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Ukraine: Alles außer Waffen

8. Februar 2022

Weil Berlin keine Waffen liefert, zeigen sich die ukrainischen Eliten zusehends frustriert. Dabei sind die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Ukraine und Deutschland so eng wie mit keinem anderen EU-Land.

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Aktionen für Unterstützung der Ukraine und Warnung an Europa
Aktion zur Unterstützung der Ukraine in DresdenBild: Dmytro Itkin/DW

Einen Erfolg kann der russische Präsident Wladimir Putin in der Russland-Ukraine-Krise schon jetzt für sich verbuchen: Die in den vergangenen Jahren guten deutsch-ukrainischen Beziehungen leiden. Denn der Frust bei den ukrainischen Eliten sitzt tief: Wegen der umstrittenen Gaspipeline Nord Stream 2 und auch weil Deutschland keine Waffen an die Ukraine liefert.

Zusätzlich gibt es Diskussionen darüber, wie viel Unterstützung Deutschland dem Land seit den pro-europäischen Maidan-Umbrüchen, der "Revolution der Würde", vor sieben Jahren gegeben hat. Anfang Februar machte Bundeskanzler Olaf Scholz die Rechnung auf, um Kritik aus Kiew zu kontern: Knapp zwei Milliarden Euro Direkthilfen seien von Deutschland in die Ukraine geflossen, seitdem sich die Ukrainer für demokratische Wahlen, einen pro-europäischen Kurs und gegen ihre 2014 gestürzte Kreml-freundliche Regierung ausgesprochen hatten.

Hinzu kämen 3,8 Milliarden Euro von der Europäischen Union, wo Deutschland der größte Nettozahler ist. Mehr noch: Scholz erklärte, man diskutiere mit den USA darüber wer tatsächlich "mehr Hilfen" an die Ukraine seit 2014 gegeben habe - also die USA, die jetzt Waffen liefern oder Deutschland. Die ukrainische Regierung beziffert die aktuelle "militärische Verteidigungshilfe" aller Partnerländer auf 1,5 Milliarden US-Dollar (1,3 Milliarden Euro). 

Waffen zur Selbstverteidigung

Und das hat im Moment ganz offensichtlich Priorität in Kiew. Der ukrainische Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk, kritisierte in einem Hörfunk-Interview des Deutschlandfunks, ihm gegenüber habe niemand erläutern können, wie sich die Hilfen aus Deutschland seit der Maidan-Revolution aufschlüsselten.Er gehe davon aus, dass Deutschland seinem Land seit 2014 rund 771 Millionen Euro als "Entwicklungshilfe" gegeben habe. Und damit "steht die Ukraine auf dem Platz Nummer 13 hinter Kongo und vor Tunesien", sagte der Botschafter in dem Radiointerview. "Wir schätzen die Hilfe, die wir aus Deutschland erhalten haben. Keine Frage, wir sind dafür sehr dankbar", so Melnyk, nur müsse alles in Relation gesetzt werden. Der Frust sitzt tief - ganz offensichtlich.

Dr Andrij Melnyk Botschafter der Ukraine
Der ukrainische Botschafter in Deutschland: Andrij MelnykBild: Susanne Huebner/imago Images

Die Ukraine verweist bei ihrer Forderung für Verteidigungswaffen auf die noch von der Vorgängerregierung der Berliner Ampelkoalition aus SPD, Bündnis90/Die Grünen und FDP ausgearbeiteten Export-Grundsätze für das Wirtschaftsministerium des Landes. Dort heißt es, "Exporte in Länder, die in bewaffnete Auseinandersetzungen verwickelt sind", sollten nicht stattfinden außer, es liege "ein Fall des Artikels 51 der UN-Charta" vor. Der Artikel regelt das Recht jeden Staates auf Selbstverteidigung.

Ukraine-Konflikt
Ukrainischer Mannschaftstransporter an der Kontaktlinie im DonbassBild: Vadim Ghirda/dpa/AP/picture alliance

Mehr als Worte und Ratschläge gefordert

Darauf bezieht sich auch der in Deutschland wohl bekannteste Ukrainer: der Bürgermeister der Hauptstadt Kiew und frühere Profiboxer Vitali Klitschko. Er verstehe, dass Deutschland keine Waffen an ein "aggressives Land liefert. Aber es ist doch etwas ganz anderes, wenn man sich verteidigen will", sagt Klitschko in einem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit und Botschafter Melnyk sekundiert: "Es kommt darauf an, dass uns mit Defensivwaffen geholfen wird und nicht nur mit schönen Worten oder Ratschlägen."

Die Formulierung hat einen tieferen Sinn: Tatsächlich hilft Berlin seit der Maidan-Revolution der Ukraine mit hunderten Beraterverträgen und Hilfsprogrammen, seinen Europakurs zu halten. In Kiewer Hotels geben sich vor allem Wirtschaftsexperten aus Deutschland die Klinken in die Hand. Über den Internationalen Währungsfonds hilft Berlin seit 2014, die Volkswirtschaft der Ukraine und die heimische Währung Griwna zu stabilisieren. Hilfen, ohne die Kiew wohl schon längst eine Währungsreform hätte einläuten müssen.

Ukraine Kiew Nahansicht der vergoldeten Türme
Mariä-Himmelfahrt-Kloster in Kiew am Westufer des DneprBild: DW

Hilfen für die Zivilgesellschaft

Nach Angaben des Auswärtigen Amtes hat Deutschland seit 2014 die Ukraine bilateral "insgesamt mit über 1,8 Milliarden Euro unterstützt". Demnach ergänzten "Projekte von zum Beispiel politischen Stiftungen, Verbänden und Nichtregierungsorganisationen die staatlichen Maßnahmen", teilt das deutsche Außenministerium mit. Auf diese Zahl bezog sich ganz offensichtlich auch Bundeskanzler Scholz zuletzt in seinem Fernsehinterview.

Finanziert werden auch Reformprojekte "mit der Zivilgesellschaft in den Ländern der Östlichen Partnerschaft und Russland". Bei der Hälfte dieser mehr als 200 Projekte seien Ukrainerinnen und Ukrainer beteiligt. Dazu zähle auch die Hilfe für den Aufbau eines "unabhängigen Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks" in der Ukraine und die Stärkung des Jugendaustausches.

Detailliert wird in einer Übersicht des deutschen Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung aufgezählt: 350 Kindergärten und 50 Schulen seien mit deutscher Hilfe renoviert worden. Insgesamt 300 Millionen Euro flossen demnach seither aus Deutschland “zur Stärkung der Ost-Ukraine”. Das helfe vor allem Binnenflüchtlingen aus den besetzten Gebieten. Auch in Zukunft soll weiter Geld fließen: Ende 2021 habe sich die Bundesregierung mit der Führung in Kiew auf weitere Hilfen über 96,5 Millionen Euro geeinigt “für die Stabilisierung der Ost-Ukraine, die Umsetzung des EU-Assoziierungsabkommens, Energieeffizienz, Gute Regierungsführung und Berufsbildung”. 

Handelsbilanz auf Vor-Pandemie-Niveau

Tatsächlich engagiert sich Deutschland mehr in der Ukraine als jedes andere Land der Europäischen Union. Das liegt in der Natur der Sache - es ist das bevölkerungsreichste Land im EU-Gefüge der 27 Mitgliedsstaaten. Und das zeigt sich besonders in den deutsch-ukrainischen Wirtschaftsbeziehungen: Die erweisen sich als überraschend robust selbst seit Beginn des aggressiven russischen Truppenaufmarsches in der Nachbarschaft der Ukraine. Das Interesse deutscher Unternehmerinnen und Unternehmer, in der Ukraine Geschäfte zu machen, ist ungebrochen: "Wir hatten noch nie so viele Anfragen wie in den letzten Monaten", sagt Alexander Markus, der Vorsitzende der Deutsch-Ukrainischen Industrie- und Handelskammer in Kiew, im Gespräch mit der DW. Mehr noch: 2021 erholte sich die Handelsbilanz zwischen Deutschland und der Ukraine in nur einem Jahr vollständig von dem Einbruch durch die Covid-19-Pandemie im Vorjahr, so Markus.

Ukraine | Lebensmittelgeschäft in Kiew
Deutschland und die Ukraine verbinden intensive HandelsbeziehungenBild: Maxym Marusenko/NurPhoto/picture alliance

Es liegt jetzt wieder bei 7,7 Milliarden Euro und damit fast so hoch wie zwischen Deutschland und dem ukrainischen Nachbarland und EU-Mitglied Rumänien, das etwa halb so viele Einwohner hat wie die Ukraine. Die Ukraine exportierte Waren und Dienstleistungen im Wert von 2,8 Milliarden Euro nach Deutschland. Deutsche Unternehmen machten in der Ukraine Geschäfte im Wert von 4,9 Milliarden Euro. Also auch die wirtschaftliche Vernetzung zwischen der Ukraine und Deutschland ist so stark wie mit keinem anderen Land in der Europäischen Union. Rund 2000 deutsche Firmen sind nach den Zahlen der Handelskammer in der Ukraine aktiv. Sie machen gute Geschäfte in der Ukraine und liefern alles Mögliche, was die deutsche Industrie so produziert – aber eben keine Waffen.

Dieser Text wurde am 10. Februar 2022 aktualisiert.