-chinesischer Beziehungen in der Wirtschaft liege und dass die USA Chinas Entwicklung ausbremsen wollten. "Dies ist ein grundlegendes Problem, das angegangen werden muss", sagte Xi. Erst dann könnten sich die US-chinesischen Beziehungen wirklich stabilisieren und verbessern. Es sei wie der erste Knopf eines Hemdes, der zunächst einmal an der richtigen Stelle geknöpft werden müsse.

Etliche Konfliktfelder

Blinkens Besuch in Peking fällt in eine Zeit, in der verschiedenste Streitpunkte die jüngste Verbesserung in den US-chinesischen Beziehungen gefährden könnten. Neben der Haltung Chinas im Ukraine-Krieg sind dies auf politischer Ebene auch das demokratisch regierte Taiwan, das die Pekinger Führung als abtrünnige Provinz betrachtet, und Gebietsstreitigkeiten im Südchinesischen Meer. Auch diese Themen seien von Blinken angesprochen worden, erklärte ein Sprecher seines Ministeriums. Das Gespräch mit Wang dauerte demnach fünfeinhalb Stunden.

Blinkens Besuch in Peking gehört zu einer Reihe hochrangiger Austäusche zwischen den USA und China, die auf eine Entspannung der zwischenzeitlich sehr schlechten Beziehungen abzielen. Beide Seiten setzen nun auf direkte persönliche Kontakte, um Missverständnisse zu vermeiden. So empfing US-Präsident Joe Biden Staatschef Xi im November in San Francisco. Doch die zahlreichen Konfliktthemen haben weiterhin das Potenzial, das Verhältnis zwischen den beiden größten Volkswirtschaften der Welt zu belasten.

Hoffnung auf Annäherung zwischen USA und China

Die US-Entscheidung zur Kurzvideo-App Tiktok wurde laut Blinken bei seinen Gesprächen nicht thematisiert. Der US-Kongress hatte sich aus Sorge über die Möglichkeit eines Zugriffs durch Chinas Regierung auf Daten von US-Amerikanern geeinigt, dass der chinesische Eigner Bytedance seine Anteile in den USA verkaufen muss - ansonsten droht ein Verbot der populären App.

kle/AR (rtr, dpa)

Vatikan: Bemühung um engere Beziehungen zu Vietnam

Anfang dieses Monats kehrte Erzbischof Paul Richard Gallagher, der Außenbeauftragte des Vatikans, von einer sechstägigen Arbeitsreise nach Vietnam zurück. Dort hatte er mit hochrangigen Politikern, so etwa Premierminister Pham Minh Chinh und Außenminister Bui Thanh Son, über einen möglichen Besuch von Papst Franziskus im Laufe dieses Jahres gesprochen.

Gallagher brachte die "Dankbarkeit" des Vatikans für die Fortschritte in den Beziehungen zwischen den beiden Staaten zum Ausdruck. Dazu gehört auch die Entscheidung Hanois aus dem vergangenen Jahr, der Entsendung des ersten päpstlichen Vertreters nach Vietnam seit Jahrzehnten zuzustimmen.

Die Entscheidung geht auf das Jahr 2009 zurück: Damals richteten beide Seiten eine gemeinsame Arbeitsgruppe ein, die die 1975 abgebrochenen Beziehungen wiederherstellen sollte. Die nominell atheistische Kommunistische Partei Vietnams hatte nach dem Ende des Vietnamkriegs die Herrschaft über das gesamte Land übernommen. Seitdem fährt sie einen höchst restriktiven Kurs gegen sämtliche Religionsgemeinschaften.

Der Dialog gipfelte im vergangenen Juli in einem Besuch des damaligen vietnamesischen Präsidenten Vo Van Thuong beim Heiligen Stuhl. Dort traf er auch mit Papst Franziskus zusammen. Im Dezember ernannte der Vatikan seinen ersten ständigen Vertreter in Vietnam seit Jahrzehnten. Umgekehrt hatte die vietnamesische Regierung Papst Franziskus zu einem Besuch eingeladen.

Der Rücktritt von Präsident Vo Van Thuong im letzten Monat infolge einer landesweiten Anti-Korruptionskampagne könnte die Verhandlungen über den Papstbesuch allerdings erschwert haben. Dennoch soll er noch in diesem Jahr stattfinden.

Der damalige vietnamesische Präsident Vo Van Thuong zu Besuch im Vatikan, Juli 2023
Der damalige vietnamesische Präsident Vo Van Thuong (M) zu Besuch im Vatikan, Juli 2023null Gregorio Borgia/AP Photo/picture alliance

Besorgnis über religiöse Rechte

Zwar machen die Katholiken nur sechs Prozent der vietnamesischen Bevölkerung aus. Dennoch stellen sie der Volkszählung 2019 zufolge rund die Hälfte aller religiösen Vietnamesen.

Immer wieder wird Vietnam vorgeworfen, die Rechte religiöser Organisationen und Gruppen in eklatanter Weise zu verletzen, und zwar insbesondere die der ethnischen Minderheiten des Landes. Dazu gehören Buddhisten, Christen und Anhänger weiterer Glaubensgemeinschaften.

Im Dezember 2022 setzten die USA auch Vietnam auf ihre Beobachtungsliste zum Status der Religionsfreiheit weltweit. Die Begründung: Das Land habe "schwere Verstöße gegen die Religionsfreiheit begangen oder geduldet ". Monate später veröffentlichten die kommunistischen Behörden ein Weißbuch zur Religionspolitik, dass eine angeblich "umfassende" Politik zur Gewährleistung der Religionsfreiheit skizzierte.

Anfang 2018 verabschiedete Vietnam ein Gesetz, das Religionsgemeinschaften dazu verpflichtet, ihre Organisationen und Gebetsstätten bei der Regierung zu registrieren. Erst dann dürfen sie Gottesdienst abhalten.

Allerdings heißt es in einem Bericht des US-Außenministeriums aus dem Jahr 2022, die vietnamesischen Behörden hätten in den vergangenen vier Jahren weder neue religiöse Organisationen noch Untergruppen größerer, zuvor zugelassener Gruppen anerkannt.

Hartes Durchgreifen gegen ausländischen Einfluss

Im März enthüllte die Menschenrechtsorganisation "Projekt 88" aus Bangkok die sogenannte Direktive 24, ein vom Politbüro der Kommunistischen Partei erstelltes Dokument zur "nationalen Sicherheit". Dieses dokumentiert Analysten zufolge die Absicht des vietnamesischen Staates, Institutionen und Ideen, die von ausländischen Regierungen beeinflusst werden könnten, stärker zu unterdrücken.

Der Schwerpunkt des Dokuments liegt auf religiösen und ethnischen Identitäten. An die Behörden ergeht zudem die Empfehlung, "die Gründung von Arbeitsorganisationen auf der Grundlage von ethnischer Zugehörigkeit und Religion zu verhindern".

Nun könnte die Annäherung an den Vatikan dazu führen, dass der vietnamesische Staat künftig zumindest die Angelegenheiten der Katholiken im Lande weniger stark kontrolliere, sagt ein vietnamesischer Aktivist für religiöse Rechte, der namentlich ungenannt bleiben möchte. 

Der Schneider des Papstes

Doch selbst, wenn sich die Rechte der Katholiken verbesserten, spreche wenig dafür, dass dies auch auf andere unterdrückte religiöse Gruppen wie die Theravada-Buddhisten der Khmer Krom, einer Minderheit im Süden des Landes, oder die Dega-Protestanten im zentralen Hochland Vietnams zutreffe, so der Aktivist.

Ein anderer prominenter Rechtsaktivist ist der Ansicht, der Vatikan nutze seinen Beziehungen zu Vietnam dazu, der katholische Kirche den Zugang zu anderen kommunistischen Staaten, allen voran China, zu ebnen. Mit China führt der Vatikan ebenfalls Annäherungsgespräche.

Im vergangenen Dezember hatte Papst Franziskus erklärt, der Vatikan müsse stärker Behauptungen entgegentreten, die Katholische Kirche akzeptiere die chinesische Kultur oder deren Werte nicht. 

Vietnam: Wie der Verkehr Städte zu ersticken droht

Religion bleibt im EU-Fokus auf der Strecke

Die Beziehungen zwischen dem Vatikan und Vietnam werfen zudem die Frage auf, wie ernst es Europa mit religiösen Rechten in autoritären Staaten wie Vietnam nimmt.

"Traurige Tatsache ist, dass die Europäische Union und die meisten ihrer Mitgliedstaaten es verpasst haben, sich für die Religionsfreiheit in Vietnam einzusetzen", sagt Phil Robertson, stellvertretender Direktor der Asien-Abteilung von Human Rights Watch.

Die EU solle sich gemeinsam mit den USA und anderen gleichgesinnten Ländern dafür einsetzen, dass die vietnamesische Regierung ihrer restriktiven Kontrolle der Religion beendet, so Robertson. "Auch sollte sie religiösen Führern und ihren Anhängern die Ausübung ihres Glaubens ohne ständige Einmischung zu ermöglichen."

Anders als die USA mit ihrem Religious Freedom Act führt die EU keine spezielle Beobachtungsliste zur religiösen Freiheit weltweit. 

Zwar beziehen sich EU-Erklärungen häufig auch auf religiöse Rechte. Auch der Bundestag veröffentlichte 2021 einen Bericht über die Menschenrechtssituation in Vietnam insgesamt. Die meisten europäischen Regierungen konzentrieren sich Analysten zufolge jedoch vor allem auf politische Rechte und Arbeitsrechte in Vietnam.

Deutsch - vietnamesische Beziehungspflege: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zu Besuch in Ho-Chi-Minh-Stadt, Januar 2024
Deutsch - vietnamesische Beziehungspflege: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zu Besuch in Ho-Chi-Minh-Stadt, Januar 2024null Bernd von Jutrczenka/dpa/picture alliance

Das 2020 ratifizierte Freihandelsabkommen zwischen der EU und Vietnam widme sich vor allem den Arbeitsrechten, sagt Udo Bullmann, Mitglied des EU-Parlaments und Vorsitzender von dessen Unterausschuss für Menschenrechte. Er hat Vietnam im April letzten Jahres besucht.  Aktivisten wenden allerdings ein, Hanoi habe sich nicht an sein Versprechen gehalten, unabhängige Gewerkschaften zuzulassen.

"Wir hoffen sehr, dass parallel zur wachsenden Partnerschaft in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht das kontinuierliche Beharren der EU-Akteure zu erheblichen Verbesserungen bei der Einhaltung der Menschenrechte in Vietnam führen wird", so Bullmann weiter. Allerdings sollte die EU die Menschenrechte in Vietnam "unabhängig von Initiativen anderer internationaler Akteure" unterstützen.

Ein EU-Sprecher sagte, in Brüssel sei man "besorgt über die Berichte hinsichtlich der Verletzung der Religions- und Glaubensfreiheit in Vietnam." Diese sei beim letzten Menschenrechtsdialog der EU mit Vietnam im vergangenen Juni in Hanoi diskutiert worden. "Wir werden die vietnamesischen Behörden beim kommenden Menschenrechtsdialog 2024 erneut auffordern, die Schikanen und willkürlichen Verhaftungen von Angehörigen religiöser Minderheiten zu beenden", so der Sprecher weiter.

 

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp

Deutschland: Pflegekräfte aus der Ferne

Decoding China: Innovationsbedarf umschifft die Politik

Als die weltgrößte Industrieschau ist die Hannover Messe der Trendsetter. Hier erfährt die ganze Welt, wie die industrielle Zukunft aussieht und was die wegweisenden Themen sind. Dass China dabei ein unentbehrlicher Akteur ist, lässt sich direkt an der Zahl der Aussteller ablesen. Fast jeder Dritte der circa 4.000 Teilnehmenden kommt dieses Jahr aus Fernost. Dass die Bundesregierung in ihrer Chinastrategie vom Sommer 2023 das Reich der Mitte als "Partner, Wettbewerber", aber auch "systemischen Rivalen" definiert, schreckt die Aussteller nicht ab.

"Mir ist die Position Deutschlands nicht bekannt", sagt der chinesische Unternehmer Jiang, der auf seinem Standardmessestand von neun Quadratmetern in der Halle 4 Kugellager unterschiedlicher Größen ausstellt. "Das macht aber nichts. Wir wollen Geschäfte machen. Und meine Produkte sind gut, preiswert und für die Industrie unverzichtbar."

Eine kleine Zahl von Ständen bleibt in der Halle 4 leer. Die an der Außenwand angeklebten Firmennamen deuten darauf hin, dass auch diese für Unternehmen aus China vorgesehen waren. Vermutlich haben die Geschäftsleute kein Visum für Deutschland erhalten, murmelten die Nachbarn. Ansonsten spürt man auf dem Gemeinschaftsstand für den chinesischen Mittelstand deutliche Aufbruchsstimmung. Der Messeauftritt in Hannover gibt den Unternehmen die Möglichkeit für mehr Exportgeschäfte, um die nachlassende Nachfrage im chinesischen Inland auszugleichen. "Wir hoffen auf große Bestellungen aus dem Ausland", sagt Jiang. Er räumt aber ein, dass es "überall schwierig" sei.

Zukunft mit KI-getriebener Industrie "Made in China"

Das Logo des Chinastands Make Things Better (Mach die Dinge besser) liest sich dabei wie ein selbstbewusster Slogan. In einigen Bereichen haben sich chinesische Unternehmen schon heute weltweit an die Spitze gesetzt. Themen wie Digitalisierung und Künstliche Intelligenz (KI) wären ohne chinesisches Engagement nicht denkbar. Die Zukunft liegt in der so genannten "Industrie 4.0" - der vernetzten Produktion mit automatisierter Zuteilung der Ressourcen durch KI.

Die Zukunftsfabriken, auch Smart Factories genannt, brauchen dafür schnelle Funknetze und Cloud-Services. Über diese "Daten-Wolken" werden sämtliche Industriedaten in Echtzeit von der Produktion an den Server übermittelt. Nach vorgegebenen Rechenmodellen, den Algorithmen, ermittelt die künstliche Intelligenz über Cloud-Computing die bestmöglichen Lösungen und erteilt den Maschinen die Anweisungen für die nächsten Schritte.

China | Smart Factory in Huzhou
"Smart Factory" in Huzhou, Chinanull Costfoto/NurPhoto/picture alliance

Beim Messerundgang am Montag (22.04.24.) betonte Bundeskanzler Olaf Scholz noch die Stärke Deutschlands, "um die Zukunft für unsere Volkswirtschaft und für gute, sichere Arbeitsplätze auch in 10, 20, 30 Jahren und für die weitere Zukunft zu gewährleisten." Das gehe nur mit technologischen Innovationen, für die Unternehmen aus Deutschland und viele andere, die in Hannover dabei sind, besonders geeignet seien, so Scholz weiter.

Symbiose durch Globalisierung

Wichtige Innovationen kommen dabei aus China. "Wir sind von den Fortschritten durch die Globalisierung überzeugt", sagt Zhiqiang Tao, Vize-Präsident von Huawei Cloud. Der chinesische Telekommunikationsausrüster baut in Europa den Cloud-Service kräftig aus und betreibt Server für europäische Kunden in Irland und der Türkei. "In Deutschland bieten wir unseren Industriekunden zum Beispiel über die Deutsche Telekom zuverlässigen Cloud-Service an. Nur durch Zusammenarbeit werden wir künftig vom Erfolg gekrönt bleiben."

China - der mächtige Konkurrent

Allein in China nutzten laut Tao schon mehr als 8.000 Industrieunternehmen mit globalem Footprint den Cloud-Service von Huawei. Diese dann mit den internationalen Partnern zu vernetzen, würde dann die Digitalisierung der gesamten Wertschöpfungskette beschleunigen. "Wir schaffen für alle einen Mehrwert. Und es entsteht eine Symbiose."

Aber genau mit dieser Symbiose hat Deutschland ein Problem. Zwar fordert die deutsche Chinastrategie keine komplette Entkopplung, aber eine Diversifizierung und ein "De-Risking".

"Wir halten es für nachvollziehbar, wenn Deutschland bei wichtigen Vorprodukten und Rohstoffen versucht, zu große Abhängigkeiten zu reduzieren", sagt Volker Treier, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) in Hannover. "Das ist ein normales kaufmännisches Gebot. Das füllt den Begriff des De-Riskings etwas mit Inhalten. In China sind weiterhin die Themen wie der Schutz geistigen Eigentums und der erzwungene Technologietransfer noch nicht ganz von der Tagesordnung verschwunden."

Investitionsrekord trotz De-Risking-Strategie

Die Statistiken sprechen aber eine andere Sprache. Nach Angaben der Deutschen Bundesbank investierte die deutsche Wirtschaft 2023 trotz De-Risking mit knapp zwölf Milliarden Euro in China - inklusive der Sonderverwaltungszone Hongkong - so viel wie nie zuvor. Laut der Geschäftsklimaumfrage der deutschen Auslandshandelskammer (AHK) wollen 54 Prozent der deutschen Firmen ihre Investitionen in China erhöhen, um dort wettbewerbsfähig zu bleiben.

Abkoppeln von China? - Lieber nicht ganz

"Das zeigt, dass trotz der bestehenden Herausforderung eben doch ein Vertrauen in die Stabilität und in das Potenzial des chinesischen Marktes besteht," sagt Thomas Scheler, Geschäftsführer der Deutsch-Chinesischen Wirtschaftsvereinigung (DCW) in Düsseldorf. Die Komplementarität der beiden Volkswirtschaften sei "ein wesentlicher Treiber" in dem gegensätzlichen Phänomen von politischer Lenkung und wirtschaftlichem Handeln.

Die Chance liege nun darin, dass die Globalisierung weg vom Warenhandel in Richtung Dienstleistungshandel, Dienstleistungsexporte und vor allem auch in Richtung Direktinvestitionen voranschreite, sagt Wirtschaftsjournalist Dieter Beste. "Direktinvestitionen bedeuten, dass man marktnah produziert, und zwar im Markt für den jeweiligen Markt. Das sind Tendenzen, die sich weltweit abzeichnen, insbesondere auch im Verhältnis zwischen Deutschland und China."

Berichte über Wirtschaftsspionage

Die Debatten, ob eine Innovationspartnerschaft mit chinesischen Firmen sinnvoll ist, werden während der Messewoche von Berichten über chinesische Wirtschaftsspionage überschattet.

Eine deutsche Firma soll im Auftrag des chinesischen Sicherheitsministeriums bei deutschen Universitätseinrichtungen Technologien abgefasst haben, die in China militärisch genutzt werden könnten. Zwei Deutsche sitzen seit Dienstag in Untersuchungshaft. Seit der blutigen Niederschlagung der Studentenproteste 1989 auf dem Tiananmen-Platz darf aufgrund des EU-Waffenembargos grundsätzlich keine Ausfuhrgenehmigung für Waffen an China ausgestellt werden.

"Ganz offen gesagt: Die Beziehungen waren schon mal besser", sagt Volker Treier von der Industrie- und Handelskammer. "Die volatile Weltlage hat sich auch auf die wirtschaftspolitische Beziehung zu China ausgewirkt. Trotz starken Gegenwinds: Wir müssen Kooperationsfelder ausbauen und systematisch weiterentwickeln", fordert Treier.

"Decoding China" ist eine DW-Serie, die chinesische Positionen und Argumentationen zu aktuellen internationalen Themen aus der deutschen und europäischen Perspektive kritisch einordnet.

 

Taliban und Pakistan: Auf die Hoffnung folgt Zerknirschung

Im August 2021 fiel die afghanische Hauptstadt Kabul an die Taliban. Das hatte auch Folgen für die Beziehung der nun an der Regierung befindlichen Fundamentalisten zum Nachbarland Pakistan:  Sie hat sich seitdem immer weiter verschlechtert. 

Viele Experten führen die aktuellen Spannungen auf die Zunahme des von Afghanistan ausgehenden grenzüberschreitenden Terrorismus zurück.

Allerdings haben umgekehrt auch einige Maßnahmen Islamabads das Taliban-Regime verärgert: So hatte Pakistan im vergangenen Jahr einige Handelsbeschränkungen für das Nachbarland erlassen. Zudem hatte es rund  500 000 afghanische Migranten ohne Papiere ausgewiesen sowie strengere Visabestimmungen an den Grenzübergängen eingeführt.

Im vergangenen Monat attackiert die pakistanische Luftwaffe wiederholt Orte in Afghanistan, an denen sie die Verstecke militanter pakistanischer Gruppen vermutete. Dabei wurden acht Menschen getötet. Der Angriff veranlasste die afghanischen Streitkräfte, das Feuer an der Grenze zu erwidern.

Von Hoffnung zu Zerknirschung 

Ursprünglich hatte Pakistan gehofft, nach der Machtübernahme durch die Taliban von der bisherigen Zusammenarbeit mit ihnen profitieren zu können, sagt Naad-e-Ali Sulehria, Südostasien-Experte beim Think Tank PoliTact in Washington, im Gespräch mit der DW.

So habe Islamabad etwa darauf gehofft, die Taliban würden gegen die Gruppe Tehreek-e-Taliban Pakistan (TTP) und andere militante pakistanische Organisationen vorgehen und deren Zufluchtsorte auf afghanischem Boden zerstören.

Doch diese Hoffnungen haben sich verflüchtigt, ja mehr noch: Pakistan registrierte einen Anstieg des Terrorismus. Der Grund: Die Rückkehr der Taliban an die Macht ermutigte und stärkte die TTP.

Einem Bericht des in Islamabad ansässigen Zentrums für Forschung und Sicherheitsstudien zufolge stieg die Zahl der Todesopfer infolge militanter Angriffe im Jahr 2023 im Vergleich zum Vorjahr um 56 Prozent. Über 1 500 Menschen wurden getötet, darunter 500 Sicherheitskräfte.

Erst in der vergangenen Woche wurden bei zwei Anschlägen in zwei unruhigen Bezirken der Provinz Khyber Pakhtunkhwa zwei Polizisten getötet und sechs verletzt.

Afghanische Mädchen sehnen sich nach Schule

Pakistan und die Taliban: eine komplexe Beziehung

Die seit langem bestehenden Beziehungen Pakistans zu den Taliban sind komplex und vielfach widersprüchlich. Infolge historischer Ereignisse und strategischen Kalküls haben sie zudem zahlreiche Wandlungen durchlaufen.

Die beiden Länder haben, vor allem im paschtunisch geprägten Grenzgebiet, enge kulturelle Verbindungen, liegen miteinander aber wegen der 1893 von den Briten gezogenen 2.640 Kilometer langen Grenze, der sogenannten Durand-Linie, im Streit.

Die Linie teilte das Land der paschtunischen Stämme. Darüber entstand die Idee eines unabhängigen Staates "Paschtunistan", der die paschtunischen Gebiete auf beiden Seiten der Grenze umfassen sollte. Doch dieser Staat kam nie zustande. Der Streit aber schwelt bis heute weiter.

Infolge der sowjetischen Invasion in Afghanistan im Jahr 1979 knüpfte Islamabad enge Beziehungen zu muslimischen Extremisten jenseits der Grenze.

„Aus Sorge vor dem sowjetischen Einfluss wurde Pakistan zu einem wichtigen Durchgangsland für die westliche Hilfe für die afghanischen Mudschaheddin, also jene Rebellengruppen, die gegen die Sowjets kämpften", sagt der in Islamabad lebende Historiker Ubaidullah Khilji.

Nach dem Abzug der Sowjets stürzte Afghanistan in einen Bürgerkrieg. Der brachte eine neue islamistische Gruppierung hervor: die Taliban. Pakistan erkannte 1996 zusammen mit Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten das Taliban-Regime an und gewährte ihm militärische Unterstützung und weitere Hilfen.

Als die USA und ihre Verbündeten Afghanistan nach den Terroranschlägen in den USA vom 11. September 2001 besetzten, brach das Regime der Taliban Ende jenen Jahres zusammen.

Einige Mitglieder der Gruppe fanden Zuflucht in Pakistan, insbesondere in den Grenzregionen. Zwar kooperierte Islamabad nach dem 11. September 2001 mit den USA. Doch gilt es als ausgemacht, dass Teile der pakistanischen Elite die Taliban heimlich unterstützten - ein Umstand, der sich als entscheidend für deren Überleben und ihre Rückkehr an die Macht im August 2021 erwies.

„Die Taliban nutzten Pakistan als sicheren Zufluchtsort, um ihren Aufstand in Afghanistan zu unterstützen. Diesen Umstand wertete Pakistan als Möglichkeit, dem indischen Einfluss in Afghanistan entgegenzuwirken", sagt ein Taliban-Beamter im Kabuler Bildungsministerium, der anonym bleiben möchte. "Es war eine Beziehung zum beiderseitigen Nutzen."

Pakistan droht 1,7 Millionen Afghanen mit Ausweisung

Neue Ära in Kabul

Mit der Rückkehr der Taliban an die Macht hat sich diese Dynamik erheblich verändert. Die Taliban seien auf Pakistan nicht mehr länger angewiesen, sagt Adam Weinstein, Nahost-Experte am Think Tank Quincy Institute. "Vielmehr behaupten ihre Unabhängigkeit und weigern sich, sich Pakistan unterzuordnen oder dessen Forderungen zu erfüllen."

Die Taliban-Führer sind sich der früheren Unterstützung durch Pakistans zwar bewusst. Dass Pakistan Taliban-Führer nun schikaniert, verhaftet und an die USA ausliefert, sehen sie als Beweis für die Doppelzüngigkeit Islamabads.

"Ein hartes Vorgehen gegen die TTP, wie von Pakistan gefordert, könnte eine Gegenreaktion innerhalb der Taliban selbst auslösen", so der anonyme Taliban-Vertreter. Einige TTP-Mitglieder könnten womöglich zur Gruppe "Islamischer Staat Khorasan" (ISIS-K) überlaufen. Diese bekämpft die Taliban innerhalb Afghanistans.

Taliban auf der Suche nach neuen Verbündeten

Während die Beziehungen zu Pakistan abkühlen, sind die Taliban bereits dabei, neue Partnerschaften zu schmieden. Die westlichen Mächte zögern noch, auf entsprechende Angebote der Taliban einzugehen. Russland, Iran, Indien und einige zentralasiatische Staaten hingegen gehen vorsichtig auf das Regime zu.

Bereits jetzt erhalte die Taliban-Regierung erhebliche Einnahmen aus ausländischen Investitionen, sagt Sulehria vom Think Tank PoliTact. Dies gelte insbesondere mit Blick auf China, dass die reichhaltigen Bodenschätze Afghanistans abbaut.

„Zudem wenden sich die Taliban an Iran, um Zugang zum internationalen Handel zu erhalten. Das deutet darauf hin, dass sie bestrebt sind, ihre Partnerschaften zu diversifizieren", so Sulehria zur DW. 

"Tatsächlich unterstützten Afghanistans Nachbarn und die internationale Gemeinschaft die Taliban sowohl direkt als auch indirekt", sagt Weinstein vom Quincy Institute im Gespräch mit der DW. "Dies geschieht durch Handel, Hilfe und diplomatische Kanäle."  Der Grund für die Unterstützung liege auf der Hand: "Alternativen zur Herrschaft der Taliban sieht die Welt mit Sorge entgegen. Man fürchtet einen Bürgerkrieg, eine noch stärkeren ISKP sowie allgemeine Instabilität."

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

Trauma und Trauer: Geflüchtete aus Afghanistan in den USA

Automesse Peking: Letzte Chance für deutsche Hersteller?

In keinem anderen Land werden so viele Elektroautos verkauft wie in China. Und in keinem anderen Land tobt derzeit ein vergleichbar erbitterter Preiskampf, um dabei die Nase vorn zu haben oder vorn zu halten. "Im April haben wir eine weitere Runde von Preissenkungen gesehen, der heftige Preiswettbewerb wird in den nächsten Jahren anhalten", sagte VW-Vorstandsmitglied Ralf Brandstätter vor der am Donnerstag beginnenden Automesse in Peking.

Dabei will sich Volkswagen laut Brandstätter in den kommenden beiden Jahren auf den anhaltenden Preiswettbewerb vorbereiten – und das Geschäft mit seinen E-Autos mit den nach wie vor gut laufenden Verkäufen von Verbrenner-Autos finanzieren. Das bedeute für Volkswagen allerdings auch zwei schwere Jahre. Dem stimmt der unabhängige Auto-Analyst Jürgen Pieper zu. "Der Volkswagen-Konzern steht in China gewaltig unter Druck und wird sich diesem sehr harten Preiswettbewerb stellen müssen. In rund zwei Jahren sollte man die Kurve kriegen. Aber das ist im Moment mehr Hoffnung als fester Glaube."

VW-Chef Oliver Blume auf der Automesse 2024 in Peking
VW-Chef Oliver Blume: Entscheidet sich in China das Schicksal des Konzerns? null Johannes Neudecker/dpa/picture alliance

BYD verkauft in China mehr Autos als VW

China ist der wichtigste Absatzmarkt der deutschen Autohersteller Volkswagen, Mercedes und BMW. Ein Absatzmarkt, den sie in der Vergangenheit mit ihren Verbrennern dominiert haben. Chinesische Hersteller konnten nie mit der historisch langen Tradition und der ausgereiften filigranen Technik von Autos "Made in Germany" mithalten. Nur sieht die Sache bei E-Autos nun anders aus. So hat etwa BYD Volkswagen als den Konzern, der im Reich der Mitte die meisten Autos verkauft, abgelöst.

BYD steht für "Build Your Dreams". Erwachsen sind die Träume auf der grünen Wiese der E-Mobilität. Ausgemalt und vergrößert wurden die Träume auch mithilfe staatlicher Subventionen. Doch mit mindestens ebenso viel Erfindergeist haben sich die Träume mittlerweile tatsächlich auf Chinas Straßen materialisiert. Softwareentwicklung und Technik treffen offenbar den Geschmack: BYD hat mittlerweile einen Marktanteil von 25 Prozent bei Elektroautos. Zum Vergleich: Der E-Auto-Pionier Tesla bringt es auf knapp 12 Prozent, Volkswagen bringt es nicht einmal mehr auf fünf Prozent. Und BYD hat technologisch mit seinen Batterien einen deutlichen Vorsprung.

Besucher betrachten einen Denza D9 am Stand des chinesischen Herstellers BYD auf der Automesse IAA 2023 in München
Wollen Europa und Deutschland erobern: Fahrzeuge von BYD, hier auf der Automesse in München im September 2023null Matthias Balk/dpa/picture alliance

Dabei ist diese Entwicklung in ihrer Brisanz kaum zu unterschätzen. Denn bereits in diesem Jahr erwartet man in China, dass der Anteil von E-Autos an allen verkauften Fahrzeugen bei rund 40 Prozent liegen wird. Im kommenden Jahr soll jedes zweite Auto, das in China verkauft wird, bereits ein Stromer sein.

Schwache Nachfrage nach E-Autos weltweit

Nicht nur für deutsche Autohersteller kommt erschwerend hinzu, dass in jüngster Zeit auch der vorher boomende Automarkt in China an Fahrt verloren hat. Dabei treffen die Auswirkungen dieser Entwicklungen die deutschen Hersteller unterschiedlich. Während Volkswagen derzeit am meisten zu kämpfen hat, sind Hersteller wie BMW oder Mercedes weniger betroffen. Sie sind eher im Markt für hochpreisige Modelle unterwegs - und da können sie, soweit abzusehen, mit anderen Herstellern mithalten.

Besucher drängen sich in den Hallen der Automesse Peking.
Gut besucht: Besucher drängen sich in den Hallen der Automesse Peking. null Johannes Neudecker/dpa/picture alliance

Beim E-Auto-Pionier Tesla warten dagegen mittlerweile viele produzierte Autos auf den Höfen auf Kaufinteressenten. Die vergleichsweise schwache Nachfrage in China und die Konkurrenz chinesischer Autobauer, die auch preiswertere Modelle in ihrem Angebot haben, führt zu Rabattschlachten bei den Herstellern, was die Margen stark eingrenzt.

Dabei schwächelt aber auch in Deutschland der Verkauf von Elektroautos. Im Nachgang der hohen Inflation halten sich Verbraucher mit dem Kauf von Neuwagen zurück, die Ladeinfrastruktur ist gelinde gesagt lückenhaft und dann sind E-Autos im Vergleich zu Verbrennern noch sehr teuer. Hinzu kommt die zuletzt schwächelnde Konjunktur, die die Nachfrage bremst und vergleichsweise hohe Zinsen, die die Finanzierung neuer Autos erschweren. Nach jüngsten Zahlen des Kraftfahrtbundesamtes (KBA) ist die Zahl an Neuzulassungen reiner Elektroautos im ersten Quartal dieses Jahres um mehr als 14 Prozent zurückgegangen.

Der SU7 des chinesischen Handyherstellers Xiaomi steht auf der Automesse in China
Neuester Konkurrent: Xiaomi, eigentlich ein Smartphone-Hersteller, stellte unlängst sein E-Auto vor, den SU7. Er ist auch in Peking ein Blickfang. null Jörn Petring/dpa/picture alliance

Tesla und VW straffen Kosten

Auf den schleppenden Absatz seiner Fahrzeuge hat Tesla in den vergangenen Tagen reagiert: Sein exzentrischer Chef Elon Musk hat angekündigt, weltweit jede zehnte Stelle im Konzern abbauen zu wollen. Am Vorabend der Automesse in Peking hat Tesla den ersten Umsatzrückgang in einem Quartal seit vier Jahren ausgewiesen. Die Gewinne haben sich halbiert. Auch die Auslieferungen an neuen Fahrzeugen lagen im ersten Quartal dieses Jahres um knapp neun Prozent unter dem Vorjahr. Am vergangenen Wochenende hatte Tesla nochmals die Preise für einige seiner Modelle gesenkt.

Auch in Wolfsburg sieht man Handlungsbedarf im Unternehmen. So hat Volkswagen vor wenigen Tagen eine interne Mitteilung verschickt und angekündigt, die Personalkosten in der Verwaltung um 20 Prozent senken zu wollen. Erreichen will man das etwa durch eine Ausweitung von Altersteilzeit oder Abfindungen für jüngere Beschäftigte in der Verwaltung.

Die Neuordnung des Automarktes nimmt weiter Fahrt auf. Nächster Stopp: Die Automesse in Peking.

Studierende aus Indien gegen Fachkräftemangel in Deutschland

Deutschland kämpft mit einem kritischen Arbeitskräftemangel, der sich mit der alternden Bevölkerung immer weiter verschärft.  Prognosen gehen davon aus, dass 2035 bis zu sieben Millionen Fachkräfte fehlen würden.

Mit derzeit rund 700.000 unbesetzten Stellen ist das Wachstum in Deutschland von etwa zwei Prozent in den 1980er Jahren auf derzeit etwa 0,7 Prozent gesunken . Es würde weiter auf 0,5 Prozent fallen, wenn die deutsche Wirtschaft keine ausreichenden Fachkräfte finden würden, sagte der Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck. Er betonte, dass die Zuwanderung von Fachkräften helfen könne, diese wachsende Kluft zu überbrücken.

Ein Teil der Lösung könnte dabei sein, den Studierenden aus Indien  die Erwerbstätigkeit in Deutschland zu ermöglichen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes studieren derzeit rund 43.000 junge Menschen aus Indien andeutschen Hochschulen.

"Internationaler Talentpool"

Indische Studierende in Deutschland sind dabei überdurchschnittlich häufig in IT- und Ingenieurstudiengängen eingeschrieben. Auf dem deutschen Arbeitsmarkt ist neben Pflegeberufen der Bedarf an IT- und Ingenieurberufen besonders groß.

Deutschland stehe bei den Ingenieurwissenschaften traditionell international mit an der Spitze. Der hohe Anteil indischer Studierender der Fachrichtungen Informatik und Ingenieurwesen könne dem Land helfen, "diesen Vorsprung im globalen wirtschaftlichen Wettbewerb zu halten", sagt Enzo Weber, Professor für Arbeitsmarktforschung an der Universität Regensburg.

"Der Staat kann den qualifizierten Einzelpersonen Perspektiven aufzeigen und gleichzeitig einen Pool an Talenten für den Arbeitsmarkt aufbauen", sagt Weber im Interview mit der DW. Dieser Schritt sei angesichts der alternden Bevölkerung und des Fachkräftemangels in Deutschland unerlässlich.

14 Prozent aller Studierenden in Deutschland kommen aus dem Ausland, sagt Michael Flacke vom Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD). Im DW-Interview sagt er, dass diese Gruppe von Studierenden die beste Chance auf eine dauerhafte Beschäftigung habe, weil sie bereits in Deutschland leben und die Sprache gelernt hätten. "Wir wissen aber auch, dass das Erlernen der deutschen Sprache, das Zurechtfinden im deutschen Hochschulsystem, das sehr stark auf Selbstständigkeit ausgerichtet ist, und der Übergang in den Arbeitsmarkt für internationale Studierende besonders herausfordernd ist."

Bundestag beschließt neues Einwanderungsrecht

Das deutsche Fachrkräfteeinwanderungsgesetz trat im November 2023 in Kraft. Bis zum Juni 2024 wird die Zuwanderung aus den Drittstaaten stufenweise vereinfacht.  Aber diese Herausforderungen würden weiter bestehen, so Arbeitsmarktforscher Weber. "Die Wirksamkeit des Gesetzes hängt daher auch von der praktischen Unterstützung bei der Integration ab."

Studienbegleitend arbeiten

Das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz erlaubt es internationalen Studierenden nun, 20 Stunden pro Woche zu arbeiten – doppelt so lang wie bisher.

Suryansh promoviert in Computational Materials Science und theoretischer Nanophysik an der TU Dresden. Im Gespräch mit der DW sagt der 35-Jährige, dass die neuen Gesetze die Arbeit für Studierende erleichtern würden.

"Wer Kompetenzen und Qualifikationen hat, bekommt ein anständiges Gehalt. Das Leben wird auch einfacher. Außerdem gibt es dann die Option, eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten", sagte er und fügte hinzu, dass sich Möglichkeiten in einer Reihe von Bereichen erschließen würden, darunter High-Tech-Sektoren wie Halbleiter- und Quantencomputer-Technik.

"Nach dem, was ich gesehen habe, ist die Vermittlungsquote recht gut", und viele Leute in seinem Labor würden innerhalb von zwei bis drei Monaten ein Jobangebot erhalten.

Deutschland TU Dresden Suryansh
Suryansh aus Indien promoviert an der TU Dresdennull Pooja Yadav/DW

IT- und Ingenieurstudenten könnten der Industrie zum Erfolg verhelfen

Mohammad Rahman Khan, ein 26-jähriger Student aus Indien, hat sich für die Universität Hannover entschieden, um dort Mechatronik und Robotik zu studieren.

In Deutschland "gibt es nach meinen Beobachtungen im Vergleich zu anderen Branchen eine erhebliche Nachfrage bei technischen Berufen und Angeboten im Zusammenhang mit Programmierung", sagte er.

Professor Weber von der Universität Regensburg sieht ebenfalls, dass der deutsche Maschinenbau einen hohen Bedarf an Fachkräften erlebe, insbesondere angesichts des Wandels, der durch die Digitalisierung in Bereichen wie Maschinenbau und Energie vorangetrieben werde.

Neue Heimat Berlin - Die indische Community in Deutschland

"Angesichts des drohenden Arbeitskräftemangels wird der Zustrom internationaler Talente zu einem entscheidenden Faktor für die Aufrechterhaltung der Wettbewerbsfähigkeit", erklärt Weber und betont, wie wichtig es sei, Fachkräfte im technischen Sektor zu gewinnen und zu halten, um den Arbeitskräftebedarf der deutschen Industrie zu decken.

Deutschland muss noch viele Hürden überwinden

Riya Joseph ist 2023 aus dem südindischen Bundesstaat Kerala nach Deutschland gezogen, um an der TU Dresden im Fachgebiet Krebsforschung zu promovieren. Der Weg von der wissenschaftlichen Mitarbeiterin zur Postdoc-Stelle in Deutschland sei "vielversprechend", sagt die 24-Jährige im Gespräch mit der DW.

"Dazu gehört es, von Ländern wie Kanada zu lernen, klare Kommunikationswege zu etablieren, rechtliche Formalitäten effektiv zu erledigen und Klarheit über den Verbleib nach dem Studium zu schaffen", so Professor Weber.

Darüber hinaus müsse Deutschland angesichts globaler Trends wie der alternden Erwerbsbevölkerung in den USA "die Einwanderungsgesetze konkurrenzfähig machen, Prozesse rationalisieren, vielfältige Visaoptionen anbieten und eine nahtlose Integration für internationale Studierende und Arbeitnehmer fördern", fügt Weber hinzu.

Aus dem Englischem adaptiert von Florian Weigand

 

Mount Everest: Klettersaison mit neuen Regeln und vielen Fragezeichen

Nicht umsonst nennen die Bergsteigerinnen und Bergsteiger am Mount Everest die heikle Passage "Ballsaal des Todes". Einem Damoklesschwert gleich bedroht von der westlichen Flanke ein mächtiger Hängegletscher die Route durch den Khumbu-Eisbruch. Vor zehn Jahren, am 18. April 2014, löste sich von dort eine Eislawine. 16 nepalesische Bergsteiger, die Material für die kommerziellen Expeditionen in die Hochlager tragen sollten, kamen bei dem Unglück ums Leben. Seitdem versuchen die "Icefall Doctors" - eine Gruppe von Sherpas, die auf den Eisbruch spezialisiert sind -, die Aufstiegsroute so weit wie möglich von der Westflanke entfernt zu legen. In diesem Frühjahr zwang sie jedoch der Klimawandel in den Ballsaal des Todes.

Es gab einfach keine Alternative. Zwei Versuche, einen weniger risikoreichen Weg zu finden, waren gescheitert. Der schneearme Winter in Nepal hatte in dem Eislabyrinth zu instabilen Eistürmen und Schneebrücken geführt. Außerdem hatten sich so breite Gletscherspalten gebildet, dass sie nicht mit Leitern überquert werden konnten. 

Jahr für Jahr richten die Icefall Doctors die Route durch den gefährlichen Eisbruch ein, sichern sie mit Seilen und halten sie während der Klettersaison bis Ende Mai instand. Erst wenn die Route bis hinauf nach Lager 2 auf 6400 Metern fertiggestellt ist, können die kommerziellen Teams aufsteigen. Die Zeit drängte. Rund zehn Tage später als ursprünglich geplant meldeten die acht Sherpas endlich Vollzug. Die Icefall Doctors warnten jedoch davor, dass es mindestens fünf gefährliche Stellen gebe, die man möglichst schnell passieren sollte. Das erinnert an Russisch Roulette.  

"Berg gewinnt an Dynamik"

Im vergangenen Winter waren sogar zwei über 5800 Meter hohe Pässe im Everest-Gebiet komplett schneefrei. Das sei "besorgniserregend", sagt der nepalesische Glaziologe Tenzing Chogyal Sherpa. "Die Daten zeigen, dass die Zahl der Schneetage, die Schneemenge und die Schneebedeckung abnehmen. Es gibt einen negativen Trend. Diese 'nackten‘ Pässe und Berge veranschaulichen, was gerade passiert." Die Gletscher schmelzen immer schneller, werden dünner und kürzer. Es bilden sich immer größere Gletscherseen, deren natürliche Dämme zu bersten drohen. Das geschah in dieser Woche am Achttausender Manaslu. Die anschließende Flutwelle richtete nur Sachschäden an. Glück gehabt.

Infografik Karte die 14 Achttausender.

Auch im Tal zu Füßen des Everest bilden sich immer mehr Tümpel aus Schmelzwasser. Bis hinauf zum Gipfel auf 8849 Metern sind Schnee und Eis auf dem Rückzug. Die Folge: erhöhte Steinschlaggefahr. Auch das Lawinenrisiko steigt, weil es immer wärmer wird. "Viele Menschen verlieren ihr Leben durch Lawinenabgänge. Der Berg gewinnt immer mehr an Dynamik", warnt Glaziologe Sherpa.

20 Prozent weniger Permits

"Die momentanen Schwierigkeiten am Khumbu-Eisbruch, um zu den höheren Camps zu gelangen, könnten einen Einfluss auf die gesamte Saison haben und womöglich Vorboten eines großen Unheils am Everest sein", fürchtet Norrdine Nouar. Der deutsche Bergsteiger aus dem Allgäu hat gerade - ohne Flaschensauerstoff - die 8091 Meter hohen Annapurna im Westen Nepals bestiegen, seinen zweiten Achttausender. Jetzt will er sich am höchsten Berg der Erde ohne Atemmaske versuchen. "Ich hoffe sehr, dass wir den letztjährigen traurigen Rekord an Toten am Everest nicht erneut brechen", sagt der 36-Jährige gegenüber dem Blog "Abenteuer Berg". Im Frühjahr 2023 waren am Mount Everest 18 Menschen - sechs Nepalesen und zwölf Kunden kommerzieller Teams - ums Leben gekommen, so viele wie noch nie zuvor in einer Saison. Die nepalesische Regierung hatte jedoch auch noch niemals so viele "Permits", Besteigungsgenehmigungen, für den Everest ausgestellt: 478. In diesem Jahr liegt die Zahl der Permits im Vergleich zum gleichen Zeitpunkt 2023 gut 20 Prozent niedriger.

Basislager auf der tibetischen Nordseite des Mount Everest.
Basislager auf der tibetischen Nordseite des Mount Everestnull Xiao Mi/dpa/picture alliance

Das kann, muss aber nicht auf ein nachlassendes Interesse am Everest hindeuten. Zum einen könnte es daran liegen, dass sich viele Everest-Kandidatinnen und Kandidaten inzwischen daheim in Hypoxie-Zelten vorakklimatisieren und deshalb später anreisen. Zum anderen dürfte auch eine Rolle spielen, dass der höchste Berg der Erde erstmals seit vier Jahren auch wieder von der tibetischen Nordseite aus bestiegen werden kann. Wegen der Corona-Pandemie hatten die chinesischen Behörden die Berge Tibets für ausländische Expeditionen gesperrt. Noch warten die Teams, die in diesem Frühjahr von Norden aus den Everest besteigen wollen, auf ihre Einreisegenehmigungen nach Tibet. Dem Vernehmen nach soll die Grenze erst am 7. Mai geöffnet werden. Die Everest-Saison auf der Nordseite endet am 1. Juni. Die chinesischen Behörden haben die Zahl der Permits auf 300 gedeckelt. Aufstiege ohne Flaschensauerstoff sind ab einer Höhe von 7000 Metern untersagt.

Tracking-Chips und Kotbeutel

Auch auf der nepalesischen Südseite gibt es neue Vorschriften. So müssen alle Bergsteigerinnen und Bergsteiger elektronische Tracking-Chips in ihren Daunenjacken eingenäht haben. Sie sollen die Suche erleichtern, sollte jemand am Berg vermisst werden. Das System hat sich bei Lawinensuchen in den Alpen bewährt. Experten bezweifeln allerdings, dass damit auch im Gipfelbereich des Mount Everest die Sicherheit erhöht werden kann. Bei Eislawinen, so Lukas Furtenbach, Chef des österreichischen Expeditionsanbieters Furtenbach Adventures, reduziere sich die Reichweite des Systems erheblich. "Besser wäre, die Guides [Bergführer - Anm. d. Red.] würden ihre Kunden nicht alleine lassen", sagt Furtenbach. "Dann wäre das Problem gelöst."

Pflicht ist in diesem Jahr erstmals auch, "Poo bags" auf den Berg mitzunehmen, zu benutzen und wieder herunterzubringen. Die speziell für den Outdoor-Bereich entwickelten Kotbeutel sind dicht verschließbar. Ihre Innenseite ist mit einer Mischung aus Geliermitteln, Enzymen und geruchsneutralisierenden Substanzen beschichtet. Diese sorgen dafür, dass die Fäkalien gebunden und der Gestank reduziert wird. Die nepalesische Umweltschutzorganisation Sagarmatha Pollution Control Committee (SPCC), die für das Management des Everest-Basislagers zuständig ist und auch die Icefall Doctors beschäftigt, soll dafür sorgen, dass die Regel eingehalten wird. Das SPCC schätzt, dass zwischen Lager 1 auf 6100 Metern und Lager 4 am Südsattel auf knapp 8000 Metern insgesamt rund drei Tonnen Exkremente liegen - die Hälfte davon am Südsattel, dem letzten Lager vor dem Gipfel des Mount Everest. Da die Schneeauflage zunehmend schwindet, stinkt es dort buchstäblich zum Himmel. Der Südsattel läuft Gefahr, zum "Ballsaal des Kots" zu werden.

Vertuschter Dopingskandal in Chinas Schwimmsport?

Ein möglicher weiterer großer Dopingskandal erschüttert den Weltsport, weniger als 100 Tage vor Beginn der Olympischen Spiele in Paris (26. Juli bis 11. August).

Was ist geschehen?

Nach Recherchen der ARD-Dopingredaktion und der US-Zeitung "New York Times" wurden bei einem Schwimmwettkampf im Januar 2021 in Shijiazhuang, der Hauptstadt der nordchinesischen Provinz Hebei, 23 chinesische Schwimmerinnen und Schwimmer positiv auf die verbotene Substanz Trimetazidin getestet. Die chinesische Anti-Doping-Agentur CHINADA stufte das Ergebnis jedoch nicht als konkreten Verdachtsfall ein, die Aktiven durften weiter starten. Begründung: Es habe sich um niedrige Konzentrationen und schwankende Werte gehandelt, so die CHINADA. Die chinesischen Schwimmerinnen und Schwimmer seien Opfer einer "Massenkontamination" in der Küche des Teamhotels geworden, so die offizielle Erklärung der CHINADA.

Die ARD-Dopingredaktion ließ die chinesische Version in einem Experiment in einem deutschen wissenschaftlichen Fachlabor nachstellen und überprüfen. Ergebnis: Es hätte so sein können, ist aber extrem unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher sei, dass die Aktiven die Dopingsubstanz bereits Wochen vorher eingenommen hätten.

Um welche Schwimmerinnen und Schwimmer geht es?

Die 23 betroffenen Aktiven gehörten zum Schwimm-Nationalkader Chinas, einige von ihnen zählen inzwischen zur Weltelite. Drei von ihnen gewannen 2021 bei den Olympischen Spielen in Tokio Gold: Zhang Yufei wurde sogar Doppel-Olympiasiegerin (200 Meter Schmetterling, 4x200-Meter-Freistilstaffel), Wang Shun gewann Einzelgold (200 Meter Lagen der Männer), Yang Junxuan Staffel-Gold (4x200-Meter-Freistilstaffel der Frauen). Ebenfalls betroffen war Qin Haiyang, Vierfach-Weltmeister 2023.

Chinas Schwimmer Qin Haiyang feiert seinen Sieg über 200 Meter Brust bei der WM in Fukuoka, indem er mit den Armen ins Wasser schlägt.
Qin Haiyang wurde nach seinen vier WM-Titeln von Fukuoka zum "Weltschwimmer des Jahres 2023" gekürtnull Zhang Xiaoyu/Xinhua News Agency/picture alliance

Drei der positiv getesteten Aktiven waren zum Zeitpunkt der Dopingkontrolle in Shijiazhuang noch minderjährig, zwei von ihnen - damals 15 Jahre alt - wurden später Staffelweltmeisterinnen: Wang Yichun (2023) und Yu Yiting (2024).

Um welches Dopingmittel handelt es sich?

Trimetazidin ist ein Wirkstoff, der in Medikamenten gegen die Herzkrankheit Angina Pectoris verwendet wird. Die Substanz sorgt dafür, dass die Muskeln besser mit Energie und Sauerstoff versorgt werden, sie begünstigt zudem den Muskelaufbau. Trimetazidin ist bei der Welt-Anti-Doping-Agentur WADA seit 2014 als verbotene Substanz gelistet. Sie wird als Dopingsubstanz vor allem in Ausdauer- und Kraftsportarten genutzt.

2014 wurde der damalige chinesische Schwimmstar Sun Yang, Doppe-Olympiasieger von London 2012, positiv auf Trimetazidin getestet und drei Monate gesperrt. Auch im Dopingskandal um die damals erst 15 Jahre alte russische Eiskunstläuferin Kamila Walijewa bei den Olympischen Spielen 2022 in Peking ging es um diesen Wirkstoff. Der Internationale Sportgerichtshof CAS sperrte Walijewa 2024 rückwirkend für vier Jahre. Russland verlor deswegen die Goldmedaille im Team-Wettbewerb, weil die junge Eiskunstläuferin damals zur siegreichen Mannschaft gehört hatte.

Hat die WADA den Fall vertuscht?

Normalerweise werden Athletinnen und Athleten, die unter Dopingverdacht stehen, umgehend suspendiert, bis die Vorwürfe geklärt sind. Im aktuellen Fall durften die chinesischen Aktiven jedoch weiterhin an Wettkämpfen teilnehmen. Die WADA erklärte, sie sei im Juni 2021 von der CHINADA über den Vorgang informiert worden und habe ihn mehrere Wochen lang "sorgfältig überprüft". Wegen der Corona-Pandemie habe sie dies nicht vor Ort tun können. Am Ende, so die WADA, habe man die Theorie der Kontamination im Teamhotel nicht widerlegen können und konstatiert, "dass sie mit den analytischen Daten in der Akte vereinbar war". Den Athletinnen und Athleten habe "keine Schuld oder Fahrlässigkeit" angelastet werden können.

Die WADA sah zunächst keine ausreichenden Beweise, um neue Ermittlungen einzuleiten. Sie behielt sich wegen der so wörtlich "irreführenden Informationen" rechtliche Schritte gegen die beteiligten Medien vor.

Inzwischen aber hat der Weltdoping-Agentur einen unabhängigen Staatsanwalt eingeschaltet, um ihren Umgang mit den Vorfällen untersuchen zu lassen. Darüber hinaus kündigte die globale Aufsichtsbehörde an, ein "Compliance-Team" nach China zu entsenden, um "den aktuellen Stand des Anti-Doping-Programms des Landes" zu bewerten. Ein Schuldeingeständnis ist das freilich nicht. 

"Wir weisen die falschen Anschuldigungen weiterhin zurück und freuen uns, dass wir diese Fragen in die Hände eines erfahrenen, angesehenen und unabhängigen Staatsanwalts legen können", sagte WADA-Präsident Witold Banka in einer Erklärung. Der ehemalige Schweizer Staatsanwalt Eric Cottier soll die Vorfälle untersuchen und dazu "vollen und uneingeschränkten" Zugang zu allen Akten und Dokumenten zu dem Fall erhalten.

Wie reagiert die Sportwelt?

Travis Tygart, Chef der US-Anti-Doping-Agentur USADA, spricht in der ARD-Dokumentation von "schockierenden Enthüllungen" und einem "Messer im Rücken aller sauberen Athleten". Er wirft der WADA und der CHINADA vor, die positiven Tests unter den Teppich gekehrt zu haben. Nach seiner Meinung hätten die Aktiven zumindest vorläufig suspendiert werden müssen.

Das sehen die Athletenvertretungen "Global Athlete" und "Fair Sport" genauso und fordern eine rasche Aufklärung. Wenn die Vorwürfe zuträfen, handele es sich um "ein weiteres katastrophales Versagen des globalen Anti-Doping-Systems und unterstreicht die Notwendigkeit, die WADA-Struktur aufzulösen", heißt es in einer gemeinsamen Erklärung der beiden Organisationen.

Auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser, in der deutschen Regierung zuständig für den Sport, sieht die WADA in der Pflicht. "Wenige Monate vor den Olympischen Spielen muss der im Raum stehende Verdacht des Wegschauens oder gar Vertuschens schnellstens umfassend aufgeklärt werden", sagte die SPD-Politikerin. Christian Hansmann, Leistungssportdirektor des Deutschen Schwimmverbands (DSV), sprach von "beunruhigenden" Nachrichten aus China und forderte "gegebenenfalls auch Konsequenzen - nur so kann die Integrität des Sports gewahrt werden".

Das chinesische Außenministerium wies den ARD-Bericht als "Fake News" zurück. Es habe "weder ein Verschulden noch Fahrlässigkeit" vorgelegen.

Was bedeutet der Fall für die Olympischen Spiele in Paris?

Solange sich die WADA weigert, neue Ermittlungen einzuleiten und damit einen begründeten Dopingverdacht einzugestehen, können alle 23 betroffenen chinesischen Schwimmerinnen und Schwimmer theoretisch bei den Spielen in Paris starten.

Chinas Schwimmern Zhang Yufei mit ihren vier Olympia-Medaillen von Tokio
Zhang Yufei könnte, Stand jetzt, ihre Titel von Tokio verteidigen - wenn sie sich für Paris qualifiziertnull Xu Chang/Xinhua News Agency/picture alliance

Noch bis zum kommenden Samstag (27. April) laufen in der Stadt Shenzhen im Südosten des Landes die chinesischen Schwimm-Meisterschaften. Dabei werden nicht nur die nationalen Titel vergeben, sondern auch die Olympia-Tickets für Paris.

Was macht europäischer Müll auf südostasiatischen Deponien?

Länder in Südostasien, darunter Malaysia, Vietnam, Thailand und Indonesien, haben mit illegalen Abfalllieferungen aus den Industrienationen zu kämpfen. Ein großer Teil davon kommt aus Europa.

In einem neuen UN-Bericht werden die Wege des Abfallhandels von Europa nach Südostasien nachgezeichnet. Kriminelle Akteure nutzen demnach Schlupflöcher und legale Unternehmensstrukturen und machen den Handel mit Müll so zu einem der wichtigsten Verbrechen gegen die Umwelt. Eine oft wirkungslose Umsetzung gesetzlicher Regelungen und die geringen Strafzahlungen im Fall einer Entdeckung ermutigen die Händler. Somit ist die Versuchung groß, schnelle Gewinne zu machen.

Nach Schätzungen der Europäischen Kommission sind 15 bis 30 Prozent der Abfalllieferungen aus der EU illegal. Die illegalen Einnahmen daraus bewegen sich jährlich in Höhe mehrerer Milliarden Euro. "Sobald Abfall unrechtgemäß entsorgt wurde, wird er das Problem von uns allen", sagt Masood Karimipour, Regionalrepräsentant für Südostasien und Pazifik des UN-Büros für Drogen- und Verbrechensbekämpfung UNODC, der DW. "Die Dringlichkeit, mit der gegen den Abfallhandel vorgegangen werden muss, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden."

Gegen Plastikmüll: Nachfüllen statt Wegwerfen

Dem UN-Bericht zufolge importierten die ASEAN-Länder in den Jahren 2017 bis 2021 mehr als 100 Millionen Tonnen Metall-, Papier- und Plastikabfall mit einem Wert von fast 50 Milliarden US-Dollar (47 Milliarden Euro).

Indonesien, Epizentrum des Abfallhandels

Global hat sich der Handel mit Abfällen in den vergangenen Jahren stark verändert. China hatte im Jahr 2018 eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, um die Einfuhr unerwünschten Mülls in das Land zu unterbinden. Das führte zu einer Umlenkung der weltweiten Abfallströme, insbesondere nach Südostasien.

Länder wie Indonesien wurden so zu bevorzugten Zielländern sowohl für legalen, als auch für illegalen Abfall. "In Indonesien besteht kein Umfeld, das Nachhaltigkeit bei Konsum, Produktion und Recycling fördert", erläutert Yuyun Ismawati, leitender Berater bei der regierungsunabhängigen Organisation Nexus3 Foundation, der DW.

Papier- und Plastikmüll wurde seit 2018 hauptsächlich aus westeuropäischen Ländern nach Indonesien verschifft, so die indonesische Statistikbehörde. Wie Nexus3 herausfand, ist das Altpapier häufig mit Plastikabfällen verunreinigt. In Regionen wie Java oder Sumatra stellt das eine alarmierende Bedrohung für Umwelt und Gesundheit dar.

Blick auf qualmende Fabrikschornsteine vor Feldern
Hier werden Plastikabfälle als Brennstoff genutzt; die Giftstoffe gelangen ungefiltert in die Luftnull Yuyun Ismawati/2024

Problematische Kunststoffe werden häufig weggeworfen oder von den Unternehmen, die Altpapier importieren, den Gemeinden vor Ort überlassen, die dann das Plastik unreguliert sortieren und verbrennen. Bei der Verbrennung werden Dioxine und gefährliche Chemikalien in alarmierender Konzentration freigesetzt, die letztlich auch ihren Weg in die menschliche Nahrungskette finden.

Bei vielen Dorfbewohnern führen der Rauch und die vergifteten Nahrungsmittel zu Erkrankungen der Atemwege und des Verdauungssystems bis hin zu Krebserkrankungen. Oft sehen sie sich gezwungen, ihre Dörfer zu verlassen.

Ein profitables Geschäft

Trotz seiner negativen Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt bleibt der Abfallhandel in Südostasien ein äußerst lukratives kriminelles Geschäft, dem nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Wie Serena Favarin, Kriminologin an der Universita Cattolica del Sacro Cuore in Italien ausführt, umgehen die Händler mit ausgeklügelten Methoden und Lieferketten die Kontrollen, um die Abfälle in andere Länder zu verbringen, in denen die Vorschriften weniger streng und die Strafen für die illegale Abfallentsorgung deutlich niedriger sind.

"Dieses Verbrechen wird nicht in allen Ländern gleichermaßen verfolgt. Das führt zu einem unterschiedlichen Umgang mit den Abfällen", sagt sie der DW. In vielen Zielländern fallen die Regelungen zum Abfallhandel nicht unter das Strafrecht, sondern unter zivil- und verwaltungsrechtliche Vorschriften. Selbst wenn illegale Abfallhändler die Vorschriften unverhohlen und wiederholt umgehen, sind die Strafen häufig gering. Für die Händler bleibt es also ein lohnendes Geschäft.

Es fehlen internationale Regelungen

In vielen Gemeinden führt der illegale Abfallhandel zu zahlreichen Problemen. Experten sind sich einig, dass die Abfallverwertung gut reguliert werden muss. So könnten Umweltschäden vermieden und die Kreislaufwirtschaft durch Reduzierung, Wiederverwendung und Recycling gestärkt werden.

In Asien und Europa bemühen sich daher einzelne Länder und internationale Strafverfolgungsbehörden, die Lücken zu schließen, in denen kriminelle Unternehmer agieren und den Wirtschaftskreislauf stören können.

Ein Strand voller Plastikmüll
Illegal deponierte Abfälle werden auch an die Strände in Touristenregionen gespültnull Johannes Panji Christo/Anadolu/picture alliance

"Es ist wichtig, die transnationale Dimension zu stärken und die Regelungen der einzelnen Länder aneinander anzugleichen. Das erleichtert die Diskussionen", meint Favarin. Eine Harmonisierung der rechtlichen Rahmenbedingungen würde die Verabschiedung strengerer Gesetze und die Verhängung härterer Strafen für Verbrechen im Zusammenhang mit dem Abfallhandel erleichtern.

Gegenwärtig überarbeitet die EU ihre Regelungen zur Abfallverbringung, um die Zahl problematischer Exporte zu verringern und die Durchsetzung der Regelungen zu verbessern. Voraussichtlich werden diese Änderungen Ende des Monats verabschiedet.

Auch neue Technologien können beim Schutz der Umwelt nützlich sein, wie Favarin erklärt: "Drohnen- oder Satellitenaufnahmen können dabei helfen, große Abfallmengen oder Abfallberge in bestimmten Regionen zu erkennen und illegale Deponien oder Feuer in geschützten Gebieten zu identifizieren."

Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.

Wahlen in Indien: Parteien werben um Expats

"Wenn ich könnte, würde ich die BJP (Bharatiya Janata Party) wählen", erklärt der 26-jährige Robin S. Aufmerksam verfolge er, was in seiner Heimat Indien passiere, sagt der derzeit in Würzburg lebende Luftfahrttechniker der DW. "Denn ich bin Inder, wo immer ich lebe."

Gefragt, warum er die BJP unterstütze, hält Robin S. kurz inne. Dann nennt er die Initiativen der hindu-nationalistischen Partei zur Verbesserung der nationalen Sicherheit, der wirtschaftlichen Digitalisierung und der Infrastruktur in seinem Heimatland.

"Trotz Krisen wie der COVID-19-Pandemie und des Russland-Ukraine-Krieges hat die BJP die Inflation wirksam unter Kontrolle gebracht", sagt Robin S. Gleichzeitig, räumt er ein, gebe es noch Raum für Verbesserungen.

 Portraitfoto von Robin S., hier vor der alten Mainbrücke in Würzburg
Kritischer Sympathisant des Premiers: Robin S., hier vor der alten Mainbrücke in Würzburgnull Shristi Mangal Pal/DW

Wahlhelfer aus dem Ausland

Am 19. April haben im bevölkerungsreichsten Land der Welt, die sich über Monate hinstreckenden Parlamentswahlenbegonnen. Der Wahlkampf ist in vollem Gange. Premierminister Narendra Modi, der Frontmann der BJP, hofft auf eine dritte Amtszeit.

Modi wie auch seine Rivalen hoffen auch auf die Unterstützung der indischen Gemeinden im Ausland. Allerdings dürfen nicht ortsansässige Inder (NRI) wie Robin S. nach indischem Recht nicht im Ausland wählen. Sie müssen sich für die Wahl registrieren lassen und am Wahltag physisch in Indien präsent sein.

Nur um der Wahlen willen in die Heimat zu reisen, stellt für viele Inder einen enormen Aufwand dar. Viele seien allerdings bereit, in ihrem jeweiligen Aufenthaltsland Kundgebungen, Gemeindeversammlungen oder religiöse Aktivitäten wie Gebete für Modis dritte Amtszeit zu organisieren, sagt Vijay Chauthaiwale, der BJP-Chefkoordinator für Auslandsangelegenheiten.

"Indische Gemeinschaften mobilisieren derzeit Autokorsos in Frankreich, London sowie in zehn Städten in den USA", so Chauthaiwale zur DW. "Durch London sind rund 250 Autos gezogen, geschmückt mit der indischen Flagge und Bildern von Premier Modi."

Einige NRIs seien auch bereit, in ihr Heimatland zurückzukehren und sich am Wahlkampf der BJP zu beteiligen, so der Politiker. "Die meisten von ihnen haben immer noch eine starke Bindung an das Mutterland. Sie glauben, dass eine Machtübernahme durch die BJP gut für das Land und damit auch für sie selbst ist", fügt er hinzu. 

Wahlkampf: Indiens Parteien setzen auf Influencer

Nationalisten gewinnen an Einfluss

In der Wahlsaison sei die indische Diaspora von mehr als nur symbolischer Bedeutung, sagt Sanjay Ruparelia, Professor an der Universität von Toronto.

"In der Diaspora lebende indische Staatsbürger können etwa eine Finanzierungsquelle für Parteien sein", sagt er im DW-Gespräch.

Zwar sei der Einfluss der Diaspora über lange Zeit marginal gewesen, räumt der Politologe ein. Das habe sich allerdings seit der Machtübernahme durch Modi im Jahr 2014 geändert. Denn inzwischen erhielten die BJP und die "Sangh Parivar" - ein Netzwerk nationalistischer Hindu-Organisationen - politische und finanzielle Unterstützung von Gruppen in der Diaspora.".

"Darüber hinaus steuert die Diaspora jährlich Milliardenbeträge an Überweisungen bei", so der Analyst. Ein erheblicher Teil dieser Gelder fließ in kulturelle, von politischen Parteien gesponserte Initiativen.

Modi beliebt bei Auslandsindern

Chauthaiwale von der BJP hingegen bestreitet vehement, dass die Partei nennenswerte Mittel von im Ausland lebenden Indern erhalte.

"Die BJP organisiert keine Spendenkampagnen für die NRIs", sagt er. Akzeptiert würden nur individuelle Kleinstspenden. "Die größten Beiträge, die die Diaspora-Inder der BJP zukommen lassen, sind Zeit, Energie und Fachwissen".

Auf die indische Diaspora hat Modi erheblichen Einfluss. Die im Ausland lebenden Inder kämen häufig zusammen, um Modis Reden während der diplomatischen Reisen des Premierministers persönlich zu hören, sagt Ruparelia.

"Modis internationalen Reisen, seine Treffen mit ausländischen Staatsoberhäuptern und großen Versammlungen tragen dazu bei, sein Image als beeindruckender Staatsmann innerhalb und außerhalb Indiens zu festigen."

Der indische Premier Narendra Modi bei einer Wahlkampfrede, März 2024
Im Wahlkampf: der indische Premier Narendra Modi, März 2024null Altaf Qadri/AP Photo/picture alliance

Indien "ausgesprochen polarisiert"

Kritiker werfen dem indischen Premier vor, er verfolge eine hindu-nationalistische Agenda. Diese drohe Indiens säkulares Fundament zu untergraben, den Raum für religiöse Minderheiten, insbesondere Muslime, zu verkleinern und das Land näher an eine hinduistische Nation heranzuführen.

Indiens "lebendige Demokratie" werde im Westen oft einer unfairen Prüfung unterzogen, sagt demgegenüber die in Hamburg lebende Politologin Amrita Narlikar. Dadurch werde auch die Diaspora in die Defensive gedrängt.

Junge und gebildete indische Auswanderer wie Robin S. sind sich der Kritik, die die BJP im Westen erfährt, durchaus bewusst. Doch Robin bleibt ein BJP-Anhänger und hofft, dass seine Familie, die ebenfalls die BJP unterstützt, in Indien wählen geht. Denn bei den Wahlen stehe viel auf dem Spiel.

Dennoch hat er jetzt einige Vorbehalte gegenüber der Regierungspartei. "Mir ist klar geworden, dass die Partei nicht ohne Fehler ist", sagt Robin S. "Seit der BJP gibt es einen Anstieg extremistischer Stimmungen religiöser ebenso wie auch politischer Art. Unsere Gesellschaft ist im Moment ziemlich polarisiert."

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

Afghanische Flüchtlinge und ihr Problem mit Indien

EU erlebt Imageverlust in Südostasien

Das Ansehen der Europäischen Union in Südostasien hat gelitten. Das zeigen die Ergebnisse einer jüngsten Umfrage in der Region, die vom soziologischen Forschungsinstitut ISEAS-Yusof Ishak in Singapur erhobenen.

Im Januar und Februar dieses Jahres hatten Forscher rund 2.000 Vertreter aus der Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft in Singapur, Indonesien, Malaysia, den Philippinen, Thailand, Vietnam, Kambodscha, Myanmar, Laos und Brunei befragt.

Die Ergebnisse deuten vor allem eines an: Das Vertrauen in die EU ist im Vergleich zum letzten Jahr gesunken. Nur 14 Prozent der Befragten sehen die EU noch als führenden Verfechter des globalen Freihandels an. Vor einem Jahr waren es noch fast 22 Prozent.

Auf dem Ranking der vertrauenswürdigen Länder und internationalen Organisationen, die sich für regelbasierte Ordnung einsetzen, ist die EU vom zweiten auf den dritten Platz gerutscht hinter den USA und dem Verband Südostasiatischer Nationen (ASEAN).

EU und ASEAN-Staaten – das Interesse wächst

"Kooperation mit Südostasien verstärken"

Außerdem zeigt es sich, dass das Vertrauen in die Fähigkeiten und den Willen der EU, Frieden, Sicherheit, Wohlstand und gute Regierungsführung weltweit zu fördern, auch schwindet. Nur 41 Prozent der Befragten sind von der Fähigkeit überzeugt. 2023 waren es noch 51 Prozent.
Von denjenigen, die der EU kein Vertrauen ausgesprochen haben, ist fast ein Drittel der Ansicht, Brüssel sei vor allem mit sich selbst beschäftigt anstatt mit den globalen Herausforderungen.

"Die Ergebnisse der Umfrage unterstreichen, dass die Europäische Union ihre Kooperationsbemühungen mit Südostasien deutlich verstärken muss", sagt David McAllister, Vorsitzender des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten des Europäischen Parlaments.

Bernd Lange, Vorsitzender des Ausschusses für internationalen Handel des Europäischen Parlaments, beschrieb die Umfrage als "ein bisschen wie ein schlechtes Zeugnis. Es ist klar, dass wir noch einige Hausaufgaben zu erledigen haben."

Blick auf Zerstörungen in Khan Yunis, Gazastreifen
Bewegt auch die Öffentlichkeit in Südostasien: der Krieg in Gazanull Ali Jadallah/Anadolu/picture alliance

Ansehensverlust durch Gazakrieg

Am meisten habe die Position der EU gegenüber dem Krieg zwischen Israel und der Hamas zu dem Ansehensverlust beigetragen, sagt Bridget Welsh, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Asien-Forschungsinstitut der Universität Nottingham in Malaysia. "Viele Menschen in Südostasien halten die uneingeschränkte Unterstützung Israels (durch die EU) und das Gemetzel an den Palästinensern in Gaza für inakzeptabel", so Welsh im DW-Interview.

Derselben Umfrage zufolge stufen die Südostasiaten den Gaza-Konflikt als das wichtigste geopolitische Thema ein, noch vor den eigenen Herausforderungen in der Region wie etwa den zunehmenden Spannungen im Südchinesischen Meer und den bürgerkriegsähnlichen Situationen in Myanmar.

Gaza: Brot für die hungernde Bevölkerung

Malaysia und Indonesien im Clinch mit der EU

Schon vor der Eskalation im Gazastreifen stritt die EU mit Malaysia und Indonesien. Beide Länder sind weltweit die größten Palmölproduzenten. Die EU plant ein Einfuhrverbot von Waren, durch die ganze Wälder abgeholzt wurden. Mehrere südostasiatische Staaten argumentieren hingegen, dies beeinträchtige ihren Agrarsektor auf unfaire Weise. Zudem erkenne Brüssel die von ihnen unternommenen Bemühungen zum Klimaschutz nicht an.

Nachdem Malaysia den Fall vor die Welthandelsorganisation (WTO) gebracht hatte, entschied diese im März zugunsten der EU. Allerdings schloss sie sich auch einigen Kritikpunkten Malaysias an, zum Beispiel wie die EU ihre Entwaldungsverordnung (EUDR) verabschiedete. Unternehmen stehen nach EUDR in der Pflicht, Sorgfaltspflichten zur Reduktion von globaler Entwaldung zu erfüllen. Der "Bewaldungsstatus" von Erzeugungsflächen muss entlang der Lieferkette nachgewiesen werden.

Mehr Transparenz für nachhaltigere Produkte

EU als "dritte Option" zwischen den USA und China

Trotz dieser Probleme zeigten die jüngsten Ergebnisse, dass das Vertrauen in die EU als Partner der ASEAN weiterhin stark bleibe, sagt Sprecher der EU-Kommission für Außen- und Sicherheitspolitik, Peter Stano, im DW-Interview.

So habe die Umfrage etwa ergeben, dass die EU nach China, den USA und Japan der viertwichtigste Dialogpartner der ASEAN sei, so Stano. Auch habe die EU ihre Rolle als bevorzugter strategischer Partner der ASEAN im Hintergrund der Rivalität zwischen China und den USA beibehalten. Zwar habe sich die Position der EU dieses Jahr insgesamt leicht abgeschwächt, doch ihre Rolle würde positiv bewertet.

Stano weist darauf hin, dass man nicht zu viel in die Umfrage hineininterpretieren solle, da sich die Zusammensetzung der Befragten hinsichtlich geografischer Lage und Sektor von Jahr zu Jahr ändere. So konzentrierten sich die Forscher in diesem Jahr beispielsweise mehr auf die Politik und den privaten Sektor, aber weniger auf die Einschätzung durch Denkfabriken.

Auch Rahul Mishra von der thailändischen Thammasat-Universität zeigt sich hinsichtlich der Ergebnisse der Umfrage skeptisch. "Es ist erstaunlich, dass die Beiträge der EU und ihr aktives Engagement in der Region in der Umfrage nicht angemessen richtig gespiegelt werden", so Mishra. Die Meinungsforscher hätten ihre Fragen sorgfältiger formulieren können, sagt Mishra.

Handelskrieg China gegen die USA: Wo steht Deutschland?

"Keine Zauberformel"

Insgesamt deuten die Umfrageergebnisse darauf hin, dass Brüssel noch viel Arbeit vor sich hat, um die Südostasiaten von den langfristigen Interessen der EU in der Region zu überzeugen.

"Für das Anliegen, unser Image zu verbessern und sicherzustellen, dass wir als guter Handels- und Kooperationspartner wahrgenommen werden, gibt es keine Zauberformel", sagt der EU-Parlamentarier Bernd Lange, Mitglied der Delegation für die Beziehungen zu den Ländern Südostasiens und ASEAN.

"Es geht darum, die Ärmel hochzukrempeln, sich mit unseren Freunden in Thailand, den Philippinen und Indonesien zusammenzusetzen und faire Vereinbarungen zu treffen, die allen helfen, zu wachsen und sich in Zukunft sicher zu fühlen", so der deutsche Politiker zur DW. "Wir müssen zeigen, dass wir uns langfristig engagieren und bereit sind, zuzuhören, zu lernen und uns gegenseitig zu unterstützen."

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp

Zum Wehrdienst gezwungen: Massenflucht aus Myanmar

Indiens Megawahl: Narendra Modi setzt auf die Wirtschaft

In Indien findet die größte demokratische Wahl in der Geschichte der Menschheit statt: Fast eine Milliarde Menschen sind berechtigt, bei der Parlamentswahlabzustimmen. Die Wahl läuft sechs Wochen und es gibt eine Million Wahllokale - vom Himalaja bis zum Indischen Ozean.

Der amtierende Premierminister Narendra Modi will fünf weitere Jahre regieren und strebt eine dritte Amtszeit an. Bei einem Thema gibt er sich besonders optimistisch: der Wirtschaft.

Er und seine hindunationalistische Partei BJP sprechen häufig von Viksit Bharat 2047 - was so viel bedeutet wie "Entwickeltes Indien 2047". Ein Versprechen an die Wähler, Indien zur voll entwickelten Wirtschaft zu machen - zum hundertsten Jahrestag der Unabhängigkeit. Doch wie hat sich die Wirtschaft wirklich unter Modi entwickelt? Dazu gibt es unterschiedliche Ansichten.

Indien auf dem Weg zur drittgrößten Wirtschaft der Welt

Noch sind Japan und Deutschland die dritt- und viertgrößten Wirtschaftsnationen der Welt - hinter den USA und China. Doch viele Daten deuteten darauf hin, dass Indien bis 2026 oder 2027 den dritten Platz einnehmen könne, erklärt Arvind Panagariya gegenüber der DW. Der Ökonom von der Columbia University in New York wurde kürzlich von Modi zum Vorsitzenden der einflussreichen indischen Finanzkommission ernannt.

Auch Shumita Deveshwar, Chefökonomin für Indien bei GlobalData TS Lombard, ist optimistsich: "Angesichts des globalen Umfelds gehört Indien zu den am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt", sagt sie der DW.

Beim Wachstum ist Indien derzeit ein Ausreißer unter den großen Volkswirtschaften. In den letzten drei Monaten des Jahres 2023 stieg das BIP um 8,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Damit liegt das Land weit vor den anderen zehn größten Volkswirtschaften der Welt.

Hohe Arbeitslosigkeit unter jungen Menschen

Doch nicht alles läuft wirtschaftlich nur rosig: Ein besonders hartnäckiges Problem ist die Arbeitslosigkeit. Sie liegt derzeit bei zehn Prozent und ist vor allem unter jungen Menschen hoch. Angesichts der riesigen und schnell wachsenden Bevölkerung des Landes ein großes Problem.

Indien Arbeitslose wollen in Israel Arbeit finden
Arbeitslosigkeit ist in Indien ein großes Problem - sie liegt bei zehn Prozentnull DW

Sushant Singh vom Center for Policy Research in Indien sagt, es gebe "keinen Plan", um das Problem zu lösen. "Die demografische Dividende hat sich in eine demografische Katastrophe verwandelt", so Singh zur DW.

Weitere hausgemachte Probleme von Modi seien schwache Daten in Bezug auf das verarbeitende Gewerbe und ausländische Direktinvestitionen, so Singh. Nach Angaben der Großbank HSBC sind die Netto-Direktinvestitionen in Indien heute niedriger als bei Modis Amtsantritt vor zehn Jahren. "Das ist ernst zu nehmen", sagt Singh, "denn das bedeutet, dass die Menschen nicht in das verarbeitende Gewerbe, die Industrie oder Unternehmen investieren."

Obwohl Modi eine Agenda für die heimische Fertigung mit dem Namen Make in India vorangetrieben hat, entfallen auf das verarbeitende Gewerbe immer noch nur etwa zwölf Prozent der Arbeitsplätze im Land. "Wir haben uns im Grunde genommen von einem Agrarstaat zu einer Dienstleistungswirtschaft entwickelt, und das verarbeitende Gewerbe ist dabei einfach stehen geblieben", so die Ökonomin Deveshwar.

Wirtschaft auf Reformkurs

Der Ökonom Arvind Panagariya sagt, Modi sei wichtige Reformen angegangen. So zum Beispiel in den Bereichen Steuern, Konkursrecht und Immobilien. Das hätte "einen großen Unterschied" für die Wirtschaft gemacht.

Indien | BJP Kundgebung | Premierminister Narendra Modi
Modis Partei BJP könnte zum dritten Mal die Wahlen gewinnen. null Debajyoti Chakraborty/NurPhoto/picture alliance

Die Ökonomin Deveshwar hingegen sieht die Reformbilanz kritisch. Ihrer Meinung nach fehlt es an weiteren Strukturreformen, um die von Modi angekündigten Ziele zu erreichen. Modis regierende Nationale Demokratische Allianz, in der seine BJP die größte Partei ist, habe beispielsweise die Jahresziele für die Privatisierung staatlicher Unternehmen nicht erreicht. Sie verweist auch auf drei umstrittene Landwirtschaftsgesetze, die Modis Regierung einführte, bevor sie sie 2021 nach Massenprotesten wieder aufhob.

Armut und Ungleichheit

Deveshwar ist jedoch der Meinung, dass Modi auch deshalb so beliebt ist, weil er die Stimmung bei wirtschaftlichen Fragen spürt - so wie bei der Aufhebung der Agrargesetze. "Es ist ihm hoch anzurechnen, dass er wirklich die Finger am Puls der Nation hat. Und wenn er das Gefühl hat, dass etwas in Indien nicht gut ankommt, kann er es auch zurückziehen", sagt sie.

Und da ist noch ein weiterer Grund für Modis Anziehungskraft: Indien ist in vielerlei Hinsicht nach wie vor ein extrem armes Land. Daten der Weltbank zeigen aber, dass der Anteil der in extremer Armut lebenden Inder während Modis Amtszeit weiter gesunken ist.

Indien | Wirtschaft und Exporte
Indien ist weiter gesellschaftlich sehr ungleichnull Mayank Makhija/NurPhoto/picture alliance

Panagariya sagt, dass die Regierung besonders aktiv in Bezug auf Wirtschaftsprogramme im ländlichen Indien gewesen sei. Die große Agrar- und Landbevölkerung des Landes gilt als entscheidend für Modi auf dem Weg zur nächsten Amtszeit.

"Besonders in den ländlichen Gebieten bekommt jeder etwas von der Zentralregierung", sagt Panagariya. Er verweist auf ländliche Wohnungsbauprogramme, Initiativen zum Bau von Toiletten, Bargeldtransfers, Gesetze zur Ernährungssicherheit und die weit verbreitete Verteilung von Flüssiggas zum Kochen. Das alles sei Beweis dafür, dass Modi versuche, Ressourcen an die ärmsten Teile des Landes zu verteilen.

Doch die Meinungen darüber, wie es den Ärmsten in Indien unter Modi wirklich ergangen ist, gehen weit auseinander. Sushant Singh vom Center for Policy Research sagt, die Ungleichheit habe in den letzten zehn Jahren zugenommen und verweist auf Daten aus einem aktuellenBericht des World Inequality Lab. "Sowohl die Einkommensungleichheit als auch die Vermögensungleichheit hat unter Modi zugenommen", und fügt hinzu: "Pro Kopf gemessen ist Indien das ärmste Land der G20."

Modis Infrastrukturinvestitionen

In einem Bereich sind die wirtschaftlichen Erfolge aber besonders sichtbar: der Infrastruktur. Bereits im Vorwahlbudget für 2024 hat Modi eine Erhöhung der Investitionsausgaben für Straßen, Eisenbahnen und Flughäfen um elf Prozent auf umgerechnet rund 125 Milliarden Euro zugesagt.

Bereits während seiner Amtszeit hat Modi stark in die Infrastruktur investiert - in die physische, aber auch in die digitale. Panagariya hält die Investitionen für gerechtfertigt und für unerlässlich, wenn Indien die wirtschaftlichen Ziele erreichen will, von denen der Premierminister spricht.

Indien | Bauarbeiten am Zoji La Pass
Modis Regierung hat sich stark auf die Infrastruktur im Land konzentriertnull Yawar Nazir/Getty Images

Deveshwar stimmt dem zu. "Man kann es nicht wirklich als populistisch bezeichnen", sagt sie. "Es ist sehr notwendig. Eines der Hauptprobleme, die Indien seit Jahrzehnten hat, ist seine alte Infrastruktur. Und die politische Richtung ist jetzt sehr positiv."

Dieser Bereich ist für alle besonders greifbar. Der Ausbau der Infrastruktur könnte also als sichtbarer Messgrad dienen, für die Richtung, in die sich Indiens Wirtschaft entwickelt. Für Ökonomen wie Panagariya ist der Ausbau der Infrastruktur auch einer der Gründe, warumdie Wahl Modisbereits als beschlossene Sache angesehen wird.

Doch auch wenn eine dritte Amtszeit Modis wahrscheinlich ist, wirken seine hochgesteckten Ziele wie Viksit Bharat 2047 nicht als realistisch, sondern eher als Wahlkampf.

Der Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert. 

Indien: Das Wichtigste über die Parlamentswahlen im Überblick

Rund 970 Millionen Wähler sind aufgerufen, beim größten und längsten Urnengang der Geschichte Indiens ihre Stimme abzugeben. Über insgesamt sieben Stufen laufen die am Freitag (19.04.24) Woche beginnenden und über sechs Wochen sich ziehenden Parlamentswahlen. Danach steht fest, wer auf die 543 Sitze des Lok Sabha, des indischen Unterhauses, ziehen wird.

Die Liste der Bewerber ist gigantisch. Angetreten sind sechs nationale Parteien, 57 Parteien aus den einzelnen Bundesstaaten und 2 597 kleinere Parteien. Letztere stehen zwar auf dem Stimmzettel, erfüllen aber nicht die Bedingungen, um von der nationalen Wahlkommission offiziell anerkannt zu werden.

Am 4. Juni werden sämtlich Stimmzettel ausgezählt, die Ergebnisse noch am selben Tag bekannt gegeben. Um die absolute Mehrheit zu erreichen, muss eine Partei oder Koalition über 272 Sitze im Parlament verfügen.

Das Hauptrennen wird zwischen den beiden größten politischen Parteien Indiens stattfinden: der regierenden Bharatiya Janata Party (BJP) um Premier Narendra Modi und dem oppositionellen Indian National Congress (INC).

Um 2024 eine geschlossene Opposition gegen die BJP und Premier Modi zu bilden, steht die Congress-Partei an der Spitze eines Bündnisses von 28 Parteien, genannt "Indian National Developmental Inclusive Alliance" (INDIA).

Ungleichheit in Indien

Modi und BJP weiterhin beliebt

Umfragen zufolge dürften Premierminister Modi und seine hindunationalistische BJP als Sieger aus den Wahlen hervorgehen.

Modi ist nicht zuletzt aufgrund seines auf die hinduistische Mehrheit Indiens ausgerichteten Programms beliebt. Die Hindus stellen 80 Prozent der Bevölkerung. Zudem hat Modi verschiedene Programme für wirtschaftliches Wachstum auf den Weg gebracht. Dazu hat er den Indern auch ein Versprechen gegeben: Das Land werde bis 2029 zur drittgrößten Volkswirtschaft der Welt aufsteigen.

Bei den Wahlen 2019 hatte die BJP mit 303 Sitzen einen erdrutschartigen Sieg errungen und eine Koalition von insgesamt 353 Sitzen gebildet. Die Kongresspartei hingegen errang 52 Sitze. Zu ihnen kamen 91 weitere der mit ihr koalierenden Parteien.

Angesichts der nun ein Jahrzehnt dauernden und sich aller Wahrscheinlichkeit nach um fünf weitere Jahre verlängernden Macht der BJP monieren Kritiker, die Modi-Regierung habe Indiens jahrzehntelanges Engagement für Mehrparteiendemokratie und Säkularismus in sein Gegenteil verkehrt.

Narendra Modi präsentiert das Wahlprogramm der BJP, April 2024
Politisches Angebot: Narendra Modi (m.) mit dem Wahlprogramm der BJP im April 2024null Manish Swarup/AP/picture alliance

Sorge vor möglicher Verfassungsänderung

Immer wieder setzt die BJP auf eine aggressive hindunationalistische Agenda. Diese hat sich in der Vergangenheit als hilfreich erwiesen, um Stimmen zu gewinnen. Die politischen Gegner der BJP fürchten indessen, die ultranationalistische Rhetorik der Partei könne den Säkularismus als Grundlage der indischen Verfassung verdrängen.

Seit der Wiederwahl der BJP im Jahr 2019 sind die Spannungen zwischen Hindus und der muslimischen Minderheit Indiens eskaliert.

Die Frauenrechtsaktivistin Syeda Hameed, ehemals Mitglied der indischen Planungskommission, fürchtet gar, die Verfassung könnte geändert werden, sollte die BJP die Parlamentswahlen abermals gewinnen.

"Es wurde ganz offen erklärt, dass Indien ein theokratischer Staat werden wird, sollte die BJP die Verfassung ändern. Je nach dem, welche Mehrheitsverhältnisse sie erringen, könnte das passieren", so Hameed im Interview mit der DW.

Die größte Wählerschaft der Welt

Offiziellen Zahlen zufolge leben in Indien 497 Millionen männliche und 471 Millionen weibliche Wahlberechtigte. Im Vergleich zu den letzten Parlamentswahlen im Jahr 2019 ist die Wählerschaft um sechs Prozent gewachsen. Das liegt insbesondere an den über 20 Millionen Erstwähler in der Altersgruppe der 18- bis 28-Jährigen, die nun neu hinzukommen.

"Die jungen Menschen zeigen ein neues Wahlverhalten", so der BJP-Politiker Narasimha Rao zur DW. "Sie stimmen nicht nur für Parteien, sondern auch für individuelle Führungspersönlichkeiten. Das Image der Kandidaten scheint für sie ein wichtigerer Faktor zu sein als für ältere Wähler."

Die Wahlbeteiligung bei indischen Wahlen ist im Allgemeinen hoch. Angaben der indischen Wahlkommission (ECI) zufolge gaben 2019 zwei Drittel der Wähler ihre Stimme ab.Die Wahlkommission ECI entsendet Wahlbeobachte, die für Transparenz der sechswöchigen Wahl sorgen.

"Ich liebe Müll" - Geld für Abfall in Indien

Eine vielfach gestaffelte Wahl

Die Stimmabgabe findet nach Regionen gestaffelt statt. Die entsprechenden Bezirke wurden von der ECI auf Grundlage sozialer Faktoren wie der Bevölkerungszahl der einzelnen Bundesstaaten sowie politischen Erwägungen festgelegt. Zu diesen gehören etwa Überlegungen hinsichtlich des sicheren und ungestörten Ablaufs der Wahlen.

Durch die regional gestaffelte Stimmabgabe können die Wahlbeamten, Beobachter und das Sicherheitspersonal von einer Region in die andere reisen und sicherstellen, dass es zu keinen Verstößen kommt.

Die ECI hat für die Parteien und Kandidaten einen Muster-Verhaltenskodex durchgesetzt. Verstöße gegen die Regeln werden geahndet.

So soll vor allem sichergestellt werden, dass die Regierungsparteien ihre Position nicht missbrauchen, um sich einen unlauteren Vorteil zu verschaffen. Auch soll politische Korruption verhindert werden.

Zusätzlich zu den Polizeikräften der einzelnen Bundesstaaten sollen knapp 340.000 Beamte der zentralen Polizeikräfte den regulären Ablauf der Wahlen sichern. 

Im Vorfeld der Wahlen mahnte Indiens oberster Wahlkommissar Rajiv Kumar die politischen Parteien angesichts zunehmender Hassreden und Falschinformationen zu verbaler Zurückhaltung. "Wir setzen uns für einen politischen, ethischen Diskurs ein. Ich möchte an die Parteien appellieren, den Anstand zu wahren und von Beleidigungen und persönlichen Angriffen abzusehen", so Kumar gegenüber den Medien.

Indische Arbeiter verpacken kleinen Tintengefäße. Tinte am Finger der Wähler soll mehrfache Stimmabgaben verhindern
Indische Arbeiter verpacken kleinen Tintengefäße. Tinte am Finger der Wähler soll mehrfache Stimmabgaben verhindernnull Rakesh Nair/REUTERS

Milliarden für Wahlkampfausgaben

Die Wahlen sollen für die Bevölkerung keine unzumutbare Belastung darstellen. Darum schreibt die Wahlordnung vor, dass im Umkreis von 2 Kilometern von jedem Haus ein Wahllokal vorhanden sein muss. Die Wähler werden ihre Stimme in über 1,25 Millionen Wahllokalen an 5,5 Millionen elektronischen Wahlgeräte (EVMs) abgeben.

Indien verwendet sichere EVMs seit dem Jahr 1999. Im Jahr 2014 wurden Drucker eingeführt, die einen Ausdruck jedes Stimmzettels in einer versiegelten Box hinterlegen, den sogenannten "Voter Verifiable Paper Audit Trail". Sie gewährleistet eine zusätzliche Sicherheitsebene.

Bei der letzten Stimmenabgabe im Jahr 2019 investierten die Parteien und Kandidaten rund acht Milliarden Euro in den Wahlkampf. Diesmal ist die Summe noch höher: Das in Neu-Delhi ansässige Zentrum für Medienstudien schätzt, dass die politischen Parteien und Kandidaten für den Wahlkampf über 13,5 Milliarden Euro ausgeben werden.

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp

Decoding China: Bundeskanzler Scholz auf China-Mission

Dank Olaf Scholz weiß die ganze Welt, in welch idyllischer Gartenlandschaft Staatspräsident Xi Jinping Staatsgäste empfängt. Der Innenbereich des Gästehauses Diaoyutai blieb den allermeisten bisher verborgen. Aber China versteht etwas von Inszenierung. Präsident Xi verbrachte knapp vier Stunden mit dem deutschen Gast: bilaterale Gespräche, öffentlichkeitswirksamer Spaziergang im Garten, gemeinsames Mittagessen mit sieben Gängen (Hummer und Spargel mit Weinbegleitung). Xi zeigte Scholz die klassischen Bauten im chinesischen Baustil: Wan Liu Tang (Vestibül der Zehntausende Hängeweiden) und Zi Yin Ting (Pavillon der selbstlosen Zurückhaltung). Er lobte Scholz dafür, dass er ausgezeichnet mit Stäbchen essen könne.

China | Bundeskanzler Scholz in Peking
Xi (2.v.l.) und Scholz beim Spaziergang im Gästehaus Diaoyutai mit Dolmetscherinnennull Ding Haitao/Xinhua/picture alliance

Das alles sollte die "gute, stabile Entwicklung der bilateralen Beziehungen" mit Deutschland unterstreichen, denn sie gehen "weit über die bilaterale Dimension hinaus", so Xi. "Sie werden nicht nur auf den gesamten eurasischen Kontinent, sondern auf die ganze Welt großen Einfluss ausüben". 

Bundeskanzler ein willkommener Gast

China nutzte den Besuch von Bundeskanzler Scholz, um der Welt zu zeigen, dass Peking ein international hoch angesehener Partner unter den Industrienationen ist. China und Deutschland feiern zehn Jahre "umfassende strategische Partnerschaft". Ein diplomatischer Begriff, der die höchste Ebene bilateraler Beziehungen bezeichnet. Vor allem will China mit der aktuell drittgrößten Volkswirtschaft Deutschland die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen ausbauen, auch wegen der Spannungen mit den USA.

Doch die Inszenierung war nicht perfekt. Am Dienstag musste Florian Bauer, Moderator im öffentlich-rechtlichen Dokumentationskanal Phoenix, vor laufender Kamera einräumen, dass die Pressebegegnung mit Bundeskanzler Scholz und Chinas Premier Li Qiang nicht wie geplant live übertragen werden konnte. Das TV-Team in Peking habe vom chinesischen Staatsfernsehen CCTV die Akkreditierung für die Live-Übertragung nicht erhalten.

Scholz beendet Besuch in China

Als später die Aufzeichnung aus Peking eintraf, wurde, während Bundeskanzler Scholz sprach, der Bildschirm zunächst schwarz. Im Hintergrund hörte man, dass ein Mann in gebrochenem Deutsch sagte: "Es geht um Russland und die Ukraine ...". Dann brach die Übertragung ganz ab. Offensichtlich hatte Peking Schwierigkeiten mit dem Thema, ob technische oder politische, sei dahingestellt.

Kein Interesse an geopolitischen Themen

Für Bundeskanzler Scholz wiederum waren geopolitische Themen wie der Krieg in der Ukraine von höchster Bedeutung. Schließlich reiste er in ein Land, das international viel Einfluss hat und Russland unterstützt. Die globalen Herausforderungen wie den Ukraine-Krieg oder den Nahost-Konflikt werde Deutschland ohne China nicht bewältigen können, sagte Scholz in Peking. "Wir können und sollten sie gemeinsam angehen."

Allerdings zeigte sich der freundliche Gastgeber in Peking von den Forderungen aus dem "Land der Tugend", wie Deutschland in der chinesischen Sprache wörtlich heißt, nicht beeindruckt. Der Wunsch, dass China die "Kerninteressen" Deutschlands verstehe und auf Russland einwirke, spiegelte sich weder in den Stellungnahmen von Präsident Xi Jinping noch denen von Ministerpräsident Li Qiang. Übereinstimmend sprachen beide chinesischen Politiker lediglich von einer "Epoche der Umbrüche und Turbulenzen". Konkreter wurde es nicht. Die Inlandspresse Chinas verlor auch kein Wort über die anstehende Ukraine-Konferenz in der Schweiz.

"China versteht natürlich das große Anliegen von Deutschland und Europa, Russland zu stoppen", sagt Xuewu Gu, Professor und Direktor des Center for Global Studies an der Universität Bonn. Allerdings: "China hat erhebliche Probleme, von seinem Einfluss auf Russland Gebrauch zu machen. Mit dem wichtigsten Partner teilt China zum Beispiel eine 4000 Kilometer lange gemeinsame Grenze. Aber China spürt auch, dass durch den Ukraine-Krieg die Geschäftsaktivitäten chinesischer Unternehmen weltweit beeinträchtigt worden sind. Deswegen bemüht sich Peking hier um einen Balanceakt und Bundeskanzler Scholz um eine Schadensbegrenzung der Berliner 'Chinastrategie'."

China - der mächtige Konkurrent

In der Chinastrategie vom Juli 2023 hat die Bundesregierung China als "Partner, Wettbewerber und systemischen Rivalen" beschrieben. Ähnliches ist in der EU-Chinastrategie zu lesen. Die Definition hat nicht nur die Politik in Peking, sondern auch viele Unternehmen in China und Deutschland irritiert. Wie können Partner zugleich Rivalen sein? Diese Frage musste der Bundeskanzler beantworten. 

Bundeskanzler Olaf Scholz in China
Scholz drehte die letzte Schraube einer Brennstoffzelle in Chongqing einnull Michael Kappeler/dpa/picture alliance

Bad in der Menge

Und Scholz machte es souverän. Er zeigte sich in der chinesischen Öffentlichkeit als das Gesicht Deutschlands. Schon vor seiner Abreise ging seine Aktentasche im chinesischen Netz viral, die er auf seinem neu eröffneten TikTok-Kanal zeigte. Später ging er in der 35-Millionen-Metropole Chongqing zu Fuß durch die Stadtmitte. Am Fließband einer deutschen Firma drehte er selbst die letzte Schraube in eine Brennstoffzelle ein und erhielt Beifall. An der Tongji-Universität, die 1907 vom deutschen Arzt Erich Paulun gegründet wurde, sprach Scholz in einem Town Hall Meeting zu Studierenden, die der deutschen Sprache mächtig sind. Dort wurde er unter anderem zur Cannabis-Legalisierung in Deutschland gefragt und gab Tipps: "Nicht rauchen!" Er selbst sei fast 66 und habe noch nie Cannabis geraucht.

China Shanghai | Kanzler Scholz bei Townhall mit Studenten
Bundeskanzler Scholz im Town Hall Meeting mit Studierenden an der Shanghaier Tongji-Universitätnull Michael Kappeler/dpa/picture alliance

"Von wegen langweilig", sagte die Studentin Zhang nach der Begegnung mit Begeisterung, "Bundeskanzler Scholz zeigte im Gespräch mit uns, dass er Humor hat. Und wir lernen Deutschland nicht nur über das Internet und Bücher kennen."

Kein "De-coupling"

Die steigende Beliebtheit von deutschen Premiummarken und Produkten in China nutzte Scholz bei Gesprächen mit der politischen Führung. "De-coupling" sei für Deutschland als Option vom Tisch, sagte er dem Gastgeber. Die als "De-coupling" bezeichnete Entkoppelung von der chinesischen Wirtschaft war vor einigen Jahren als Schlagwort auch in Deutschland diskutiert, aber schnell wieder verworfen worden. Heute lautet das Schlagwort "De-Risking". "Wir wollen den wirtschaftlichen Austausch fortsetzen und auch intensivieren. Unsere Lieferketten sind miteinander verwoben," so Scholz. Aber es gehe auch um Risikomanagement, Diversifizierung und Resilienz.

Angesichts der laufenden Untersuchung der EU-Kommission gegen staatlich subventionierte E-Autos aus China und drohender Schutzzölle befürchten deutsche Autokonzerne mögliche Gegenmaßnahmen durch Peking. Das würde dann zu Gewinneinbußen führen. Jeder vierte Euro Gewinn von allen deutschen Autobauern wurde nämlich in den letzten Jahren in China erzielt.

Deutsche Regierung stellt neue China-Strategie vor

Bundeskanzler Scholz rief China zu fairem Wettbewerb auf und lobte das deutsche Exportmodell: "Das ideale Wettbewerbsmodell des globalen Handels ist, dass alle miteinander Wettbewerb machen, dass sie nicht unfairen Praktiken in den verschiedenen Ländern begegnen und dass gleichzeitig alle so leistungsfähig sind, dass sie auf allen Märkten bestehen können."

Jetzt dürften sich die deutschen Bauern freuen. China will ab sofort Rindfleischprodukte und Äpfel aus Deutschland importieren. Eine weitere Arbeitsgruppe soll die Bedingungen für den Handel mit Schweinefleisch aus Gebieten prüfen, die nicht von der afrikanischen Schweinepest betroffen sind.

Am Ende blieben schöne Bilder, ein Austausch über die wirtschaftliche Kooperation und das Ausblenden aller politischen Fragen. "Nicht in allen Punkten sind wir einer Meinung", resümierte Scholz im Regierungsflieger auf dem Heimflug, aber "es war wichtig, über alle Fragen zu reden."

"Decoding China" ist eine DW-Serie, die chinesische Positionen und Argumentationen zu aktuellen internationalen Themen aus der deutschen und europäischen Perspektive kritisch einordnet.

 

Innenansichten einer Reise - Scholz auf Werbetour in China

Scholz diskutiert mit Xi über gerechten Frieden für Ukraine

Zum Auftakt seines Treffens mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping sagte Bundeskanzler Olaf Scholz in Peking: "Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine sowie die Aufrüstung Russlands haben ganz erhebliche negative Auswirkungen auf die Sicherheit in Europa. Sie beeinträchtigen unsere Kerninteressen unmittelbar." Damit bezog er sich auf Vorwürfe westlicher Regierungen, dass China Russland zwar nicht mit Waffen, aber mit sogenannten Dual-Use-Gütern unterstützt. Diese können zivil genutzt werde, Russland soll sie aber für seinen Angriffskrieg verwenden. Vor diesem Hintergrund sagte der Kanzler, er wolle mit Xi Jinping darüber diskutieren, "wie wir mehr zu einem gerechten Frieden in der Ukraine beitragen können".

Scholz mahnte, dass der russische Angriff "mittelbar" die gesamte internationale Ordnung beschädige. Denn er verletze den Grundsatz der Charta der UN, dass Staatsgrenzen nicht verletzt werden dürften. Sowohl Xi als auch er hätten bereits deutlich gemacht, dass Russland mit dem Einsatz von Nuklearwaffen nicht einmal drohen dürfe. China ist wie Russland ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates.

Xi: China ist nicht in Ukraine-Krieg involviert

Im Gespräch mit Scholz betonte der chinesische Staats- und Regierungschef, dass sein Land nicht am Ukraine-Krieg beteiligt sei. China sei in dem Konflikt keine Partei. Stattdessen habe China "stets die Friedensgespräche auf seine eigene Weise gefördert", sagte Xi nach offiziellen Angaben. Eine internationale Friedenskonferenz "zu gegebener Zeit" unterstütze Peking, allerdings müssten Russland und die Ukraine diese akzeptieren. Die Teilnahme an einer in der Schweiz geplanten Konferenz hat Moskau bereits abgesagt. Die chinesische Antwort auf die Einladung dorthin steht noch aus. China gilt als enger Verbündeter Russlands.

Die deutsche und die chinesische Delegation sitzen sich im Staatsgästehaus gegenüber
Der Besuch des Kanzlers bei Xi gilt als Höhepunkt seiner dreitägigen China-Reise null Michael Kappeler/dpa/picture alliance

Der chinesische Präsident sagte bei der Begrüßung des Kanzlers weiter, dass die Beziehungen zu Deutschland stetig weiterentwickelt würden, solange beide Seiten einander respektierten und "Gemeinsamkeiten" suchten, auch wenn es weiter Unterschiede gebe. Dies gilt als Formulierung, mit der sich China Einmischungen in innere Angelegenheiten und etwa Kritik an der Menschenrechtslage im Land verbittet.

Xi fügte hinzu: "Wir müssen die bilateralen Beziehungen aus einer langfristigen und strategischen Perspektive heraus betrachten und entwickeln." Er betonte positive Entwicklungen der bilateralen Beziehungen und deren internationale Bedeutung. "China und Deutschland sind die zweit- und drittgrößten Volkswirtschaften der Welt." Die Entwicklung der Beziehungen habe "wichtige Auswirkungen auf den asiatisch-europäischen Kontinent und sogar auf die ganze Welt".

Warnung vor Protektionismus

Bei dem Treffen der Politiker im Staatsgästehaus in Peking warnte Xi den Kanzler vor wirtschaftlichen Schutzmaßnahmen. Beide Länder hingen von der Industrie ab und unterstützten den freien Handel. "In diesem Sinne sollten beide Seiten sich vor der Zunahme des Protektionismus hüten", erklärte er weiter. Seit die Bundesregierung ihre China-Strategie 2023 vorgestellt hat, soll in kritischen Wirtschaftsbereichen die Abhängigkeit von der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt reduziert und damit auch das Risiko für Deutschland gemindert werden.

China - der mächtige Konkurrent

Dem entgegnete Xi nun, dass die Kooperation zwischen Deutschland und China kein Risiko darstelle, sondern "eine Garantie für die Stabilität der Beziehungen" sei. Der Staatschef nannte beispielhaft traditionell in China stark vertretene Branchen wie den Maschinenbau und die Automobilindustrie. Im Fokus stand zuletzt der Vorwurf, China sorge mit staatlichen Investitionen dafür, dass chinesische Firmen zu viel produzierten und mit ihrer günstigen Ware andere Märkte schädigten. Beispiele sind E-Autos, gegen die eine Antisubventionsuntersuchung der EU läuft, oder die Solarindustrie. Peking sieht das jedoch anders: Chinas Exporte von Elektrofahrzeugen, Lithiumbatterien und Photovoltaikprodukten hätten etwa das weltweite Angebot bereichert und einen Beitrag zur globalen Reaktion auf den Klimawandel geleistet, sagte Xi.

Aktionsplan zum Recycling vereinbart

Deutschland und China wollen beim effizienteren Einsatz von Rohstoffen zusammen vorankommen. Beide Seiten beschlossen in Peking einen Aktionsplan, um die Kooperation bei Recycling und Ressourceneffizienz zu vertiefen. "Deutschland und China sind Schlüsselakteure des globalen Umweltschutzes", sagte Umweltministerin Steffi Lemke in Peking. Der vereinbarte strategische Dialog sei ein Meilenstein. Langlebigere Produkte und besseres Recycling würden helfen, Müll zu vermeiden, den Ausstoß von Treibhausgasen zu senken und die Natur zu schützen.

Der Aktionsplan sieht einmal pro Jahr hochrangige Treffen der Regierungen vor, die dem strategischen Dialog zur Kreislaufwirtschaft dienen sollen. Dabei liegt ein Hauptaugenmerk auf Materialien wie Plastik und Metallen sowie Produktgruppen wie etwa Verpackungen oder auch Batterien.

Scholz wird auf seiner dreitägigen Reise von einer Wirtschaftsdelegation begleitet. Vor Peking hatte er die Städte Chongqing und Shanghai besucht. In Shanghai hatte er auf gleiche Wettbewerbsbedingungen für deutschen Unternehmen gepocht. Zuletzt war Scholz im November 2022 in China gewesen, 2023 fanden bilaterale Regierungskonsultationen in Berlin statt. 

kle/gri (rtr, dpa, afp)

Japans Wende: Hilfe für Kiew, Distanzierung von Moskau

Wenn Europa über Hilfe für die Ukraine spricht, schaut es auf sich selbst und auf die Vereinigten Staaten, den Hauptgeldgeber. Doch in Washington können sich Republikaner und Demokraten seit Monaten nicht auf ein neues milliardenschweres Hilfspaket für Kiew  einigen. Angesichts dessen hat Japan, wie andere Staaten auch, seinen Anteil an Unterstützungsleistungen erhöht. Wie das ukrainische Finanzministerium mitteilte, ist Tokio, ohne es groß zu verkünden, zu einem der wichtigsten und in den ersten Monaten des Jahres 2024 sogar zum führenden Geldgeber Kiews geworden.

Milliardenhilfe, keine Waffen

Auf einer Konferenz in Japan im Februar sagte der ukrainische Ministerpräsident Denis Schmyhal, dass sich die bereitgestellten und zugesagten Hilfen auf über zwölf Milliarden Dollar belaufen würden. Nach Angaben des Kieler Instituts für Weltwirtschaft stand Japan im Januar mit mehr als sieben Milliarden Euro an sechster Stelle bei den internationalen Ukraine-Hilfen

Das japanische Geld hilft dabei, die ukrainische Wirtschaft über Wasser zu halten. Die Nationalbank schätzt, dass die Ukraine seit dem russischen Überfall im Februar 2022 ein Drittel ihres Bruttoinlandsproduktes eingebüßt hat. Aus historischen Gründen und aufgrund nationaler rechtlicher Beschränkungen kann Tokio Kiew nicht mit tödlichen Waffen beliefern. Die Lieferungen umfassen daher Lebensmittel, Medikamente, Generatoren, Autos, kugelsichere Westen und Ausrüstung zur Minenräumung.

Raketen-Lieferung an die USA

Das Wichtigste für Kiew ist jedoch, Waffen zu bekommen. Japan könnte trotz seines verfassungsrechtlich verankerten Pazifismus helfen. Die japanische Presse schrieb über eine mögliche Lieferung von in Japan in Lizenz hergestellten Raketen für amerikanische Patriot-Flugabwehrsystemen an die USA, damit Washington seine Raketen an die Ukraine weitergeben kann. Vertreter des russischen Außenministeriums erklärten, dass das Auftauchen japanischer Raketen in der Ukraine "Konsequenzen" für die Beziehungen Moskaus zu Tokio haben würde. 

Atsuko Higashino, Professorin an der Universität Tsukuba, befürwortet eine solche Lieferung, denn bei den Raketen handele es sich "nicht um eine Waffe zum Töten, sondern zum Schutz des ukrainischen Volkes". Higashino glaubt jedoch nicht, dass "in naher Zukunft" mit einer derartigen Lieferung zu rechnen sei, da Japan ein "ernsthaftes Defizit" an Verteidigungssystemen habe. James Brown, Professor an der Temple University in Tokio, glaubt, dass die Lieferungen von Patriot-Raketen an die USA bereits "weitgehend vereinbart" sind und dass die Verzögerungen auf die Vorschriften der japanischen Seite zurückzuführen sind. Für Japan sei es sehr wichtig, dass japanische Raketen nicht in der Ukraine landen.

Flugabwehrsystem vom Typ Patriot in Japan (Archivbild)
Flugabwehrsystem vom Typ Patriot in Japan (Archiv)null Kyodo/IMAGO

Ein "radikaler Wandel" im Verhältnis zu Russland

Aber wie kommt es, dass gerade Japan zu einem der wichtigsten Partner der Ukraine geworden ist? "Indem es der Ukraine hilft und der russischen Aggression entgegenwirkt, denkt Japan darüber nach, wie es das internationale System vor einer gewaltsamen Veränderung des Status quo schützen kann", sagt Brown. Japan versuche, "China von ähnlichen Versuchen gegen Taiwan abzuhalten". Premierminister Kishida sprach darüber auch mit US-Präsident Joe Biden auf einem Dreiergipfel zum Indopazifik in Washington.

Atsuko Higashino zufolge hat sich Japans Haltung gegenüber der Ukraine und Russland "radikal geändert". Während Japan 2014 die "illegale Annexion der Krim" und "die russische Propaganda hinnahm", habe sich mit der groß angelegten Invasion in der Ukraine alles geändert, sagt sie. Higashino glaubt, dass dies unter anderem auf "die deutliche Verletzung der UN-Charta" und die "Brutalität" der russischen Armee in Butscha bei Kiew zurückzuführen ist.

Japan bleibt am LNG-Projekt beteiligt

Dabei spielte nicht zuletzt ein Wechsel an der Regierungsspitze eine Rolle. "Unter der vorherigen Führung, unter Premierminister Shinzo Abe, war Japan sehr um eine Annäherung an Russland bemüht und hatte sich das Ziel gesetzt, Partnerschaften aufzubauen, den Territorialstreit (über die Kurileninseln - Anm. d. Red.) beizulegen und einen Friedensvertrag zu unterzeichnen", sagt James Brown. "Aber nach 2022 wurde der japanischen Regierung klar, dass diese Bemühungen nicht funktionieren würden. Stattdessen wurde die Priorität nicht auf den Aufbau einer Partnerschaft mit Russland gelegt, sondern darauf, das Scheitern der russischen Aggression gegen die Ukraine sicherzustellen".

Ehemalige Premierminister Japans Shinzo Abe und der russische Präsident Wladimir Putin, 2019
Japans damaliger Premier Shinzo Abe und der russische Präsident Wladimir Putin im Jahr 2019null Reuters/Sputnik/Kremlin/M. Klimentyev

Im Gegensatz zu Abe ist Premierminister Kishida zu "sehr weitreichenden Sanktionen gegen Russland übergegangen", sagt Atsuko Higashino. "Das war zuvor einfach undenkbar", so die politische Analystin. Japan hat sich aber nicht für eine vollständigen Abbruch der Beziehungen zu Russland entschieden. Ausnahmen gibt es für einige Bereiche der Wirtschaft, vor allem im Energiesektor. Japanische Autofirmen haben sich aus dem lukrativen russischen Markt zurückgezogen, aber Japan ist nach wie vor am Öl- und Gasprojekt Sachalin-2 beteiligt, obwohl andere westliche Unternehmen nicht mehr daran teilnehmen. Das Projekt beliefert Japan mit verflüssigtem Erdgas (LNG). Japan, das so gut wie keine eigenen fossilen Brennstoffe besitzt, bezieht etwa neun Prozent seines LNG aus Russland. Auch Japan Tobacco ist weiterhin in Russland tätig.

Kiew stellt sich hinter Japan

Als Geste der Unterstützung für Tokio verabschiedete das ukrainische Parlament im Oktober 2022 ein Dekret, in dem sich Kiew im russisch-japanischen Streit um die Kurileninseln auf die Seite Tokios stellte. Im dem Dekret wird anerkannt, dass die "Nördlichen Territorien", wie die Inseln in Japan genannt werden, "weiterhin von der Russischen Föderation besetzt sind". Ein ähnlicher Erlass wurde auch von Präsident Wolodymyr Selenskyj unterzeichnet.

Parlamentswahlen in Südkorea: Yoon Suk-yeol geschlagen, aber nicht am Ende

Die Parlamentswahlen in Südkorea waren schmerzhaft für Präsident Yoon Suk-yeol: Seine Partei "People Power Party" (PPP) kassierte am Mittwoch eine deutliche Niederlage und verlor die parlamentarische Mehrheit. Nun gab Yoon bekannt, er wolle das Land reformieren. So wolle er den Anliegen der Bevölkerung besser entsprechen.

"In Demut akzeptiere ich den in den Parlamentswahlen zum Ausdruck gebrachten Willen der Bevölkerung und werde mich bemühen, die Verwaltung zu reformieren und mein Bestes zu tun, die Wirtschaft zu stabilisieren und den Lebensunterhalt der Menschen zu verbessern", ließ Yoon in einer von seinem Stabschef abgegebenen Erklärung verlauten.

Damit mutet sich der Regierungschef ohne Parlamentsmehrheit eine enorme Aufgabe zu. Denn die Niederlage - die PPP und verbündete Parteien errangen nur 108 von 300 Sitzen insgesamt - versetzt die Opposition in die Lage, sämtliche Gesetzesinitiativen in den restlichen drei Jahren von Yoons Amtszeit zu blockieren, sollte sie es darauf anlegen.

Tatsächlich lassen Yoons Rivalen bereits die Muskeln spielen. Nur wenige Stunden nach der Wahl forderte Cho Kuk, der Vorsitzende der neu gegründeten "Partei für den Wiederaufbau Koreas", eine Untersuchung gegen Yoons Ehefrau Kim Keon-hee. Diese gründet auf dem Vorwurf, sie habe 2012 die Aktienkurse eines Autohauses manipuliert. Zehn Jahre später soll sie unrechtmäßig eine teure Dior-Handtasche angenommen haben.

Der ehemalige Justizminister Cho Kuk
Auf einem Rachefeldzug gegen Yoon? Der ehemalige Justizminister Cho Kuk (vorne in der Mitte)null Ahn Young-joon/AP Photo/picture alliance

Sinnt der Ex-Justizminister auf Rache?

Beobachter haben den Eindruck, Cho befinde sich auf einer Art Rachemission gegen Yoon. Cho war 2019 zum Justizminister ernannt worden, hielt sich aber nur 35 Tage im Amt. Dann musste er wegen des Vorwurfs der Steuerhinterziehung zurücktreten. Außerdem, so der Vorwurf, habe er versucht, seiner Tochter mit gefälschten Zeugnissen einen Platz an einer angesehenen medizinischen Universität zu verschaffen.

Die Ermittlungen gegen Cho und seine Familie führte Yoon, damals noch im Amt des Generalstaatsanwalts. Schließlich wurde Chos Frau zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, Cho selbst verlor seine Stelle an der juristischen Fakultät der Nationalen Universität Seoul.

Doch Cho gelang ein überraschendes politisches Comeback: Nur einen Monat vor der Wahl gründete er eine eigene Partei. Als Teil eines Bündnisses mit der größeren Demokratischen Partei gewann er 12 Sitze.

Die Leitartikler der großen Zeitungen riefen die großen Parteien nach der Wahl dazu auf, zum Wohle der Nation zusammenzuarbeiten. Es gelte die teilweise bösartigen Wahlkämpfe der letzten Wochen hinter sich zu lassen und so die Polarisierung der politischen Landschaft Südkoreas zu überwinden.

Lee Jae-myung, Vorsitzender der "Demokratischen Partei", Januar 2024
Die Präsidentschaftswahlen 2027 im Blick: Lee Jae-myung, Vorsitzender der "Demokratischen Partei"null Yonhap/REUTERS

Empfehlung: höflich und zurückhaltend

Zugleich haben die Parteien bereits die Zukunft im Blick. So schaut der Vorsitzende der Demokratischen Partei, Lee Jae-myung, dessen "Demokratische Partei" sich als größte Partei im Parlament behaupten konnte, bereits auf das Jahr 2027. Dann nämlich wird Yoon nach Ablauf der in der südkoreanischen Verfassung vorgesehenen fünfjährigen Amtszeit ausscheiden.

Lee werde sich bemühen, seine Partei "vernünftig" aussehen zu lassen", sagt Kim Sang-woo, ein ehemaliger Politiker des linksgerichteten Südkoreanischen Kongresses für Neue Politik und jetzt Vorstandsmitglied der Kim Dae-jung Peace Foundation, im DW-Gespräch.

"Der beste Weg, dies zu erreichen, dürfte darin bestehen, Debatten höflich und zurückhaltend zu führen. Das dürfte Lee dabei helfen, nach dem Triumph seiner Partei bei den Parlamentswahlen auch bei der Präsidentschaftswahl in drei Jahren einen Sieg einzufahren", so Kim.

Das gelte aber auch für Yoon, so der Experte. Auch dieser müsse an seinem Image arbeiten und künftig "weniger arrogant und herablassend" auftreten. Denn diese Eigenschaften hätten viele Wähler abgestoßen, so Kim.

Umso stärker dürften künftig die politischen Unterschiede in den Vordergrund rücken. Dazu zählen etwa die von Yoon eingebrachten Vorschläge für Steuersenkungen oder der Vorstoß der Demokratischen Partei zur Finanzierung erneuerbarer Energiequellen. Damit tritt sie offen der Regierung und deren Vorliebe für Kernenergie entgegen. 

Auch die Außenpolitik dürfte künftig stärker ins Zentrum der politischen Debatten rücken. So etwa demonstrieren Yoon und seine Verbündeten gegenüber Nordkorea und dessen außenpolitischen Kurs eine härtere Haltung als ihre Rivalen von der liberalen Demokratischen Partei. Auch das Verhältnis zu den USA und Japan dürfte künftig wichtiger werden: Unter der Regierung der PPP hat sich Südkorea beiden Ländern erheblich angehnähert. Führende Mitglieder der Demokratischen Partei hingegen fordern eine Verbesserung der Beziehungen zu China. Auch solle sich Seoul nicht in Pekings Ansprüche auf Taiwan einmischen.

Nordkorea droht mit Atomwaffen

Oppositionsführer in Schwierigkeiten

Yoon können durchaus einen Teil seiner alten Popularität zurückgewinnen, sagt der Jurist Park Jung-won von der Dankook-Universität. Dabei spiele auch eine Rolle, dass sich auch Lee, der Vorsitzende der Demokratischen Partei, Korruptionsvorwürfen gegenübersehe.

"Für Lee besteht ein großes juristisches Risiko ", so Park gegenüber der DW. Während seiner Zeit als Bürgermeister von Seongnam wurde Lee in Zusammenhang mit einem Korruptionsfall im Rahmen eines Landerschließungsprojekt gebracht.

Einen Tag vor den Parlamentswahlen musste Lee erneut vor Gericht erscheinen. Dort muss er sich auch dem Vorwurf stellen, in Verbindung mit illegalen Finanz-Transfers nach Nordkorea zu stehen. Lee bestreitet die Vorwürfe. "Ich habe noch nie eine politische Partei gesehen, die mit so vielen rechtlichen Problemen zu kämpfen hatte", sagt Park .

Auch Lees Verbündeter Cho Kuk sehe sich von politischen Skandalen bedroht, so Park. Darum sei nicht auszuschließen, dass der Konflikt zwischen dem neuen Parlament und dem Präsidenten eskalieren werde.

"Lee mag sich im Moment relativ ruhig verhalten. Doch die oberste Priorität sowohl für ihn als auch für Cho ist es, sich an Yoon zu rächen. Zu dieser Rache gehört womöglich auch ein Amtsenthebungsverfahrens", so Park. "Die kommenden Jahre werden herausfordernd".

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

Nord- und Südkorea – siebzig Jahre im Kalten Krieg

 

Scholz in China: Schwierige Mission beim Partner und Rivalen

Ein Video geht auf allen Plattformen der chinesischen sozialen Medien viral. Zu sehen ist ein Mann mittleren Alters, der seine Aktentasche aus schwarzem Leder zeigt. Er erklärt auf deutsch, was er mit sich trägt: Dokumente, Lesebrille und iPad. Dazu gibt es chinesische Untertitel.

Der Protagonist heißt Olaf Scholz. Pünktlich zur Ankündigung seiner zweiten Chinareise (13. - 16.04.) startet der SPD-Politiker sein Account auf TikTok. Das soziale Netzwerk wurde in China entwickelt und begeistert viele Jugendliche weltweit. Allerdings ist es auch kontrovers, weil unbeliebte Videos in den Augen chinesischer Machthaber durch die Zensoren gelöscht werden könnten.

Olaf Scholz stellt mit der anstehenden Chinareise einen persönlichen Neurekord auf. Es wird die längste Auslandsreise des Bundeskanzlers seit seinem Amtsantritt im Dezember 2021 in einem einzigen Land sein: drei Tage mit drei Stationen.

Handelskrieg China gegen die USA: Wo steht Deutschland?

Soviel zur Höflichkeit gegenüber dem kommunistischen Gastgeber vor einer erfolgreichen Chinavisite, die wie jede andere zuvor wieder ein Balanceakt sein wird. Es ist fast der Klassiker der Gretchenfragen: Wird Scholz die schlechte Menschenrechtsbilanz öffentlich kritisieren? Wie macht er das? Trifft er regimekritische Aktivisten? Und riskiert er dabei die wirtschaftlichen Interessen der Deutschlands?

"Das ist die falsche Fragestellung. Wir sollten endlich einmal lernen, von diesem scheinbaren Konflikt abzurücken", meint Eberhard Sandschneider, Partner der Denkfabrik Berlin Global Advisors. "Beides gehört zu einer Kanzlerreise dazu." Das sei nicht das Problem des heutigen Kanzlers, sondern das aller bisherigen Kanzler seit Helmut Schmidt gewesen. "Wenn sie nach China reisen, geht es natürlich auch um Wirtschaftsinteressen - und um die der mitreisenden Wirtschaftsdelegation."

China: Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale

Für die Bundesregierung ist China Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale. Das schreibt die erste Chinastrategie der Bundesregierung vom Sommer 2023 fest. Nun will Bundeskanzler Scholz bei seiner zweiten Chinareise der Berliner Ampelkoalition und dem chinesischen Gastgeber zeigen, wo er sich in dieser gegensätzlichen und in sich widersprüchlichen Strategie positioniert.

Abkoppeln von China? - Lieber nicht ganz

Die Globalisierung bringt Deutschland und China als zwei der größten Volkswirtschaften der Welt zusammen. In der chinesischen Presse wird Deutschland immer als der größte Handelspartner von Peking in Europa angepriesen. In Summe werden so viele Waren zwischen beiden Ländern ausgetauscht wie die zwischen China und Frankreich, Italien sowie Großbritannien zusammengenommen.

China lockt mit riesigen Märkten und baut Schritt für Schritt die Einschränkungen für ausländische Investitionen (FDI) ab, um die nachlassende Konjunktur im Lande zu stimulieren. Ferner hat China weltweit bei Zukunftsthemen wie Digitalisierung und E-Mobilität schon längst die Nase vorne.

Deutsche Regierung stellt neue China-Strategie vor

China ist längst Technologienführer

"Die Zeiten, wo deutsche Firmen in allen Bereichen die Technologie hatten und bereit waren, sie zur Verfügung zu stellen, sind vorbei", resümiert China-Experte Sandschneider, der bis zu seiner Emeritierung 2020 den Lehrstuhl für Politik Chinas und internationale Beziehungen an der Freien Universität Berlin innehatte. China sei einer der Technologieführer in so vielen zukunftsorientierten Technologien: von künstlicher Intelligenz bis hin zum Klimaschutz. "Es ist höchste Zeit, dass wir es einsehen."

Durch die Globalisierung werden die Volkswirtschaften abhängiger voneinander denn je. Die Berliner Chinastrategie unterstreicht deswegen, dass beim Umgang mit China eine Minderung von Risiken (De-Risking) dringend geboten sei. Eine Entkopplung der Volkswirtschaften (De-Coupling) lehne dagegen die Bundesregierung ab.

"Diese Abhängigkeitsdebatte geht völlig an den Tatsachen vorbei", regt sich Sandschneider auf. "Man muss immer wieder sagen: Abhängigkeiten sind in den letzten Jahren die Grundlage unseres Wohlstandes gewesen. Wer jetzt vom Abbau von Abhängigkeiten spricht, muss fairerweise den Menschen auch sagen, dass es weniger Wohlstand bedeuten würde. Das vermeidet die Politik, weil das nicht sonderlich beifallsfähig ist. Aber das ist ja eigentlich ihre Realität hinter dieser Diskussion."

Ein Beispiel ist die Energiewende als das zentrale Zukunftsthema. Nach Informationen der Berliner China-Denkfabrik Merics werden derzeit 87 Prozent der Fotovoltaikanlagen in Deutschland aus China importiert. Da werde heftig über den Abbau von Risiken nachgedacht, so Lead Analyst Nis Grünberg von Merics. "Wie wir die großen Kapazitäten in China nutzen und gleichzeitig ein De-Risking in diesem Bereich vornehmen, wäre eigentlich die zentrale Fragestellung für unsere künftige Politik." Doch ein gangbarer Weg zeigt sich nicht.

Bayerns Ministerpräsident Söder in China
War kürzlich auch in China: Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) mit Parteisekretär Wang Xiaohui (r.) und Plüschpandanull Peter Kneffel/dpa/picture alliance

Ampelkoalition in Sachen China-Politik uneinig

In der Berliner Regierungskoalition aus SPD, FDP und den Grünen herrscht große Uneinigkeit über China. Auch die Union als Opposition mischt heftig mit. So reiste der bayerische Ministerpräsident Markus Söder Anfang April nach China. Nach einem Besuch auf der Großen Mauer, dem Foto mit einem Plüschpanda und dem Treffen mit Chinas Premier Li Qiang attackierte der Vorsitzende der CSU, der Schwesterpartei der auf Bundesebene oppositionellen CDU/CSU-Fraktion, die Chinapolitik der Bundesregierung scharf. Söder forderte eine "Realpolitik" anstatt einer "Moralpolitik". Er suche den Austausch mit dem schwierigen Gegenüber. Söders Argument: "Wenn wir nur ein Gespräch führen mit denen, die komplett wie wir sind, dann haben wir aber nicht mehr wirklich viel zu tun".

Die Grünen distanzieren sich von einem noch engeren Austausch mit China. Sie befürchten, dass Deutschland nach dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und die damit verbundene Russlandpolitik in eine neue Abhängigkeit von China gerate. Die Debatte habe schon immer eine innenpolitische Seite, räumt Chief Economist Max Zenglein von Merics ein. In der Berliner Koalition verantworten die Grünen die Ressorts wie Außenpolitik und Wirtschaft. Die grünen Minister Robert Habeck und Annalena Baerbock reisen diesmal zwar nicht mit, signalisieren aber, dass sie dieses Jahr auch eine Chinareise planen.

"Allein an der Zeit, die der chinesische Präsident Xi Jinping für die Gespräche mit dem deutschen Bundeskanzler bereitstellt, wird es deutlich, wie groß das Interesse an deutscher Politik in China ist", sagt Sandschneider, "und natürlich beobachtet man dort haargenau die unterschiedlichen parteipolitischen Positionen. Wer wie Markus Söder Realpolitik predigt, bekommt in China einen großen Bahnhof. Das ist auch ein Zeichen an die deutsche Außenministerin, die im Moment Schwierigkeiten hat, in China überhaupt einen Termin zu bekommen; auch nicht bei der Reise des Kanzlers dabei ist."

 

"Decoding China" ist eine DW-Serie, die chinesische Positionen und Argumentationen zu aktuellen internationalen Themen aus der deutschen und europäischen Perspektive kritisch einordnet.

Slowakei: Warum Fico die Beziehungen zu Vietnam wiederbelebt

Robert Fico, der im vergangenen Oktober als slowakischer Ministerpräsident zurückgekehrt ist, hat erklärt, die Außenpolitik seines Landes neu auszurichten und die Beziehungen zu kommunistischen Ländern wie Vietnam zu verbessern.

Die Beziehungen zwischen Vietnam und der Slowakei waren historisch gesehen eng und reichen bis in die kommunistische Ära der Slowakei zurück. Ethnische Vietnamesen stellen heute eine der größten Minderheitengruppen in der Slowakei dar. Im Juni 2023 erkannte die Regierung in Bratislava die vietnamesische Gemeinschaft offiziell als ethnische Minderheit im Land an. Während seiner ersten Amtszeit als Premierminister eröffnete Fico 2008 die slowakische Botschaft in Hanoi.

Doch die Beziehungen sind seit 2017 angespannt. Der Grund dafür: Ein ehemaliger vietnamesischer Manager, Trinh Xuan Thanh, wurde 2017 von vietnamesischen Agenten auf den Straßen Berlins entführt.

Slowakei soll Transitland bei Entführung aus Berlin gewesen sein

Thanh hatte vor seiner Entführung Deutschland um politisches Asyl ersucht. Die vietnamesische Regierung behauptete später, Thanh sei freiwillig nach Vietnam zurückgekehrt. Nach seiner Rückkehr nach Vietnam wurde er wegen Korruptionsvorwürfen zu lebenslanger Haft verurteilt.

Wenig Hoffnung für Thanh

Dieser Vorfall führte zu einer diplomatischen Krise. Deutschland wies einige vietnamesische Diplomaten aus. Es dauerte Jahre, bis sich die eigentlich guten deutsch-vietnamesischen Beziehungen wieder normalisiert hatten.

Die Slowakei spielte als Transitland bei der Entführung eine wichtige Rolle. Die Entführer waren über die Slowakei in die Europäische Union eingereist und hatten die Operation vor dort gestartet. In einem 2022 in "EurActiv" veröffentlichten Artikel wurde behauptet, dass Robert Kalinak von der Entführung gewusst haben könnte. Kalinak war zum Zeitpunkt des Skandals slowakischer Innenminister und ist jetzt Verteidigungsminister in Ficos dritter Regierung.

Undurchsichtige Rolle von Minister Robert Kalinak

Kalinak weist jede Anschuldigung zurück. Im Jahr 2018 erklärte er sich sogar bereit, sich einem Lügendetektor-Test zu unterziehen, um seine Unschuld in Bezug auf die Vorwürfe zu beweisen. Die slowakische Regierung bestreitet bis heute jegliche Kenntnis davon gehabt zu haben, dass Thanh an Bord jenes Fluges war, das damals von der Slowakei nach Vietnam flog.

Denisa Sakova, Kalinaks Nachfolgerin als Innenministerin, sagte 2019 wiederum, das Ministerium habe der vietnamesischen Regierung eine Rechnung über die Flugkosten ausgestellt. Die Führung in Hanoi habe diese jedoch nie bezahlt und Kalinak habe die Zahlung storniert, heißt es in slowakischen Medienberichten.

Es wurde auch behauptet, dass das slowakische Innenministerium Polen belogen habe. Denn das Ministerium hätte damals behauptet, dass Kalinak an Bord gewesen sei, als das Flugzeug mit dem entführten Thanh in den polnischen Luftraum einflog.

Fico trat im März 2018 nach monatelangen Protesten zurück, die durch die Ermordung des Journalisten Jan Kuciak ausgelöst wurden. Der Journalist Kuciak untersuchte mutmaßliche Verbindungen zwischen Mafiagruppen und slowakischen Politikern, darunter auch einige aus Ficos Umfeld.

Fico möchte unbedingt Vietnam und China besuchen

Nur wenige Tage vor seiner Wiederwahl zum Premierminister im vergangenen Jahr, betonte Fico, dass seine Regierung eine "souveräne slowakische Außenpolitik" verfolgen werde. Er deutete damals an, dass Vietnam und China die ersten Länder seien, die er besuchen wolle.

Populisten und Parolen: Wahlkrimi in der Slowakei

Seit seiner Rückkehr ins Amt des Ministerpräsidenten hat Fico die Außenpolitik der Slowakei vom Westen weitgehend abgekoppelt. Fico hat geschworen, nicht zur Bewaffnung der Ukraine beizutragen. Seine Regierung will sich stärker an China orientieren. Fico behauptet, er verfolge eine "ausgewogene und souveräne" Außenpolitik.

Vietnam sei der perfekte Ort für Ficos doppelseitige Außenpolitik, sagt Martin Sebena, Dozent am Institut für Politik und öffentliche Verwaltung der Universität Hongkong. "Einerseits ist es ein kommunistisches Land mit einer schrecklichen Menschenrechtsbilanz, andererseits schmeichelt der Westen Vietnam und ist bereit, die Augen vor der autoritären Unterdrückung zu verschließen", so Sebena im DW-Interview. "Dies ermöglicht es Fico, auf die Heuchelei des Westens hinzuweisen und sich als jemand darzustellen, der nach alternativen Wegen der Außenpolitik sucht."

Das Manifest von Smer-SD, Ficos Partei, beziehe sich ausdrücklich auf Vietnam, wenn es verbesserte Beziehungen zu Ländern "mit einer anderen Regierungsform als der parlamentarischen Demokratie" fordert, sagt Sebena.

Wiederannäherung an Vietnam als politisches Zeichen

Einige Experten bezweifeln, dass eine Verbesserung der Beziehungen zu Vietnam der Slowakei wirtschaftliche Vorteile bringen wird. Nicht zuletzt, weil der bilaterale Handel und die bilateralen Investitionen traditionell gering waren. Daher werde Fico die Vietnam-Beziehungen wahrscheinlich nur als Mittel zur "Botschaft" seiner scheinbar unabhängigen und souveränen Außenpolitik nutzen, sagte Sebena.

Eine slowakische diplomatische Quelle, die nicht namentlich genannt werden wollte, sagte der DW, dass Ficos Ambitionen, gute Beziehungen zu Vietnam wiederherzustellen, aufrichtig seien, aber durch die aktuelle Konzentration des Premierministers auf innenpolitische Angelegenheiten behindert würden. Etwa seine Abwehrschlacht wegen Korruptionsvorwürfen gegen enge Mitarbeiter oder die Präsidentenwahl, die am Sonntag Ficos Wunschkandidat Peter Pellegrini in der Stichwahl gewonnen hat.

Deutschland: Pflegekräfte aus der Ferne

Aufgrund der politischen Folgen der Thanh-Entführung muss die slowakische Botschaft in Hanoi seit mehreren Jahren ohne Botschafter auskommen, und die Außenstelle wird von einem Geschäftsträger geleitet.

Umstrittener Fico-Berater soll Botschafter in Hanoi werden

Laut Robert Vancel, Assistenzprofessor an der Matej-Bel-Universität in Banská Bystrica, plant die Regierung in Bratislava, erneut einen Botschafter nach Hanoi zu entsenden. Gerüchten zufolge könnte es sich dabei um Quang Le Hong handeln, einen slowakischen Staatsbürger vietnamesischer Herkunft, der zuvor als Fico-Berater für Außenhandelsbeziehungen fungierte.

Quang Le Hong ist umstritten. Slowakischen Medien zufolge war er anwesend, als sich der damalige Innenminister Kalinak 2017 mit einer vietnamesischen Delegation traf, kurz bevor der entführte Thanh aus dem Land geschafft wurde.

Wochen später wurde Quang Le Hong offenbar als neuer Geschäftsträger an die slowakische Botschaft in Hanoi geschickt. Ficos Regierung werde sich wieder auf die Außenpolitik konzentrieren, sagte die diplomatische Quelle der DW, sobald es eine Flaute in der Innenpolitik gibt. "Vietnam wird dabei ein wichtiger Teil sein".

Chip-Krieg: USA und EU fürchten Chinas Dominanz bei älteren Chips

Sie sind nicht zu vergleichen mit den hochmodernen Super-Chips, die Plattformen für künstliche Intelligenz (KI) antreiben. Dafür sind sie überall im Einsatz: ältere, ausgereifte Halbleiter, die in Waschmaschinen, Autos, Fernsehern oder medizinischen Geräten verbaut werden.

In der Branche werden sie Legacy Chips genannt, was man mit "älteren Chips" übersetzen könnte. Dass China hier eine große Marktmacht hat, bereitet Strategen in den USA und der EU zunehmend Kopfzerbrechen.

China investiert stark

Mit Exportverboten hat Washington chinesischen Unternehmen bereits den Zugang zu den modernsten Chips westlicher Bauart erschwert- in der Hoffnung, Pekings Aufstieg zu einer technologische Supermacht zu bremsen. Nun richtet sich die Aufmerksamkeit auf die älteren Chips, von denen fast jeder dritte derzeit in China produziert wird.

Peking will seine Investitionen in die Herstellung älterer Chips stark erhöhen. Im September 2023 hat die die chinesische Regierung einen staatlich geförderten Investitionsfonds in Höhe von umgerechnet 40 Milliarden US-Dollar (37 Milliarden Euro) angekündigt, um die heimische Halbleiterproduktion zu stärken. Seitdem werden in den USA und in der EU Rufe laut, die heimische Halbleiterindustrie besser vor der chinesischen Übermacht zu schützen.

USA und EU prüfen Chinas Chip-Dominanz

Im Dezember ordnete die Regierung von US-Präsident Joe Biden eine Überprüfung der gesamten Halbleiter-Lieferkette an, um Chinas Dominanz bei älteren Chips zu bewerten. Eine Sitzung des EU-US-Handels- und Technologierats Anfang April im belgischen Leuven könnte eine ähnliche Überprüfung durch die EU-Kommission nach sich ziehen, die Exekutive der Europäischen Union.

In einer Erklärung des Rates nach der Sitzung hieß es, beide Seiten könnten "gemeinsame oder kooperative Maßnahmen entwickeln", um etwas gegen die "verzerrenden Auswirkungen" auf die globalen Lieferketten zu unternehmen, die sich bei Legacy Chips abzeichnen.

Überkapazitäten und Chip-Dumping

Sollte China den Markt mit herkömmlichen, von Peking subventionierten Chips überschwemmen, könnten westliche Chiphersteller schnell vom Markt verdrängt werden, warnen Brancheninsider. Sie verweisen auf ein ähnliches Dumping billiger chinesischer Solarpaneele, mit dem sich China aus EU-Sicht einen unfairen Vorteil verschafft hat.

Neues Bosch-Chipwerk in Dresden
Bosch hat in Dresden eine Chipfabrik gebaut, um Chips für die Automobilindustrie zu produzierennull Oliver Killig/dpa/picture alliance

"Wenn Unternehmen wie Lam Research und Applied Materials dauerhaft die Hälfte ihres Marktes verlieren, müssten sie sich verkleinern", sagt Penn über die beiden großen US-Hersteller von Legacy Chips. "Im Moment gehen sie noch davon aus, dass sich die Größe ihres Marktes verdoppelt."

In den nächsten drei Jahren wird Chinas Kapazität für Standard-Halbleiter dank staatlicher Subventionen so wachsen, dass das Land 39 Prozent der weltweiten Nachfrage bedienen kann, so Daten von Trendforce, einer auf den Sektor spezialisierten Analysefirma mit Sitz in Taiwan.

"Geopolitik wird immer mehr über Halbleiter ausgetragen"

Laut einer separaten Prognose von Gavekal Dragonomics, einem Finanzdienstleister mit Sitz in Hongkong, wird China in diesem Jahr mehr Kapazitäten für die Chipherstellung aufbauen als der Rest der Welt zusammen - eine Million Chips pro Monat mehr als im letzten Jahr.

Auch Indien will ein Stück vom Kuchen abhaben, was die Überkapazitäten in der Chipproduktion noch verstärken könnte. Der indische Mischkonzern Tata Group allein investiert umgerechnet elf Milliarden Dollar in den Bau einer eigenen Chip-Fabrik in Dholera im Bundesstaat Gujarat.

Die taiwanesischen Chiphersteller, die derzeit fast die Hälfte der weltweiten Chipproduktion abdecken, verlagern unterdessen ihren Schwerpunkt und wollen sich, wie auch die USA, Südkorea und Japan, stärker auf moderne Hochleistungschips konzentrieren. TrendForce erwartet, dass der Marktanteil Taiwans bei Legacy Chips aufgrund des Investitionsschubs in China insgesamt zurückgehen wird.

Abhängigkeiten und Sicherheitsrisiken

Abhängigkeit ist ein weiteres Problem. Wenn westliche Hersteller von Legacy Chips ihre Produktion herunterfahren müssen, weil sie nicht mit der chinesischen Konkurrenz mithalten können, würde sich die Abhängigkeit der USA und der EU von China erhöhen.

China könnte seine dominante Stellung dann ausnutzen, so ein Szenario, um es dem Westen schwerer zu machen, an Legacy Chips zu kommen. Die werden nicht nur für Unterhaltungselektronik und Haushaltsgeräte benötigt, sondern auch für Autos und militärische Geräte.

China | Halbleiter aus Taiwan
Ein Wafer bildet die Grundplatte für eine Vielzahl integrierter Schaltkreise, auch Chips genanntnull AFP/Getty Images

Die Auswirkungen könnten schlimmer sein als die Chip-Knappheit während der Corona-Pandemie, wegen der viele Autohersteller ihre Produktion herunterfahren mussten. Schon damals war die Knappheit von Legacy Chips das Problem, nicht ein Mangel an modernen Hochleistungships.

"Für die Verbraucher sind ältere Technologien wichtiger als moderne Chips für KI", sagte Joanne Chiao, Analystin bei TrendForce in Taiwan zur DW. KI-Chips sorgten zwar für Schlagzeilen, machten aber derzeit weniger als ein Prozent des weltweiten Halbleiterverbrauchs aus.

Sanktionen und Subventionen

Branchenexperten scheinen sich darüber einig zu sein, dass Washington und Brüssel handeln müssen. "Der Druck ist groß, hier etwas zu tun", sagt Malcom Penn, CEO der britischen Chip-Beratungsfirma Future Horizons. Doch er bezweifelt, dass Sanktionen wie Importbeschränkungen für Chips aus China sinnvoll sind. "Das wäre die falsche Lösung", so Penn zur DW. "Sanktionen werden Chinas Dominanz nur verzögern, sie werden sie nicht aufhalten."

Sanktionen können immer umgangen werden, sagt Penn. Außerdem wären die westlichen Länder nicht in der Lage sein, ihre Chipproduktion schnell genug hochzufahren, um einen etwaigen Mangel an Chips aus China auszugleichen. Mindestens drei Jahre würde das dauern, "wahrscheinlich sogar noch länger - selbst wenn es keine Verzögerungen beim Bau der Fabriken gäbe und man die Leute mit den nötigen Fähigkeiten fände, sie zu betreiben", sagt Penn.

Einige Brancheninsider halten Ausfuhrkontrollen bei Werkzeugen für die Chipproduktion für effektiver als Sanktionen gegen Chips aus China. Um ihre Abhängigkeit von China zu verringern, könnten Washington und Brüssel auch auf das so genannte Friendshoring setzen, d. h. auf die Fertigung und Beschaffung bei geopolitischen Verbündeten wie Indien.

Möglich wären auch Subventionen, um heimische Hersteller zu ermutigen, trotz eines drohenden Preisverfalls weiterhin die älteren Legacy Chips zu produzieren. Durch die Verabschiedung zweier neuerer Chip-Gesetze haben die EU und die USA dem Halbleitersektor in den nächsten zehn Jahren bereits Subventionen in Höhe von rund 86 Milliarden Dollar zugesagt.

 

Dieser Bericht wurde aus dem Englischen adaptiert.

Taiwan, die Chip-Supermacht

China eskaliert im Südchinesischen Meer - USA, Japan und Philippinen rücken zusammen

US-Präsident Joe Biden, Japans Premierminister Fumio Kishida und der philippinische Präsident Ferdinand Marcos Jr. werden am Donnerstag (11.04.2024) in Washington zusammentreffen. Sie wollen dabei die Verteidigungs- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den drei Nationen stärken.

Obwohl es offiziell heißt, dass der Gipfel nicht gegen ein bestimmtes Land gerichtet sei, findet er inmitten der eskalierenden Spannungen mit China im Südchinesische Meer statt.

In den letzten Monaten war die chinesische Küstenwache wiederholt auf Kurs gegen philippinische Nachschubschiffe gegangen, die auf dem Weg zu Außenposten auf der umstrittenen Meeresuntiefe "Second Thomas-Shoal" waren. Die chinesischen Schiffe setzten dabei Wasserwerfer ein und kreuzten mit riskanten Manövern vor den philippinischen Schiffen auf mit dem Ziel, diese zu blockieren.

Der Außenposten auf der "Second Thomas Shoal" liegt in Gewässern, die sowohl von China als auch von den Philippinen beansprucht werden.

Auch Tokio sieht sich mit Marine-Aktionen Pekings konfrontiert und beschuldigt China, Bojen in der Nähe von Senkaku (Diaoyu auf Chinesisch) installiert zu haben, einer unbewohnten Inselkette im Ostchinesischen Meer, die Japan unter seiner Kontrolle hält.

Karte Senkaku Diaoyu DE
Hier streckt Peking ebenfalls die Finger aus: die von Japan kontrollierte Inselgruppe Senkaku/Diaoyu vor der Küste Chinas

Vor diesem Hintergrund wollen Washington, Tokio und Manila auf dem Washingtoner Gipfel ein eigenes Sicherheitssystem schmieden, mit einer neuen Ausrichtung, in der die Führungsrolle Washingtons mehr in den Hintergrund treten könnte. Traditionell gelten die USA immer als Dreh- und Angelpunkt für ihre asiatischen Verbündeten. Obwohl die Philippinen und Japan strategische Partner sind, operierten sie bisher weitgehend in diesem US-zentrierten Rahmen, sagt Politikwissenschaftler Don McLain Gill, der auf den Philippinen lebt.

Eine neue Dreierkombination mit mehr Augenhöhe "steht für den wachsenden Wunsch in Manila und Tokio und auch in Washington, über traditionelle Modelle hinauszugehen, um die Zusammenarbeit weiter auf die Basis gemeinsamer Ziele zu stellen", sagte Gill im Gespräch mit der DW.

Manila und Tokio rücken zusammen

Denn das Koordinatensystem in Ostasien befindet sich im Wandel. Als der "stille Champion"  beschreibt Georgi Engelbrecht, Senior Analyst bei der International Crisis Group, die neue Rolle Tokios.

"Vielleicht begann es mit der Verschärfung des Senkaku-Konflikts. Es gipfelte aber in einer neuen Wahrnehmung für den Indopazifik", sagte er im Gespräch mit der DW. Südostasien würde nun als ein Gebiet betrachtet, das auf "verschiedene Weise unterstützt werden kann, um bestimmte Ideale, die dieser Teil der Welt teilt, weiter zu festigen."

Philippinene/Japan Der Philippinische Präsident Philippine President Ferdinand Marcos Jr. zu Bsuch bei Japans Premierminister Fumio Kishida
Der philippinische Präsident Ferdinand Marcos Jr. (links) zu Besuch bei Japans Premierminister Fumio Kishida am 17.12.2023null Kyodo/picture alliance

Tokio hat kürzlich begonnen, die Sicherheitskooperation mit Manila zu vertiefen. Auf der Agenda steht dabei ein Militärpakt, der es beiden Ländern ermöglichen würde, Truppen für Übungen in das Partnerland zu entsenden. Erst diese Woche nahm Japan an einer gemeinsamen Seeübung im Westphilippinischen Meer teil - an der Seite der Vereinigten Staaten und Australiens.

Für Engelbrecht ist der trilaterale Gipfel daher keine Überraschung und zeigt das gemeinsame Interesse an engeren Beziehungen zwischen Japan und den Philippinen und einer wieder erstarkten Allianz mit den USA.

"Japan hat die Muskeln"

Nach dem trilateralen Gipfel könnten die USA somit eine Position an der Spitze eines Dreiecks einnehmen, mit Japan und den Philippinen an der Basis, wo beide eng zusammenarbeiten, sagte Carlyle Thayer, emeritierter Professor für Politik an der University of New South Wales in Australien.

Er verwies darauf, dass die Zusammenarbeit zwischen den drei Küstenwachen bereits laufe. Außerdem habe auch ein Treffen zwischen den nationalen Sicherheitsberatern der drei Länder stattgefunden.

Japans Unterstützung könnte auch die Machtverhältnisse im Streit zwischen China und den Philippinen verändern. Tokio erlebe "die gleiche Art von Schikanen" wie die Philippinen, sagte Thayer. Der Unterschied sei, dass Japans Streitkräfte über große, schwere Schiffe verfüge. "Ich werde Rugby als Metapher verwenden. Südostasien ist wie eine High-School-Mannschaft, die gegen die Profis spielt. Durch das schiere Gewicht wirst du zermürbt. Japan hat die Muskeln", fügte Thayer hinzu.

Marineübung im Südchinesischen Meer von den USA, Australien, und Japan
Gemeinsame Marineübung im Südchinesischen Meer mit den USA, Australien und Japannull Armed Forces of the Philippines/AP/dpa/picture alliance

Experten weisen darauf hin, dass der Gipfel zwar ein Treffen gleichgesinnter Nationen sei, die Philippinen aber in Bezug auf die wirtschaftliche Entwicklung und die militärischen Fähigkeiten weit hinter Japan und den Vereinigten Staaten zurückbleiben.

Die Verteidigungsminister würden daher zwar die Feinabstimmung der Verteidigungskooperation vornehmen, meint Thayer. Die wirkliche Arbeit falle aber bei Wirtschaftsfragen an, weil Investitionen mehr Arbeitsplätze für Filipinos schaffen werden. „Eine starke Wirtschaft wird jeder Regierung helfen, die in den nächsten Jahren die Macht haben wird. Die Verlockung, dass China dafür Millionen zur Verfügung stellt, könnte wegfallen, wenn Japan und die USA den Einsatz erhöhen", ist Thayer überzeugt.

Wahlen könnten Pläne zunichtemachen

Bei dem Treffen zwischen Biden, Kishida und Marcos Jr. werde es daher um Themen wie inklusives Wirtschaftswachstum sowie Klimakooperation und die Förderung von Frieden und Stabilität in der Region gehen, sagte Karine Jean-Pierre, Pressesprecherin des Weißen Hauses.

Analysten sind der Meinung, dass auf dem Treffen wahrscheinlich Details über die Militärkooperation zwischen Japan und den Philippinen und die Bereitstellung japanischer Militärausrüstung zur Modernisierung der philippinischen Streitkräfte erörtert werden. Es wird zudem erwartet, dass auch Taiwan auf der Tagesordnung stehen wird. Um die in Pekings Sicht abtrünnige Provinz wächst jüngst das Potenzial einer militärischen Eskalation. Der chinakritische William Lai wird im Mai das Präsidialamt auf Taiwan übernehmen.

Experten warnen aber gleichzeitig davor zu erwarten, dass ein einziger Gipfel die Spannungen im Südchinesischen Meer lösen oder bewältigen werde. Gill wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Präsidialsysteme wie die Philippinen und die USA anfällig für Verschiebungen in der Außenpolitik seien - je nachdem, wer im Amt ist. In den USA wird nämlich in diesem Jahr ein neuer Präsident gewählt. 

Aus dem Englischen adaptiert von Florian Weigand

Görlach Global: Janet Yellen, China und die Globalisierung

Der Besuch der US-amerikanischen Finanzministerin Janet Yellen in der Volksrepublik China hat vor allem eines offengelegt: Die Ära der wirtschaftlichen Globalisierung ist zu Ende. Die Politikerin forderte ihre chinesischen Gesprächspartner nachdrücklich auf, den Weltmarkt nicht weiter mit ihren Produkten zu überschwemmen.

China flutet die Welt mit konkurrenzlos günstigen Batterien, Solarpanels und Elektroautos. Machthaber Xi Jinping will damit die lahmende Wirtschaft seines Landes wieder ankurbeln. Das bedeutet eine wirtschaftspolitische Kehrtwende, denn eigentlich sollte der chinesische Markt eine so große eigene Kaufkraft entwickeln, dass China nicht mehr vom Rest der Welt abhängig wäre. 

Doch daraus wurde nichts. Die Pandemie und die in der Folge verhängten verheerenden Einschränkungen, mit denen Xi und seine Nomenklatura die Bevölkerung gängelten, haben die Bevölkerung in China nachhaltig verunsichert. Dazu kommt das Platzen der Immobilienblase. Die Menschen glauben nicht mehr an das Wohlstandsversprechen der Kommunistischen Partei. Das Geld, das ihnen geblieben ist, halten sie zusammen - Konsum als vaterländische Pflicht kommt den Wenigsten derzeit in den Sinn. Xi Jinping wiederum hält finanzielle Anreize, Steuererleichterungen oder Geldgeschenke für gebeutelte Haushalte für Teufelszeug. Stattdessen möchte er den Erfolg wiederholen, den China vor einem Vierteljahrhundert hatte: Das Reich der Mitte soll einmal mehr zur Werkbank der Welt werden. 

USA und Europa müssen ihre Märkte schützen

Doch hier ziehen die USA nicht mit, denn damit haben sie schon einmal schlechte Erfahrungen gemacht. Zu Beginn des Jahrhunderts unterstützte Washington die Aufnahme der Volksrepublik in die Welthandelsorganisation. Dafür willigten die Vereinigten Staaten in einen Deal ein: Billige Produkte aus China kosten zwar heimische Arbeitsplätze - aber gleichzeitig erquicken sich die US-amerikanischen Konsumenten an den preiswerten Erzeugnissen aus der Volksrepublik. Doch bei ihrem Besuch stellte Finanzministerin Yellen jetzt klar: Noch einmal werden die USA den Verlust von Arbeitsplätzen nicht hinnehmen. Damals gingen geschätzt zwei Millionen Jobs verloren.

Alexander Görlach | Autor DW-Kolumne | Görlach Global
DW-Kolumnist Alexander Görlachnull privat

Washington wirft Peking zu Recht vor, durch günstige Grundstücksvergabe und Staatskredite den Wettbewerb zu verzerren. Gleichzeitig haben die USA und die Europäische Union selbst Programme aufgelegt, die massiv in grüne Technologie und Künstliche Intelligenz investieren. Um diese Investitionen zu schützen, werden Europa und Amerika nicht umhinkommen, China mit neuen Zöllen für ihre stark verbilligten Produkte zu drohen. Davon möchte Janet Yellen zwar im Moment nicht sprechen. Aber in diese Richtung wird gedacht - und das ist meilenweit entfernt vom Optimismus des Globalisierungszeitalters, dass die unsichtbare Hand des Marktes alle Interessen auf wundersame Weise ausgleichen werde.

WTO entscheidet über Chinas Subventionen

Die Volksrepublik hat mittlerweile Produktionskapazitäten aufgebaut, die es an Know-how und Effizienz mit der globalen Konkurrenz aufnehmen können. China ist zu einem echten Wettbewerber und einer Herausforderung herangewachsen, dem sich beispielsweise das Auto- und Maschinenbauerland Deutschland stellen muss. Aber: Die Kommunistische Partei lässt nicht mehr nach marktwirtschaftlichen, sondern nach staatskapitalistischen Regeln produzieren: Staatliche Banken vergeben Kredite an (teils)staatliche Unternehmen. Die Hälfte der produzierten Waren wird auf den globalen Markt gestoßen. Hier liegt der Unterschied zu den Subventionen und Investitionen, die US-Präsident Joe Biden im Inflation Reduction Act für die USA festgeschrieben hat. Sie dienen der Konsolidierung der US-amerikanischen Wirtschaft und haben das Ziel, vor allem die USA selbst zu bedienen. Eine Schwemme des Weltmarktes mit US-amerikanischen Produkten ist dabei nicht vorgesehen. 

Deutscher Solarindustrie steht das Wasser bis zum Hals

Sowohl die USA und die Europäische Union als auch Brasilien und Mexiko wollen bei der Welthandelsorganisation WTO Beschwerde gegen Chinas Subventionspraktiken einlegen. Allerdings hat die EU auch die Sorge geäußert, dass die Subventionen in den USA Arbeitsplätze in Europa kosten werden. Das ist den entsprechenden Stellen in Peking nicht entgangen - sie haben daher ihrerseits Beschwerde gegen Washington eingelegt. 

Janet Yellen wurde Medienberichten zufolge in China freundlich empfangen. Die Beteiligten haben vereinbart, im Gespräch zu bleiben. Zumindest wollen die Biden-Administration und die Xi-Führung für den Moment die Situation nicht eskalieren. Gelöst haben sie die kniffligen Fragen jedoch nicht, denn ihre Geschäftsgrundlage stimmt nicht mehr überein: die Weltanschauung einer globalisierten Wirtschaft, deren Regeln die WTO kontrolliert und sanktioniert. Sie wird nicht mehr mitgetragen von einer Politik, die an vielen Ecken der Welt zunehmend nationalistisch und isolationistisch agiert.

Alexander Görlach ist Senior Fellow am Carnegie Council for Ethics in International Affairs und Adjunct Professor an der Gallatin School der New York University, wo er Demokratietheorie unterrichtet. Nach Aufenthalten in Taiwan und Hongkong wurde diese Weltregion, besonders der Aufstieg Chinas und was er für die Demokratien in Asien bedeutet, zu seinem Kernthema. Er hatte verschiedene Positionen an der Harvard Universität und den Universitäten von Cambridge und Oxford inne. Alexander Görlach lebt in New York und in Berlin.

Hinweis: In der ursprünglichen Fassung war von der WHO statt der WTO die Rede. Wir bitten, diesen Fehler zu entschuldigen. 

Pakistan baut an "Friedens-Pipeline" zum Iran

Es hätte eigentlich ein gigantisches Projekt werden sollen. Mit einer "Friedens-Pipeline" wollte der Iran das benachbarte Pakistan und auch Indien mit dort dringend benötigtem Erdgas versorgen - ungeachtet aller politischen Konflikte.

Die internationalen Sanktionen gegen den Iran machten aber einen Strich durch die Rechnung. Zunächst zog sich Indien zurück, Pakistan legte das Projekt auf Eis. Das soll sich nun ändern: Die neue Regierung in Islamabad plant, bald mit den Bauarbeiten zu beginnen.  

"Pakistan möchte einen möglichen Rechtsstreit mit dem Iran vor internationalen Gerichten und eine Geldstrafe in Höhe von 18 Milliarden US-Dollar verhindern", schreibt die pakistanische Journalistin Sabena Siddiqi auf Nachfrage der DW. Siddiqui, die auf außenpolitische Themen spezialisiert ist, fügt hinzu: "Teheran hat Islamabad eine Frist bis September 2024 gesetzt, um den Bau der Pipeline auf pakistanischer Seite abzuschließen.“  

Dafür möchte Pakistan eine Aufhebung der US-Sanktionen für Gasimporte aus dem Iran erreichen, wie der pakistanische Energieminister Musadik Malik Ende März der Presse mitteilte. Laut Siddiqi wird der pakistanische Teil der Pipeline soll 780 Kilometer lang sein. 

Exportpläne durchkreuzt von US-Sanktionen

Der Iran strebt seit den 1990er Jahren den Bau der Pipeline an. Ursprünglich sollte sie iranisches Gas sogar bis nach Indien transportieren. Aufgrund der US-Sanktionen gegen den Iran im Streit um das iranische Atomprogramm stieg Indien allerdings aus dem Projekt aus. Pakistan hat zwar 2009 ein Abkommen mit dem Iran unterzeichnet; setzte das Projekt bisher aber nicht um. Auf iranischer Seite ist die über 900 Kilometer lange Verbindung bereits vor zehn Jahren fertiggestellt worden. 

Pakistan | Hafen in Gwadar
Eine Pipeline soll Gas aus dem Iran bis zur Hafenstadt Gwadar im Südwesten Pakistans transportieren null Tang Binhui/Xinhua/picture alliance

Jetzt hat Islamabad angekündigt, in den nächsten Wochen mit dem Bau der ersten 80 Kilometer der Gasröhre von der iranischen Grenze bis zur Hafenstadt Gwadar im Südwesten des Landes beginnen zu wollen. Das könnte eine potenzielle Klage wegen Vertragsverletzung seitens des Iran verhindern.

Nun sind aber die USA verärgert. "Wir unterstützen das Gaspipeline-Projekt Pakistan-Iran nicht", teilte das US-Außenministerium kürzlich mit. "Wir weisen jeden darauf hin, dass Geschäfte mit dem Iran das Risiko bergen, mit unseren Sanktionen konfrontiert zu werden. Wir raten jedem, dies sehr sorgfältig zu prüfen", erklärte ein Sprecher des US-Außenministeriums gegenüber Reportern in einer Pressekonferenz Ende März.

Gasknappheit beim Gasproduzenten

Pakistan sei derzeit mehr besorgt über mögliche Strafen in Milliardenhöhe als über Reaktionen aus den USA, schreibt der in Washington ansässige Experte für Energiediplomatie und Energiesicherheit Umid Shokri auf Anfrage der DW. 

Die Angst vor den saftigen Geldbußen überschattet offenbar auch den wohl eher geringen wirtschaftlichen Nutzen des Bauprojekts. "Islamabad ist sich bewusst, dass der Iran mit Problemen der Erdgasknappheit in seinem eigenen Land zu kämpfen hat", sagt der Experte Shokri. "Aufgrund der maroden Infrastruktur ist der Iran gar nicht in der Lage, Gas nach Pakistan zu exportieren." 

Der Iran verfügt zwar über die weltweit zweitgrößten Gasreserven, hinter Russland und gefolgt von Katar und den USA. Dennoch wird in fast jedem Winter im Iran Gas knapp. Behörden und Schulen werden abwechselnd geschlossen. Das Problem liegt nicht nur im übermäßigen Verbrauch von subventioniertem billigem Erdgas in den Haushalten und schlecht sanierten Gebäuden.

Gibt es Ersatz für russisches Öl?

Das Land nutzt seine Energievorräte extrem ineffizient. In fast allen Industriezweigen, insbesondere in der Eisen-, Stahl- und Zementindustrie, kämpft der Iran mit einem hohen Energieverbrauch. Laut Informationen des "Statistical Review of World Energy" belegte der Iran im Jahr 2022 den vierten Platz auf der Liste der Länder mit dem höchsten Gasverbrauch der Welt. Nur die USA, Russland und China verbrauchten mehr Erdgas als der Iran.

"Aufgrund der US-Sanktionen fehlt dem Iran der Zugang zu Schlüsseltechnologien", sagt der Energieexperte Shokri. Er fügt hinzu: "Die Technologie heimischer Unternehmen reicht nicht aus, um die Produktionskapazität so zu steigern, dass der Iran tatsächlich Erdgas nach Pakistan exportieren könnte. Es sei denn, der Iran möchte russisches Erdgas an Pakistan liefern."

Bietet Russland einen Ausweg für den Iran?

Als Reaktion auf die US-Sanktionen strebt Teheran eine engere Zusammenarbeit mit Moskau an. Im Juli 2022 unterzeichnete der russische Energiekonzern Gazprom mit dem iranischen Ölunternehmen NIOC einen Kooperationsvertrag im Umfang von 40 Milliarden US-Dollar. Gazprom soll NIOC bei der Erschließung von zwei Gas- und sechs Ölfeldern unterstützen.

Der Iran würde aber nicht viel verdienen, wenn russisches Gas durch sein Territorium an Pakistan weitergeleitet würde. Die Chancen des Irans, einen Rechtsstreit gegen Pakistan erfolgreich durchzufechten, seien ebenfalls gering, vermutet die pakistanische Journalistin Siddiqi.

Ein möglicher Gerichtsort für den Iran könnte die Kommission der Vereinten Nationen für internationales Handelsrecht mit Sitz in Wien sein. "Angesichts der instabilen regionalen Situation, des Krieges in Gaza und der Rolle des Irans in einigen Krisen ist es äußerst unwahrscheinlich, dass Washington es erlauben würde, dass der Iran seine Klage erfolgreich vorantreibt", vermutet Siddiqi und fügt hinzu: "Stattdessen könnten die USA versuchen, Pakistan alternative Optionen für seine Energiesicherheit anzubieten."

China tritt bei Weizenimporten auf die Bremse

Am 8. März waren es 240.000 Tonnen, am 15. März sogar 264.000 Tonnen Weizen, die eigentlich aus den USA nach China geliefert werden sollten. Doch die Kontrakte für den US-Winterweizen wurden von chinesischer Seite storniert, so dass US-Exporteure entweder auf 504.000 Tonnen Weizen sitzen bleiben oder einen anderen Käufer würden suchen müssen. Australische Weizenlieferungen waren im März ebenfalls betroffen. Chinesische Weizenimporteure stornierten rund eine Million Tonnen australischer Weizenlieferungen oder verschoben sie in das zweite Quartal.

Die Höhe der abbestellten Mengen drückte die Futures an der Warenterminbörse in Chicago für künftige Weizenlieferungen zeitweise auf den niedrigsten Wert seit August 2020. Die Tatsache, dass mehr als eine halbe Million Tonnen US-Weizen storniert wurde, sorgte bei den Getreidehändlern dort für reichlich Gesprächsstoff. Denn nach den Daten des US-Landwirtschaftsministeriums (USDA), die bis ins Jahr 1999 zurückreichen, war es die bisher größte stornierte Menge.

Händler an der Börse Chicago Mercantile Exchange
Wichtigster Handelsplatz für Futures und andere Termingeschäfte: die Börse Chicago Mercantile Exchangenull Scott Olson/Getty Images/AFP

"Diese Stornierungen zeigen, dass China Weizen von anderen Ländern billiger beziehen kann", kommentierte Ben Buckner, leitender Getreideanalyst bei AgResource, einem Brancheninformationsdienst mit Sitz in Chicago, gegenüber der Nachrichtenagentur Bloomberg den überraschenden Schachzug Pekings.

Höhere Lagerbestände und besseres Wetter

Jedenfalls scheinen die Zeiten, als die Preise für Getreide und andere landwirtschaftliche Güter immer höher stiegen, erst einmal vorbei zu sein. Nach Zahlen das US-Landwirtschaftsministeriums vom 28. März nahmen die Lagerbestände für Mais zuletzt um 13 Prozent und für Soja um neun Prozent zu. Den höchsten Anstieg bei den Lagerbeständen gab es aber mit 16 Prozent beim Weizen.

Neben den höheren Lagerbeständen sorgt auch eine Entspannung bei den wetterbedingten Rahmenbedingungen für niedrigere Preise, erklärt Thorsten Tiedemann, Vorstand der Getreide AG in Hamburg, im Gespräch mit der DW. "Wir hatten in den allermeisten Regionen eine mehr als ausreichende Wasserversorgung und damit gute Voraussetzungen für gute Ernten." Das sei im letzten Jahr ganz anders gewesen, als es in einigen Regionen längere Trocken-Perioden und andere negative Faktoren wie Frost gab.

Russland bleibt ein "Big Player" 

Die Situation bei Getreide und Ölsaaten sei daher allgemein entspannter als noch vor einem Jahr. "Wir haben insgesamt eine ordentliche Maisernte. Das ist die green Commodity, die den Futtergetreidemarkt dominiert. Wir haben auch eine reichliche Versorgung bei den Sojabohnen, bei Sojaschrot, jetzt auch wieder perspektivisch", unterstreicht Tiedemann. "Vor allen Dingen, weil Argentinien und Brasilien in den nächsten Wochen eine ordentliche Ernte einfahren werden."

Auch Russland sei beim Weizen nach wie vor in der Lage, viele Millionen Tonnen zu exportieren. "Russland wird wahrscheinlich im kommenden Wirtschaftsjahr 2024/25 einen Marktanteil am globalen Export von circa 29 Prozent haben", so Tiedemann. Dass Russland in den letzten Jahren große Ernten eingefahren habe und das höchstwahrscheinlich auch in diesem Jahr der Fall sein werde, habe global zu einer Entspannung an den Weizenmärkten beigetragen, erklärt der Hamburger Getreide-Experte. "In Russland werden 93 Millionen Tonnen erwartet und das wird Russland wiederum erlauben, deutlich über 50 Millionen Tonnen Getreide zu exportieren."

Preisrekord vom Mai 2022 in weiter Ferne

Im Februar 2024, so die Angaben des Datenspezialisten Statista, lagen die weltweiten Getreidepreise um 22,4 Prozent niedriger als noch im Februar 2023. Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine waren die internationalen Weizenpreise im Mai 2022 auf ein neues Allzeithoch von über 522 US-Dollar geklettert. Seit dem Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1990 durch die Welternährungsorganisation FAO war noch nie mehr für eine Tonne Weizen bezahlt worden.

Getreideernte in der Region Rostov (Russland)
Weizenernte in der russischen Region Rostov: Russland kommt auf einen Weltmarktanteil von 29 Prozentnull Sergey Pivovarov/SNA/IMAGO

Damals hatte es Befürchtungen gegeben, dass die Ausfuhren der beiden wichtigen Weizen-Exporteure Russland und Ukraine durch den Krieg stark zurückgehen und es zu Versorgungsengpässen kommen könnte.

Dabei ist die Ukraine als Weizen-Exporteur bei weitem nicht so wichtig wie Exportweltmeister Russland. Im Jahr 2022/23 exportierte die russische Föderation rund 47,5 Millionen Tonnen Weizen, gefolgt von der EU mit mehr als 35 Millionen Tonnen, Australien (32,2), Kanada (25,5) und den USA mit damals mehr als 20,25 Millionen Tonnen. Erst danach folgte im ersten Kriegsjahr die Ukraine mit rund 17,1 Millionen Tonnen Weizen.

Auswirkungen auf die USA

Die Auswirkungen für die US-Landwirtschaft halten sich bisher in Grenzen. Schon seit längerem spielt Weizen dort nicht mehr eine so dominante Rolle wie früher. "Die Zahl der Weizenfarmen ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten stark zurückgegangen, weil viele US-Landwirte auf profitablere Produkte wie Sojabohnen und Mais umsteigen. Die Zahl der Weizenfarmen in den USA ist laut Volkszählungsdaten seit 2002 um mehr als 40 Prozent zurückgegangen", rechnet Nathan Owens in einer Analyse für das Fachmagazin "Agriculture Dive" vor.

Falls die Mehrheit der US-Farmer für Donald Trump stimmt, sei das aber zu kurz gedacht, meint Michael McDougall. "Die Landwirte scheinen ein kurzes Gedächtnis zu haben", sagte der Managing Director bei Paragon Global Markets gegenüber Bloomberg. "Er hat einen Handelskrieg mit China losgetreten, der den US-Bauern eine Zeit lang geschadet hat, weil China weniger US-Agrargüter importierte. Dann musste Trump die US-Farmer entschädigen."

Damals ließ Trump rund 28 Milliarden Dollar für die US-Landwirte springen, um die Folgen seines Handelsstreits mit China abzumildern. Das trug dazu bei, dass das Nettoeinkommen der US-Landwirte im Jahr 2020 auf ein Siebenjahreshoch kletterte.

Trotzdem dürfte auch vielen US-Farmern klar sein, dass auch zweistellige Milliardenhilfen nicht ausreichen würden, wenn Trump bei einer Wiederwahl seine Pläne umsetzt. Im August hatte er angekündigt, als wiedergewählter Präsident einen Zoll von 10 Prozent auf alle in die USA eingeführten Waren zu verhängen. Die möglichen Vergeltungsmaßnahmen anderer Länder und der Schaden für amerikanische Exporte ließe sich dann aber wohl kaum noch kompensieren.

Weizenernte im Bundesstaat Rajasthan (Indien)
Indien - hier die Ernte von Weizen im Bundesstaat Rajasthan - ist die weltweite Nummer Drei der Weizenproduzentennull abaca/picture alliance

Wettereinflüsse als zentraler Faktor

Entscheidend sind die weiteren Wetterbedingungen für die künftige Ernte. Wie einschneidend Wettereinflüsse sein können, zeigt das Beispiel Argentiniens, dessen Weizenexporte von 17,65 Millionen Tonnen im Jahr 2021/22 auf nur noch 4,68 Millionen Tonnen 2022/23 einbrachen. Der Grund: Übermäßige Trockenheit und eine späte Frostperiode. Während Argentinien traditionell vor allem in andere lateinamerikanische Länder exportiert, gehen in guten Erntejahren Millionen Tonnen Weizen nach Asien. Künftig sollen die Exporte besonders nach China hochgeschraubt werden, berichtet die Fachzeitschrift "Miller Magazine".

China nimmt auf dem internationalen Weizenmarkt eine einzigartige Position ein. Das Reich der Mitte ist gleichzeitig weltweit größter Weizenproduzent und seit 2022/23 größter Importeur. Dabei ist China trotz seiner beträchtlichen einheimischen Produktion von rund 137 Millionen Tonnen weiterhin auf erhebliche Mengen an internationalen Weizenlieferungen angewiesen. Das gilt sowohl für den Lebensmittel- als auch für den Futtermittelverbrauch. Seit 2020/21 importiert China im Durchschnitt rund zehn Millionen Tonnen.

"Die heimische Produktion hatte im laufenden Wirtschaftsjahr mit Problemen zu kämpfen, die auf übermäßige Nässe zurückzuführen sind, was zu einer geringeren Produktion und einem höheren Anteil an Weizen in Futtermittelqualität führte", schreibt das "Miller Magazine". Während vor allem Australien, Kanada, Frankreich, die USA und Kasachstan die wichtigsten Quellen für Chinas Weizenimporte waren, habe sich China in den letzten Jahren aber aktiv um eine Diversifizierung seiner Lieferanten bemüht.

Russland spielt dabei als größter Weizen-Exporteur der Welt für Peking eine immer wichtigere Rolle. Hinzu kommen verstärkt Weizen-Handelspartner wie Argentinien.

Feld mit reifen Winterweizen und Mähdrescher im Sonnenlicht im Bundesland Niedersachsen.
In Deutschland werden rund 21 Millionen Tonnen Weizen pro Jahr geerntet. Hier auf einem Feld im Bundesland Niedersachsen null Martin Wagner/IMAGO

China auf dem Weg zu einer größeren Weizenernte

Die Rohstoff-Experten berufen sich dabei auf Berichte der chinesischen Wetterbehörde von Anfang März. Danach hätten Schneefälle in den wichtigsten Winterweizenanbaugebieten des Landes zwischen Januar und Februar die Bodenfeuchtigkeit erhöht. Die meisten Pflanzen hätten die Winterruhe sicher überstanden. Dazu seien in Teilen der Weizenanbau-Regionen Jianghuai und Jiangnan nur geringe Frostschäden zu erwarten, berichtet S&P Global Commodity Insights. Das Wachstumsstadium der Ernte sei weitgehend gleich oder besser als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. 2023 war ein beträchtlicher Teil der Weizenernte durch unvorhergesehene sintflutartige Regenfälle beschädigt worden und nur noch als Futterweizen zu gebrauchen.

"Insgesamt muss man aber schon ein bisschen vorsichtiger sein, wenn man sich die Weizenbilanz fürs kommende Jahr anschaut", warnt Thorsten Tiedemann vor zu viel Optimismus. Die Lage hätte sich zwar durch die guten Lagerbestände aus der letzten Ernte und die laufenden Exporte aus der Ukraine deutlich entspannt.

"Ich gehe davon aus, dass wir 2024/25 gegenüber den Vorjahren in den Exportursprungsländern einen Bestandsabbau haben werden. Grund dafür sind teilweise kleinere Ernteerwartungen und ein wieder etwas anziehender Verbrauch durch die niedrigeren Preise."

Man könne davon ausgehen, so der Hamburger Getreide-Experte, dass sich die Preise auch "wieder explosiv nach oben" entwickeln könnten, wenn es irgendwo zu Ernteausfällen oder Schlechtwetter-Nachrichten kommt."

Als Beispiel nennt Tiedemann eine schlechte Ernte in der Europäischen Union. "Beispielsweise, wenn es in Frankreich einen trockenen Mai oder Juni geben würde. Ich glaube, dann könnte der Markt auch wieder extrem nervös reagieren, weil wir dann bei schon durchschnittlichen Ertragserwartungen perspektivisch auf geringere Weizenbestände zufahren. Jetzt ist die Situation noch auskömmlich, aber das muss nicht so bleiben."

Wahlen in Südkorea: Befreiungsschlag für Präsident Yoon?

Beim Machtkampf mit streikenden Ärzten zeigt Südkoreas Präsident Yoon Suk-yeol Stärke. Tausende von Assistenzärzten verließen Ende Februar aus Protest ihre Arbeitsstellen in Krankenhäusern. Darauf reichten Patienten über 2.000 Beschwerden ein, weil ihre Operationen und andere Behandlungen verschoben, abgesagt oder abgelehnt wurden. Trotz des Streiks und seiner Folgen hielt Yoon an seinem Plan fest, die Zahl der jährlichen Zulassungen zum Medizinstudium von 3.000 auf 5.000 zu erhöhen. Wegen der rasch wachsenden Zahl von Senioren brauche Südkorea mehr Ärzte, argumentiert der Präsident.

Die Mehrheit der Südkoreaner steht Umfragen zufolge hinter seinem Vorstoß. Aber die fortdauernde Konfrontation geht vielen Bürgern zunehmend auf die Nerven. Diese negative Stimmung mindert die Aussicht der konservativen People Power Party (PPP) von Yoon, bei der Parlamentswahl am 10. April nach mehrjähriger Durststrecke die Mehrheit der Sitze von der oppositionellen Demokratischen Partei (Minju) zurückzugewinnen. Yoon bliebe dann bis zum Ende seiner Amtszeit in seinen politischen Gestaltungsmöglichkeiten deutlich eingeschränkt. "Falls die Demokratische Partei ihre starke Stellung behält, wäre sichergestellt, dass Yoons Innenpolitik für den Rest seiner Amtszeit wenig bis keine parlamentarische Unterstützung erfährt", meint Kayla Orta, Korea-Expertin am Wilson Center in Washington.

Politischer Stillstand

Bereits in seinen ersten zwei Amtsjahren nach seinem Wahlerfolg im März 2022 konnte der Präsident viele Gesetzesvorhaben nicht durchsetzen, weil seine PPP keine Mehrheit im Parlament besitzt. Seine Reformpläne für das Bildungs-, Renten- und Arbeitssystem blieben weitgehend stecken. Zugleich musste der 63-Jährige mehrmals ein Veto gegen Gesetze einlegen, die die Opposition mit ihrer Mehrheit beschlossen hatte. Dazu gehörten ein Gesetz, das die Schadenersatzansprüche von Unternehmen bei gewerkschaftlichen Streitigkeiten einschränkt, und ein Gesetz, das eine Sonderuntersuchung der Halloween-Katastrophe mit 159 Toten forderte.

Südkorea | Präsidentschaftswahlen | Yoon Suk-yeol wird neuer Präsident
Damals war seine Freude noch groß: Yoon Suk-yeol gewann die Präsidentschaftswahlen am 9. März 2022null Jung Yeon-je/AFP

Angesichts seiner innenpolitischen Beschränkungen konzentrierte sich Yoon auf Außenpolitik und Diplomatie. Aber auch hier konnte er kaum Meriten ernten. Die Bewerbung der Hafenstadt Busan um die Expo 2030 floppte, ein globales Pfadfindertreffen endete im Chaos. Seine Annäherung an Japan durch die Gründung eines eigenen Fonds für Zwangsarbeiter in der japanischen Kolonialzeit und seine indirekte Zustimmung zur Einleitung von Tritium-Wasser aus dem AKW Fukushima in den Pazifik wurden teilweise scharf kritisiert.

Bei der wahlentscheidenden Innenpolitik schneide die Regierung von Yoon in den Augen der Wählerschaft schwächer ab, schrieb das Südkorea-Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung in einer Analyse. Zu Yoons innenpolitischen Schwachstellen gehören Korruptionsvorwürfe, der wachsende Einfluss der Konglomerate wie Samsung, die hohen Lebensmittelpreise, die Wohnungsknappheit, die Benachteiligung der Frauen und die niedrige Geburtenrate. Regierungs- wie Oppositionspartei versprechen, diese Probleme durch mehr staatliche Hilfen anzupacken.

Neugründungen von Kleinparteien

Die Blockade im Parlament führte dazu, dass sowohl die Regierung Yoon als auch die oppositionelle Demokratische Partei bei den Bürgern auf große Ablehnung stoßen. Zugleich kam es in den beiden großen Parteien zu internen Fehden, Rücktritten, Austritten und Neugründungen von Parteien. Deren Strategie zielt auf das gemischte Verhältniswahlsystem, über das auch Kleinparteien Sitze gewinnen können. Im Januar rief Lee Jun-seok, Ex-Vorsitzender der People Power Party, die New Reform Party ins Leben, um gegen die angeblich cliquenhafte Parteiführung der Pro-Yoon-Fraktion zu protestieren.

Südkorea | Südkoreas Präsident Yoon Suk Yeol im Parlament
Parlamentsplenum in Seoul: Der Präsident hat dort keine Mehrheit. null Jeon Heon-Kyun/AP/picture alliance

Die Demokratische Partei steht vor einer ähnlichen Herausforderung. Ebenfalls im Januar hob Lee Nak-yon, Ex-Premierminister unter dem vorigen Präsidenten Moon Jae-in, die Neue Zukunftspartei aus der Taufe. Des Weiteren tritt die National Innovation Party an, eine Anfang März entstandene neue liberale Partei. Ihr Gründer, Ex-Justizminister Cho Kuk, fischt im Wählerreservoir der Demokratischen Partei. Die neuen Gruppen wollen die 54 Sitze erobern, die nach Parteienproporz vergeben werden. Die übrigen 246 Sitze werden dagegen direkt gewählt.

Wahlumfragen bleiben im Trüben

Eine Woche vor dem Wahltag lag die Demokratische Partei (DP) laut den Meinungsforschern von RealMeter mit 43 Prozent vor der konservativen People Power Party mit 35 Prozent in Führung. Gemäß einer anderen Umfrage von Gallup Korea unterstützen 37 Prozent der Befragten die PPP und 29 Prozent die DP. Die National Innovation Party von Cho Kuk folgt bei Gallup mit 12 Prozent auf Rang 3. Beobachter schätzen den Anteil der Wechselwähler auf 30 Prozent, so dass Überraschungen durchaus möglich sind.

Als das wahrscheinlichste Ergebnis nennt Dozent James Kim an der Columbia University ein Szenario, bei dem die Demokratische Partei als Hauptopposition Sitze verliert, aber sich die Machtverhältnisse nicht grundlegend ändern. "Das heißt, die Konservativen könnten Sitze gewinnen oder vielleicht sogar die Mehrheit kontrollieren, die Nationalversammlung bleibt gespalten und erfordert eine überparteiliche Zusammenarbeit und Kompromisse für Gesetzesvorhaben", erläutert Kim. Das zweite Szenario sei, dass die neue liberale National Innovation Party mit Hilfe von Wechselwählern zur dritten Kraft wird. Bei einem Erfolg dürfte sie jedoch eher die linksliberale Demokratische Partei unterstützen.

Nord- und Südkorea – siebzig Jahre im Kalten Krieg

"De-Risking" im China-Geschäft: Abschied von der Globalisierung?

Mulfingen ist eine kleine Gemeinde im fränkisch geprägten Nordosten von Baden-Württemberg. Die Gegend wird von Kennern oft “Tal der Lüfter” genannt: Denn hier haben sich besonders viele Ventilatorhersteller niedergelassen. Während in Mulfingen nur weniger als 4000 Einwohner leben, betreiben die hier und in den Nachbargemeinden ansässigen Unternehmen weltweite Geschäfte. 

EBM-Papst ist eines davon: "Als globales Unternehmen sind wir weltweit aufgestellt, haben über 30 Vertriebsniederlassungen in den wichtigsten Ländern der Welt,” erzählt Thomas Nürnberger, Vertriebschef der Firma im Gespräch mit DW.  

Etwa zwei Drittel der insgesamt 15.000 Mitarbeitenden sind am Standort China beschäftigt. Wie viele andere mittelständische Firmen in Deutschland ist auch EBM-Papst auf China ausgerichtet - seit fast 30 Jahren. Es ist mittlerweile nicht nur der bedeutendste Absatzmarkt, sondern auch der wichtigste Produktionsstandort für die gesamten Lieferketten. "Wir kommen noch aus einer Zeit der Globalisierung, als wir weltweite Lieferketten etablierten. Momentan beziehen wir am chinesischen Standort etwa 30 Prozent des Materials aus Europa. Hier in Deutschland kommen ungefähr 20 bis 30 Prozent aus nicht-europäischen Ländern wie China.” 

Genau dieses Hin-und-Herschicken der Bauteile müsse sich ändern, sagt Vertriebschef Thomas Nürnberger, der auch für den Standort China zuständig ist: "Seit einigen Jahren versuchen wir, die Lieferketten zu entflechten. Grundsätzlich wollen wir in China für China fertigen. Wir wollen dort in den nächsten zwei Jahren eine Lokalisierungsrate von 95 Prozent erreichen.” 

Weltweite Lieferketten als Risikofaktor

„Lokal für Lokal" heißt die neue Strategie des Ventilatorherstellers. Überall soll lokal beliefert, gefertigt und verkauft werden, um die Risiken der bisherigen weltweiten Lieferketten zu reduzieren. "Wir haben durch die Zeitenwende gelernt, dass weltweite Lieferketten und sonstige wirtschaftliche Abhängigkeiten letztlich nicht unbedingt stabilisierend wirken können", meint auch Jürgen Matthes, China-Experte im Institut für Wirtschaft in Köln im DW-Interview und warnt: "Diese könnten zur Erpressbarkeit führen”. Das gelte für Unternehmen und auch für die Politik. 

Abkoppeln von China? - Lieber nicht ganz

Aus diesem Grund plädiert die Bundesregierung in ihrer China-Strategie, die im letzten Sommer veröffentlicht wurde, für "De-Risking”- also die Reduzierung des Risikos. Unternehmen müssten sich demnach zwar nicht von ihren lukrativen China-Geschäften abkoppeln, aber mögliche Risiken genau in den Blick nehmen. Auch EBM-Papst hat Planungen für verschiedene Risiko-Szenarien entwickelt, erzählt Thomas Nürnberger: "Unsere Produktionslinien können beispielsweise innerhalb von zwei bis drei Monaten von China nach Indien verlagert werden, auch wenn wir aktuell nicht damit rechnen.” 

Noch immer mehr China-Geschäfte 

Dieser radikale Notfallplan würde wohl nur bei extremen Fällen wie dem Ausbruch eines Krieges zwischen kommunistischen China und der demokratisch regierten Insel Taiwan aktiviert werden. Momentan denke die Firma nicht über eine Reduzierung oder gar die Schließung der China-Geschäfte nach, betont der China-Chef von EBM-Papst. Im Gegenteil: Gerade Ende März eröffnete die Firma in Shanghai ihre neue Asien-Zentrale. Die China-Geschäfte sollen damit autarker werden. Risiken würden sich damit reduzieren. 

Klaus Geißdörfer, CEO von EBM-Papst, erklärt gegenüber der DW das strategische Ziel: "Mit Blick auf die neue Zentrale in Shanghai haben wir auf jeden Fall unsere Organisation in China so vorbereitet, dass wir jederzeit das chinesische Unternehmen von uns und von der restlichen Welt abtrennen können - innerhalb sehr kurzer Zeit. Darauf sind wir schon vorbereitet.” 

Auch getrennte Lieferketten lösen das Problem nicht vollständig

Tatsächlich wollen viele deutsche Unternehmen in diese Richtung gehen, bestätigt der auf China spezialisierte Ökonom Jürgen Matthes. "Wir sehen, das China-Geschäft für sich scheint bei vielen Unternehmen schon viel stärker auf eigene Füße gestellt zu werden. Das ist offenbar möglich.”  

Mit solchen Plänen werden deutsche Unternehmen längst noch nicht risikofrei. Wie die Firmenchefs von EBM-Papst erklären, kann die Abkoppelung höchstens bis auf 95 Prozent erhöht werden. Diese fünf Prozent "Restrisiken” dürfe man allerdings nicht unterschätzen, warnt Jürgen Matthes. "Möglicherweise ist es an manchen Stellen schwierig, anderweitig Ersatz zu finden.” Die entscheidende Frage sei, was passieren könnte, sollte der Kriegsfall eintreten. "Vorher müsste man als Unternehmer entweder viele Produkte aus China als Vorleistung hier nach Deutschland importieren, oder europäische Lieferanten schon in der Hinterhand halten, damit man kurzfristig Ersatz findet.” 

Jürgen Matthes bezweifelt jedoch, dass das mit europäischen Ersatzlieferern überhaupt möglich ist. Denn viele Unternehmen beklagen in Umfragen, "dass es bei einer ganzen Reihe von Produkten, die sie aus China beziehen, sehr schwierig ist, Ersatz zu finden.” 

Auf die Frage, wie es in Mulfinger Fabrik der EBM-Papst aussehen würde, falls plötzlich ein Krieg um Taiwan ausbräche, hat auch der Unternehmenschef Klaus Geißdörfer noch keine Antwort: "Das kann ich heute noch nicht sagen.” 

Chinas Militärmanöver vor Taiwan | Vorbereitungen Taiwans
Gefahr eines militärischen Konflikts zwischen Peking und Taipeh: ein taiwanesischer Soldat überwacht das Meer null Taiwan's Ministry of National Defense/AFP

 Trotz "De-Risking" bleibt die Abhängigkeit 

Der Bundestagsabgeordnete und China-Experte der Unionsfraktion, Nicolas Zippelius, sieht ein noch größeres Problem bei De-Risking-Plänen deutscher Unternehmen im China-Geschäft: "Wenn nun mehr in China investiert wird, könnte die Abhängigkeit nur teilweise minimiert werden. Darin sehe ich ein Problem. Ich sehe aber, dass manche Unternehmen ihren Standort nach China verlagern und dort noch größere Investitionen durchführen, weil es lukrativer ist als hier in Deutschland oder in der EU.”  

Laut einer Umfrage der deutschen Auslandshandelskammer in China (AHK) im Januar plant etwa die Hälfte ihrer Mitgliedsunternehmen, in den nächsten zwei Jahren ihre Investitionen in China zu erhöhen. In einem Interview mit der chinesischen staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua sagte AHK-Chef Maximilian Butek, viele deutsche Geschäftsleute seien sogar der Ansicht, dass "das größte Risiko darin besteht, nicht in China zu sein und dadurch die globale Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren". 

Im DW-Interview merkt der CDU-Politiker Nicolas Zippelius an, dass "es beim Thema De-Risking um mehr als nur die reine Unternehmenssicht geht.” Es müsse dringend der "Standort Deutschland oder Europa wieder attraktiver gemacht werden, damit Unternehmen endlich mehr hier bei uns investieren.” 

Firmenchef: Abschied von der Globalisierung

Das sehen die Firmenchefs von EBM-Papst ähnlich. Die ursprüngliche Idee der Globalisierung sei gewesen, dass man globale Netzwerke aufbaute, um Orte zu verbinden, wo die besten Kostenfaktoren zu finden sind. "Von dem Bild verabschieden wir uns mehr und mehr,” betont Klaus Geißdörfer gegenüber der DW. Er hofft, dass sich die "Lokal für Lokal”-Strategie langfristig auszahlen könnte. 

Für den Standort Mulfingen bedeutet das: Künftig kommen weniger Bauteile aus China und die Produkte werden mehr auf europäische Kunden ausgerichtet.