Manuskript

Der Kulturzug – eine Reise der besonderen Art

Der Kulturzug von Berlin nach Breslau (Wroclaw) in Polen ist kein gewöhnlicher Zug. Denn den Reisenden wird auf der Fahrt ein abwechslungsreiches Kulturprogramm geboten: Es gibt Konzerte, Lesungen, eine Bibliothek und sogar eine Disko. Ziel des Projekts ist es, Deutsche und Polen miteinander ins Gespräch zu bringen. Sie treffen sich, tauschen sich aus und begegnen sich. Bei den Fahrgästen kommt das Projekt gut an.

SPRECHER:
Partystimmung – aber nicht in einem Club, sondern in einem Zug: Die Fahrt mit dem Kulturzug Berlin-Breslau ist eine Reise der besonderen Art. Nur am Wochenende gibt es diese direkte Verbindung zwischen den beiden Städten. 19 Euro kostet eine Fahrt. In viereinhalb Stunden kommen die Fahrgäste nicht nur dem Zielort näher. Sie können auch eine Menge über die deutsch-polnische Vergangenheit erfahren. Eine der Organisatorinnen ist Natalie Wasserman. Der Berlinerin mit polnischen Eltern ist der Austausch beider Länder wichtig.''

NATALIE WASSERMAN (Mitorganisatorin Kulturzug):
Also, der Kulturzug bietet einfach wunderbare Anlässe, tatsächlich miteinander ins Gespräch zu kommen – und zwar nicht nur hautnah mit den Künstlern, ja, sondern auch miteinander.

SPRECHER:
An Bord gibt es ein Kulturprogramm, an dem schon mehr als 300 Künstler mitgewirkt haben. Diesmal tritt die Kontrabassistin Maike Hilbig auf, die eine Lesung musikalisch untermalt. Eine rollende Bibliothek bietet den Reisenden viel Lesestoff zur Vergangenheit Deutschlands und Polens. Und eine Dauerausstellung an den Sitzen zeigt Lebenswege deutscher und polnischer Breslauer.

MAGDALENA ZAWILSKA (Fahrgast):
Also, ich denke, das ist sehr wichtig, dass es diese Verbindung jetzt durch den Zug zwischen Wroclaw und Berlin gibt. Dadurch gibt es [die] Möglichkeit, sich kulturell auszutauschen, und das ist ein sehr guter Weg, die auch teilweise gemeinsame Geschichte zu bearbeiten, besser [zu] verstehen und auch die Zukunft neu [zu] gestalten.

SPRECHER:
Das Konzept kommt an. Viele hier sind auf Spurensuche.

KEVIN DAGAGAZYNSKI (Fahrgast):
Polen spielt schon ’ne gewisse Rolle auch in unserer Familie. Auch wenn wir jetzt keinen wirklich richtigen biografischen Ursprung haben, also schon viele Generationen unser Name zurückliegt. Aber zumindest habe ich ’ne gewisse Nähe, ohne zu wissen, wie die Nähe eigentlich aussieht. Von daher bin ich ja interessiert.

LAURA BEUTEL (Fahrgast):
Meine Großmutter ist in Schlesien geboren an der polnisch-tschechischen Grenze und hat dort die ersten zehn Jahre gelebt und ist dann eben nach Deutschland gekommen. Und deswegen, weil ich, glaube [ich], noch nie selber auch in Polen war, war das auch ’n Grund für mich, eben dorthin zu fahren und mal zu gucken.

SPRECHER:
Der Kulturzug wurde 2016 ins Leben gerufen, als Breslau Europäische Kulturhauptstadt war. 2017 bekam er einen Kulturmarken-Award als „Trendmarke des Jahres“. Autor Wolf Kampmann hält hier oft Lesungen.

WOLF KAMPMANN (Schriftsteller und Musikjournalist):
Dieser Zug ist ja nicht nur ein Zubringer wie andere Züge. Also, man setzt sich nicht nur rein, um von einer Stadt in die andere zu gelangen, sondern um auf die Stadt eingestimmt zu werden.

SPRECHER:
Ankunft in Breslau: Überall in der Stadt findet man Spuren der deutschen Vergangenheit. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs ist Breslau ein Teil Polens. Wolf Kampmann hat einen Roman geschrieben, der auf der Geschichte der Stadt basiert.

WOLF KAMPMANN:
Bis 1945 war Breslau eine nur deutsche Stadt. Von 1946 bis in die 90er-Jahre war es eine nur polnische Stadt gewesen. Und es ist relativ neu, dass erst in den letzten Jahren ein Bewusstsein dafür entstanden ist, dass es eine Stadt mit einer deutschen und einer polnischen Geschichte ist und man es jetzt als deutsch-polnische Stadt und auch als Begegnungsstätte von Deutschen und Polen begreifen kann, ohne dass immer gleich dieser revanchistische Hintergedanke aufkommt.

SPRECHER:
Wolf Kampmann wird erst am nächsten Tag mit dem Kulturzug nach Berlin zurückfahren. Auf die Gäste, die sich jetzt schon auf den Weg machen, wartet an Bord eine „Silent Disco“. Über Kopfhörer bekommen sie die Musik direkt auf die Ohren. Im Rhythmus vibrierende Gürtel ersetzen den Bass.

OLEKSII MARCHENKO (Fahrgast):
Ich spüre für mich, dass die Zukunft da ist. Ich spüre, dass wir offen sind und dass wir uns in die richtige Richtung bewegen. Und das macht mich glücklich. Ja, wirklich. Alle hier vereint zu sehen, stimmt mich fröhlich.

SPRECHER:
Mehr als 30.000 Gäste haben den Kulturzug schon genutzt.

NATALIE WASSERMAN:
Also, der Kulturzug bringt tatsächlich Zug um Zug die Leute näher zueinander – ohne Komplikationen, einfach auf ’ner sehr, sehr lebendigen, spielerischen Ebene, wo es einfach nicht darum geht, dass man sich als Nation begegnet, sondern als Menschen auf der Basis der Kultur und auf der Basis des Austauschs.

SPRECHER:
Die Organisatoren wollen das Projekt auf zusätzliche europäische Verbindungen ausweiten – für mehr gegenseitiges Verständnis und ein offeneres Europa.