In der Pressestelle des Generalbundesanwalts herrscht dieser Tage Hochbetrieb: "Festnahme wegen mutmaßlicher geheimdienstlicher Agententätigkeit" wird eine Mitteilung vom 23. April überschrieben. Exakt die gleiche Überschrift hat eine Pressemeldung vom Tag zuvor. In beiden Fällen sollen die insgesamt vier Beschuldigten - drei Männer und eine Frau - für China spioniert haben.
Und in einer Nachricht vom 18. April geht es um zwei Männer, die im Auftrag Russlands Anschläge auf militärische Ziele in Deutschland geplant haben sollen. In der Titelzeile heißt es: "Festnahmen u. a. wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit und Mitgliedschaft in der ausländischen terroristischen Vereinigung 'Volksrepublik Donezk' (VRD)".
In Politik und Medien führen die Festnahmen zu besorgten Kommentaren. Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Konstantin von Notz ist alarmiert: "Wir müssen endlich verstehen, dass es hier um eine maximal ernste und durchaus reale Bedrohung unserer Sicherheit geht", betont der Vorsitzende des Parlamentarischen Kontrollgremiums für die Geheimdienste. "Als wehrhafte Demokratie müssen wir sowohl in der Strafverfolgung, aber auch bei der Aufdeckung der Strukturen und Netzwerke durch alle Sicherheitsbehörden schnell und entschlossen agieren."
Dass genau dies gerade geschieht, macht der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), Thomas Haldenwang, im DW-Interview deutlich: "Wir haben diese Ermittlungen initiiert. Und nachdem die Beweislage dann eindeutig war, konnten wir diesen Fall an die Polizei und die Staatsanwaltschaften abgeben."
Für den Chef des deutschen Inlandsgeheimdienstes ist die aktuelle Entwicklung keine Überraschung. Was seine Behörde China zutraut, ist im 2023 veröffentlichten Verfassungsschutzbericht nachzulesen: "Die globalen Ambitionen Chinas werden mit einem generellen Streben nach immer mehr Macht zur Ausgestaltung des eigenen Gestaltungs- und Führungsanspruchs verfolgt und lassen eine weitere Intensivierung der Spionageaktivitäten wie auch der Einflussnahmeaktivitäten durch staatliche Akteure erwarten."
Über das Gefährdungspotenzial sprach der BfV-Präsident auch auf einem Symposium des Verfassungsschutzes in Berlin, das am Tag der Festnahme von drei mutmaßlichen Spionen stattfand. China habe Zeit, antwortete Haldenwang auf die Frage der DW, welche Strategie das Land bei der Spionage verfolge: "Bis 2049 will man die politische, militärische, wirtschaftliche Macht Nummer eins auf dem Globus sein. Dieses Ziel verfolgt man kontinuierlich - mit legalen Mitteln, aber eben auch mit illegalen Mitteln."
Beispielhaft sei der Einsatz von chinesischen Gastwissenschaftlern und Studierenden an deutschen Universitäten. "Diese Personen sind verpflichtet, Informationen an den Staat weiterzugeben", sagte Haldenwang. Diese Warnung nimmt auch die deutsche Ministerin für Bildung und Forschung, Bettina Stark-Watzinger, ernst: Im Umgang mit China dürfe man nicht naiv sein, meint die Freidemokratin (FDP). Notwendig sei eine "noch kritischere Abwägung von Risiko und Nutzen bei der Zusammenarbeit gerade auch in Wissenschaft und Hochschulen".
So sieht es der Verfassungsschutz auch beim Blick auf die Wirtschaft. Bei jeden Joint Venture, bei jedem Direktinvestment kämen auch Manager und anderes Personal aus China nach Deutschland, sagte Präsident Haldenwang, der damit ein potenzielles Einfallstor für Spionage benannte: "Geschäftsgeheimnisse können auch nach China gelangen."
In dieses Szenario könnte der zuletzt festgenommene mutmaßliche Agent passen. Besonders pikant: Er ist ein enger Mitarbeiter von Maximilian Krah, dem Spitzenkandidaten der Alternative für Deutschland (AfD) bei der Europawahl im Juni 2024.
Der festgenommene Krah-Mitarbeiter ist mittlerweile in Untersuchungshaft. Ein Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof habe den Haftbefehl in der Nacht zum Mittwoch in Vollzug gesetzt, Der Vorwurf laute auf Agententätigkeit für einen ausländischen Geheimdienst in einem besonders schweren Fall.
Der vom Verfassungsschutz bundesweit als rechtsextremer Verdachtsfall beobachteten AfD werden auch immer wieder enge Kontakte nach Russland nachgesagt. Die aus Moskau gesteuerten Spionage-Aktivitäten konzentrieren sich jedoch im Unterschied zu China nach Geheimdienst-Erkenntnissen oft auf kurzfristige Ziele. Diese Einschätzung gilt aus Haldenwangs Sicht mehr denn je seit dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine: "Angesichts eines heißen Krieges mit enormer Gewaltanwendung durch Russland, wäre es fahrlässig, nicht von der Fähigkeit und dem Willen seiner Nachrichtendienste zu komplexen Operationen in Europa auszugehen."
Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz rechnet damit, dass russische Spionage weiter zunehmen wird. Dafür müsse auch neues Personal rekrutiert werden. Kurz nach Kriegsbeginn hatte Deutschland bereits rund 40 mutmaßliche Agenten ausgewiesen, die an der Russischen Botschaft in Berlin akkreditiert waren. Das sei inzwischen aber kompensiert worden, heißt es.
Russlands Präsident Wladimir Putin nimmt für seine Ziele auch in Deutschland lebende Menschen mit russischem Migrationshintergrund ins Visier. "Bisher hat sich die Community sehr resilient gezeigt", betont Haldenwang. Man nehme in diesem Kreis aber vereinzelt auch Leute wahr, die hohe Sympathien für Putin und Russland hätten. "Insofern steht hier möglicherweise ein Reservoir von Personen zur Verfügung, die dann auch bereit sind, im Sinne Russlands zu agieren."
Deutschlands Innenministerin Nancy Faeser zieht nach der beispiellosen Festnahme von sechs mutmaßlichen Spionen innerhalb von sechs Tagen eine positive Bilanz: "Unsere Sicherheitsbehörden, allen voran das Bundesamt für Verfassungsschutz, haben die Spionageabwehr massiv verstärkt. So schützen wir uns gegen die hybriden Bedrohungen des russischen Regimes, aber auch vor Spionage aus China. Die aktuellen Ermittlungserfolge zeigen das."
Dieser Artikel wurde am 24. April 2024 aktualisiert.
Fast neuneinhalb Monate nach ihrer Festnahme in Nordrhein-Westfalen hat die Bundesanwaltschaft sieben Anhänger des afghanischen Ablegers der Dschihadistenmiliz "Islamischer Staat" (IS) angeklagt, die mutmaßlich zu einem Anschlag entschlossen waren. Den Männern werde unter anderem die Gründung einer inländischen terroristischen Vereinigung vorgeworfen, teilte die Behörde in Karlsruhe mit. Die Anklage erfolgte beim Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichtes Düsseldorf, das diese nun zunächst prüft.
Nach Angaben der Bundesanwaltschaft sollen die aus Zentralasien stammenden Männer in Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern "öffentlichkeitswirksame Anschläge im Sinn des IS" geplant haben. Demnach fassten die Beschuldigten unter anderem bereits mögliche Anschlagsobjekte ins Auge und bemühten sich um Waffen und Geldgeber. Ein "konkreter Anschlagsplan" habe zum Zeitpunkt des Einschreitens der Sicherheitsbehörden im Juli 2023 aber noch nicht bestanden.
Bei den Angeklagten handelt es sich um fünf tadschikische Staatsbürger sowie einen Turkmenen und einen kirgisischen Staatsangehörigen. Die seit längerem miteinander bekannten und durch eine radikalislamische Einstellung verbundenen Beschuldigten reisten nach Angaben der Bundesanwaltschaft im Frühjahr 2022 "nahezu zeitgleich" aus der Ukraine ein, nachdem diese von Russland attackiert worden war. Nach ihrer Ankunft sollen sie eine Extremistengruppe gebildet haben.
Zu der mutmaßlichen Zelle gehörte laut Anklage noch ein gesondert verfolgter weiterer Beschuldigter in den Niederlanden. Demnach trafen sich die Männer regelmäßig in unterschiedlicher Zusammensetzung und kundschafteten bereits mögliche Ziele aus. Sie standen außerdem im Kontakt mit dem afghanischen Ableger des IS, dem sogenannten „Islamischen Staat Provinz Khorasan" (ISPK). Der ISPK reklamierte jüngst etwa den schweren Anschlag auf eine Konzerthalle nahe der russischen Hauptstadt Moskau mit mehr als 130 Toten für sich.
Von der Organisation geht nach Einschätzung deutscher Sicherheitsbehörden die derzeit größte Anschlagsgefahr im Bereich Islamismus aus. Auch mehrere Verdächtige, die zum Jahreswechsel wegen der Planung möglicher Anschläge auf den Kölner Dom und den Stephansdom in Wien festgenommen wurden, sollen Berichten zufolge Verbindungen zum ISPK gehabt haben.
Nach Auskunft der Bundesanwaltschaft wird sechs der sieben Beschuldigten neben der Gründung und Zugehörigkeit zu einer inländischen Terrorgruppe auch die Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung zur Last gelegt. Fünf der Männer sind außerdem wegen Verstößen gegen das Außenwirtschaftsgesetz angeklagt. Sie sollen demnach Geld für den IS gesammelt und mehrere tausend Euro an Verantwortliche der Dschihadistenmiliz im Ausland übermittelt haben.
Zum Zeitpunkt ihrer Festnahme waren die Beschuldigten zwischen 20 und 46 Jahre alt, sie sitzen in Untersuchungshaft. Wann das Oberlandesgericht Düsseldorf über die Anklage entscheidet und wann ein Prozess starten könnte, ist noch unklar.
kle/sti (afp, dpa)
Der britische Premierminister Rishi Sunak hat bei einem Besuch in Berlin die deutsche Unterstützung für die Ukraine gelobt. "Man kann die Tatsache nicht übersehen, dass Deutschland neben Großbritannien der wichtigste Unterstützer der Ukraine ist", sagte der konservative Politiker bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Bundeskanzler Olaf Scholz im Hinblick auf die europäischen Verbündeten Kiews.
Auf die Frage nach der zuvor bekräftigten Weigerung des sozialdemokratischen Kanzlers, Marschflugkörper vom Typ Taurus an die Ukraine zu liefern, ging Sunak nicht direkt ein. Er betonte aber, jedes Land leiste einen unterschiedlichen Beitrag. Sunak hob besonders Deutschlands Entscheidung hervor, ein weiteres Patriot-Luftabwehrsystem an die Ukraine zu liefern. Scholz habe dafür nichts als Lob verdient.
Scholz seinerseits wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der US-Kongress nun die Gelder zur Unterstützung der Ukraine freigegeben habe. "Diese Entscheidung zeigt, dass (Russlands Präsident Wladimir) Putin sich verrechnet, wenn er glaubt, die Staaten in Europa und den USA, all die anderen Unterstützer würden die Ukraine irgendwann im Stich lassen. Wir werden das nicht tun", sagte Scholz. Nach einer monatelangen Hängepartie hatte der US-Kongress am Dienstag mit der Zustimmung des Senats Ukraine-Hilfen im Umfang von rund 61 Milliarden US-Dollar (57 Milliarden Euro) gebilligt. Mit dem Geld könnte die Lieferung von ATACMS-Raketen mit einer Reichweite von 300 Kilometern ermöglicht werden. Bisher hat die Ukraine nur Raketen mit einer Reichweite von 165 Kilometern aus den USA erhalten.
Deutschland und Großbritannien wollen auch in der Rüstung enger zusammenarbeiten. Beide Länder würden gemeinsam die Radhaubitze Howitzer 155mm "erwerben, bewerten und optimieren", heißt es in einem gemeinsamen Papier zu dem Artilleriesystem. Man wolle bei der Entwicklung auf der Kooperation beim Radpanzer Boxer aufbauen. Zudem solle der Kampfjet Eurofighter/Typhoon modernisiert werden. Scholz betonte, dass Großbritannien zudem bei dem von Deutschland angestoßenen Luftverteidigungssystem European Sky Shield Initiative mitarbeiten wolle.
Die Visite in Berlin ist für den seit Oktober 2022 amtierenden Sunak der Antrittsbesuch in Deutschland. Vor dem Treffen mit Scholz hatte Sunak die Julius-Leber-Kaserne im Berliner Ortsteil Wedding besucht und sich mit Bundeswehrangehörigen unterhalten.
Der Premierminister war am Dienstag bereits zu Besuch in Warschau, um den polnischen Regierungschef Donald Tusk und NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg zu treffen. Er kündigte dabei weitere Militärhilfen für die Ukraine in Höhe von 500 Millionen Pfund (rund 580 Millionen Euro) an. Das Vereinigte Königreich ist neben Deutschland der wichtigste europäische Waffenlieferant der Ukraine. Zudem teilte Sunak mit, dass Großbritannien sein Verteidigungsbudget bis 2030 auf 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erhöhen werde. Die NATO hat bislang zwei Prozent als Zielmarke für die Mitgliedsstaaten ausgegeben.
sti/kle (afp, dpa)
Im vergangenen Jahr hat es 106.000 Fälle von Abtreibungen in Deutschland gegeben und damit 2,2 Prozent mehr als 2022, wie das Statistische Bundesamt mitteilte. Das entspricht 63 Abtreibungen umgerechnet auf 100.000 Frauen. Höher war die Gesamtzahl zuletzt 2012 mit 107.000 Fällen. Zwischen den Jahren 2014 bis 2020 lag sie zwischen rund 99.000 und 101.000 Fällen. "Anhand der vorliegenden Daten lässt sich keine klare Ursache für die weitere Zunahme im Jahr 2023 erkennen", so das Statistische Bundesamt. Um die Zahlen zu ermitteln, befragte es Kliniken und Arztpraxen, in denen grundsätzlich Abbrüche vorgenommen werden.
Im Zehnjahresvergleich hat es deutlich weniger Schwangerschaftsabbrüche in jüngeren Altersgruppen und deutlich mehr Abbrüche bei Frauen ab 30 Jahren gegeben. Nach Angaben des Bundesamtes waren sieben von zehn Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch durchführen ließen, zwischen 18 und 34 Jahren alt. 19 Prozent der Frauen waren im Alter von 34 bis 39 Jahren. Die Gruppe der über 40 Jahre alten Frauen machte rund acht Prozent aus, etwa drei Prozent waren jünger als 18 Jahre.
Rund 42 Prozent der Frauen hatten vor dem Schwangerschaftsabbruch noch kein Kind zur Welt gebracht. Die weitaus meisten Abtreibungen wurden nach der sogenannten Beratungsregelung vorgenommen. Wenn eine Beratung stattgefunden hat, bleibt ein Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf Wochen straffrei.
Derzeit sind Abtreibungen in Deutschland grundsätzlich rechtswidrig. Eine von der Bundesregierung eingesetzte Kommission hatte in der vergangenen Woche eine Reform des Abtreibungsrechts empfohlen. Das Gremium rät, Abtreibungen im frühen Stadium der Schwangerschaft zu erlauben und nicht mehr im Strafrecht zu regulieren.
Die Bundesregierung ließ offen, ob sie noch in der laufenden Legislaturperiode eine Gesetzesänderung in Angriff nimmt. Sie strebt einen breiten gesellschaftlichen und parlamentarischen Konsens an.
aa/kle (dpa, epd, afp, Statistisches Bundesamt)
Die Bundesregierung will ihre Zusammenarbeit mit dem umstrittenen UN-Palästinenserhilfswerk (UNRWA) im Gazastreifen fortsetzen. Das teilten das Auswärtige Amt und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in Berlin mit. Hintergrund seien die jüngsten Empfehlungen eines Berichts einer von den Vereinten Nationen eingesetzten Gruppe, die von der ehemaligen französischen Außenministerin Catherine Colonna geleitet wird.
Die Untersuchung war nach Vorwürfen Israels eingeleitet worden, zwölf Mitarbeiter der UN-Organisation seien in das Massaker der radikalislamischen Palästinenser-Organisation Hamas auf israelischem Grenzgebiet am 7. Oktober verwickelt gewesen. Dabei wurden mehr als 1100 Menschen getötet.
Auch ist UNRWA - United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees - nach israelischer Darstellung als Ganzes von der Hamas unterwandert. Die Hamas wird von Israel, Deutschland, der EU, den USA und anderen Staaten als Terrororganisation gelistet.
Aufgrund der Vorwürfe setzten einige der wichtigsten Geldgeber, darunter die USA und Deutschland, ihre Zahlungen vorübergehend aus. In dem Bericht von Colonna, der in dieser Woche in New York vorgestellt wurde, kamen unabhängige Experten jedoch zu dem Schluss, dass es bisher keine Beweise für eine Verwicklung von UNRWA-Mitarbeitenden in terroristische Organisationen gebe.
Das Palästinenser-Hilfswerk habe eine Reihe "robuster" Mechanismen etabliert, um die Wahrung des Neutralitätsgrundsatzes zu gewährleisten. Allerdings gebe es auch Verbesserungsbedarf, wie sich etwa an politischen Stellungnahmen von UNRWA-Personal in sozialen Netzwerken oder an Lehrmaterial der vom Hilfswerk betriebenen Schulen zeige.
"Mit der Fortsetzung der akuten Zusammenarbeit stützen wir die lebenswichtige und derzeit nicht zu ersetzende Rolle von UNRWA für die Versorgung der Menschen in Gaza, denn auch andere internationale Hilfsorganisationen sind auf die operativen Strukturen von UNRWA in Gaza derzeit angewiesen", heißt es in der Erklärung der beiden Bundesministerien weiter. Zuletzt hatten nach Angaben aus Berlin etwa auch Australien, Kanada, Schweden und Japan ihre Zusammenarbeit mit dem Hilfswerk wieder aufgenommen.
Die deutsche Zusammenarbeit mit dem Hilfswerk der Vereinten Nationen im Gazastreifen lag seit Ende Januar auf Eis. Für die Arbeit der Organisation in anderen Regionen floss aber weiter Geld: So stellte die Bundesregierung Ende März dem Palästinenserhilfswerk 45 Millionen Euro für die Arbeit in Jordanien, Libanon, Syrien und im Westjordanland zur Verfügung. Die Bundesregierung unterstützte UNRWA eigenen Angaben nach allein im Jahr 2023 mit mehr als 200 Millionen Euro.
Die Bundesregierung habe sich mit den von Israel erhobenen Vorwürfen gegen UNRWA intensiv auseinandergesetzt und sich hierzu eng mit der israelischen Regierung, den Vereinten Nationen und anderen internationalen Gebern ausgetauscht, ist in der Erklärung weiter zu lesen. Sie werde sich mit ihren internationalen Partnern auch bei der Auszahlung weiterer Mittel eng abstimmen.
Angesichts der katastrophalen Lage der Menschen im Gazastreifen gab es zuletzt immer wieder Aufrufe, das Palästinenserhilfswerk weiter zu unterstützen. Deutschland forderte zugleich, die Empfehlungen des Colonna-Berichts müssten nun unverzüglich umgesetzt werden. Hierbei kämen der Stärkung der Innenrevision und ihrer Besetzung mit internationalem UN-Personal, der verbesserten externen Aufsicht über das Projektmanagement, einem weiteren kontinuierlichen Abgleich der UNRWA-Beschäftigtenlisten mit den israelischen Sicherheitsbehörden sowie dem Ausbau der internen Fortbildung eine besondere Bedeutung zu.
sti/jj/kle (dpa, rtr, epd, kna)
Das Bundeswirtschaftsministerium ist trotz struktureller Schwächen zuversichtlich, dass die Konjunktur an einem Wendepunkt steht. Die Anzeichen dafür mehrten sich im Frühjahr, teilte das von Robert Habeck (Grüne) geführte Ministerium am Mittwoch in Berlin mit. Wesentliche Impulse sollten im Jahresverlauf vor allem vom Konsum ausgehen. Insgesamt rechnet die Bundesregierung 2024 mit einem mageren Wachstum der Wirtschaft von 0,3 Prozent. Gegenüber Februar haben sich die Aussichten damit leicht aufgehellt. 2025 dürften es dann 1,0 Prozent werden. Im vergangenen Jahr war die deutsche Wirtschaft noch um 0,3 Prozent geschrumpft. Kein anderes großes Industrieland entwickelt sich derzeit schlechter.
"Trotz dieser Hoffnungssignale machen mir die strukturellen Probleme des Standorts weiterhin Sorge", erklärte der Wirtschaftsminister. "Wenn wir mittel- und langfristig wieder höheres Wachstum erreichen wollen, brauchen wir daher strukturelle Veränderungen." Dazu gehörten die Stärkung von Innovationen und der Abbau unnötiger Bürokratie, aber auch Arbeitsanreize, "damit mehr Menschen freiwillig mehr und länger arbeiten".
Entsprechend hat sich die Stimmung in der deutschen Wirtschaft im April weiter aufgehellt und ist so gut wie seit fast einem Jahr nicht mehr. Das Ifo-Geschäftsklima stieg überraschend deutlich auf 89,4 Punkte von 87,9 Zählern im Vormonat, wie das Münchner Ifo-Institut am Mittwoch zu seiner Umfrage unter rund 9000 Führungskräften mitteilte. Das Barometer kletterte damit den dritten Monat in Folge, was als Signal für eine Konjunkturwende gilt. Die Firmen beurteilten ihre Geschäftslage und die Aussichten für die kommenden Monate günstiger als zuletzt. "Die Konjunktur stabilisiert sich, vor allem durch die Dienstleister", sagte Ifo-Präsident Clemens Fuest.
In der Industrie verbesserte sich die Stimmung zwar insgesamt, aber die Betriebe beurteilten ihre Lage schlechter. Der Auftragsbestand sank weiter. "Produktionssteigerungen sind nicht in Sicht", betonte Fuest. Im Dienstleistungssektor hingegen hellte sich das Geschäftsklima merklich auf. Auch im Handel stieg der Index. "Die Geschäftserwartungen verbesserten sich deutlich, bleiben allerdings insgesamt pessimistisch", hieß es. Am Bau ging es das dritte Mal in Folge bergauf - dank weniger pessimistischer Erwartungen. Die Lage wurde jedoch schlechter beurteilt und viele Firmen klagten über Auftragsmangel.
Ökonomen erwarten nun eine allmähliche Erholung der Konjunktur. "Die deutsche Wirtschaft arbeitet sich aus ihrer Schwächephase heraus", sagte Ifo-Konjunkturfachmann Klaus Wohlrabe der Nachrichtenagentur Reuters. "Das sieht nach Trendwende aus", betonte LBBW-Experte Jens-Oliver Niklasch. Einiges spreche dafür, "dass wir im Winter das Konjunkturtief gesehen haben". Commerzbank-Chefökonom Jörg Krämer sieht den Ifo-Index als recht klares Aufwärtssignal. "Von nun an sollte die deutsche Wirtschaft wieder wachsen, nachdem sich die Unternehmen an die höheren Leitzinsen gewöhnt haben und die Energiekosten wieder gefallen sind." Die Phase fallender Konjunkturprognosen dürfte vorüber sein. "Im tiefen Schacht geht die Lampe an", sagte Chefvolkswirt Alexander Krüger von der Hauck Aufhäuser Lampe Privatbank.
Die Wirtschaft steckt derzeit wegen sinkender Investitionen und einer Flaute am Bau im Konjunkturtal und schrumpfte Ende 2023 um 0,3 Prozent. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) dürfte laut Bundesbank im ersten Quartal 2024 allerdings "leicht zugenommen haben". Damit bliebe Deutschland eine Rezession erspart. "Die Konjunktur in Deutschland hat sich etwas aufgehellt, eine durchgreifende Belebung ist aber noch nicht gesichert", erklärte die Bundesbank jüngst.
Auch eine am Finanzmarkt viel beachtete Umfrage unter Einkaufsmanagern zeigte, dass die Wirtschaft die lange Durststrecke langsam hinter sich lassen könnte.
hb/bea (rtr)
Der wegen Spionageverdachts für China festgenommene Mitarbeiter des AfD-Europaabgeordneten Maximilian Krah ist in Untersuchungshaft. Ein Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof habe den Haftbefehl in der Nacht zum Mittwoch in Vollzug gesetzt, teilte eine Sprecherin der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe mit. Der Vorwurf laute auf Agententätigkeit für einen ausländischen Geheimdienst in einem besonders schweren Fall.
Der am Montag in Dresden festgenommene Jian G. soll laut Generalbundesanwalt Informationen aus dem EU-Parlament weitergegeben haben. Zudem habe er für einen Nachrichtendienst der Volksrepublik chinesische Oppositionelle in Deutschland ausgespäht. Der deutsche Staatsangehörige soll seit 2019 als akkreditierter Assistent für Krah gearbeitet haben.
Krah ist im Europaparlament Mitglied im Ausschuss für internationalen Handel, aber auch in den Unterausschüssen für Menschenrechte sowie Sicherheit und Verteidigung, außerdem ist er Teil der Delegation für Beziehungen zu den USA.
Der 47-Jährige ist zudem Spitzenkandidat der rechtspopulistischen AfD für die Europawahl - und will dies trotz der mutmaßlichen China-Spionage seines Mitarbeiters auch bleiben. Er sei mit der AfD-Führung übereingekommen, dass er am kommenden Samstag beim Wahlkampfauftakt in Donaueschingen nicht dabei sein werde, "aber ich bin und bleibe Spitzenkandidat", sagte Krah in Berlin. Dem betreffenden Mitarbeiter in seinem EU-Abgeordnetenbüro werde er umgehend kündigen.
Aus den Reihen der deutschen Christ- und Sozialdemokraten wurden unterdessen Forderungen nach eidesstattlichen Versicherungen des Europakandidaten laut. "Die AfD ist ein Risiko für die Sicherheit unseres Landes", sagte der CDU-Außenpolitiker und Bundestagsabgeordnete Norbert Röttgen den Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland.
"Krah muss jetzt reinen Tisch machen. Er muss umfassend die Öffentlichkeit über seine Beziehungen zu seinem Mitarbeiter und zu China und chinesischen Funktionären unterrichten", fuhr Röttgen fort. "Krah muss hierzu eidesstattliche Erklärungen abgeben. Die Wähler müssen vor der Europawahl am 9. Juni über die Sicherheitsrisiken, die von Krah ausgehen, ins Bild gesetzt werden."
Auch der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei und CSU-Vize Manfred Weber rief die AfD in der Zeitung "Tagesspiegel" auf, etwaige Kontakte nach Moskau und Peking transparent zu machen. "Wenn die AfD einen Funken Anstand hätte, würde sie die China- und Russland-Kontakte aller Führungsfiguren und ihres Umfelds offenlegen."
Ähnlich äußerte sich SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert. Er sagte ebenfalls im "Tagesspiegel", die Wähler verdienten "uneingeschränkte Klarheit". Der Sozialdemokrat fuhr fort, Krah "sollte nun an Eides statt versichern, in keiner Weise Informationen an ausländische Geheimdienste gegeben zu haben. Ansonsten wäre Krah im chinesischen Volkskongress besser aufgehoben als im europäischen Parlament".
Die SPD-Spitzenkandidatin für die Europawahl, Katarina Barley, betonte, in der AfD ein Sicherheitsrisiko für Deutschland zu sehen. Die Partei entlarve sich "als Instrument für autokratische Mächte", sagte sie der "Rheinischen Post". Russlands Präsident Wladimir Putin und der chinesische Staatschef Xi Jinping hätten offenbar großen Einfluss auf die AfD.
sti/jj (afp, dpa, rtr)
Wegen des Verdachts der Spionage für China ist ein Mitarbeiter des AfD-Spitzenkandidaten für die Europawahl, Maximilian Krah, festgenommen worden. Wie der Generalbundesanwalt in Karlsruhe mitteilte, wird Jian G. Agententätigkeit für einen ausländischen Geheimdienst in einem besonders schweren Fall zur Last gelegt.
Der deutsche Staatsangehörige sei "Mitarbeiter eines chinesischen Geheimdienstes". Er habe im Januar 2024 wiederholt "Informationen über Verhandlungen und Entscheidungen im Europäischen Parlament an seinen nachrichtendienstlichen Auftraggeber" weitergegeben. Zudem habe er für den Nachrichtendienst chinesische Oppositionelle in Deutschland ausgespäht.
Der Beschuldigte sei von Beamten des Landeskriminalamts Sachsen in Dresden vorläufig festgenommen worden, erklärte der Generalbundesanwalt weiter. Zudem seien die Wohnungen des Beschuldigten durchsucht worden. Er werde im Laufe dieses Dienstags einem Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs vorgeführt. Dieser werde über den Erlass eines Haftbefehls und den Vollzug der Untersuchungshaft entscheiden.
Ein Sprecher der rechtspopulistischen AfD bezeichnete die Meldungen über die Festnahme eines Krah-Mitarbeiters als "sehr beunruhigend". Er erklärte weiter: "Da uns derzeit noch keine weiteren Informationen zu dem Fall vorliegen, müssen wir die weiteren Ermittlungen des Generalbundesanwalts abwarten."
Auf Krahs EU-Parlamentswebsite wird Jian G. als akkreditierter Assistent aufgeführt. Der AfD-Politiker selbst zeigte sich überrascht über die Festnahme. Von dieser habe er am Vormittag aus der Presse erfahren, erklärte Krah in einer Mitteilung. "Weitere Informationen liegen mir nicht vor." Der Vorwurf von Spionage für ein anderes Land sei "eine schwerwiegende Anschuldigung", betonte Krah und fügte hinzu: "Sollten sich die Vorwürfe als wahr erweisen, würde dies die sofortige Beendigung des Dienstverhältnisses nach sich ziehen."
Das Europaparlament zog bereits Konsequenzen aus dem Fall: "In Anbetracht der Schwere der Enthüllungen hat das Parlament die betreffende Person mit sofortiger Wirkung suspendiert", teilte eine Sprecherin des Parlaments mit. Die Volksvertretung werde zudem mit den zuständigen Behörden zusammenarbeiten und entsprechende Folgemaßnahmen ergreifen.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser zeigte sich besorgt über den Fall. "Die Vorwürfe der Spionage für China sind äußerst schwerwiegend", erklärte die SPD-Politikerin. "Wenn sich bestätigt, dass aus dem Europäischen Parlament heraus für chinesische Nachrichtendienste spioniert wurde, dann ist das ein Angriff von innen auf die europäische Demokratie." Ebenso schwer wiege der Vorwurf der Ausspähung der chinesischen Opposition.
"Wer einen solchen Mitarbeiter beschäftigt, trägt dafür auch Verantwortung", betonte die Ministerin. Der Fall müsse "genauestens aufgeklärt" und alle Verbindungen und Hintergründe müssten ausgeleuchtet werden.
China wies dagegen die Spionagevorwürfe zurück. Die Anschuldigungen dienten dazu, "China zu verleumden und zu unterdrücken", erklärte der Sprecher des Außenministeriums in Peking, Wang Wenbin. Es gehe darum, "die Atmosphäre der Zusammenarbeit zwischen China und Europa zu zerstören". Sein Land hoffe, "dass die zuständigen Mitarbeiter in Deutschland ihre Mentalität des Kalten Krieges aufgeben und die sogenannte Spionagebedrohung nicht mehr für politische Manipulationen gegen China nutzen", so Wang weiter.
Bereits am Montag waren drei mutmaßliche Spione der Volksrepublik in Düsseldorf und Bad Homburg gefasst worden. Die Bundesanwaltschaft hatte die drei Deutschen wegen Spionageverdachts festnehmen lassen.
Die beiden Männer und eine Frau sollen demnach in Deutschland Informationen über Militärtechnik beschafft haben, um sie an den chinesischen Geheimdienst weiterzugeben. Zum Zeitpunkt der Festnahmen hätten sich die Beschuldigten in Verhandlungen über Forschungsprojekte befunden, die insbesondere zum Ausbau der maritimen Kampfkraft Chinas nützlich sein könnten, hieß es bei der Bundesanwaltschaft weiter.
sti/jj (afp, dpa, rtr)
Im Zuge eines Spionagevorfalls , der im Zusammenhang mit Russland steht, hat die Polizei der Stadt Bayreuth in Bayern zwei Männer festgenommen. Dieter S. und sein Helfer Alexander J. stehen im Verdacht, im Auftrag der russischen Geheimdienste Sabotageakte in Deutschland vorbereitet zu haben. Den deutschen Staatsbürgern russischer Herkunft wird auch vorgeworfen, Spionage gegen Militärstützpunkte der USA betrieben und Attacken auf militärisch genutzte Transportwege geplant zu haben.
Dieter S. sei "Mitglied der ausländischen Terrorvereinigung 'Volksrepublik Donezk'" gewesen, meldet die deutsche Generalbundesanwaltschaft. Damit stuft sie die selbsternannte Volksrepublik faktisch als terroristische Organisation ein: Es handele sich um eine "pro-russische Vereinigung, die ab Frühjahr 2014 die Kontrolle über den ukrainischen Verwaltungsbezirk Donezk mit dem Ziel der Loslösung von der Ukraine beanspruchte und sich intensive Auseinandersetzungen mit den ukrainischen Streitkräften lieferte". Auch habe die Vereinigung immer wieder Gewalt gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt.
Nach derzeitigem Ermittlungsstand hatte Dieter S. seit Oktober 2023 Kontakt zu einer Person, die an einen russischen Geheimdienst angebunden ist. Als Mitglied einer ausländischen terroristischen Vereinigung soll er zudem eine schwere staatsgefährdende Gewalttat vorbereitet haben. Die Generalbundesanwaltschaft fügt hinzu: "Nach dem zugrunde liegenden Sachverhalt besteht der dringende Verdacht, dass Dieter S. zwischen Dezember 2014 und September 2016 in der Ostukraine als Kämpfer einer bewaffneten Einheit der 'Volksrepublik Donezk' tätig war und in diesem Zusammenhang über eine Schusswaffe verfügte."
Im Zuge der prowestlichen oppositionellen Proteste und des Machtwechsels in Kiew im Frühjahr 2014 wurden im Osten der Ukraine die sogenannten "Volksrepubliken Donezk und Luhansk" ausgerufen. Im Februar 2022, nur drei Tage vor Russlands großangelegtem Überfall auf die Ukraine, erkannte Staatschef Wladimir Putin die beiden Separatisten-Gebiete schließlich als unabhängig an. Im September desselben Jahres annektierte Russland die ukrainischen Gebiete Donezk und Luhansk.
"Wir sind davon überzeugt, dass es ständig russische Spionageaktivitäten gegen deutsche Interessen gibt", sagte der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz Thomas Haldenwang im DW-Interview. "Deutschland ist ein wichtiger Player in vielen Politikbereichen, wenn es um die Unterstützung der Ukraine geht."
Bislang hatten die deutschen Behörden die "Volksrepublik Donezk" nicht als terroristische Vereinigung eingestuft, was also hat sich geändert? In Deutschland gebe es zwei Möglichkeiten, eine bestimmte Struktur auf die Terroristenliste zu setzen: auf behördlichem und auf strafrechtlichem Wege, erläutert der Jurist Dr. Matthias Hartwig von der Heidelberger Universität im Gespräch mit der DW. Er führt das Beispiel der radikal-islamistischen Bewegung Hamas an, die auf der Ebene der Europäischen Union als Terrororganisation eingestuft ist, aber auch durch Gerichtsurteile als solche eingeordnet wird.
Das bedeute noch nicht, so Hartwig, dass die "Volksrepublik Donezk" jetzt auch vom deutschen Staat als terroristisch angesehen werde. Aber aus Sicht der Generalbundesanwaltschaft sei sie es. Es bleibe jedoch unklar, ob damit die gesamte von den separatistischen und russischen Behörden geschaffene quasi-staatliche Struktur gemeint sei - oder nur ihr paramilitärischer Teil. Hartwig vermutet, die Bundesanwaltschaft betrachte alle Strukturen dort als illegal. Und das aus guten Gründen, weil die ukrainische Seite zum Schluss gekommen sei, dass diese Strukturen "Mord und Tod betreiben". Es sei nun Sache der Gerichte zu entscheiden, ob diese Strukturen als terroristisch anzusehen seien, so der Jurist.
Auch die ARD bewertet den Schritt der Generalbundesanwaltschaft als ein "Novum". "Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hat eine entsprechende Verfolgungsermächtigung erteilt. Ein Schritt mit hoher Symbolkraft, der diplomatische Folgen haben dürfte", schreiben die ARD-Terrorismusexperten Michael Götschenberg und Holger Schmidt zur Inhaftierung von Dieter S. und Alexander J.
Als einzige diplomatische Folge bislang ist der russische Botschafter ins Auswärtige Amt einbestellt worden. Doch Völkerrechtler Hartwig schließt nicht aus, dass der Spionageskandal die Spannungen zwischen Deutschland und Russland weiter verschärfen könnte: "Deutschland ist völkerrechtlich nicht gebunden und ist frei zu sagen: das ist ein annektiertes Gebiet und die Strukturen, die dort Macht ausüben, stufen wir als terroristisch ein. Deutschland verletzt dadurch nicht das internationale Recht."
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk
Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist auf Staatsbesuch in der Türkei, dem ersten dort seit Beginn seiner Amtszeit 2017. Der Zeitpunkt des Besuchs ist kein Zufall. Er erinnert auch an die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen beiden Ländern vor hundert Jahren.
Sowohl die Türkische Republik als auch das Deutsche Reich hatten damals 1924 einen tiefgreifenden Neuanfang hinter sich: Beide Staaten hatten nach dem Ersten Weltkrieg als Verbündete auf der Verliererseite gestanden, mussten infolgedessen Gebiete abtreten – die Türkei verlor sogar ein Großreich - und beide hatten die Monarchie abgeschafft. In Deutschland trat die Weimarer Republik an die Stelle des Kaiserreichs.
Der innere Wandel in der Türkei war aber noch deutlich größer: Staatsgründer Kemal Atatürk wollte eine säkulare, europäisch orientierte Türkei. Kalifat und Scharia aus der Zeit des Osmanischen Reiches wurden durch westliche Rechtssysteme ersetzt.
Auch die beiden Vorgängerstaaten, das Osmanische Reich und das Deutsche Kaiserreich, hatten schon enge diplomatische, militärische und Handelsbeziehungen unterhalten. Jetzt, wenige Monate nach Gründung der Türkischen Republik 1923, knüpfte man diplomatisch dort wieder an und schloss einen Freundschaftsvertrag.
Doch besonders ernst nahm Berlin das damals nicht, meint der Historiker und Türkei-Experte Rasim Marz: "Trotz der Wiederaufnahme 1924 maß die krisengeschüttelte Weimarer Republik den diplomatischen Beziehungen zur jungen Republik Türkei bis in die 1930er-Jahre keine hohe politische Bedeutung zu", schreibt er der DW. Aber "das hohe Ansehen Deutschlands in der Türkei blieb davon unberührt".
Ein heute oft vergessenes Kapitel in den deutsch-türkischen Beziehungen war das Exil von mehreren hundert verfolgten Deutschen während der Zeit des Nationalsozialismus in der damals außenpolitisch neutralen Türkei.
"Die Türkei unter Atatürk wurde zur Zufluchtsstätte für viele verfolgte Akademiker. Die türkische Republik bedurfte hochqualifizierter Kräfte", so Rasim Marz. Der SPD-Politiker und spätere Berliner Bürgermeister Ernst Reuter war darunter, der Wirtschaftswissenschaftler und Politiker Fritz Baade, der Komponist Paul Hindemith und viele andere. Sie "waren am weiteren Ausbau des Staates nach europäischem Vorbild maßgeblich beteiligt".
Wohl keine Entscheidung hat die Beziehungen bis heute so nachhaltig geprägt wie der Abschluss eines Anwerbeabkommens für türkische Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland 1961. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes kamen in der Folge etwa 876.000 Menschen aus der Türkei. Sie arbeiteten zum Beispiel im Bergbau, in der Autoindustrie, eröffneten Geschäfte. Viele holten ihre Familien nach und blieben für immer. Heute leben in Deutschland rund drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat ihre Leistung gleich zu Beginn seines Türkei-Besuchs gewürdigt, und zwar an einem historischen Ort: Am Istanbuler Bahnhof Sirkeci bestiegen viele der angeworbenen Türken die Züge Richtung Deutschland. "Sie haben unser Land mit aufgebaut, sie haben es stark gemacht und sie gehören ins Herz unserer Gesellschaft", sagte Steinmeier.
Seitdem Recep Tayyip Erdogan Präsident der Türkei ist, haben sich die Beziehungen zunehmend verschlechtert. Vor allem nach einem Putschversuch 2016 ging Erdogan hart gegen politische Gegner vor. Die Bundesregierung hat die Menschenrechtslage in der Türkei wiederholt angeprangert; immer wieder wurde der deutsche Botschafter einbestellt. Es ist ein Zeichen für die Spannungen, dass vor dem jetzigen Besuch zehn Jahre lang kein deutscher Bundespräsident mehr in der Türkei war.
Erdogan verwandelt das Land auch außenpolitisch – und trifft damit nach Meinung von Rasim Marz einen Nerv bei seinen Landsleuten: "Die Türkei unter Präsident Erdogan strebt seit zwei Jahrzehnten danach, das Land unter die führenden Nationen der Welt zu führen. Sowohl in der akademischen wie politischen Elite des Landes, unter Militärs oder Wirtschaftsmagnaten, ob aus dem Regierungslager oder der Opposition - die Vision einer politischen wie militärischen Großmacht Türkei im 21. Jahrhundert hat sich in der Gesellschaft verfestigt."
Besonders brisant für die deutsche Politik ist Erdogans Haltung zur islamistischen Hamas im Gazastreifen. Erdogan hat das Massaker der Hamas vom 7. Oktober an Israelis verteidigt, bezeichnet die Hamas als Befreiungsorganisation. Dagegen ist die Sicherheit Israels – bei aller deutscher Kritik an Israels Vorgehen im Gazastreifen – offizielle deutsche "Staatsräson". Wie zur Bekräftigung der Gegensätze traf sich Erdogan kurz vor Steinmeiers Ankunft mit Hamas-Auslandschef Ismail Hanija.
Auch während seines Besuchs in Istanbul sah sich der Bundespräsident mit Demonstranten konfrontiert, die gegen die deutsche Israel-Politik protestierten.
Die deutsch-türkischen Beziehungen sind längst eingebettet in die Beziehungen der Türkei zu gesamten EU. Zwar ist die Türkei seit 2005 EU-Beitrittskandidat, unterstützt zuvor vom SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder. Doch faktisch liegen die Beitrittsverhandlungen längst auf Eis, auch das eine Folge von Erdogans hartem innen- und außenpolitischem Kurs.
Bundeskanzlerin Angela Merkel war gegenüber der Türkei relativ vorsichtig aufgetreten, auch weil sie Ankara in der Flüchtlingskrise 2015/16 dringend brauchte. Die Politiker der amtierenden SPD-geführten Bundesregierung unter Kanzler Olaf Scholz nennen die Probleme deutlicher beim Namen, nicht zuletzt die grüne Außenministerin Annalena Baerbock.
Das komme bei der türkischen Führung nicht gut an, meint Rasim Marz: "Deutschland hat nach der Ära Angela Merkel erheblichen Einfluss in Ankara verloren. Die Dissonanzen zwischen den beiden Ländern, die während des letzten Besuchs von Außenministerin Annalena Baerbock (im Juli 2022) offen zu Tage traten, sind auf unterschiedlichen Themengebieten tiefgehend." Auch eine Neubelebung der EU-Beitrittsverhandlungen "ist aktuell nicht absehbar", glaubt der Historiker und Türkei-Experte Rasim Marz.
Die Hoffnung der Bundesregierung liegt auf der türkischen Zivilgesellschaft und der türkischen Opposition. Bei den Kommunalwahlen vor wenigen Wochen erlitt Erdogans Partei AKP eine Schlappe. Stattdessen triumphierte landesweit die größte Oppositionspartei CHP. Deren großer Hoffnungsträger, auch als möglicher künftiger Staatspräsident, ist der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu.
Der Bundespräsident hat ihn bei seinem Besuch noch vor Erdogan getroffen. Ein Zeichen, dass man in Berlin auf einen politischen Wandel und weiteren Neuanfang in den türkisch-deutschen Beziehungen hofft.
Die Partei AfD (Alternative für Deutschland) ist nationalistisch gesinnt und in Teilen rechtsextremistisch. In Meinungsumfragen ist sie trotzdem auf dem Vormarsch - für das Kulturkollektiv "Die Vielen" ein Grund gegenzusteuern. Der Zusammenschluss von rund 4.500 Theatern, Galerien und anderen Kultureinrichtungen hatte nach der Corona-Pandemie eine Pause eingelegt. Doch jetzt stehen die Europawahl, einige Kommunal- und Landtagswahlen und 2025 die Bundestagswahl bevor - und die Mitglieder des Vereins "Die Vielen" sehen im Erstarken der AFD eine existenzielle Bedrohung für die pluralistische Demokratie, in der sich Kunst frei entfalten kann.
Bereits im Vorfeld der Europawahl 2019 hatten "Die Vielen" Proteste gegen die AfD initiiert. Jetzt bringt ihre neue Kampagne "Shield & Shine" basisdemokratische Kunstkollektive und Kuratoren mit hochkarätigen Orchestern, Bühnenarbeitern, Opernhäusern und dem Publikum zusammen. Das Ziel: "Tausende demokratische Schutzschirme über alle Bundesländer zu spannen" und so die "Normalisierung rechtsextremer Politik in demokratischen Parlamenten" zu neutralisieren, wie es zum Auftakt der Kampagne am 10. April hieß. Angesichts des zweiten Platzes der AfD in vielen Umfragen sollen Wechselwähler und junge Menschen, von denen viele zum ersten Mal ihre Stimme abgeben dürfen, ermutigt werden, sich der Regenschirm-Bewegung anzuschließen - eine Metapher, die auch von Demokratie-Aktivistinnen und -Aktivisten in Hongkong verwendet wird.
Rund 5000 Menschen war es ein Anliegen, die "Erklärung der Vielen" zu unterzeichnen, nachdem bekannt wurde, dass AfD-Mitglieder bei einem geheimen Treffen im November mit Neonazis zusammensaßen. Dort wurde die Abschiebung von Millionen von Migrantinnen und Migranten aus Deutschland gefordert - auch solcher, die längst einen deutschen Pass haben. In ganz Deutschland kam es daraufhin zu Massenprotesten. Dem Aufruf von "Die Vielen", die Ausgrenzungspläne der Rechtsextremen durch integrative und kreative demokratische Plattformen zu bekämpfen, gab das enormen Auftrieb.
Inzwischen steht Björn Höcke, einer der radikalsten deutschen AfD-Politiker, wegen der Verwendung einer Nazi-Parole vor Gericht.
Es besteht die Befürchtung, dass die AfD - sollte sie nach der Bundestagswahl 2025 zweitstärkste Partei im Land werden - pro-demokratische kulturelle Stimmen aktiv unterdrücken könnte. In Sachsen, wo die AFD seit langem an der Spitze der Wählergunst steht, zensieren sich die Kulturschaffenden in Erwartung eines Wahlsiegs der Partei bei den bevorstehenden Regional- und Landtagswahlen bereits selbst, so Philine Rinnert, Vorstandsmitglied von "Die Vielen" in Berlin. "Einem Theaterfestival in Sachsen droht bereits der Verlust der Finanzierung", erklärte sie. Kuratoren und künstlerische Leiter befürchteten, dass sie ihren Job verlieren könnten, wenn ihre Arbeit nicht mit der monokulturellen und fremdenfeindlichen Agenda der AfD übereinstimme.
Daniel Brunet ist künstlerischer Leiter des English Theatre Berlin und seit der Gründung von "Die Vielen" im Jahr 2017 Mitglied des Kollektivs. Die AfD-Abgeordneten im Berliner Landesparlament würden Kunstinstitutionen überwachen, indem sie "Einzelaufstellungen der Empfänger von Kulturgeldern" verlangen, sagt er. Er befürchtet eine mögliche Zensur, sollte die AfD bei den nächsten Wahlen weiter zulegen. "Es macht uns nervös, dass sie genau diese Informationen wollen", sagte er der DW und deutete damit einen Rachefeldzug gegen Kulturorganisationen an, die liberale oder progressive Ziele verfolgen.
"Die Vielen" planen vor den Europawahlen im Juni eine Aktionswoche, in der laut Vorstandsmitglied Rinnert "unterschiedlichste Kunstinstitutionen im ganzen Land demokratische Schirme bei Veranstaltungen und Performances aufspannen werden".
Brunet vom English Theatre Berlin befürchtet, dass rechtsextreme Fraktionen bald das Europaparlament dominieren könnten, darunter neben der AFD auch der französische Rassemblement National von Marine Le Pen und die Fidesz-Partei des rechtspopulistischen ungarischen Präsidenten Victor Orban - der bereits parteiinterne Besetzungen in staatlichen Kultureinrichtungen vorgenommen hat.
Das English Theatre Berlin will dieser Entwicklung entgegenwirken, indem es für eine höhere Wahlbeteiligung wirbt. Derzeit, so der Intendant, gingen nur rund 60 Prozent der Wahlberechtigten zur Wahl.
Teile der AFD in Ostdeutschland, darunter in Sachsen und Thüringen, wurden vom Bundesnachrichtendienst als "erwiesenermaßen rechtsextremistisch" eingestuft. Brunet ist besorgt, weil die Partei Wahlwerbung mit weißen Menschen und Slogans wie "Wir machen die Deutschen selbst" verbreitet - eine klare Abgrenzung gegen Migranten.
Bei der Europawahl 2024 dürfen Jugendliche erstmals schon ab 16 Jahren wählen. "Die Vielen" wollen der AfD gezielt Konkurrenz machen, um die nächste Generation unter das demokratische Schutzschild" zu nehmen. "Echte Männer sind rechts", verkündete der Rechtsextremist und Spitzenkandidat der AfD zur Europawahl, Maximilian Krah, in einer Reihe von Posts auf TikTok. Um die Stimmen der jungen Leute zu gewinnen, inszeniert sich Krah als Dating-Experte, der jungen Männern Liebestipps gibt. "Echte Männer haben Ideale, echte Männer sind Patrioten", sagt er in seinem Clip. "Dann bekommst du auch eine Freundin." Das Video ging viral.
Nach Beschwerden, Krah verbreite auch Verschwörungstheorien und rassistische Ansichten, schränkte TikTok den Zugang im März 2024 ein und blockierte einige Videos. Experten für politische Kommunikation befürchten, dass die TikTok-Strategie die Wahl beeinflussen könnte.
Für Daniel Brunet ist Deutschland "ein Leuchtturm der Hoffnung in der EU", weil es sich in der Nachkriegszeit für Pluralismus und künstlerische Meinungsfreiheit eingesetzt habe und es immer noch Einwanderung gebe. "Nie wieder dürfen Theater, Opern und Orchester, Museen, Literatur- und Kulturhäuser oder Kinos und Medien ihre Arbeit in den Dienst von Antidemokrat*innen und Faschist*innen stellen", heißt es in einer Erklärung der Initiative "Die Vielen" - die damit eindeutig auf die NS-Zeit anspielt. "Jetzt ist es an der Zeit, der Menschenverachtung und der Zerstörung unserer demokratischen Kultur entgegenzutreten."
Adaption aus dem Englischen: Suzanne Cords
"Schon bevor dieser Konflikt begann, hatten wir viele Krisen, aber ich dachte nicht, dass ich jemals mein Land verlassen würde. Ich weiß nicht warum, ich liebe es dort einfach", sagt Aya El Sammani. Die Sudanesin, geboren in der Hauptstadt Khartum, lebt jetzt in Deutschlands Hauptstadt Berlin.
Vor ihrer Flucht studierte sie Englische Literatur und Kunst. Doch dann brachen Mitte April 2023 Kämpfe aus in Khartum zwischen zwei rivalisierenden bewaffneten Gruppen. Innerhalb weniger Wochen mussten die Menschen feststellen, dass sie die Stadt, in der der Weiße und Blaue Nil zusammenfließen, verlassen müssen.
"Wenn ich mein Haus verließ, um einkaufen zu gehen zum Beispiel, war es nicht friedlich. Ich riskierte, getötet zu werden oder vergewaltigt. Khartum ist jetzt ihre Stadt, nicht mehr unsere", erklärt El Sammani.
Es ist vorrangig ein Konflikt zwischen dem sudanesischen Militär um General Abdel Fattah al-Burhan und auf der anderen Seite den Rapid Support Forces (RSF), angeführt von Burhans ehemaligen Stellvertreter Mohammed Hamdan Daglo, genannt "Hemeti".
Nach dem Sturz der vom Westen unterstützen Regierung hatten die zwei Generäle ursprünglich 2021 nach einem Militärputsch gemeinsam die Macht übernommen.
Sudan sollte dann der Übergang zu einer zivilen Regierung gelingen und die RSF-Truppen ins Militär integriert werden. Darüber gerieten die Generäle in Streit und kämpfen nun um die Kontrolle über das riesige, rohstoffreiche Land an der Schnittstelle zwischen Subsahara-Afrika und dem Nahen Osten.
Das alles geht zu Lasten der sudanesischen Zivilbevölkerung, die mit einer verheerenden humanitären Katastrophe konfrontiert sind. Mehr als 6,6 Millionen Menschen wurden innerhalb des Landes vertrieben, weitere zwei Millionen sind in Nachbarländer wie Tschad, Südsudan und Ägypten geflohen.
Jeden Tag müssen laut Internationaler Organisation für Migration 20.000 Menschen ihr Zuhause im Sudan verlassen, und mehr als die Hälfte dieser Vertriebenen sind unter 18 Jahre alt.
Im Dezember 2023 waren laut der Weltgesundheitsorganisation mehr als 70 Prozent der Gesundheitseinrichtungen des Landes nicht mehr funktionsfähig. Der Mangel an medizinischem Material, die Abwanderung von medizinischem Personal und der Ausbruch von Infektionskrankheiten wie Cholera und Masern verschlimmern die ohnehin schon katastrophale Lage.
El Sammani sieht sich als eine der wenigen, die Glück hatten. Als der Krieg ausbrauch, hatte sie einen gültigen Pass und ein Einreisevisum für Saudi-Arabien, wo ihr Vater arbeitet. In Saudi-Arabien blieb sie zehn Monate lang, bevor sie im März im Rahmen eines Residenzprogramms der deutschen gemeinnützigen Organisation Media in Cooperation and Transition nach Berlin zog.
"Während ich hier erzähle", sagt sie im Gespräch mit der DW, "leben im Sudan ganze Armeen an Soldaten in meinem Zuhause, in meinem Zimmer und ich kann nicht zurück. Ich kann nicht einmal meine Straße betreten. Alles im Sudan wurde gestohlen. Jedes persönliche Hab und Gut. Es kann sein, dass du dein Haus betrittst und keine Möbel mehr hast."
Sie sorge sich um ihre Schwestern, die in die 800 Kilometer entfernte Küstenstadt Bur Sudan geflohen seien. Für die Ausreise nach Saudi-Arabien fehle ihnen die nötigen Papiere und eine ihre Schwestern habe zusätzlich ein kleines Kind ohne einen gültigen Pass. El Sammani berichtet auch von einem Freund, der nach Ägypten geflohen sei, aber dann zurückkehrte, um sich um den alten Vater zu kümmern, der nicht fliehen wollte. Sie habe ihn eine Woche nach der Rückkehr nach Khartum noch telefonisch erreicht. Seither nicht mehr und sie wisse nicht, ob er noch lebt.
Es sei "nicht leicht zu akzeptieren", dass der Konflikt nicht so bald enden werde, sagt sie. Sie befürchtet, dass die Welt den Sudan vergessen hat, und beklagt den Mangel an internationaler Medienberichterstattung, insbesondere in den letzten sechs Monaten. Die restliche Welt interessiere sich nicht für die Sudan-Krise, sagt sie.
Mit Stand April 2024 wurden nach Angaben des Armed Conflict Location & Event Data Project 16.000 Menschen in dem Konflikt getötet.
"Ich meine, geht es nicht um Krisen, geht es nicht um Menschen, die getötet werden?" fragt El Sammani.
"Wir versuchen, auch ihnen klar zu machen, dass dieser Krieg nicht unser Krieg ist", erklärt die sudanesische Aktivistin Mai Shatta von der Bana Group for Peace and Development, einem internationalen feministischen Netzwerk.
Die in Khartum geborene Tochter einer Familie aus Darfur, einer Region im Westsudan, die besonders stark von der Gewalt betroffen ist, lebt seit 2012 in Deutschland, nachdem sie wegen ihres politischen Engagements ins Exil gezwungen wurde.
Viele Menschen gingen davon aus, dass es sich um einen Krieg zwischen zwei Generälen handele, sagt sie. Dabei sei es kein reiner internen Konflikt, äußere Einflüsse spielten stattdessen eine Rolle, die den Konflikt anheizten.
"[Der Sudan] wird in diesen Kampf hineingezogen, und wir sind die Zivilisten, die jetzt den Preis dafür zahlen, und wir zahlen ihn bis heute."
In vielen Analysen der Sudan-Krise wird das komplexe Geflecht regionaler und internationaler Einflüsse hervorgehoben, die zum Machtkampf um die Kontrolle des Sudan, seiner natürlichen Ressourcen und Finanzströme beitragen.
Die südsudanesische Autorin Stella Gaitano lebt seit 2022 in der deutschen Kleinstadt Kamen. Sie hat ein PEN-Stipendium für Schriftsteller im Exil.
Ihre beiden Kinder im Alter von 13 und 15 Jahren sind 2023 zu ihr gekommen. Sie haben vor zu bleiben, denn, so sagt sie, "wir wissen wirklich nicht, wo und wie das alles enden wird".
Als die Gewalt im April letzten Jahres erstmals ausbrach, lebte Gaitano in Khartum. Sie war aus dem Südsudan in die sudanesische Hauptstadt geflohen, nachdem ihre offene Kritik an der südsudanesischen Regierung zu Schikanen geführt hatte. Doch der Konflikt zwang sie, erneut zu fliehen.
Gaitano hat noch zwei Schwestern im Sudan. Sie wurden bereits zweimal vertrieben und leben jetzt im Osten des Landes.
"Sie können nicht arbeiten, ihre Ehemänner haben ihre Arbeit aufgegeben. Die Kinder sind seit fast einem Jahr nicht mehr in der Schule. Es gibt Millionen von Kindern, die keine Schule besuchen", sagt sie der DW.
In Deutschland hat Gaitano die Arbeit an ihrem zweiten Roman abgeschlossen. Sie hat das Gefühl, dass den Sudanesen eine Stimme fehlt, um die Welt ihre Probleme zu erzählen, sagt sie.
Hager Ali, Politikwissenschaftlerin am German Institute for Global and Area Studies, stimmt dem zu. Obwohl sich der Krieg zuletzt zum ersten Mal jährte, sei er von den Medien übersehen worden, sagt sie.
"Der Krieg im Sudan offenbare ein großes Problem des 'Storytelling'. Er lässt sich nicht so einfach als Krieg zwischen Gut und Böse oder Demokratie und Autokratie zusammenfassen. Das schränkt die internationale Berichterstattung ein", so Hager im Gespräch mit der DW.
"Es gibt auch die falsche Vorstellung, dass der Krieg außerhalb des Sudans keine politischen Auswirkungen hat und dass er, was die Weltwirtschaft angeht, auch nicht besonders problematisch ist."
Sie sagt, dass sich die Menschen im Sudan angesichts anderer Konflikte in der Welt unsichtbar fühlten.
"Stellen Sie sich vor, Sie müssten Ihr Zuhause und Ihre Familie zurücklassen, nur um dann zu erleben, dass Ihr Leid nicht einmal priorisiert wird oder man sich an Sie erinnert. Bei allem anderen, was im Nahen Osten passiert, wird der Krieg im Sudan einfach vergessen."
Autos sind eine besondere Ware: Auf der einen Seite sind sie handlicher als etwa Bohrinseln, denn die werden einzeln und "im Stück" ausgeliefert: Andererseits sind sie wieder so groß, dass man sie nicht einfach in ein Regal legen kann. Jedes Auto nimmt eben bis zu zehn Quadratmeter Platz ein, auch wenn es nicht genutzt wird.
Das bereitet den Häfen, in denen Schiffe für den Autotransport be- und entladen werden, Probleme. In Deutschland betrifft das vor allem zwei Städte: Emden und Bremerhaven. Das Autoterminal Bremerhaven gehört zu den größten Autohäfen der Welt. Die dortige BLG Logistics Group teilte der DW mit, sie verlade mehr als 1,7 Millionen Fahrzeuge pro Jahr.
Unternehmenssprecherin Julia Wagner präzisierte, dass der Hafen Platz für ca. 70.000 Fahrzeuge biete: "Alle namhaften Autoreeder bedienen Bremerhaven regelmäßig und jedes Jahr laufen mehr als 1000 CarCarrier das Terminal an." Und dabei stelle die BLG fest, dass "sich der Umschlag von Pkw in den vergangenen Jahren verändert" habe: "Wir hatten lange Zeit 80 Prozent Export und 20 Prozent Import. Dieses Verhältnis liegt mittlerweile bei 50:50."
Doppelt so viele Autos wie in Bremerhaven werden im belgischen Zeebrügge, dem Hafen der mittelalterlichen Stadt Brügge, verladen. Auch dort sind derzeit viele Autos geparkt, die angelandet, aber noch nicht weitertransportiert wurden. Elke Verbeelen von der Kommunikationsabteilung der Häfen Antwerpen/Brügge bestätigt das der DW: "Das geschieht in allen europäischen Häfen, die große Mengen von Autos verschiffen."
Die verlängerte Verweildauer hängt aber nicht nur an der schieren Menge importierter Wagen: "Das Problem liegt weniger in der Zahl der angelandeten Autos, sondern eher darin, dass sie nicht zügig abtransportiert werden."
Noch reichen die Kapazitäten der großen Terminals aus, um die Autos parken zu können. Julia Wagner aus Bremerhaven betont ausdrücklich: "Eine 'Verstopfung' des Terminals, wie in einigen Medien über die Lage in europäischen Häfen berichtet wurde, stellen wir aktuell nicht fest." Auch aus Antwerpen/Brügge und anderen europäischen Häfen wird derzeit kein akuter Parkplatzmangel gemeldet.
Das Verschiffen von Autos ist entgegen dem ersten Augenschein ein eher undurchsichtiges Geschäft, denn es ist nicht auf den ersten Blick zu erkennen, wo ein Auto gebaut und dann verkauft wird. Westliche Hersteller wie Tesla lassen mitunter in China produzieren und bringen ihre Fahrzeuge dann nach Europa. Gleichzeitig produzieren viele Autobauer ihre Fahrzeuge für asiatische Märkte oder für das US-Geschäft jeweils an Ort und Stelle - unter anderem, um Zölle zu vermeiden.
Außerdem gibt es einen Transportweg, den Hafenbetreiber gar nicht einsehen können, so die Häfen Antwerpen/Brügge: "Wir wissen gar nicht, wie viele Autos in Containern verschifft werden." Diese Art des Transports wird oft von Privatleuten oder Händlern, die nur wenige Fahrzeuge expedieren, genutzt. Da diese Autos den ganzen Transportweg über "eingepackt" sind, nehmen sie aber auch keinen Parkplatz in Anspruch.
Auf jeden Fall lohne ein genauerer Blick auf Produktion, Distribution und Verkauf von Automobilen, meint Elke Verbeelen. Dabei habe sich in den vergangenen Jahren einiges verschoben. So bleibe das Autoaufkommen in den Häfen hoch oder stiege sogar, weil sich die Kaufgewohnheiten geändert haben. So gebe es etwa neue Geschäftsmodelle bei manchen Marken, wie den "Direktverkauf an die Kunden. Da bleibt das Auto so lange im Hafen und kommt nicht erst in den Showroom des Händlers."
Auch konjunkturelle Gründe führten zur hohen Auslastung der Hafen-Parkplätze. Das liege an den derzeit "relativ geringen Autoverkäufen." Eine Beobachtung, die auch Julia Wagner macht: "Die Standzeiten der Pkw aller Hersteller auf dem Terminal haben sich mit dem Wegfall der staatlichen Förderung der E-Mobilität verlängert, da sich die Verkaufszahlen der E-Autos in Deutschland verringert haben."
Hinzu komme, so Verbeelen, dass der Autoumsatz insgesamt gestiegen sei. Zwar sei das Niveau der Jahre vor der Corona-Pandemie noch nicht wieder erreicht, doch werde merklich mehr ein- und ausgeführt als "im Vergleich zu 2020-2021". Und auch der Fachkräftemangel im Speditionsgewerbe mache sich bemerkbar: Es sei "eine geringere Kapazität an Straßentransporten von Autos wegen eines Mangels an Lkw-Fahrern" zu beobachten. Das alles führe zu einer "längeren Verweildauer der Autos in den Häfen".
Die Volkswagen AG im norddeutschen Emden und das Autoterminal im Hafen der Stadt wollen in Zukunft auf anderem Wege die Verweildauer von Autos in Häfen reduzieren. Das Be- und Entladen der Schiffe soll beschleunigt und dabei auch noch Personal eingespart werden. Einzelheiten dazu berichtete die Ostfriesen-Zeitung am 17. April.
Mit einem vom Bundesverkehrsministerium mit 3,2 Millionen Euro geförderten Testprojekt soll ausprobiert werden, ob autonom fahrende VW-Fahrzeuge sich ohne Fahrer selbständig ver- und entladen können. Die Versuche sollen 2026 beendet werden.
Das Projekt AutoLog soll dazu führen, bis zu 2000 Jobs in Emden einsparen zu können. Laut Ostfriesen-Zeitung sei bei Erfolg auch eine Übertragung auf die "gesamte Distributionskette vom Automobilbauer zum Händler" denkbar. Dann wären an Europas Häfen viele Parkplätze dauerhaft frei.
Wer die Welt verstehen will, muss sie nicht unbedingt bereisen. Es war Immanuel Kant (1724-1804), der das bewies. Am 22. April begeht die Welt seinen 300. Geburtstag. Der deutsche Philosoph hat seine ostpreußische Heimat Königsberg - heute Kaliningrad - nicht verlassen, doch seinem Weltverständnis tat das keinen Abbruch: Mit seinen Ideen revolutionierte er die Philosophie und wurde zum Vordenker der Aufklärung. Sein berühmtestes Werk, "Kritik der reinen Vernunft" gilt als Wendepunkt in der Geistesgeschichte. Heute zählt Kant zu den bedeutendsten Denkern der Geschichte.
Viele seiner Erkenntnisse gelten auch noch angesichts von Klimawandel, Kriegen und andere Krisen unserer Zeit. Was könnte zum Beispiel zu einem dauerhaften Frieden zwischen den Staaten führen? Kant empfahl 1795 in seiner Schrift "Zum ewigen Frieden" einen "Völkerbund" als föderale Gemeinschaft republikanischer Staaten. Politisches Handeln, so Kant, müsse sich grundsätzlich nach dem Gesetz der Sittlichkeit richten. Sein Werk wurde zur Blaupause für die Gründung des Völkerbundes nach dem Ersten Weltkrieg (1914-1918), dem Vorläufer der Vereinten Nationen, in deren Charta es seine Spuren hinterlassen hat.
Neben dem Völkerrecht entwickelt Kant auch ein Weltbürgerrecht. Damit erteilt er Kolonialismus und Imperialismus eine Absage und formuliert Ideen für einen menschenwürdigen Umgang mit Flüchtlingen: Jeder Mensch habe in jedem Land ein Besuchsrecht, so der Philosoph, aber nicht unbedingt ein Gastrecht.
Kant begründet Menschenwürde und Menschenrechte nicht religiös mit Gott, sondern philosophisch mit der Vernunft. Kant traute den Menschen viel zu. Er hielt sie für fähig, Verantwortung zu übernehmen - für sich selbst und für die Welt. Mit Vernunft und Argumenten lässt sich das Leben meistern, glaubte Kant und formulierte dafür eine Grundregel: "Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte." Er nannte das den "kategorischen Imperativ". Heute würde man es so formulieren: Du sollst nur das tun, was zum Besten aller wäre.
1781 veröffentlicht Kant sein wohl bedeutendstes Werk. In der "Kritik der reinen Vernunft" stellt er die vier Grundfragen der Philosophie: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? Seine Suche nach Antworten auf diese Fragen nennt man Erkenntnistheorie. Im Gegensatz zu vielen Philosophen vor ihm legt er in seiner Abhandlung dar, dass der menschliche Verstand Fragen wie die nach der Existenz Gottes, der Seele oder dem Anfang der Welt nicht beantworten kann.
"Kant ist kein Licht der Welt, sondern ein strahlendes Sonnensystem auf einmal." Was für ein Kompliment, das der Schriftsteller Jean Paul (1763-1825) seinem Zeitgenossen machte. Doch andere Geistesgrößen fanden Kants Schriften schwer verdaulich. Es koste "Nervensaft", sie zu lesen, klagte der Philosoph Moses Mendelssohn. Er selbst vermochte es nicht.
Die Lehre und Schriften von Immanuel Kant legten den Grundstein zu einer neuen Denkweise. Kants Satz "Sapere aude" (deutsch: "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen") wurde berühmt, er outete Kant als Vordenker der Aufklärung. Diese geistige Bewegung, die gegen Ende des 17. Jahrhunderts in Europa entstand, erklärte die Vernunft (Rationalität) des Menschen und ihren richtigen Gebrauch zum Maßstab allen Handelns. In seinen Schriften rief Kant dazu auf, sich von jeglichen Anleitungen (wie etwa Gottes Gebote) zu lösen und Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen. Dazu stammt auch dieses berühmte Zitat von ihm: "Was du nicht willst, dass man dir tut - das füg auch keinem andren zu."
Über Kant kursieren bis heute zahlreiche Urteile und Vorurteile. Der deutsche Philosoph und Kant-Forscher Otfried Höffe hat in seinem neuen Buch "Der Weltbürger aus Königsberg" einige davon auf den Prüfstand gestellt, darunter die Frage, ob Kant ein "eurozentrischer Rassist" gewesen sei oder ob Kant Frauen diskriminiert habe. In beiden Fällen lautet seine Antwort: "Ja, aber ..."
Ein Rassist im heutigen Sinne sei Kant nicht, im Gegenteil: Kolonialismus und Sklaverei habe er verurteilt. Zwar sei Kant nie über Königsberg hinausgekommen, doch sei die Hauptstadt von Ostpreußen seinerzeit eine pulsierende Handelsstadt gewesen, ein "Venedig des Nordens". Außerdem habe Kant Reiseberichte aus anderen Ländern geradezu verschlungen.
Und schließlich: War Kant ein verschrobener Stubengelehrter und Misanthrop? Auch mit diesem Vorurteil räumt die Wissenschaft heute auf: Kant hatte zwar einen streng geregelten Tagesablauf, genoss aber ausgedehnte Mittagessen mit Freunden und Bekannten, liebte Billard und Kartenspiele, ging ins Theater und galt in den Salons der Stadt als charmanter Unterhalter.
An Kant und sein Vermächtnis erinnern 2024 viele Veranstaltungen, auch in Deutschland: Die Bundeskunsthalle in Bonn etwa zeigte eine große Kant-Ausstellung. Im Juni folgt in Berlin eine große wissenschaftliche Tagung, im Herbst in Bonn ein Internationaler Kant-Kongress, der eigentlich in Kaliningrad geplant war, dort aber wegen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine nicht stattfinden kann.
Kants Grab ziert die Rückwand des Königsberger Doms - bis heute das Wahrzeichen der Stadt. Als eines der wenigen historischen Bauwerke überstand das gotische Gotteshaus die Bombenangriffe des Zweiten Weltkriegs und die anschließende Abrisswelle im Sowjetstaat. So populär Kant heute ist, so sehr werden seine Schriften von vielen politischen Strömungen vereinnahmt. Wer bezeichnet sich selbst als seinen Lieblingsdenker? Richtig - Immanuel Kant!
sd/suc/so (KNA/epd/dpa)
Dass ein amtierender Bundespräsident ein Buch schreibt, ist eher ungewöhnlich. Frank-Walter Steinmeier, seit etwas über sieben Jahren deutsches Staatsoberhaupt, hat es getan. Er nennt zwei Daten, die ihn dazu veranlasst haben: Am 23. Mai dieses Jahres jährt sich die Verkündung des Grundgesetzes, der bundesdeutschen Verfassung, zum 75. Mal. Und am 9. November werden 35 Jahre vergangen sein, seit in Berlin die Mauer friedlich überwunden wurde.
Aber tatsächlich treibt den Bundespräsidenten ein Unwohlsein über den Zustand des Landes, um es vorsichtig auszudrücken. Man könnte auch sagen, er ist alarmiert. Über den grassierenden Rechtspopulismus, über die Verzagtheit vieler Menschen, über die Zweifel an der Demokratie. Über ungelöste Fragen bei der Migration, beim Kampf gegen den Klimawandel, beim Sozialstaat.
Das Buch mit dem Titel "Wir" beschreibt ein Land im Umbruch, das von großer Unsicherheit und dem Wegfall vieler Gewissheiten geplagt wird. Steinmeier führt aus: "Wer niemals ruhen, ankommen, sich verankert wissen kann, sondern jederzeit mit dem Unerwarteten rechnen muss - wie dem Auftauchen eines Virus, das das öffentliche Leben lahmlegt, oder einem Krieg, der einem im Winter das Gas zum Heizen zu rauben droht -, der verliert sein Vertrauen in das Selbstverständlichste."
Der Bundespräsident reist schon lange unermüdlich durch das Land, in kleine Orte und Gemeinden, und versucht, mit den Menschen zu sprechen. Die immer seltener einer Meinung sind. Deshalb der Versuch, nach dem zu suchen, was noch verbindet, nach dem "Wir" also.
Aber zwei Fragen werden jetzt an Steinmeier gestellt: Ist es Aufgabe des Staatsoberhaupts, so explizit Stellung zu nehmen zu gesellschaftlichen Verwerfungen und aktuellen politischen Kontroversen, wie er das in seinem Buch tut? Oder müsste er auch hier versuchen, Brücken zu bauen, jenseits der Tages-Aktualität, zwischen allen gesellschaftlichen Schichten?
Und zweitens fragen Kritiker: Wenn er von Irrtümern und falschen Weichenstellungen in der Vergangenheit spricht, vom angenehmen, machtlosen Wohlgefühl in der Abhängigkeit von amerikanischer Sicherheit und billigem russischen Gas, kann dann ausgerechnet er der Aufrüttler sein?
Wo er doch, als langjähriger Außenminister, kräftig mitgewirkt hat daran, dass sich das Land lange in falscher Sicherheit wähnte? Von 2005 bis 2009 und dann noch einmal von 2013 bis 2017 war der damalige SPD-Politiker oberster deutscher Diplomat. Also auch zu dem Zeitpunkt, als Russland die Krim besetzte. Völkerrechtswidrig.
Dem letzten Vorwurf dürfte Steinmeier entgegenhalten, dass ein Großteil der deutschen Politik bis zum Kriegsausbruch in der Ukraine festgehalten hat am Dialog mit Moskau, nicht nur er selbst.
Aber jetzt schreibt er: "Der Krieg radikalisiert das Moskauer Unrechtsregime. Dieses verstrickt eine zum Teil fanatisierte, zum Teil paralysierte russische Gesellschaft in eine Schuld von historischen Ausmaßen." Waren Anzeichen dafür nicht schon sehr früh erkennbar? Gerade für ihn, den Außenminister?
In vielen Aussagen seines Buches wird eine Mehrheit der Menschen in Deutschland dem Bundespräsidenten sicher zustimmen. Etwa wenn er schreibt, homogen sei die Gesellschaft nie gewesen, ständig seien Menschen aus anderen Ländern und Kulturkreisen dazugestoßen. Zu Deutschland gehörten heute "solche, die in unsere politische Ordnung hineingeboren wurden, ganz genauso wie diejenigen, die in sie eingewandert sind, die in ihr heimisch sind, die durch die Wahl einer neuen Staatsangehörigkeit Deutsche geworden sind."
Am rechten Rand werden genau diese Aussagen aber kategorisch abgelehnt. An die Adresse der Rechtspopulisten schreibt er: "Einige unter ihnen wollen eine solche Homogenität sogar gewaltsam herstellen und Deutsche ausbürgern, die für sie nicht ins Bild passen. Gegen solche verfassungsfeindlichen Phantasmen stellt sich die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger."
Aber Tatsache ist eben auch, dass es nicht nur ein paar Verirrte sind, die nicht mehr zum "Wir" des Bundespräsidenten gehören. Die die Demokratie ablehnen, rechtsextrem denken. Und die ganz eigene Dialoge führen, auf eigenen digitalen Plattformen.
Steinmeier erkennt hier eines der zentralen Probleme, er schreibt: "Zu sehr sind die Grenzen des Sagbaren zum Unsäglichen hin verschoben worden. In der politischen Sprache hat sich eine Verrohung festgesetzt, die sich triumphal als Unerschrockenheit gebärdet. Paradoxerweise fühlen sich zur gleichen Zeit viele in der Vorstellung bestätigt, dass man nicht mehr seine Meinung sagen könne und für jedes offene Wort verdächtigt werde."
Gegen diese Gruppe will der Bundespräsident die große, schweigende Mehrheit der Gesellschaft mobilisieren, das ist sein Ziel. Diese Mehrheit soll etwa ihr Vertrauen behalten in die herrschende Politik, Steinmeier beschwört sie geradezu: "Wichtig ist, sich darüber klar zu werden, dass nicht allein begriffsstutzige oder böswillige Politiker schuld daran sind, dass Deutschland in einer veränderten Lage ist. Kein deutscher Politiker kann der Welt befehlen, sich gefälligst wieder zu unseren Gunsten zu drehen."
Die Macht eines Bundespräsidenten ist begrenzt, er wirkt durch das Wort, durch die Zusammenführung über alle Grenzen hinweg. Diese Funktion seines Amtes hat Steinmeier mit seinem Buch bis auf Äußerste ausgereizt. Die Sorge des Bundespräsidenten um die Zukunft des Landes ist das eine. Was fehlt, ist eine ehrliche Einordnung Deutschlands, das immer noch eines der reichsten Länder der Welt ist, mit einem funktionierendem Sozial- und Rechtsstaat. Und dass es Verwerfungen wie die geschilderten nicht nur hier gibt.
Ab und an drängt sich der Eindruck auf, dass es der frühere Machtpolitiker kaum ertragen kann, in diesen aufwühlenden Zeiten nicht wirklich mitgestalten zu können. Aber diese zurückhaltende Rolle des rein repräsentativen Staatsoberhaupts ist seine Aufgabe, auch wenn um ihn herum die Welt verrückt spielt.
"Freie Bürger fordern freie Fahrt" - mit diesem Motto protestierte 1973/1974 der Allgemeine Deutsche Automobilclub (ADAC) gegen das Tempolimit von 100 Stundenkilometern (km/h) auf deutschen Autobahnen. Das hatte die damalige Bundesregierung wegen der Öl-Krise angeordnet, um Benzin zu sparen. Obwohl es nur ein paar Monate lang galt, war die Empörung im Land groß.
Seitdem sind in den letzten 50 Jahren diverse Versuch gescheitert, ein generelles Tempolimit einzuführen.
Dabei ist inzwischen mehr als die Hälfte der Deutschen - und auch der ADAC-Mitglieder - für ein Tempolimit. Doch viele Gegner lehnen es weiter strikt ab. Die bayrische Partei CSU startete sogar eine Unterschriftenaktion dagegen.
Anders als fast überall sonst auf der Welt gibt es in Deutschland kein Tempolimit auf Autobahnen. Zwar ist die Geschwindigkeit auf einigen Strecken begrenzt. Doch auf 70 Prozent aller Autobahnkilometer gilt nur eine freiwillige "Richtgeschwindigkeit" von 130 km/h. Schneller fahren ist also erlaubt. Und so wird das Rasen auf deutschen Autobahnen sogar von Sportwagen-Verleihern im Ausland als Touristenattraktion beworben.
Je langsamer ein Auto fährt, desto weniger Kraftstoff verbraucht es - und desto weniger Schadstoffe stößt es aus, etwa klimaschädliches Kohlendioxid (CO2), Stickoxide oder Feinstaub.
Ein Tempolimit von 120 km/h auf Autobahnen würde 4,5 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent einsparen, so jüngste Berechnungen des Umweltbundesamts (UBA). Verglichen mit den Emissionen von 2018 wären das 2,9 Prozent weniger.
Geht man davon aus, dass Menschen wegen des Tempolimits auf die Bahn umsteigen, kürzere Routen über Land wählen oder auf Fahrten verzichten, dann könnten laut UBA sogar 6,7 Millionen Tonnen oder 4,2 Prozent eingespart werden.
Und wenn zusätzlich auf Landstraßen Tempo 80 eingeführt, wären es sogar acht Millionen Tonnen CO2-Äquivalente weniger.
Ein weiterer Vorteil: Es könnte weniger Unfälle geben. Denn langsamer fahrende Autos bremsen schneller. Allerdings würde es erst bei einem Tempolimit von 100 km/h auf Autobahnen rund 70 Prozent weniger Unfälle geben.
Wer langsamer fährt, macht auch weniger Lärm: So ist das Fahren bei 100 km/h etwa um die Hälfte leiser als bei 130 km/h. Außerdem gäbe es weniger Staus, weil mehr Autos gleichzeitig auf der Straße fahren könnten. Der Effekt wäre noch ausgeprägter, wenn alle nur Tempo 100 oder noch etwas langsamer fahren, sagen Verkehrsexperten.
Laut einer Umfrage der Allianz-Versicherung waren besonders Männer, sowie Menschen, die sehr viel Auto fahren (mehr als 50.000 km pro Jahr) und auch jüngere Fahrer unter 24 gegen Tempolimits. Sie fürchten mehr Staus und längere Fahrzeiten.
Tatsächlich fahren die meisten Menschen (77 Prozent) schon jetzt freiwillig langsamer als 130 auf der Autobahn.
Es ist unklar, wie viele Unfälle durch das Tempolimit auf deutschen Autobahnen tatsächlich vermieden werden könnten.
Laut ADAC gibt es Deutschland derzeit nicht mehr schwere Unfälle auf Autobahnen als in Ländern mit einem Tempolimit. Vergleicht man die Zahl der Getöteten pro gefahrenen Autobahnkilometern gab es 2020 in Frankreich, Italien, Litauen, Tschechien, Ungarn und den USA mehr Tote. In absoluten Zahlen lag Deutschland mit 317 Toten an der Spitze.
Ein Tempolimit fordern Umweltverbände, ebenso wie die Gewerkschaft der Polizei im Bundesland Nordrhein-Westfalen oder der Verein Verkehrsunfall-Opferhilfe. Sie wollen auch, dass auf deutschen Landstraßen statt 100 nur noch 80 km/h erlaubt ist. Das würde die Sicherheit dort tatsächlich stark verbessern, hat die Versicherungswirtschaft errechnet.
Unter den politischen Parteien sind die Grünen und die SPD für ein Tempolimit auf Autobahnen. Auch die Linkspartei hatte dies gefordert. Und, wie gesagt, mehr als die Hälfte der Deutschen ist inzwischen dafür, weniger schnell zu fahren.
Die konservative Union aus CDU und CSU, die in Teilen rechtsextreme AfD und die liberale FDP wollen kein Tempolimit. Die Gegner des Tempolimits meinen, dass es kaum Auswirkungen auf die Umwelt hätte und die Menschen zu stark einschränken würde. Die FDP, die gemeinsam mit den Grünen und der SPD die Bundesregierung bildet, verhinderte das Tempolimit schon im Koalitionsvertrag.
Sie gab auch eine Gegenstudie zu der des UBA in Auftrag, die auf deutlich weniger CO2-Einsparungen kommt. Allerdings wurde die Gegenstudie von Wirtschaftsprofessoren verfasst, die den menschengemachten Klimawandel in Zweifel ziehen. Sie wird vom UBA, von Umweltverbänden und auch von anderen politischen Parteien kritisiert.
Weil der CO2-Ausstoß im Verkehrssektor auch 2023 zu hoch war, hätte Bundesverkehrsminister Volker Wissing von der FDP eigentlich ein Sofortprogramm starten müssen, um die Klimaziele im Verkehr zu erreichen. So sah es das Klimagesetz der Großen Koalition aus SPD und CDU von 2021 vor.
Die regierende Ampelkoalition hat nun aber eine Reform des Gesetzes beschlossen. Jetzt können zu hohe Emissionen, wie beim Verkehr, an anderer Stelle ausgeglichen werden - etwa durch mehr erneuerbare Energie.
Laut Klimagesetz muss Deutschland seine Treibhausgas-Emissionen bis 2030 um 65 Prozent und bis 2040 um 88 Prozent verringern (im Vergleich zu 1990).
Über ein Tempolimit steht weiterhin nichts im Klimagesetz.
Redaktion: Anke Rasper
Quellen u.a.:
Gutachten Tempolimit Universität Stuttgart (2023): https://www.isv.uni-stuttgart.de/vuv/publikationen/downloads/ISV_2023_UBA-FV_Gutachten_FDP_Tempolimit_20230303.pdf
Unfallursache Geschwindigkeit: https://www.udv.de/resource/blob/112634/81f8e441aadad1d01047e5510233f5b1/neuer-inhalt-2--data.pdf
FDP gegen Tempolimit: https://www.fdpbt.de/kurzstudie-tempolimit-autobahnen
Der frisch gebackene deutsche Fußball-Meister Bayer Leverkusen hat das Halbfinale der Europa League erreicht und damit dazu beigetragen, dass Deutschland einen großen Schritt auf dem Weg zum fünften Startplatz in der Champions League machen konnte. Nach dem 2:0-Erfolg im Hinspiel reichte das 1:1 der Werkself beim englischen Klub West Ham United, um in die Runde der besten Vier einzuziehen. Damit festigte die Bundesliga im UEFA-Ranking der laufenden Saison den zweiten Platz und konnte den Vorsprung auf England sogar noch etwas vergrößern.
Deutschland hat 17,929 Punkte auf dem Konto und noch die drei Teams Bayern München, Borussia Dortmund und eben Bayer 04 im Europapokalrennen: Bayern und der BVB in der Champions League, Leverkusen in der Europa-League. Italien liegt vorn mit 19,429 Zählern, hinter der Bundesliga auf dem dritten Platz steht England mit 17,375 Punkten.
Im Duell mit der Premier League sind die deutschen Klubs im Vorteil, denn mit Aston Villa in der Conference League ist nur noch ein englischer Verein im Titelrennen. In der Champions League schieden Manchester City gegen Real Madrid und der FC Arsenal gegen den FC Bayern im Viertelfinale aus. Der FC Liverpool scheiterte in der Europa League an Atalanta Bergamo, und West Ham United zog jetzt gegen den deutschen Meister den Kürzeren.
Somit fehlen München und Dortmund in der Champions League sowie Leverkusen in der Europa League nur noch insgesamt zwei Siege oder vier Unentschieden, um Platz zwei für die Bundesliga im UEFA-Ranking abzusichern. Bei einem Punkte-Gleichstand am Saisonende würde England den Platz aufgrund der Vorjahresergebnisse bekommen.
Die Punkte errechnen sich wie folgt: Pro Sieg gibt es zwei Punkte, jedes Remis bringt einen Punkt, jedes Weiterkommen einen weiteren. Alle erspielten Ranglistenpunkte werden durch die Zahl der im Europapokal gestarteten Klubs eines Landes dividiert. Sieben deutsche Vereine waren in dieser Saison international startberechtigt, jeder erspielte Ranglistenpunkt entspricht also 0,143 Punkten. Bei der mit acht Teams gestarteten Premier League sind es 0,125 Punkte.
Die Teilnehmerzahl der Champions League wird zur kommenden Spielzeit von 32 auf 36 Vereine erhöht. Zwei der vier neuen Plätze werden an die Nationen mit dem besten Abschneiden in internationalen Wettbewerben dieser Saison vergeben. Borussia Dortmund würde aktuell als Bundesliga-Fünfter von einem fünften deutschen Startplatz profitieren.
Im besten Fall könnten in der kommenden Saison aber sogar sechs deutsche Klubs in der Königsklasse vertreten sein. Das wäre der Fall, wenn die Bundesliga im Ranking am Ende vor England liegt, der BVB die Champions League gewinnt und in der Meisterschaft maximal Fünfter wird. Denn als Titelverteidiger hätte Dortmund 2024/25 im höchsten europäischen Wettbewerb ein garantiertes Startrecht.
Übrigens stellt Deutschland mit den Bayern, dem BVB und Bayer 04 erstmals seit 29 Jahren drei Halbfinalisten im Europapokal. In der Saison 1994/95 waren es ebenfalls diese drei Teams, die die Bundesliga international vertraten. Die Münchener spielten in der Champions League, Dortmund und Leverkusen im Europa-League-Vorgänger UEFA-Pokal. Den Titel holte damals keiner von ihnen, alle drei Klubs schieden im Halbfinale aus.
Das soll sich diesmal nicht wiederholen: Bayer 04 bekommt es nun mit der AS Rom zu tun. Die Bayern spielen gegen Real Madrid, Borussia Dortmund gegen Paris St. Germain.
ck/sn (dpa, sid)
Am Tag 786 des Krieges, den Putins Russland gegen die Ukraine anzettelte, ist es soweit: Am 19. April 2024 um 19 Uhr startet im Berliner Konzerthaus die erste Operngala "Rebuild Ukraine". Die DW überträgt die Veranstaltung live auf der YouTube den Kanal "DW Classical Music" sowie auf dem YouTube-Kanal des ukrainischen Programms der DW.
Bei der Benefizveranstaltung treten hochkarätige Opernstars auf. Die Schirmherrschaft haben die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, und der Regierende Bürgermeister von Berlin, Kai Wegner, übernommen.
Im ausverkauften Saal werden über 1500 Gäste erwartet, darunter viele Prominente aus Politik, Wirtschaft und dem öffentlichen Leben.
Hinter der Initiative steht der deutsche Unternehmer und Politiker Harald Christ mit seiner Stiftung "Für Demokratie und Vielfalt". "Ich kann zwar nicht in der Ukraine an der Front kämpfen, aber ich kann damit einen Beitrag leisten", sagt Christ. "Jeder Beitrag, jeder Euro zählt."
Elf Opernsänger haben sich bereit erklärt, an der Benefiz-Gala teilzunehmen. Neben gestandenen Stars wie Rolando Villazón sind auch junge Sängerinnen und Sänger dabei - wie die aus Charkiw stammende Nicole Chirka, die vor dem Krieg fliehen musste und zur Zeit dem Ensemble der Dresdener Semperoper angehört.
Mit ihren Landsleuten Olga Kulchynska und Andrii Kymach verstärkt sie das internationale Ensemble. Neben populären Verdi und Puccini-Arien steht auch ukrainische Musik auf dem Programm - so werden in Deutschland weniger bekannte Werke ukrainischer Komponisten zu hören sein, etwa von Mykola Lysenko, der als Gründer der ukrainischen Operntradition gilt.
Das deutsche Sinfonieorchester Berlin spielt unter der Leitung der kanadischen Dirigentin Keri-Lynn Wilson. Wilson war Initiatorin des Projektes "Ukrainian Freedom Orchestra" - einem Ensemble, der als kulturelle Reaktion auf die Invasion Russlands in der Ukraine gegründet wurde.
"Ich habe einen Cousin in der Ukraine, er ist seit dem ersten Tag der Invasion an der Front. Er hat bereits 2014 seine Karriere als Journalist und Künstler aufgegeben, um in der Armee zu dienen", erzählt Wilson der DW. "Ich habe mich von ihm inspirieren lassen und meinen Taktstock als Waffe genommen."
Die Veranstalter rechnen mit einem Spendenaufkommen von über einer Million Euro. Die Erlöse kommen der Ukraine zugute: Das Geld fließt unter anderem in ein Projekt der Initiative #WeAreAllUkrainians von Wladimir Klitschko, das Gemeinschaftszentren in den zerstörten Städten aufbaut. Hier finden traumatisierte Kinder und Jugendliche ein Stück Normalität - mitten im andauernden Krieg.
In Bayreuth im deutschen Bundesland Bayern sind zwei Männer festgenommen worden. Sie sollen Militärgelände und Eisenbahnstrecken in Deutschland im Visier gehabt haben. Der Generalbundesanwalt wirft ihnen vor, diese im Auftrag russischer Geheimdienste nicht nur ausspioniert zu haben. Einer der beiden am Donnerstag in Bayern verhafteten Männer habe auch Sprengstoffanschläge geplant.
"Die Aktionen sollten insbesondere dazu dienen, die aus Deutschland der Ukraine gegen den russischen Angriffskrieg geleistete militärische Unterstützung zu unterminieren", schreibt der Generalbundesanwalt in einer Pressemitteilung anlässlich der Verhaftung der beiden Männer, die neben dem deutschen auch einen russischen Pass besitzen. Nicht nur deutsche Einrichtungen sollen sie dazu fotografiert haben, sondern auch solche des US-Militärs in Deutschland.
Der Hauptverdächtige soll sich in der Vergangenheit in der Ostukraine einer bewaffneten Einheit der selbsternannten "Volksrepublik Donezk" angeschlossen haben. Ihm wird deshalb auch die Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung vorgeworfen. Bei einer Verurteilung drohen den Männern Haftstrafen von bis zu zehn Jahren.
Nach Angaben des Generalbundesanwalts am Bundesgerichtshof seien die Männer "dringend verdächtig in einem besonders schweren Fall für einen ausländischen Geheimdienst tätig gewesen zu sein." Bundesinnenministerin Nancy Faeser sprach von einem "besonders schweren Fall der mutmaßlichen Agententätigkeit für Putins Verbrecher-Regime".
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock hat den russischen Botschafter in Berlin einbestellt, was in der Diplomatie als Ausdruck deutlicher Kritik gilt. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz hat sich zu dem Fall geäußert. Er sagte: "Wir können niemals hinnehmen, dass solche Spionageaktivitäten in Deutschland stattfinden."
Ebenfalls wegen des Verrats von Staatsgeheimnissen an Russland stehen Carsten L. und sein Komplize Arthur E. in Berlin bereits vor Gericht. Sie sollen für ihre Agententätigkeit viel Geld kassiert haben. Werden sie wegen besonders schwerem Landesverrat verurteilt, dann droht ihnen eine lebenslange Haftstrafe.
Carsten L. war als Referatsleiter beim deutschen Geheimdienst BND für "Personelle Sicherheit" zuständig - doch er soll selbst ein Sicherheitsrisiko gewesen sein. Dem ehemaligen Bundeswehroffizier wird vorgeworfen, als Doppelagent für den russischen Geheimdienst FSB gearbeitet zu haben. L. soll Geheim-Dokumente an den Geschäftsmann E. weitergegeben haben. Dieser habe sie dann an den FSB übergeben. Dafür soll L. mit 450.000 Euro und E. mit mindestens 400.000 Euro entlohnt worden sein. Der Geheimnisverrat könnte dem russischen FSB ermöglicht haben, Rückschlüsse auf Spionagemethoden des BND zu ziehen.
Bereits im Juni 2022 hatte die deutsche Innenministerin Nancy Faeser gesagt, der russische Krieg gegen die Ukraine bedeute "auch für die innere Sicherheit eine Zeitenwende". Als Unterstützer der Ukraine dürfte Deutschland dabei besonders im Fokus des russischen Geheimdienstes stehen. Faeser warnte vor Desinformationskampagnen, Cyberangriffen und Spionage ausländischer Geheimdienste.
Doch nicht erst seit dem russischen Überfall auf die Ukraine berichten Spione aus Deutschland nach Moskau. So wie das russische Agentenpaar, das unter dem Namen Andreas und Heidrun Anschlag jahrzehntelang eine langweilig-bürgerliche Existenz vorspielte. Er als Ingenieur, sie als Hausfrau. In Wahrheit jedoch waren die beiden seit Ende der 1980er Jahre für Moskau als Agenten tätig.
Zunächst für den sowjetischen, dann für den russischen Geheimdienst hatten sie von Deutschland aus NATO und Europäische Union ausgehorcht. Ihre Aufträge erhielten sie per verschlüsselter Botschaft auf Kurzwelle - damals war Spionage noch kein vorwiegend digitales Geschäft. Erst im Herbst 2011 wurden die "Anschlags" enttarnt - wohl dank eines Hinweises der US-Geheimdienste. Sie wurden 2013 zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt und schließlich nach Russland ausgewiesen.
Als "Kundschafter des Friedens" wurden im Sprachgebrauch der DDR Agenten bezeichnet, die für die Geheimdienste des sozialistischen Staates spitzelten. Etwa 12.000 dieser "Kundschafter des Friedens" sollen während des Kalten Kriegs zwischen Ost und West für die Stasi, den Staatssicherheitsdienst der DDR, in Westdeutschland tätig gewesen sein. So wie Gabriele Gast, die erst nach dem Zusammenbruch der DDR und kurz vor der Wiedervereinigung Deutschlands enttarnt wurde.
Gast stammte aus Westdeutschland und wurde 1968 auf einer Recherchereise für ihre Dissertation "Die politische Rolle der Frau in der DDR" von einem Stasi-Offizier angeworben. Fortan berichtete Gast an den Geheimdienst im Osten Deutschlands und machte unter falschem Namen Karriere beim West-Geheimdienst BND. Sie gilt als die Spitzenspionin der DDR im Westen.
Eine ähnlich gute Quelle für die Stasi dürfte Alfred Spuhler gewesen sein. Als hochrangiger BND-Beamter enttarnte er hunderte West-Agenten, die in der DDR tätig waren. Er wurde im November 1989 verhaftet.
Ebenfalls als Doppelagent hatte der langjährige Leiter des Referats "Gegenspionage Sowjetunion" im BND, Heinz Felfe, gearbeitet. Der ehemalige SS-Mann berichtete bis 1961 an den KGB in Moskau. Im Laufe seines Lebens soll Felfe für sieben verschiedene Geheimdienste gearbeitet haben, darunter den britische MI6 und den "Sicherheitsdienst" der nationalsozialistischen SS.
Der wohl aufsehenerregendste Spionagefall aus der Zeit des Kalten Krieges in Deutschland ist der von Günter Guillaume. Als Flüchtling aus dem Osten getarnt, kamen er und seine Frau Christel 1956 nach Westdeutschland. Ihr Auftrag: der Stasi Interna über die Sozialdemokratische Partei SPD zu liefern. Guillaume arbeitet sich hoch, wird schließlich persönlicher Referent des damaligen SPD-Bundeskanzlers Willy Brandt.
Als Guillaume enttarnt wird, zieht Brandt die Konsequenzen und tritt am 6. Mai 1974 als Bundeskanzler zurück. Günter Guillaume wird zu 13 Jahren und seine Frau zu acht Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Beide kommen wegen eines Agentenaustausches zwischen DDR und BRD im Jahr 1981 frei.
Über West-Agenten in der DDR ist weniger bekannt als umgekehrt, vielleicht, weil besonders viele Stasi-Spitzel nach dem Fall der Mauer enttarnt wurden. Viele BND-Spione im Osten dürften dagegen nie aufgeflogen sein. Ebenso wie Agenten befreundeter Nationen wie der USA, die ebenfalls in Deutschland spionieren - und selbst das Handy der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel anzapften.
Tragisch ist der Fall der beiden West-Agenten Elli Barczatis und Karl Laurenz, die bereits zu Beginn des Kalten Krieges Anfang der 1950er Jahre DDR-Dokumente in den Westen schafften.
Elli Barczatis arbeitet als Chefsekretärin des DDR-Ministerpräsidenten Otto Grotewohl. Es waren eher banale Regierungspapiere, die sie an ihren Geliebten Laurenz weitergab. Laurenz konnte den BRD-Behörden also keine brisanten Staatsgeheimnisse verraten. Doch das deutsch-deutsche Verhältnis war damals extrem spannungsgeladen und die DDR stand noch unter dem Eindruck des Stalinismus. Nach ihrer Enttarnung wurden Barczatis und Laurenz zum Tode verurteilt und 1955 mit dem Fallbeil hingerichtet.
Dieser Artikel wurde am 10.08.2023 veröffentlicht und am 18.4.2024 aktualisiert.
Es war im Juli 2022, als tausende Anleger plötzlich nicht mehr an ihr Geld kamen. Sie hatten in ein Berliner Unternehmen mit dem Namen JuicyFields investiert. Das hatte zwei Jahre lang mit hohen Renditen für ein Investment in Cannabis gelockt. Doch im Juli brannten die Kriminellen mit dem Geld durch und tauchten unter.
Nach den neuesten Schätzungen der europäischen Polizeibehörde Europol hat das Berliner Startup bei Anlegern 645 Millionen Euro eingesammelt. Knapp 200.000 Menschen sollen JuicyFields ihr Geld anvertraut haben.
Ein Jahr und neun Monate später hatte die Polizei nun anscheinend ausreichend Beweise: In einer Nacht- und Nebelaktion mit dem Namen "Action Day"haben Behörden aus mehr als 30 Ländern Ende vergangene Woche gleichzeitig fast 40 Wohnungen und Büros durchsucht. 400 Beamte waren in elf Ländern im Einsatz und verhafteten insgesamt neun Personen - darunter auch den mutmaßlichen Strippenzieher in der Dominkanischen Republik.
Am Stockholmer Flughafen Arlanda wurden wenige Tage später eine Frau und ihr Freund festgenommen. Sie sollen laut einem Medienbericht nach Spanien überführt werden. Weitere Verhaftungen könnten folgen. So sagte ein Pressesprecher der spanischen Polizei im Gespräch mit der DW, dass weitere acht Haftbefehle vorliegen, die noch nicht vollstreckt seien. "Die Aktion ist ein Signal, dass wir in Europa auch bei komplexen Fällen die Kriminellen bekommen können", so der Sprecher weiter.
Die Leitung der Ermittlung lag bei Behörden in Frankreich, Spanien und Deutschland. "Das war auf jeden Fall eine der größeren Nummern", sagte die Pressesprecherin der Staatsanwaltschaft Berlin, Karen Häußer, zur DW. "Das erfordert auch sehr viele Personen, die daran beteiligt sind. Sehr viele spezialisierte Kräfte. Das war insgesamt schon ein enormer Kräfteaufwand, das zu ermitteln", so Häußer.
Auf internationalen Cannabismessen trat JuicyFields lange Zeit pompös auf: Mit Lamborghinis, Helikoptern, eindrucksvollen Partys und großen Messeständen versuchte das Unternehmen, das Vertrauen von Anlegern zu gewinnen.
Der DW kam das System JuicyFields bereits Mitte 2021 verdächtig vor. Seitdem recherchierte sie zu dem Fall. Sie befragte Manager zum Geschäftsmodell und begleitete euphorische Anleger, als die Betrugsmasche noch nicht aufgeflogen war. Nachdem die Kriminellen sich Mitte 2022 mit dem Geld der Anleger aus dem Staub machten, begab sich die DW auf die Spurensuche nach den Drahtziehern. Aus den Recherchen entstand der achtteilige Podcast Cannabis Cowboys, zu hören auf Englisch und Deutsch.
Die internationalen Verhaftungen bestätigen nun die DW-Nachforschungen. Weder die deutschen Behörden noch Europol wollen sich zur Identität der Verhafteten äußern. Doch durch eigene Recherchen und Insiderinformationen sind der DW die Namen bekannt. Dabei handelt es sich um diejenigen Personen, die schon im Rahmen der Podcast-Reihe beleuchtet wurden - bis hin zum mutmaßlichen Boss der Bande.
In der Dominikanischen Republik wurde nun ein Mann mit russischem Pass festgenommen. Laut lokalen Medien handelt es sich dabei um Sergei Berezin, der auch unter dem Decknamen Paul Bergholts auftrat. Europol bezeichnet den Mann als den "möglichen Hauptorganisator des Betrugssystems".
Laut einem Whistleblower, den die DW Anfang 2023 in Finnland traf, hat sich Sergei Berezin alias Paul Berholts die Betrugsmasche bis ins letzte Detail ausgedacht. Demnach soll Paul Berholts ein Computernerd sein, der selbst gerne Cannabis raucht und mit seinem engsten Kreis vom russischen St. Petersburg aus agierte.
Nach dem Ende von JuicyFields sollen er und sein enger Kreis mit Yachten in der Karibik gesegelt sein. "Sie haben dort Häuser und Land gekauft und in Unternehmen investiert", so der Whistleblower. Der nun verhaftete mutmaßliche Drahtzieher soll nun von der Dominikanischen Republik nach Spanien ausgeliefert werden.
Bei ihrem Großeinsatz konnte die Polizei Bargeld, Konten, Kryptowährungen und Immobilien im Wert von insgesamt neun Millionen Euro beschlagnahmen. Sollte die Summe im Laufe der weiteren Ermittlungen nicht anwachsen, werden Anleger wohl kaum einen Großteil ihre Einlagen wiedersehen.
JuicyFields bot Investoren sogenanntes E-Growing an. Dabei konnte man am Anbau und Verkauf von medizinischem Cannabis profitieren. Anleger konnten auf dem Computer verfolgen, wie ihre Pflanzen wuchsen, getrocknet und verkauft wurden. JuicyFields versprach dabei absurd hohe Renditen von bis zu 100 Prozent im Jahr. Wie üblich bei einem Schneeballsystem, wurden diese anfangs auch ausbezahlt, um möglichst viele neue Anleger zu gewinnen. Denn bei einem Schneeballsystem werden alte Anleger mit den Einzahlungen von neuen Anlegern bedient.
Die Einstiegshürde war dabei sehr niedrig. Schon ab 50 Euro konnten Anleger eine virtuelle Cannabis-Pflanze kaufen. Zwei Jahre funktionierte die Masche - JuicyFields eröffnete währenddessen Büros und Niederlassungen in Amsterdam und der Schweiz und verkündete etliche Partnerschaften und Beteiligungen.
Bei ihren Recherchen hat die DW auch frühzeitig darauf hingewiesen, dass die Drahtzieher des Betrugssystems in Russland sitzen. Das bestätigt auch Karen Häußer von der Staatsanwaltschaft Berlin: "Momentan wird weiter davon ausgegangen, dass die Unternehmensstruktur von Russland aus gesteuert wurde."
Den Verhafteten muss nun der Prozess gemacht werden. In Deutschland muss das innerhalb von sechs Monaten stattfinden; in Spanien bis zu zwei Jahre nach Verhaftung. Verlängerungen sind möglich. Die Behörden müssen nun alle Daten auswerten, die ihnen zur Verfügung stehen. Womöglich setzen sie auch darauf, dass einige der Verhafteten mit der Polizei kooperieren.
Hier finden Sie achtteilige Podcast-Serie Cannabis Cowboys finden sie hier auf Deutschund hier auf Englisch. Und überall da wo es Podcasts gibt.
Ende Februar erhielt der Russe Oleg Ponomarjow vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) einen negativen Asylbescheid. Laut den deutschen Behörden droht ihm in Russland keine Gefahr. Daher sollte er Deutschland innerhalb von 30 Tagen verlassen. Ansonsten muss er mit einer Abschiebung rechnen. Ponomarjow überkam Verzweiflung: Er befürchtet, schon bei der Einreise nach Russland festgenommen und in den Krieg gegen die Ukraine geschickt zu werden.
Das halten die Behörden laut Bescheid aber für wenig wahrscheinlich. "Die Lage in Russland wird immer schlimmer, eine totale Mobilmachung steht bevor und meine Tauglichkeitsstufe sowie mein Führerschein erlauben mir das Führen von Militärfahrzeugen", sagt der junge Mann dazu. Oleg Ponomarjow kam im September 2022 nach Deutschland, gleich nach der Ankündigung einer Teilmobilisierung in Russland. Damals erklärte Bundeskanzler Olaf Scholz, dass russische Staatsbürger, die sich nicht an dem völkerrechtswidrigen Krieg in der Ukraine beteiligen wollen, in Deutschland Schutz bekommen sollen. Daher beantragte Ponomarjow in Deutschland politisches Asyl. Während er auf den Bescheid wartete, lernte er Deutsch und arbeitete ehrenamtlich in einem Integrationszentrum für Russischsprachige. Seine Frau folgte ihm nach Deutschland und beantragte auch Asyl.
Den negativen Bescheid hält Oleg Ponomarjow für ungerecht. "Von uns wird erwartet, dass wir uns äußern und politisch aktiver betätigen, und dann verweigert man uns Asyl. Allein dafür, dass wir hier an Protesten teilnehmen, kann man uns in Russland laut mehrerer Gesetzesartikel ins Gefängnis werfen", betont er und weist darauf hin, dass er die Antikriegskundgebungen vor der russischen Botschaft in Berlin regelmäßig besucht. Daher, so fürchtet er, könnte er in Russland wegen "Diskreditierung der russischen Armee" angeklagt werden.
Ein anderer junger Mann, Dmitrij (Name geändert), floh direkt nach dem Termin bei der zuständigen Militärdienststelle. Man hatte ihm dort mehrere Stunden Zeit gegeben, seine Sachen zu packen, doch Dmitrij tauchte unter und verließ dann das Land.
In Russland hatte sich Dmitrij im Untergrund gegen den Krieg engagiert. Er habe Graffiti gesprüht und Aufkleber verbreitet, aber über mehr könne er nicht sprechen, betont er. Einige seiner Gesinnungsgenossen hätten zum Beispiel Züge mit Munition für die russische Armee in die Luft gesprengt. Aus Sicht der deutschen Behörden ist dies aber kein genügender Beweis dafür, dass der junge Mann in seiner Heimat in Gefahr wäre. "Man meint, ich wäre in Russland sicher", sagt Dmitrij sarkastisch und fügt hinzu: "Man ist selbst zu feige, gegen das Putin-Regime vorzugehen, ruft aber die Russen auf, dagegen zu kämpfen."
Der Menschenrechtsaktivist Rudi Friedrich vom deutschen Verein Connection e.V., der sich für die Rechte von Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren aus verschiedenen Ländern einsetzt, sagt, er habe in letzter Zeit mehrere Briefe gesehen, in denen Russen mit ähnlichem Wortlaut Asyl verweigert worden sei.
Ihm zufolge muss aus Sicht der Gerichte oder des Bundesamtes für Migration als Voraussetzung für eine Flüchtlingsanerkennung eine "beachtliche Wahrscheinlichkeit" einer Verfolgung vorliegen. "Bezüglich russischer Militärdienstpflichtiger wird sehr oft angenommen, dass solch eine Wahrscheinlichkeit nicht vorliegt, selbst dann, wenn die Person Einberufungspapiere vorlegt", sagt Friedrich und fügt hinzu: "Es wird dann angeführt: Eine Einberufung sei ja nicht wahrscheinlich, weil die Person zu alt dafür sei. Oder es wird gesagt, es gebe doch 25 Millionen Reservisten, die einberufen werden könnten. Warum jetzt ausgerechnet Sie?"
Diese Argumentation entspreche zwar höchstrichterlichen Vorgaben, werde aber zu Ungunsten der Asylantragsteller ausgelegt, sodass diese abgelehnt und zur Ausreise aufgefordert würden. "In der Konsequenz droht ihnen tatsächlich eine Einberufung in Russland", so Friedrich. Gleichzeitig betont er, dass russischen Deserteuren, die vom Schlachtfeld geflohen seien, in Deutschland aber Asyl gewährt werde.
Nach Angaben des BAMF haben seit Beginn des umfassenden Krieges gegen die Ukraine 4431 Männer im wehrfähigen Alter aus Russland in Deutschland Asyl beantragt. In mehr als der Hälfte der Fälle (2476) liegt ein Bescheid vor, wobei es in den meisten Fällen (1905) ein formeller ist, wonach der Antragsteller an ein anderes Land verwiesen wird, das in seinem Fall für die Gewährung von Asyl zuständig ist.
In den Fällen, in denen Deutschland die Zuständigkeit übernahm, wurde nur 159 Personen Asyl gewährt. 412 Anträge wurden abgelehnt. Der Anteil positiver Bescheide nimmt weiter ab. So lag im Jahr 2022 das Verhältnis zwischen Ablehnungen und positiven Bescheiden bei sechs zu vier und heute bei eins zu neun. Das stellen Mitarbeiter der Bundestagsabgeordneten der Linkspartei, Clara Bünger, laut den Daten des BAMF fest. "Ich fordere die Bundesregierung auf, das BAMF anzuweisen, russischen Kriegsdienstverweigerern großzügig Schutz zu gewähren, wie es angekündigt worden war. Das wäre ein starkes friedenspolitisches Signal", sagt Bünger.
Weder Oleg Ponomarjow noch Dmitrij wollen zurück nach Russland. Auf die Frage, was ihn in seiner Heimat erwarten würde, sagt Dmitrij: "Folter, Gefängnis, Krieg und Tod." Und Oleg Ponomarjow beklagt: "Der Gedanke macht Angst, dass man eines Tages aufwacht, die Polizei an der Tür klopft und sagt: Auf zur Ausreise nach Russland!"
Zwar ist eine direkte Abschiebung mangels Direktflügen derzeit nicht möglich, doch es gab schon Abschiebungen nach Russland über Drittländer, zum Beispiel über Serbien - von Russen, die wegen Straftaten verurteilt waren. "Was hindert die deutschen Behörden daran, dies auch mit Kriegsdienstverweigerern zu tun?", sagt Ponomarjow.
Beide Männer haben gegen die BAMF-Bescheide Berufung eingelegt. Die Verfahren können sich über Jahre hinziehen. In der Zwischenzeit dürfen sie zwar als Asylbewerber in Deutschland bleiben, aber mit ihrem Status ist es schwierig, Arbeit zu finden, zu studieren oder gar eine Wohnung zu mieten.
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk
Björn Höcke dürfte auch außerhalb Deutschlands inzwischen recht bekannt sein – zumindest in politisch interessierten Kreisen. Auf Bodo Ramelow trifft diese Vermutung wohl eher nicht zu. Gemessen an ihren Funktionen müsste es allerdings umgekehrt sein: Höcke leitet seit 2014 die oppositionelle Parlamentsfraktion der Alternative für Deutschland (AfD) in Thüringen. Ramelow ist, ebenfalls seit 2014, mit einer kurzen Unterbrechung Ministerpräsident dieses Bundeslandes.
Höckes höherer Bekanntheitsgrad hat andere Gründe: Er gilt als einflussreichster Rechtsextremist innerhalb der AfD. Medial spielt das eine größere Rolle als die keineswegs banale Tatsache, dass Ramelow der erste und einzige Regierungschef eines deutschen Bundeslandes von der Linkspartei ist. Höcke träumt davon, nach der Landtagswahl im September Ramelows Nachfolger zu werden.
Das ist – grob skizziert – die politische Gemengelage im April 2024. Hinzu kommt, dass der vom Verfassungsschutz beobachte AfD-Mann öffentlich eine verbotene Parole der Kampforganisation SA (Sturmabteilung) aus der Zeit des Nationalsozialismus verwendet haben soll und dafür vor dem Landgericht Halle angeklagt wurde.
In der Medienlandschaft spiegelt sich das so wider: Über den Ministerpräsidenten Ramelow wird außerhalb Thüringens nur am Rande berichtet, während sein Herausforderer auf allen Kanälen präsent ist. Allerdings ist Höcke dabei meistens Objekt und selten Subjekt: Es wird also mehr über ihn geredet als mit ihm. Das gilt auch für seine Partei.
Und nun gab es eine umstrittene Premiere im deutschen Fernsehen: Höcke duellierte sich live mit dem selbst in Thüringen nur mäßig bekannten christdemokratischen (CDU) Spitzenkandidaten Mario Voigt. Dafür hatte der werbefinanzierte Privatsender "Welt-TV" zur Primetime am Abend 45 Minuten eingeplant. Am Ende dauerte der Schlagabtausch deutlich länger als eine Stunde.
Schon Tage vorher war das wie ein Spektakel im Boxring inszenierte Aufeinandertreffen Dauerthema in den Medien. Das Magazin "Der Spiegel" hielt das von Anfang für einen Fehler: "Natürlich wird Höcke nach diesen 71 Minuten für viele einen Tick normaler und gesellschaftsfähiger wirken als zuvor."
Ganz anders sieht das der Politik-Wissenschaftler Oliver Lembcke von der Universität Bochum: "Das permanente Weglaufen, Ausladen und Ausgrenzen der AfD mit immer wieder denselben Phrasen aus der Gefahren-Perspektive heraus hat dazu geführt, dass sich Höcke zu einer Art Magier oder dunkler Lord entwickeln konnte." Lembckes Einschätzung erschien in der "Bild", Deutschlands reichweitenstärkster Boulevard-Zeitung.
Ginge es nach dem Deutschen Journalistenverband (DJV), sollten alle Medien ihre Berichterstattung über die AfD spätestens dann neu justieren, wenn die gesamte Partei vom Verfassungsschutz als "erwiesen rechtsextremistisch" eingestuft wird. In drei von 16 Bundesländern, darunter Thüringen, ist das schon der Fall. Der DJV-Vorsitzende Mika Beuster fordert: "Das muss wie ein unübersehbarer Warnhinweis wie auf Zigarettenschachteln in unseren Artikeln auftauchen."
Wie schwierig der vermeintlich richtige Umgang mit der AfD ist, hat der Medienwissenschaftler Bernd Gäbler bereits 2017 und 2018 in zwei Studien für die Otto-Brenner-Stiftung analysiert. Darin rät er, nicht in die Ausgrenzungsfalle zu tappen. Das bedeute aber auch nicht, "dass AfD-Politiker an jedem Forum teilnehmen müssen oder für Interviews genauso anzufragen sind wie alle anderen Politiker".
Es sei keine Pflicht, in der Diskussion des lokalen Hörfunks über die neue Schnellstraße auf jeden Fall auch den Verkehrsexperten der AfD zu Wort kommen zu lassen, meint der ehemalige Journalist Gäbler. "Denn die AfD ist keine Partei wie jede andere." Gehe es allerdings darum, alle im lokalen Parlament vertretenen Fraktionen anzuhören, sei auch die AfD hinzuzuziehen, wenn sie parlamentarisch vertreten sei.
Welche Maßstäbe im Fall Höckes anzulegen sind, daran scheiden sich aber weiterhin die Geister. Die Chefredakteurin der genossenschaftlich finanzierten linksalternativen Tageszeitung "taz", Ulrike Winkelmann, hat dazu eine klare Meinung: Nur "keine Bühne den Faschisten" zu rufen, helfe nicht viel, denn die AfD habe längst eigene Bühnen: "Einen Gutteil ihrer Bedeutung hat sie sich auf ihren parallelweltlichen Plattformen im Netz erschaffen, wo die deutsche Welt pausenlos untergeht."
Außerdem empfiehlt Winkelmann einen kritischen Blick auf die Branche, in der sie selbst arbeitet: "Zugeben, dass es immer auch eigene materielle Interessen – Klicks und Reichweite – gibt, sich in die Deutungs- und Empörungsschleifen mit reinzuhängen."
Die "Süddeutsche Zeitung" verweist darauf, dass sich Höcke in den sozialen Medien längst selbst eine große Bühne geschaffen habe. Das Dilemma: "Auf YouTube, TikTok oder rechtsextremen Onlineportalen widerspricht nur keiner." Das sei beim TV-Duell mit seinem CDU-Kontrahenten Voigt anders gewesen. Er und das Moderatoren-Team hätten Höckes Schwächen bloßgelegt.
Als Beleg für diese These wird auf eine Passage aus seinem eigenen Buch verwiesen, in der Höcke die in Hamburg geborene Vizepräsidentin des Bundestages, Aydan Özoğuz, rassistisch attackiert. An den Satz, dass die Sozialdemokratin in Deutschland nichts verloren habe, konnte sich Höcke angeblich nicht erinnern.
Die "Berliner Zeitung" lenkt den Blick auch auf das Publikum: "Zum ersten Mal trafen im Rahmen eines Streitgesprächs Positionen aufeinander, die einander kategorisch ausschließen, aber in der Bevölkerung tagtäglich in Kneipen, Sport- und Schützenvereinen, am Arbeitsplatz diskutiert werden."
Und was aus Sicht des Medienwissenschaftlers Bernd Gäbler entscheidend ist, hat er schon 2017 in seiner ersten Studie geschrieben: "Notwendig ist kein eigener, speziell auf die AfD zugeschnittener Journalismus. Vielmehr ist die AfD lediglich eine neue Herausforderung, um sich alte journalistische Tugenden und das klassische Handwerkszeug erneut vor Augen zu führen."
Mehr als 1,1 Millionen Menschen sind vor dem Krieg in der Ukraine nach Deutschland geflüchtet - darunter geschätzt mehrere Tausend Roma, Angehörige der größten Minderheit Europas. Während Geflüchtete aus der Mehrheitsgesellschaft unbürokratisch versorgt und herzlich willkommen geheißen wurden, erlebten die meisten Roma ein ganz anderes Deutschland: sehr bürokratisch und wenig hilfsbereit, misstrauisch, abwertend, rassistisch.
Zu diesem Ergebnis kommt die Melde- und Informationsstelle Antiziganismus (MIA) in ihrem Monitoringbericht "Antiziganismus gegen ukrainische Roma-Geflüchtete in Deutschland". Antiziganismus ist eine Form des Rassismus, die sich gegen Sinti und Roma richtet oder gegen Menschen, die man dafür hält.
Roma-Familien, die vor dem Krieg in der Ukraine flüchten, haben in Deutschland denselben Anspruch auf Unterstützung wie ihre ukrainischen Landsleute. "Aber diese Willkommenskultur ist nicht für Roma da", sagt MIA-Geschäftsführer Guillermo Ruiz der DW: "Wir haben vom ersten Tag an beobachten können, wie ukrainische Roma in allen Formen diskriminiert worden sind." Rund 220 Meldungen seien dazu bei MIA eingegangen.
Roma erleben demnach systematische Diskriminierung: in Flüchtlingsunterkünften, von der Polizei, die ihre Herkunft infrage stelle, von Bahn-Mitarbeitern, die sie aus Wartebereichen, Bahnhöfen oder dem Zug drängten, Schulbehörden, die Roma-Kindern monatelang keinen Unterricht ermöglichen, von Sozialarbeitern oder Ehrenamtlichen, die anderen Ukrainern engagiert helfen. "Das hat uns sehr geschockt", sagt Ruiz. Einige Roma-Familien seien so schlecht behandelt worden, dass sie zurückreisten ins Kriegsgebiet. Es gebe immer noch Hinweise aus ganz Deutschland auf rassistische Diskriminierungen.
Gemeindevertreter in Bayern hätten gesagt: "Wir können weiter gerne ukrainische Geflüchtete aufnehmen, aber keine Roma." Ein Landrat äußerte sinngemäß, dass sie "Geflüchtete aufnähmen, nicht aber Hunde und Roma". Besonders erschreckende Aussagen, betont Ruiz, weil sie von deutschen Behörden ausgingen. "Deutschland hat eine historische Verantwortung für diese Minderheit."
MIA fordert, dass Deutschland dieser Verantwortung nachkommt, wie es der Bundestag am 14.12.2023 beschlossen hat, und betont: "Geflüchtete Roma müssen von der Bundesregierung als besonders schutzwürdige Gruppe anerkannt werden."
In Europa sind bis zu einer halben Million Sinti und Roma dem Völkermord durch das nationalsozialistische Deutschland zum Opfer gefallen. "Die ukrainischen Roma-Geflüchteten sind Nachkommen von Holocaust-Überlebenden", sagt Ruiz. Während der deutschen Besatzung wurde nach Schätzungen fast die Hälfte der ukrainischen Roma ermordet.
Kränze für die Ermordeten niederzulegen reiche nicht, mahnte Mehmet Daimagüler, Antiziganismusbeauftragter der Bundesregierung, am Internationalen Roma-Tag am 8. April. Er kritisierte den deutschen Umgang mit der Minderheit: "Wir achten die Toten und verachten ihre Nachkommen."
Renata Conkova ist jeden Tag im Einsatz für die Nachkommen der Verfolgten. Die 44-Jährige unterstützt geflüchtete ukrainische Roma bei Behörden und Ärzten, in der Schule und bei der Wohnungssuche. Als Romni in der Slowakei hat sie selbst Diskriminierung erlebt. Seit drei Jahren arbeitet sie in Thüringen für RomnoKher, eine Interessenvertretung für Menschen mit Roma-Hintergrund.
RomnoKher bietet Workshops an, in denen geflüchtete Roma erfahren, wie das Leben in Deutschland funktioniert. In einem Monitoring stellt Renata Conkova fest, ob Krankheiten vorliegen, Impfungen fehlen oder wie der Bildungsstand ist. Sie organisiert Alphabetisierungskurse für Kinder und Eltern. Das Interesse an Bildung sei groß.
In der Ukraine seien viele Roma an den Rand der Gesellschaft gedrängt worden, lebten in extremer Armut am Rand der Städte, teils ohne Strom- und Sanitärversorgung. Viele berichteten, dass sie am Schulbesuch gehindert worden seien, sagt Conkova, das habe zu Analphabetismus über Generationen gesorgt. Der MIA-Bericht verweist auf Ausgrenzung bis hin zu antiziganistischer Gewalt in den 2010er Jahren.
Auch in Deutschland ist Rassismus für Roma-Geflüchtete Alltag, beobachtet Conkova: Einer Familie sagt man im Restaurant, da sei kein Platz für sie - alle Tische sind frei, keiner reserviert. Eine Frau muss in einem Textildiscounter ihre Handtasche öffnen: "Euer Volk klaut so gern." Als man nichts findet, entschuldigt sich keiner bei ihr. Ukrainische Roma erlebten, dass bei Behörden eingereichte Unterlagen mehrfach verloren gehen und sie ohne finanzielle Unterstützung dastehen.
Bis heute seien uralte antiziganistischer Vorurteile gegen die Minderheit verbreitet, sagt Guillermo Ruiz, da sei die Rede von Kriminalität, Kinderraub oder Handel mit Kindern und Frauen. "Antiziganismus ist leider immer noch Normalität in Deutschland." Im MIA-Bericht finden sich Beispiele falscher Beschuldigungen. In einem Ort wurde behauptet, die Minderheit sei beteiligt an Schlägereien. Der Polizeichef wies die Aussage als falsch zurück.
Verbreitet würden Vorurteile durch Medienberichte, aber auch bei Versammlungen "besorgter Bürger" aus dem rechten bis rechtsextremen Spektrum, die teils durch die AfD organisiert werden, sagt MIA-Geschäftsführer Ruiz. Man bespreche das sogenannte "Roma-Problem". Er habe einen Bürgermeister gefragt, warum seine Bürger sich Sorgen machten: "Was machen die Roma, wo ist das Problem?" Der Bürgermeister sagte: "Sie sind einfach da."
Mehrfach erlebt Renata Conkova, wie ukrainische Dolmetscherinnen rassistisch über Geflüchtete sprechen: "Das sind nur Zigeuner, die können nichts." Unter der abwertenden Fremdbezeichnung wurden Sinti und Roma von den Nazis verfolgt und ermordet, das Z wurde ihnen in Auschwitz in die Haut tätowiert.
Andere ukrainische Geflüchtete weigern sich, mit Roma an einem Tisch zu sitzen. Kein Einzelfall, hat MIA festgestellt: In Köln demonstrierten geflüchtete Ukrainer für ihre Unterbringung getrennt von ukrainischen Roma, ähnliche Berichte kommen aus vielen Bundesländern. In einem Fall seien Roma-Familien so eingeschüchtert worden, dass sie sich nicht mehr aus ihrem Zimmer trauten.
Wo vermittelt wird, geschehen manchmal kleine Wunder, wie Renata Conkova berichtet: Die Kinder einer Roma-Familie schauen aus dem 3. Stock neugierig zum gegenüberliegenden Haus, wo Kinder in einem Swimmingpool plantschen. Das haben sie noch nie gesehen. Der Vater aus dem Nachbarhaus aber bedroht die Roma-Familie mit einer Waffe.
Als eine Integrationshelferin und Renata Conkova den Mann ansprechen, stellt sich heraus, dass er aus lauter Angst vor Pädophilen verhindern wollte, dass irgendjemand seine Kinder beobachtet. Über Roma hat er nur Schlechtes gehört.
Als er von den Problemen der Familie gegenüber erfährt, fragt er: "Warum hat mir das niemand erklärt?" Die Kinder dürfen mit seinen Kindern spielen. Er erklärt den Nachbarn die komplizierte Mülltrennung in Deutschland und zeigt der Mutter, wo sie günstig einkaufen kann. Viele Menschen wüssten nichts über die Minderheit, sagt Conkova. "Es ist nicht jeder Rassist."
Die Meldestelle MIA fordert Fortbildungen und Sensibilisierung für Antiziganismus bei Behörden und Helfern, ebenso wie das Ende der Benachteiligung von ukrainischen Roma in allen Lebensbereichen.
Am Internationalen Roma-Tag hat Bundesfamilienministerin Lisa Paus Hetze gegen die Minderheit klar verurteilt: "Jeder Fall ist einer zuviel." Sie rief dazu auf, antiziganistische Vorfälle zu melden: "Stellen Sie sich an die Seite von Sinti und Roma!"
Der Straftatbestand, den Björn Höcke begangen haben soll, kommt in bestem Beamtendeutsch daher: "Verwenden von Kennzeichen einer ehemaligen nationalsozialistischen Organisation". So lautet die Anklage gegen Björn Höcke, wenn am 18. April der Prozess vor dem Landgericht Halle der Prozess beginnt.
Es geht um einen Wahlkampfauftritt am 12. Dezember 2023 in Gera, Thüringen. Im Restaurant Waldhaus "platzt der Veranstaltungssaal aus allen Nähten", freut sich der Stadtverband der Alternative für Deutschland, also Höckes Partei.
Im Laufe der Veranstaltung macht Höcke ein vermeintliches Spielchen mit seinen Anhängern. Er erzählt, dass er vor Gericht erscheinen muss, wegen einer Anklage aus dem Jahr 2021. "Weil ich mal einen Wahlkampfabschluss gemacht habe in einem rhetorischen Dreiklang: "Alles für unsere Heimat! Alles für Sachsen-Anhalt! Alles für..." Gestikulierend ermuntert Höcke dann sein Publikum, den Spruch zu Ende zu führen. Das ruft applaudierend und johlend zurück "...Deutschland!" Höcke steht lachend auf der Bühne und freut sich.
"Alles für Deutschland". Es ist die Losung von Hitlers berüchtigter paramilitärischer Organisation, der "Sturmabteilung" oder kurz SA.
Die SA wirkte vor allem zu Beginn des Nationalsozialismus, rund um die Machtübernahme Hitlers und seiner Partei, der NSDAP, im Jahr 1933. In dieser Frühphase überzog sie Deutschland mit Terror: tötete, folterte und schüchterte ein - vor allem Kommunisten und Juden.
Mit dem Untergang des selbsternannten "Dritten Reichs" und dem Ende des deutschen Massenmordens in ganz Europa im Jahr 1945 wurde die SA, wie alle anderen NS-Organisationen, verboten.
Später dann, in der neu gegründeten Bundesrepublik, wurde jede Propaganda im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie und ihrer Organisationen in Deutschland verboten, also auch die Verwendung der Losung der SA: "Alles für Deutschland".
Aber: Wusste Björn Höcke, was für eine Parole er da verwendet? Ja, er wusste es. Gesichert zumindest beim zweiten Mal, bei seinem Auftritt in Gera. Denn er verweist ja selbst auf die Anklage.
Und: Björn Höcke ist von Beruf Geschichtslehrer. Er studierte Geschichte und unterrichtete das Fach über viele Jahre, bevor er dann für die in Teilen rechtsextreme AfD in die Politik ging und einer ihrer radikalsten Vertreter wurde.
Bemerkenswert ist, wie stark sich Höckes Wirken immer wieder direkt oder indirekt auf die NS-Zeit bezieht. Er kritisiert das Holocaust-Mahnmal zur Erinnerung an die Ermordung von sechs Millionen europäischen Juden durch die Nationalsozialisten als "Mahnmal der Schande".
Oder im Jahr 2016: Höcke äußert auf einer AfD-Kundgebung Mitleid mit der notorischen Holocaust-Leugnerin Ursula Haverbeck, die als Wiederholungstäterin eine längere Haftstrafe antreten musste.
Im Jahr 2017 geht Höcke besonders weit: In einer Rede vor dem Parteinachwuchs Junge Alternative kritisiert er den Umgang der Deutschen mit der NS-Diktatur. Er nennt ihn "dämliche Bewältigungspolitik". Und dann fordert er: "Wir brauchen eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad". Wenn die kritisierte Erinnerungspolitik an die NS-Zeit eine kritische, warnende oder mahnende ist, dann fordert Höcke demnach das Gegenteil: eine in welcher Form auch immer positive.
Höcke hat in einem "Gesprächsband" im Jahr 2018 seine Gedanken als Buch veröffentlicht. Darin nennt er es falsch, dass "Hitler als absolut böse" dargestellt wird und dass es nicht so "Schwarz und Weiß" sei.
Das Buch ist voller radikaler Aussagen: Höcke sagt - so sah es auch das Verwaltungsgericht in Meiningen -, dass letztlich ein neuer Führer erforderlich sei, dass Deutschland der "Volkstod durch den Bevölkerungsaustausch" drohe. Und für Andersdenkende in der deutschen Gesellschaft gelte: "Brandige Glieder können nicht mit Lavendelwasser kuriert werden, wusste schon Hegel".
Die Aussagen in seinem Buch sind so radikal, dass ein deutsches Gericht es als Grundlage für seine Entscheidung herangezogen hat, dass die Aussage "Höcke ist ein Faschist" nicht aus der Luft gegriffen sei, sondern auf einer überprüfbaren Tatsachengrundlage beruht, so das Verwaltungsgericht Meiningen in seinem Urteil vom 26. September 2019.
Bemerkenswert an der Medienaufmerksamkeit für Höcke und den Debatten über ihn als politischer Figur ist: Björn Höcke ist ein Politiker, der in Deutschland kein politisches Amt bekleidet und noch nie eines bekleidet hat. Und der noch nicht einmal Vorsitzender einer Partei ist oder auch nur in ihrem Bundesvorstand.
Trotzdem ist er zu einem absoluten Reizpunkt in der deutschen Politik geworden, über dessen Gedanken, Weltanschauung und politisches Handeln das Land streitet.
Der Grund: Ob mit oder trotz seiner Radikalität - Höcke hat die AfD in seinem Bundesland Thüringen so weit zum Erfolg geführt, dass sie in Meinungsumfragen zur stärksten politischen Partei aufgestiegen ist. Und das mit der Ämterlosigkeit könnte sich 2024 ändern: Björn Höcke will Ministerpräsident in Thüringen werden.
In seiner Partei ist er, auch ohne auf Bundesebene Ämter zu führen, schon lange tonangebend. Gegen Höcke ist bei der Besetzung von Posten und Positionen kaum noch etwas durchzubringen. In einer Partei, die immer häufiger von den deutschen Sicherheitsbehörden als "rechtsextremen Verdachtsfall" geführt wird. Der AfD-Landesverband in Thüringen unter Führung von Björn Höcke wird vom Verfassungsschutz des Bundeslandes nicht als Verdachtsfall geführt. Sondern als "gesichert rechtsextremistisch".
Caspar David Friedrichs Geburtstag jährt sich in diesem Jahr zum 250. Mal - der Maler wurde am 5. September 1774 geboren. Unter dem Titel "Caspar David Friedrich. Unendliche Landschaften" ist ab Freitag in der Alten Nationalgalerie Berlin eine umfassende Ausstellung zum 250. Geburtstag des Künstlers zu sehen.
Das berühmteste Gemälde leuchtet in Blau: Ein riesiger Himmel, der sich fast über die gesamte Bildfläche erstreckt, zum Horizont hin verdunkelt und schließlich in das nachtschwarze Blau des Meeres übergeht. Ganz unten am Bildrand steht, wie verloren, ein winziger Mensch: Caspar David Friedrichs "Mönch am Meer". Die Zeitgenossen waren fasziniert, es wirke, "als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären", brachte Heinrich von Kleist (1777-1811) seinen Eindruck in den Berliner Abendblättern auf den Punkt. Gleich daneben hängt die "Abtei im Eichwald", die düstere Ansicht einer Kirchenruine mit Trauerzug, gerahmt von kahlen Bäumen, die in den Winterhimmel ragen. 1810 gelang Caspar David Friedrich (1774-1840) mit diesen beiden Gemälden der künstlerische Durchbruch in Berlin. Das Bilderpaar, das der preußische König Wilhelm III. sofort ankaufte, bildet den Auftakt zu der großen Friedrich-Ausstellung. Mit 61 Gemälden, darunter 15 aus eigenem Bestand, sowie 54 Zeichnungen, überwiegend aus dem Berliner Kupferstichkabinett, vermittelt die Ausstellung einen umfassenden Eindruck von Friedrichs Schaffen.
Los ging es mit den Feierlichkeiten aber bereits im Dezember mit dem Start einer Blockbuster-Ausstellung in derHamburger Kunsthalle , der "umfangreichsten Werkschau des bedeutendsten Künstlers der deutschen Romantik seit vielen Jahren", wie es das Museum bewarb.
Die Schau bildete den Auftakt zum "Caspar David Friedrich-Festival", in dessen Rahmen nun die Alte Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin und ab September die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden dem Künstler eine Schau widmen. Sie stehen unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.
Ende November wurde in Berlin Caspar David Friedrichs Skizzenbuch für 1,8 Millionen Euro versteigert. Kurz vor der Auktion hatte die Berliner Kulturverwaltung ein Verfahren eingeleitet, damit das Werk des Romantikers in das Verzeichnis national wertvollen Kulturgutes des Landes Berlin eingetragen wird.
Das "Karlsruher Skizzenbuch", wie es genannt wird, befand sich 200 Jahre im Besitz der Familie Kersting. Georg Friedrich Kersting war ebenfalls ein großer romantischer Maler und obendrein ein Freund von Caspar David Friedrich.
Zeitgenossen berichten, so schreibt es Florian Illies in seinem Bestseller über Caspar David Friedrich, "Zauber der Stille", dass Kersting seinem Malerfreund bei den Figurendarstellungen in seinen Gemälden geholfen haben soll. Warum?
Caspar David Friedrich selbst, so Illies, sei ein wenig talentierter Porträtist gewesen sein, schon in seiner Zeit an der Akademie in Kopenhagen sei er deswegen verspottet worden. Vielleicht hat Friedrich aus diesem Grund die Figuren in seinen Gemälden meist von hinten dargestellt?
1774 wird Caspar David Friedrich als sechstes Kind des Seifensieders und Kerzenmachers Adolf Gottlieb Friedrich und seiner Frau Sophie Dorothea in Greifswald geboren. 1781 stirbt seine Mutter, seine Schwester erliegt dem Typhus. Sein jüngerer Bruder Johann Christopher erleidet einen Herzinfarkt, als er seinen Bruder Caspar David retten will, der im Eis der Elbe eingebrochen ist. Nur fünf der neun Geschwister erreichen das Erwachsenenalter.
Friedrich ist ab 1790 Schüler des Greifswalder Universitäts- und Zeichenlehrers Johann Gottfried Quistorp, der ihn besonders fördert. Seine künstlerischen Studien setzt er an der Kunstakademie in Kopenhagen fort. Ab 1798 lebt und arbeitet Friedrich in Dresden, wo er am 7. Mai 1840 stirbt.
"Mystiker mit dem Pinsel": So nannte der schwedische Dichter Per Daniel Amadeus Atterbom Caspar David Friedrich. Der romantische Maler wird schon zu Lebzeiten von seinen Kollegen geschätzt.
Nur Johann Wolfgang von Goethe wusste mit den Gemälden des Romantikers zunächst wenig anzufangen. Er verspottet sie als "neudeutsch, religiös-patriotisch". Der Dichter soll sogar ein Bild Friedrichs auf der Tischkante zerschlagen haben, das ihm nicht behagte.
1794 besucht Friedrich für vier Jahre die Kopenhagener Akademie und kommt dort mit der Naturmystik in Kontakt, die seine Kunst beeinflusst. Sein erstes Ölgemälde provoziert: Caspar David Friedrich widmet sich mit dem Bild "Kreuz im Gebirge" - auch wegen seines späteren Aufstellungsorts "Tetschener Altar" genannt - von 1807/1808 dem Verhältnis von Natur und Gott.
Seine Kunst ist nicht mehr ein Fenster zur Welt, wie noch in der Aufklärung, sondern ein Fenster zur Seele, ganz im Sinne der Romantik. Das "Kreuz im Gebirge" sorgt für Aufregung, weil der Maler der Kirche und der Natur gleich viel Raum einräumt.
Caspar David Friedrich ist ein zurückgezogen lebender Künstler, der sein Haus in Dresden erst nach der Dämmerung zu langen Spaziergängen verlässt. Am 21. Januar des Jahres 1818 heiratet er die 25-jährige Caroline Bommer - und zwar um sechs Uhr morgens.
Napoleons Feldzüge und die französischen Truppen bringen ihn aus der Ruhe, weil sie ihn und seine Heimat bedrohen. 1806 hatte Napoleon die meisten deutschen Länder besetzt.
In Friedrich regt sich deutsches Nationalgefühl. Der Künstler träumt vom Ideal eines vereinigten Deutschlands und verehrt das Christliche und das Germanische gleichermaßen. In seinen Gemälden tauchen Personen auf, die altdeutsche Trachten tragen, auch das ein geheimer Akt des Patriotismus.
Caspar David Friedrich hält zwar mit dem Bleistift jeden Baum, jeden Felsen, jedes Gebirge oder jedes gehisste Segel naturgetreu fest, doch in seinen Werken setzt er die einzelnen festgehaltenen Beobachtungen frei wieder zusammen. Die Natur ist für ihn nur Inspiration.
Er collagiert aus seinen Eindrücken nach eigenem Gusto in seinem Atelier erfundene Landschaften wie das "Eismeer". Das apokalyptische Gemälde verwandelt die zugefrorene Elbe mit dem fest eingekeilten Schiffswrack in ein weites Meer. Die Eisplatten türmen sich bedrohlich auf, doch sie entspringen nicht der eigenen Beobachtung, sondern seiner Fantasie.
Caspar David Friedrich lebt ab 1820 bis zu seinem Tod nur einen Steinwurf von der Elbe entfernt. In seinem Zuhause "An der Elbe 33" in Dresden empfängt er sogar den späteren Zar Nikolaus von Russland, der bei ihm zahlreiche Gemälde ankaufen lässt.
Während die Aufklärung noch auf den Verstand und die rationale Erfassung der Welt setzt, folgt mit der Romantik eine Phase des Gefühls und der Empfindsamkeit. Subjektive Stimmungen erhalten einen Platz, was sich auch in der Kunst von Caspar David Friedrich nachweisen lässt.
Auf die strengen Kompositionen der Aufklärung antwortet Friedrich mit Irritation und Empfindung: zerklüftete Berglandschaften, Morgennebel, düstere Wolkenschichten, die den Menschen mitunter zu verschlucken drohen.
Eines seiner Hauptwerke ist "Der Mönch am Meer", das er 1808 beginnt, und das als eines seiner unkonventionellsten gilt, da es keine Tiefenperspektive gibt, Meer und Himmel gehen ineinander über. Im Vordergrund steht klein und ehrfürchtig ein Mann, der dem Betrachter den Rücken zukehrt - und so eine Stellvertreterrolle und Identifikationsfigur abgibt. Unendlichkeit und die Größe des Universums sind das Thema dieses Gemäldes.
Das Gemälde "Kreidefelsen auf Rügen" gilt als eines der schönsten und wohl auch bekanntesten Werke von Caspar David Friedrich. Es entstand während seiner Hochzeitsreise im Sommer 1818. Wie durch ein Fenster, das ein häufig verwendetes Motiv des Malers ist, öffnet sich der Blick auf die Ostsee und in der Ferne auf einen hellen Himmel. Das Auge folgt den Segelschiffen, die dem Horizont entgegengleiten.
Immer wieder gehen Werke von Caspar David Friedrich in Flammen auf. Am 10. Oktober 1901 brennt Caspar David Friedrichs Geburtshaus in der Langen Straße 28 in Greifswald. Einige Gemälde können gerettet werden, doch wohlmeinende Verwandte übermalen sie und zerstören sie damit.
Auch im Zweiten Weltkrieg beim berühmten Bombenangriff auf Dresden verbrennen etliche von Friedrichs Gemälden. Heute verwahren Museen in Hamburg, Dresden und Berlin den Großteil der Kunstwerke von Caspar David Friedrich.
Caspar David Friedrich stirbt am 7. Mai 1840 verarmt - und vergessen. Seine Kunst ist plötzlich nicht mehr angesagt. Neue Strömungen lösen die Romantik ab. Naturalismus und Impressionismus überholen und ziehen an ihm vorbei.
Schon ab Mitte der 1820er-Jahre verliert sein Werk an Ansehen, damals kommt in Deutschland die Düsseldorfer Malerschule in Mode. Die Wiederentdeckung begann erst 1906 mit einer kleinen Ausstellung in Berlin, die Gemälde und Skulpturen aus der Zeit von 1775-1875 vorstellte und 32 Werke von Caspar David Friedrich präsentiert. An diese Ausstellung knüpft nun die Nationalgalerie in Berlin an und rekonstruiert die Geschichte von Aufstieg, Fall und Wiederentdeckung des romantischen Malers. Friedrich selbst hat wohl nicht daran geglaubt, dass man sich wohl immer an seinen Namen erinnern werde; darum hat er darauf verzichtet, jemals eines seiner Bilder zu signieren.
Buchtipp: Florian Illies "Zauber der Stille - Caspar David Friedrichs Reise durch die Zeiten"
Dieser Artikel wurde am 17. April aktualisiert.
Das waren deutliche Worte. "Wie es mit unserer Demokratie weitergeht, hängt von uns allen ab", sagte Stephan Kramer. Der Präsident des Verfassungsschutzes in Thüringen war Mitte April Ehrengast beim Wichernempfang des Diakonischen Werks der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Dabei mahnte er zu einem "deutlicheren Bekenntnis" aller zur freiheitlichen Grundordnung im Alltag, "bei Kommentaren im Kollegenkreis, in der Familie oder in den sozialen Netzwerken".
Auch an diesem Abend geht es um den Kampf gegen Rechtsextremismus und den Umgang mit der von Verfassungsschützern in Teilen als rechtsextrem bewerteten Partei Alternative für Deutschland (AfD). Die rund 150 Gäste bei dem Empfang in Berlin-Neukölln erfuhren auch Details zur Arbeit der "DemokratieBerater:Innen". Das sind Kräfte, die der Wohlfahrtsverband ausbildet und die vor Ort Akteure gegen Demokratiefeindlichkeit unterstützen.
In den Gesprächen des Abends wird aber auch deutlich, dass es rechtsextremes Gedankengut auch bei Diakonie-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeitern gibt. Wenn es bei Umfragen in Ostdeutschland ein Wählerpotenzial von 30 Prozent für die AfD gebe, dann sei solches Gedankengut eben auch im Mitarbeiterkreis zu spüren, sagt eine Bereichsleiterin im Gespräch. Und auch Verfassungsschutz-Präsident Kramer bestätigt auf Anfrage, dass er in Einzelfällen von Berührungen von Kirche und Rechtsextremisten wisse.
"Sicherlich haben wir in der Diakonie in einigen Fällen auch Menschen, die sich menschenfeindlich und rechtsextremistisch äußern", bestätigt Diakonie-Präsident Rüdiger Schuch im Interview der Deutschen Welle. "Es ist schon so, dass das Problem bei uns angekommen ist."
So wird die Auseinandersetzung der Kirchen mit der AfD konkret. Ende Februar hatten sich die beiden großen Kirchen in Deutschland gegen die Partei positioniert und erwähnten sie ausdrücklich. "Die Verbreitung rechtsextremer Parolen – dazu gehören insbesondere Rassismus und Antisemitismus – ist überdies mit einem haupt- oder ehrenamtlichen Dienst in der Kirche unvereinbar", erklärten die katholischen Bischöfe.
Tage später schloss sich die amtierende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Kirsten Fehrs, der Warnung an. Völkisch-nationale Gesinnungen und menschenverachtende Haltungen seien mit den Grundsätzen des christlichen Glaubens in keiner Weise vereinbar. Ende März konkretisierte sie, wenn jemand öffentlich das Gedankengut der AfD vertrete, sei das "nicht mit einem herausgehobenen Amt in der katholischen Kirche vereinbar".
Freilich – beide Kirchen legten letztlich nach den Erklärungen der Spitzen keinen rechtlichen Rahmen oder ein Procedere fest, wie mit entsprechenden Akteuren zu verfahren sei. Fehrs betonte, Entscheidungen für Personen im Kirchendienst bedürften einer eingehenden rechtlichen Prüfung, "das ist juristisch nicht ganz einfach". Auch auf katholischer Seite ist das weitere Vorgehen noch unklar. Thomas Arnold, von 2016 bis 2024 Leiter der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen und seit einigen Wochen im sächsischen Innenministerium tätig, mahnte in einem Beitrag auf dem Portal katholisch.de "klare und einholbare Regeln sowie Verfahrensweisen" an, warnte aber zugleich vor einem "Radikalenerlass" oder dem Ausschluss aus Verbänden und Vereinen.
Dagegen erinnerte der Kirchenrechtler Thomas Schüller ausdrücklich an den "Radikalenerlass", nach dem in der Bundesrepublik in den 1970er Jahren Bewerber für den öffentlichen Dienst auf Verfassungstreue geprüft wurden. Später verdeutlichte Schüller, es gehe ihm nicht um einen "Gesinnungs-TÜV". Es brauche aber rechtliche Klärungen, damit Kirche auch bei ehrenamtlichen Akteuren distanzierend tätig werden könne. Entsprechend machen sich erste Bistümer derzeit an entsprechende Klarstellungen.
Dass es bei beiden Konfessionen Regelungsbedarf gibt, ist klar. Gleich nach der AfD-Erklärung der katholischen Bischöfe beantragten die Gremien einer Pfarrgemeinde im saarländischen Neunkirchen beim Bistum Trier den Ausschluss eines Verwaltungsratsmitglieds, das für die AfD im Landtag in Saarbrücken sitzt. Die Prüfung dauert an, wie nun, knapp sechs Wochen später, das Bistum erklärt. Und in Weil am Rhein im äußersten Südwesten Deutschlands verbot eine katholische Kirchengemeinde einer Frau die bisherige ehrenamtliche Mitarbeit in einem Kindergarten, weil sie bei der im Juni anstehenden Kommunalwahl für die AfD kandidiert. Auf beiden Seiten, bei der evangelischen Diakonie und der katholischen Caritas, gibt es Experten, die von einzelnen problematischen Fällen berichten.
Der prominenteste Fall der vergangenen sechs Wochen ist der Umgang der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) mit Pfarrer Martin Michaelis in Sachsen-Anhalt, der bei der anstehenden Kommunalwahl für die AfD in Quedlinburg als parteiloser Kandidat antritt. Mittlerweile läuft ein kirchliches Disziplinarverfahren gegen den Geistlichen. Bis zu dessen Abschluss darf Michaelis laut Landeskirchenamt weder taufen noch das Abendmahl feiern noch öffentlich predigend verkündigen. Michaelis will sich gegen diese Entscheidung zur Wehr setzen. Mag sein, dass sein Fall letztlich vor einem Kirchengericht landet.
Dabei verstehen sich die kirchlichen Wohlfahrtsverbände als wichtige Akteure zur Stärkung jener, die sich vor Ort gegen Rechtsextremismus und Rassismus einsetzen. "Wir müssen mit unzufriedenen Menschen im Gespräch sein und heraushören, was sie verleitet, ihre Stimme möglicherweise einer extremistischen Partei zu geben", sagt Diakonie-Chef Schuch. Er habe die Hoffnung, "dass wir viele Menschen für die Demokratie zurückgewinnen können".
Die Wohlfahrtsverbände, betont Schuch, trügen wesentlich dazu bei, "die Demokratie zu bewahren", da sie den gesellschaftlichen Zusammenhang stärkten. Sie seien "tatsächlich Stützen der Demokratie".
Und Thomas Arnold, der langjährige Dresdner Akademieleiter, pocht auf Mut der Kirche zu grundlegenden politischen Debatten. Weder eine bischöfliche Erklärung noch eine Verfassungsschutz-Einstufung schützten vor dem Diskurs. Es brauche Diskussionen um politische Lösungsoptionen in der Mitte der Gesellschaft.
Der Chemiekonzern BASF gehört zu den industriellen Schwergewichten Deutschlands. Weltweit aktiv, mit rund 230 Produktionsstandorten und knapp 112.000 Mitarbeitern. Ein Drittel davon sind am deutschen Stammsitz in Ludwigshafen tätig, eine Autostunde südlich von Frankfurt am Main. "Es ist der größte Chemiestandort der Welt", sagt Vorstandschef Martin Brudermüller.
Es ist aber auch ein Standort in Schieflage. "2023 haben wir überall auf der Welt Geld verdient, aber in Ludwigshafen haben wir 1,5 Milliarden Euro Verlust gemacht", berichtete der BASF-Chef Mitte März auf einer Veranstaltung der Stiftung Marktwirtschaft in Berlin. Vor allem die gestiegenen Energiekosten machen dem Konzern zu schaffen und die Vorgaben für mehr Klimaschutz.
Die Produktion soll elektrifiziert werden, der Strombedarf werde um das Drei- bis Vierfache steigen. Doch wo soll die Energie herkommen? "Wir müssen unsere hocheffizienten Gaskraftwerke in Ludwigshafen abschalten", klagt Brudermüller, der Alternativen finden muss. "Wenn ich gezwungen bin, baue ich auch Windkraftwerke in der Nordsee."
Eine Beteiligung an einem Windpark vor der niederländischen Küste gibt es bereits. Allerdings haben die deutschen Stromnetzbetreiber ihre Preise für die Nutzung der Stromleitungen zuletzt im Januar 2024 verdoppelt. Jetzt kostet es mehr, den Strom nach Ludwigshafen zu leiten, als ihn in der Nordsee zu produzieren.
Die Stromnetzbetreiber brauchen das Geld für den Ausbau der Energieinfrastruktur. Bislang sind rund 14.000 Kilometer neue Hochspannungsleitungen geplant, tausende weiterer Kilometer werden absehbar dazukommen. Geplante Zuschüsse der Bundesregierung in Milliardenhöhe fallen weg, nachdem das Bundesverfassungsgericht die Haushaltsführung des Bundes teilweise für verfassungswidrig erklärt hat.
Der Bund muss jetzt sparen, Verbraucher und Unternehmen sollen stärker zur Kasse gebeten werden. Nicht nur der BASF-Chef sieht das skeptisch. Zusammen mit den Vorständen der Deutschen Telekom und des Energieriesen E.on hat Brudermüller ein Schreiben aufgesetzt, in dem die drei Top-Manager Alarm schlagen und fordern, dass die Transformationskosten für die Energiewende anders finanziert werden müssen. Zumal die Netzentgelte absehbar noch weiter steigen würden.
Doch nicht nur die Energieinfrastruktur lässt die Vorstände klagen. Auch die übrige Infrastruktur in Deutschland sei "vielfach unzureichend" und werde zum "Wachstumshemmnis". Deutschlands internationale Wettbewerbsfähigkeit habe über Jahrzehnte auf einer sehr gut ausgebauten und verlässlich operierenden Infrastruktur insbesondere in den Bereichen Energie, Transport und Telekommunikation beruht. Dieser Wettbewerbsfaktor drohe seit Jahren, sich ins Gegenteil zu verkehren.
"Infrastruktur ist eine Überlebensfrage", formuliert Brudermüller und verweist auf kaputte Straßen und Autobahnen, marode Brücken und Wasserwege, eine unpünktliche und unzuverlässige Deutsche Bahn, fehlende Stromtrassen, schleppenden Glasfaserausbau und eine unzureichende Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung. "Wenn das nicht wird, dann werden keine Firmen mehr nach Deutschland kommen."
Eine Kritik, die in der Bundesregierung durchaus gehört wird. Volker Wissing (FDP), Minister für Digitales und Verkehr, sieht erheblichen Sanierungsbedarf in Deutschland. An erster Stelle stehen für ihn die Verkehrswege, allen voran die Bahn, Autobahnen und Fernstraßen. Allein 4500 Autobahnbrücken sind so marode, dass sie zum Teil nur noch gesprengt und neu gebaut werden können.
Bei der Deutschen Bahn sind auf 40 Streckenabschnitten mit einer Gesamtlänge von gut 4000 Kilometern Gleise und Oberleitungen so verschlissen, dass ein kompletter Neubau nötig ist. Der Zuschuss der Bundesregierung beläuft sich bis 2027 auf rund 27 Milliarden Euro. Schon jetzt ist absehbar, dass das nicht reichen wird.
Bund, Länder und Kommunen haben bei weitem nicht die Mittel, um den Sanierungs- und Modernisierungsstau zu stemmen. Zumal die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse vorschreibt, dass der Staat nur so viel Geld ausgeben darf, wie er einnimmt.
Eine Vorschrift, die bei den laufenden Haushaltsverhandlungen für 2025 für erheblichen Streit in der Bundesregierung sorgt. SPD und Grüne würden die Schuldenbremse am liebsten erneut aussetzen, wie es in den Notsituationen während der Corona-Pandemie und wegen des Kriegs in der Ukraine in den letzten Jahren der Fall war. Die FDP hält dagegen und pocht darauf, dass ab 2025 alle Ministerien sparen müssen. Auch ohne größere Ausgaben für Infrastruktur klafft im Haushalt absehbar eine Lücke von 25 bis 30 Milliarden Euro.
FDP-Minister Wissing steht zur Schuldenbremse. Wenn notwendige Investitionen nicht im Haushalt abgebildet werden könnten, müsse man eben andere Wege gehen. Deutschlands Gesellschaft sei sehr vermögend. "Wir müssen privates Kapital mobilisieren", fordert Wissing. Dafür will er einen milliardenschweren Infrastrukturfonds auflegen, in dem Finanzmittel für mehrere Jahre gesammelt und gebündelt werden könnten.
Während Wissing das Geld in erster Linie für die Verkehrsinfrastruktur vorsieht, kann sich FDP-Chef und Bundesfinanzminister Christian Lindner noch mehr vorstellen. In einem ARD-Interview verwies er darauf, dass beispielsweise Versicherungen riesige Summen ihrer Kunden verwalten. "Dieses Geld zu mobilisieren zum Beispiel in den Ausbau der Stromnetze, in den Ausbau der Wasserstoffnetze, das ist alle Mühe wert."
Doch wie soll ein solcher Fonds funktionieren? Private Anleger werden ihr Geld sicherlich nur dann langfristig zur Verfügung stellen, wenn sie mit entsprechenden Renditen rechnen können. Wird auf Autobahnen eine Maut für alle erhoben werden müssen, muss man Gebühren bezahlen, um eine Brücke zu überqueren? Aus dem Verkehrsministerium gibt es auf solche technischen Fragen noch keine Antworten.
Bei SPD und Grünen würde man viel lieber die Schuldenbremse so reformieren, dass Investitionen in die Infrastruktur auch über Kredite finanziert werden könnten. Unterstützung dafür kommt von einer ganzen Reihe von Wirtschaftswissenschaftlern. Selbst in der Wirtschaft, wo eigentlich eine strikte Haushaltsdisziplin befürwortet wird, wachsen die Sympathien für eine flexiblere Auslegung der Schuldenbremse.
Michael Hüther, Chef des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft, schlägt vor, neben dem Bundeshaushalt einen 500 Milliarden Euro schweren Sonderfonds für Infrastruktur und Transformation einzurichten. Vorbild soll der Sonderfonds für die Bundeswehr sein, für den der Staat 100 Milliarden Euro Kredite aufnahm und der mit Zweidrittelmehrheit ins Grundgesetz kam. Da er dort verankert wurde, hat er genauso Verfassungsrang wie die Schuldenbremse.
Die großen Kirchen in Deutschland haben sich in den vergangenen Monaten entschieden gegen Rechtsextremismus und gegen völkischen Nationalismus der "Alternative für Deutschland" (AfD) gestellt. Gibt es AfD-Sympathisanten in der kirchlichen Mitarbeiterschaft? Einschätzungen von Rüdiger Schuch, dem Präsidenten der Diakonie, dem Wohlfahrtsverband der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).
Deutsche Welle: Herr Schuch, als Präsident der Diakonie Deutschland stehen Sie an der Spitze von fast 630.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Wie steht es da mit eigenen Kräften, die zur AfD tendieren? Kommt das vor?
Rüdiger Schuch: Wie die beiden großen Kirchen haben auch wir uns als Diakonie zum Rechtsextremismus und zur AfD positioniert. Und auch für uns gilt, dass wir grundsätzlich eine Unvereinbarkeit zwischen dem christlichen Menschenbild, an dem sich unsere Arbeit ausrichtet, und Positionen rechtsextremistischer Strömungen und Parteien sehen. Ich glaube, dass das in dem ein oder anderen Fall problematisch ist. Natürlich kann ich nicht ausschließen, dass wir in der Diakonie in einigen Fällen auch Menschen haben, die sich menschenfeindlich und rechtsextrem äußern.
DW: Sind das Einzelfälle? Oder mehr?
Schuch: Wir erheben dazu keine Daten oder Zahlen. Deshalb kann ich Ihnen nicht sagen, wie groß diese Zahl ist und wie sehr das Thema die jeweiligen Einrichtungen im Moment beschäftigt. Aber es ist schon so, dass das Thema über unsere Mitglieder an uns herangetragen wird.
DW: Wer ist dafür zuständig, eine problematische Situation anzugehen? Sie als Verbandsspitze – oder die konkreten Verantwortlichen vor Ort?
Schuch: Verantwortlich sind die Träger vor Ort. Wenn das Problem in einer Einrichtung auftritt, ist die Einrichtungsleitung gefordert. Wir als Bundesverband beschäftigen uns grundsätzlich mit dem Umgang mit Rechtspopulismus und Rechtsextremismus, wir geben Empfehlungen an unsere Landes- und Fachverbände und über diese dann auch an die jeweiligen Träger. Klar ist: Alle diakonischen Einrichtungen leiten dieselben Werte. Die Leitbilder der einzelnen Einrichtungen bringen deutlich zum Ausdruck, dass das christliche Menschenbild für uns und unsere Arbeit prägend ist. Und zum christlichen Menschenbild gehört die Annahme eines jeden Menschen, ganz gleich, welche Religion, welche Nationalität oder sexuelle Orientierung er oder sie hat. Rassismus entspricht selbstverständlich nicht dem christlichen Menschenbild.
DW: Aber was sollte dann im konkreten Fall passieren?
Schuch: Wenn Menschen sich menschenfeindlich äußern, müssten sie eigentlich selbst spüren, dass die Einrichtung, in der sie tätig sind, nicht zu ihrem Denken passt und dass sie da fehl am Platz sind. Umgekehrt ist es wichtig, dass die Einrichtungsleitungen solche Äußerungen wahrnehmen, die Mitarbeitenden darauf ansprechen und inhaltlich damit konfrontieren. Sie müssen ihnen deutlich machen, wofür die Diakonie und die konkrete Einrichtung stehen. Menschen, die sich uns als Klientinnen und Klienten anvertrauen, dürfen keine Angst haben, dass Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter der Diakonie womöglich menschenfeindlich mit ihnen umgehen oder menschenfeindlich denken. Das wäre ein Unding.
DW: In Ostdeutschland gibt es Regionen, wo man bei den anstehenden Wahlen Ergebnisse von 30 Prozent oder mehr für die AfD für möglich hält. Da können Akteure in beiden Kirchen, seien es Geistliche, seien es Kräfte in einem sozialen Beruf, durchaus unter Druck kommen…
Schuch: Ja. Es beeindruckt mich sehr, dass die Evangelische Kirche Mitteldeutschland und die Diakonie in Mitteldeutschland mit ihrer Aktion "Herz statt Hetze" und der Plakatierung an Kirchengebäuden und an Gebäuden der Diakonie ein klares Statement setzen. Dazu braucht es durchaus Mut. Ein zweiter Punkt ist mir wichtig: Wenn Sie davon sprechen, dass die AfD laut Umfragen ein Potenzial von rund 30 Prozent hat, dann heißt das noch nicht, dass diese 30 Prozent allesamt tatsächlich extremistische, rechtsextreme Positionen haben. Ich habe die Hoffnung, dass wir viele Menschen für die Demokratie zurückgewinnen können. Wir müssen mit den Unzufriedenen im Gespräch sein und heraushören, was sie dazu bringt, ihre Stimme möglicherweise einer extremistischen Partei zu geben.
DW: Die Hinwendung zu Populismus und zu extremen Positionen ist ja in vielen Ländern ein Trend. Die Demokratie steht unter Druck. Da wird es schwerer, die Rede vom christlichen Menschenbild hochzuhalten und für Demokratie und Pluralismus einzutreten. Wie empfinden Sie diese Situation?
Schuch: Zunächst sind die Politik und die demokratischen Parteien in Deutschland und in Europa gefordert. Ihnen muss es sehr viel besser als bisher gelingen, den Menschen deutlich zu machen, dass sie Lösungskonzepte für die großen Herausforderungen der Gegenwart haben. So lässt sich das Vertrauen der Menschen in die demokratischen Parteien und in die Demokratie zurückgewinnen. Auch uns als Diakonie kommt dabei – wie den anderen Wohlfahrtsverbänden – eine wichtige Rolle zu.
Denn mit unserer Arbeit unterstützen wir Menschen, die auf Hilfe, Begleitung und Betreuung angewiesen sind. Durch unsere konkrete Hilfe spüren sie, dass sie in dieser Gesellschaft angenommen sind und sich nicht abgehängt fühlen müssen. Sie können sich auch wegen unserer Arbeit für diese Gesellschaft entscheiden. Beides ist wichtig, um die Demokratie zu bewahren oder zu stabilisieren: dass die Politik vertrauenswürdig handelt und die großen Fragen nicht scheut; und dass sich Menschen nicht abgehängt fühlen. Ob Diakonie oder Caritas oder ein anderer Wohlfahrtsverband: Wir nehmen die Menschen ernst und sind deshalb mit unserer Arbeit Stützen der Demokratie.
Interview: Christoph Strack
Rüdiger Schuch (55), evangelischer Theologe, ist seit 1. Januar 2024 Präsident des Diakonischen Werks der Evangelischen Kirche in Deutschland. Die Diakonie hat nach eigenen Angaben bundesweit knapp 630.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Schwangerschaftsabbruch ist in Deutschland grundsätzlich verboten und eine Straftat. Das regelt Paragraph 218 des Strafgesetzbuches. Eine Abtreibung bleibt aber straffrei, wenn sie innerhalb von drei Monaten erfolgt und die schwangere Frau eine Beratung in Anspruch genommen hat. Und: Ausdrücklich erlaubt ist ein Schwangerschaftsabbruch nach einer Vergewaltigung, bei Gefahr für das Leben oder die körperliche oder seelische Gesundheit der Frau.
Die bestehende Gesetzeslage ist rund 30 Jahre alt und wurde nach langen, scharfen Debatten erzielt. Jetzt packt die Berliner Koalition aus SPD, Grünen und FDP das Thema wieder an - und will Abtreibung liberalisieren.
Eine von der Bundesregierung einberufene Kommission hat dazu Empfehlungen ausgearbeitet und jetzt vorgestellt. Sie rät, die grundsätzliche Rechtswidrigkeit der Abtreibung in der Frühphase der Schwangerschaft abzuschaffen, aus verfassungsrechtlichen, völkerrechtlichen und europarechtlichen Gründen.
Die Grenze einer Legalisierung sieht das Gremium bei einer eigenständigen Lebensfähigkeit des Fötus, ungefähr ab der 22. Woche seit Beginn der letzten Menstruation. Ab dann sollten Abbrüche weiterhin illegal sein, abgesehen vom Fall einer Vergewaltigung oder bei gesundheitlichen Gefahren für die Schwangere.
Den entscheidenden Unterschied zu heute, nämlich dass eine frühe Abtreibung keine Straftat mehr sein soll, begründet die SPD-Politikerin Katja Mast so: "Ich finde, dass die Regelung des Schwangerschaftsabbruchs nicht ins Strafgesetzbuch gehört, weil es aus meiner Sicht eine Stigmatisierung der Frauen ist."
Kirchen und Verbände haben sehr unterschiedlich reagiert. Das zeigt die Polarisierung bei diesem Thema. Der katholische Familienbischof Heiner Koch würde lieber an der bestehenden Regelung festhalten, denn sie "hält sowohl die Not und Sorge der Mutter als auch den Schutz des ungeborenen Kindes hoch", sagte er der Katholischen Nachrichten-Agentur. Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken kritisiert, dass der Embryo in der frühen Phase der Schwangerschaft weniger Schutzrechte haben soll.
Dagegen begrüßt der Verband Pro Familia die Empfehlungen. Er wirbt dafür, Schwangerschaftsabbrüche vollständig zu entkriminalisieren und die Beratungspflicht abzuschaffen.
Politisch kommt der Widerstand erwartungsgemäß von konservativer Seite. Friedrich Merz, Chef der größten Oppositionspartei CDU, warnt die Regierung davor, durch eine Reform "einen gesellschaftlichen Großkonflikt in dieses Land hineinzutragen". Dorothee Bär von der bayerischen Schwesterpartei CSU zeigte sich in einem Zeitungsinterview "fassungslos, dass der Lebensschutz des ungeborenen Kindes offenbar keine Rolle mehr spielen solle".
Mit dem Schutz ungeborenen Lebens argumentiert auch die rechtspopulistische AfD ihren Widerstand gegen eine Liberalisierung.
Die Linkspartei fordert dagegen, die Bundesregierung solle aus den Empfehlungen einen Gesetzentwurf machen und ihn bald vorlegen.
Sollte die Koalition das tun, würden vermutlich bei der Abstimmung im Bundestag CDU/CSU und AfD an einem Strang ziehen - ein Problem für die CDU/CSU, hat sie doch sonst eine "Brandmauer" zur in Teilen rechtsextremen AfD hochgezogen und will nicht mit ihr zusammenarbeiten.
Vor einem ähnlichen Dilemma stünde die CDU, falls sie - oder die AfD oder beide - vor dem Bundesverfassungsgericht gegen eine solche Gesetzesvorlage klagt. In den 1990er Jahren war bereits einmal ein liberaler Bundestagsbeschluss zum Abtreibungsrecht vor dem Bundesverfassungsgericht gescheitert. Als Kompromiss kam damals die noch heute gültige Regelung heraus. Auch jetzt könnte eine Klage vor dem Verfassungsgericht gegen eine Reform der Regierung durchaus Erfolg haben.
Andere Vorhaben rund um das Thema Schwangerschaftsabbruch hat die Regierung bereits umgesetzt oder ist dabei, es zu tun. Der Paragraph 219a wurde bereits abgeschafft, das sogenannte Werbeverbot für Abtreibungen. Dadurch hatten sich immer wieder Ärztinnen und Ärzte strafbar gemacht, wenn sie öffentlich über Schwangerschaftsabbrüche informierten.
Und die Gesetzgebung zum Verbot der sogenannten Gehsteigbelästigung ist im parlamentarischen Verfahren. Aggressive Protestaktionen von Abtreibungsgegnern in der Nähe von Beratungsstellen, Krankenhäusern oder Arztpraxen, die Konfliktberatungen anbieten oder Schwangerschaftsabbrüche durchführen, sollen künftig als Ordnungswidrigkeit gelten.
Wie polarisierend das Thema nicht nur in Deutschland ist, zeigt etwa das Beispiel USA. Dort regelt seit einem Urteil des Obersten Gerichts von 2022 wieder jeder Bundesstaat das Abtreibungsrecht selbst. Manche konservativ regierte Bundesstaaten haben Abtreibungen seitdem wieder stark eingeschränkt. Das Oberste Gericht in Arizona sprach sich jetzt sogar dafür aus, ein Gesetz von 1864 wieder in Kraft zu setzen - damals tobte der Bürgerkrieg und Frauen durften noch gar nicht wählen. Demnach wären Schwangerschaftsabbrüche in Arizona künftig nahezu vollständig verboten.
Im Präsidentschaftswahlkampf legt sich aber nicht einmal Donald Trump fest, sich bei einem Wahlsieg für ein nationales Abtreibungsverbot einzusetzen. Einer Reuters/Ipsos-Umfrage vom März zufolge sind 57 Prozent der US-Bürger der Meinung, dass eine Abtreibung in den meisten oder allen Fällen legal sein sollte.
Auch in anderen westlichen Ländern sind Gesetze zum Schwangerschaftsabbruch ein heikles Thema. Die Parlamentswahl in Polen hatte der liberale Ministerpräsident Donald Tusk auch mit dem Versprechen gewonnen, Polens striktes Abtreibungsrecht zu lockern. Doch der Plan stößt auf Widerstand bei Tusks Koalitionspartner, dem christlich-konservativen Dritten Weg.
In einem anderen stark katholisch geprägten Land, in Irland, war bei einem Referendum im Jahr 2018 mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit eine Legalisierung von Abtreibungen beschlossen worden. Viele hatten damals nicht damit gerechnet, dass das Ergebnis in dem früher gesellschaftlich konservativen Land so eindeutig ausfallen würde.
Besonders liberal ist die Rechtslage seit dem März in Frankreich. Die völlige Straffreiheit von Abtreibungen hat seitdem sogar Verfassungsrang. Dort ist jetzt von einer garantierten "Freiheit zum Schwangerschaftsabbruch" die Rede. Der frühere Pariser Erzbischof Michel Aupetit reagierte auf X empört: "Das Gesetz drängt dem Gewissen auf zu töten." Frankreich habe einen Tiefpunkt erreicht. "Es ist ein totalitärer Staat geworden."
Folgt die Bundesregierung den Empfehlungen der Kommission, dürfte auch Deutschland noch eine heiße Debatte zu dem Thema bevorstehen.
"Ich und die meisten anderen sehen uns nicht als Pillen- oder Plastikklub, sondern wir sind hundertprozentig ein Traditionsverein", sagte Fernando Carro fast schon trotzig in einem Interview des Internet-Streamingdienstes DAZN. Der Spanier ist seit Mitte 2018 Geschäftsführer des Fußball-Bundesligisten Bayer 04 Leverkusen. Carro verwies darauf, dass der Verein in diesem Sommer bereits seinen 120. Geburtstag feiert. Bayer 04 blickt damit auf eine längere Geschichte zurück als einige andere Klubs der höchsten deutschen Spielklasse, die sich die Tradition groß auf die Fahne schreiben, wie Borussia Dortmund (gegründet 1909) oder der rheinische Erzrivale 1. FC Köln (1948).
Nach einer Unterschriftensammlung von Mitarbeitern des Unternehmens war am 1. Juli 1904 der "Turn- und Spielverein der Farbenfabriken, vormals Friedrich Bayer & Co in Leverkusen" ins Leben gerufen worden. Drei Jahre später hatte der Betriebssportverein auch eine Fußballmannschaft. Das Stadion der Leverkusener steht seit 1958 in einer Flussaue am Stadtrand. 2009 wurde es erweitert und zu einem Multifunktionskomplex umgebaut - mit Hotel und Tagungsräumen. Die BayArena fasst 30.210 Zuschauer.
Von 1949 an gab es im Bayer-Team auch Vertragsspieler. Sie erhielten Prämien fürs Fußballspielen. Von Profis konnte damals jedoch noch nicht die Rede sein. Noch in der zweite Hälfte der 1970er Jahre arbeiteten die Fußballer der Mannschaft drei bis viermal pro Woche vormittags im Bayer-Werk. Zu dieser Zeit hatte die für die Leverkusener übliche Bezeichnung Werkself noch einen realen Hintergrund.
Heute muss keiner der Bayer-Profis mehr Zeit in anderen Abteilungen des Unternehmens verbringen. Das Team ist seit langem Aushängeschild und Werbeträger des weltweit operierenden Chemie- und Pharmakonzerns. Der Marktwert der Mannschaft von Erfolgstrainer Xabi Alonso wird aktuell mit knapp 600 Millionen Euro veranschlagt. Allein der erst 20 Jahre alte deutsche Nationalspieler Florian Wirtz wird auf 110 Millionen Euro geschätzt. Höher als die Mannschaft der Leverkusener ist in Deutschland nur der Kader des FC Bayern München bewertet: mit rund 930 Millionen Euro.
Bayer 04 ist der Bundesliga-Verein mit dem derzeit höchsten Anteil internationaler Spieler. 78 Prozent der Profis haben ihre Wurzeln in anderen Staaten. In den zurückliegenden Jahrzehnten galt der Klub als Sprungbrett vor allem für brasilianische Fußballtalente. So begannen die Europa-Karrieren der Weltmeister Jorginho (1989 bis 1992), Paulo Sergio (1993 bis 1997) und Lucio (2001 bis 2004) in Leverkusen.
Die Bayer AG gehört zu den zehn größten nicht-staatlichen Sportsponsoren des Landes - sowohl im Spitzensport als auch im Breitensport und im Parasport. Der Konzern verweist auf rund 70 Medaillen von Bayer-Sportlerinnen und -Sportlern bei Olympischen Spielen, 90 bei Paralympics und über 200 bei Weltmeisterschaften. Der TSV Bayer 04 Leverkusen ist der erfolgreichste deutsche Leichtathletikverein. Und doch bezeichnet der Konzern die Fußball-Abteilung als "Flaggschiff" der Bayer-Top-Mannschaften. Schließlich ist Fußball Deutschlands Sportart Nummer eins.
Wie viel Geld genau die Bayer AG jährlich in den Verein pumpt, wird nicht veröffentlicht. In Medienberichten taucht immer wieder die Summe 25 Millionen Euro auf, bestätigt ist sie jedoch nicht. Seit 1999 sind die Profimannschaften der Männer und Frauen in der "Bayer 04 Leverkusen Fußball GmbH" ausgelagert. Rund 300 Menschen arbeiten für diese Kapitalgesellschaft. Die Bayer AG hält alle Anteile daran: sechs Prozent direkt und die restlichen 94 Prozent über ein Tochterunternehmen. Aufgrund dieser Konstruktion ist der Konzern nicht verpflichtet, Jahresabschlüsse der Fußball-Abteilung zu veröffentlichen. Vertraglich ist geregelt, dass die wirtschaftliche Bilanz ausgeglichen ist: Wenn die Fußball-GmbH Gewinne macht, führt sie diese an Bayer ab. Schreibt sie rote Zahlen, gleicht der Konzern die Verluste aus.
Dass die Bayer AG alle Anteile an Bayer 04 Leverkusen halten darf, ist eine Ausnahme von der im deutschen Fußball eigentlich geltenden 50+1-Regel. Diese soll verhindern, dass Großinvestoren die Vereine beherrschen. Die Klubs erhalten nur dann eine Spiel-Lizenz, wenn bei Versammlungen der "Mutterverein" über "50 Prozent der Stimmenanteile zuzüglich mindestens eines weiteren Stimmenanteils" verfügt. Das bedeutet: Auch wenn ein Investor die finanzielle Kontrolle übernimmt, darf er nicht über die Mehrheit der Stimmen verfügen, damit er von den Vereinsmitgliedern noch überstimmt werden kann. Ausnahmen gelten nur für die traditionellen Werksmannschaften Bayer 04 Leverkusen und VfL Wolfsburg. Die Wolfsburger, deutscher Meister 2009, waren aus einem Betriebssportteam des Automobilkonzerns Volkswagen hervorgegangen.
Die Sonderrolle der Leverkusener dürfte einer der Hauptgründe dafür sein, dass Bayer 04 - zumindest bislang - nicht unter den beliebtesten deutschen Fußball-Klubs auftaucht. So lag Leverkusen bei einer Umfrage im vergangenen Dezember trotz überragender Leistungen nur auf Platz zwölf. Es bleibe bei Bayer 04 ein "Geschmäckle", antwortete das Fanbündnis "Unsere Kurve" auf die Frage, wie die Fanszene dazu stehe, dass ausgerechnet ein Werksklub den Serienmeister FC Bayern ablöse.
Doch die Vorbehalte gegen Bayer 04 scheinen zu bröckeln. In dieser Saison knackte der Klub die Marke von 50.000 Mitgliedern. Im Vergleich zu den mehr als 300.000 Mitgliedern des Rekordmeisters FC Bayern erscheint die Zahl niedrig. Der Eindruck relativiert sich aber, wenn man bedenkt, dass in der Stadt Leverkusen nur rund 170.000 Menschen leben.
Mit dem ersten deutschen Meistertitel der Vereinsgeschichte hat Bayer 04 Leverkusen einen sportlichen Meilenstein geschafft. Geht es nach Klubchef Carro, ist die Reise damit aber noch lange nicht zu Ende. Erfolgstrainer Alonso bleibt dem Klub erhalten, wahrscheinlich ebenso Ausnahmespieler Florian Wirtz. "Alles, was wir in den letzten Jahren an Potenzial gesehen und erkannt haben, wollen wir in der Zukunft ausschöpfen", sagte der Geschäftsführer. "Alles mit einem Ziel: sportlich so erfolgreich wie möglich zu sein."
Die erste Meisterschaft in der Vereinsgeschichte von Bayer 04 Leverkusen sichergestellt, das Ticket für das DFB-Pokalfinale gelöst, vor dem Sprung ins Halbfinale der Europa League, bisher keine einzige Niederlage: Xabi Alonsos erste komplette Saison als Trainer einer ersten Mannschaft hätte kaum besser laufen können. Als der Spanier im Oktober 2022 zu den Leverkusenern stieß, stand der Bundesligist in der Abstiegszone. Als Trainer konnte Alonso damals lediglich auf die Erfahrung von insgesamt vier Jahren als Junioren-Coach bei Real Madrid und dann als Trainer der zweiten Mannschaft von Real Sociedad verweisen. Anderthalb Jahre später gilt der 42-Jährige als einer der besten Trainer der Welt.
Alonsos Spielerkarriere begann bei Real Sociedad San Sebastian, einem Verein aus dem Baskenland. Dort verbrachte Alonso den größten Teil seiner Jugend. Sein Vater, Periko Alonso, war als Spieler dreimal spanischer Meister - zweimal mit Real Sociedad, einmal mit dem FC Barcelona. Auch Xabi Alonsos älterer Bruder Mikel spielte für den Klub aus San Sebastian.
Xabis Spielintelligenz und Ruhe, sein außergewöhnliches Passspiel und sein taktisches Gespür weckten bald das Interesse europäischer Spitzenklubs. Der Mittelfeldstratege spielte für den FC Liverpool (2004 bis 2009), Real Madrid (2009 bis 2014) und den deutschen Rekordmeister FC Bayern München (2014 bis 2017). "Ich bin Baske, ganz und gar Baske, aber jetzt mit großem deutschen Einfluss", sagte Alonso zu Beginn dieser Saison der britischen Zeitung "The Guardian".
Obwohl Alonso etwa die Hälfte seiner Karriere außerhalb Spaniens verbrachte, waren es zwei spanische Trainer, die wohl den größten Einfluss auf ihn hatten. Sowohl Rafael Benitez in Liverpool als auch Pep Guardiola in seiner Zeit als Bayern-Trainer sahen bereits im Spieler Alonso den kommenden Topcoach. "Er war clever und analysierte. Wenn man normalerweise einem Spieler etwas erklärt, muss man es meist wiederholen. Xabi war einer, der schnell lernte", sagte Benitez, unter dem Alonso 2005 den ersten seiner beiden Champions-League-Titel gewann. Den zweiten bejubelte er 2014 mit Real Madrid. Mit der spanischen Nationalmannschaft wurde Alonso 2010 Weltmeister und zweimal in Folge Europameister (2008 und 2012).
"Er war einer der besten Mittelfeldspieler, die ich jemals gesehen habe. Ich war so froh, ihn in München dabei zu haben", erinnerte sich Guardiola. "Er versteht das Spiel und bringt auch die dafür nötige Neugier mit. Er wusste ganz genau, was wir tun mussten, um unsere Spiele zu gewinnen."
Seine analytischen Fähigkeiten stellt Alonso nun auch als Trainer unter Beweis. Der Spanier legt sehr großen Wert auf den Ballbesitz seiner Mannschaft. So hat Leverkusen in dieser Saison in der Bundesliga von allen Teams die meisten Pässe gespielt und sie auch an den Mann gebracht. Bayer 04 baut das Spiel häufig schnell durch die Mitte auf. Bei Kontern werden die flinken Außenverteidiger mit eingebunden.
Doch Alonso ist auch in der Lage, seine Taktik an den Gegner anzupassen - wie beim wichtigen 3:0-Sieg gegen den FC Bayern im Februar. Er verzichtete in der Startelf auf den rechten Außenverteidiger Jeremie Frimpong, den offensiven Mittelfeldspieler Jonas Hofmann und den tschechischen Stürmer Patrik Schick, um seine Mannschaft kompakter aufzustellen, ohne dabei an Tempo zu verlieren. Alonsos Wechsel überraschten die Bayern. Sie hatten zwar mehr Ballbesitz, brachten in den 90 Minuten aber nur einen einzigen Torschuss zustande.
"Ich denke, wir haben das Spiel gut kontrolliert. Wir haben im richtigen Moment gepresst oder auch gewartet. Für mich war es defensiv eine hervorragende Leistung", freute sich Alonso nach dem Spitzenspiel, das Leverkusens Status als Titelanwärter untermauerte.
Frimpong kam im Spiel gegen die Bayern erst nach gut einer Stunde von der Bank und erzielte in der Nachspielzeit den Treffer zum 3:0-Endstand. Die Chemie zwischen den Spielern und dem nach außen eher ruhigen, aber dennoch leidenschaftlichen und entschlossenen Alonso stimmt. "Alle Spieler haben ihm vertraut, was unsere Spielweise angeht", sagte Frimpong in dieser Woche gegenüber TNT Sports. "Man kann das auch auf dem Platz sehen - an unserer Spielfreude und daran, dass wir immer als geschlossenes Team auftreten. Er [Alonso - Anm. d. Red.] ist der Boss, aber auch einfach ein netter Kerl."
In dieser Hinsicht hat sich Alonso nach eigenen Worten ein Beispiel an seinem früheren Trainer Carlo Ancelotti genommen, unter dem er mit Real Madrid Champions-League-Sieger und mit den Bayern deutscher Meister wurde. "Carlo Ancelotti ist ein Meister in Sachen Menschenführung", sagte Alonso. "Er versteht es vorzüglich, Spieler zu überzeugen und gleichzeitig ein gutes Verhältnis zu ihnen zu haben."
Zeitweise sah es nach einem Abschied Alonsos aus Leverkusen nach dem Ende der Saison aus. Es wurde spekuliert, dass der von vielen Klubs umworbene Trainer als Nachfolger von Thomas Tuchel den FC Bayern übernehmen oder aber beim FC Liverpool in die großen Fußstapfen von Jürgen Klopp treten würde. Doch Alonso winkte ab. "Es fühlt sich richtig an. Ich bin hier am richtigen Ort. Ich bleibe bei Bayer 04", sagte der Leverkusener Erfolgstrainer Ende März. "Mein Job ist definitiv noch nicht beendet, und wir haben noch einiges vor."
Der Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert und nach dem 29. Spieltag aktualisiert.
Bereits fünf Spieltage vor Saisonschluss steht Bayer 04 Leverkusen als deutscher Fußballmeister fest. Nach dem klaren und ungefährdeten 5:0 (1:0)-Erfolg gegen Werder Bremen an diesem Sonntag (14. April) hat die Mannschaft von Trainer Xabi Alonso 16 Punkte Vorsprung vor dem FC Bayern München und dem VfB Stuttgart und kann nicht mehr vom ersten Platz verdrängt werden. Damit beendet Leverkusen die Erfolgsserie des deutschen Rekordmeisters München, der elfmal in Serie den Titel geholt hatte. Für Leverkusen ist es die heiß ersehnte erste deutsche Meisterschaft der Klubgeschichte nach insgesamt fünf zweiten Plätzen. Bayer 04 hat den "Vizekusen"-Fluch abgelegt. Wir blicken auf die Gründe:
Bayer 04 Leverkusen hat eine atemberaubende und nicht für möglich gehaltene Saison hingelegt. Als einziges Team ist die Werkself in der Spielzeit 2023/24 bislang ungeschlagen geblieben, wird damit souverän deutscher Meister und versetzt die Fußball-Welt in Erstaunen. Zum ersten Mal in der Vereinsgeschichte sicherte sich der Klub den Titel. Der Ursprung dieser Erfolgsgeschichte liegt bereits in der Vorsaison. Damals legte Leverkusen mit Trainer Gerardo Seoane einen miserablen Start hin. Nach Platz drei zum Abschluss der Saison 2021/22 holte der Schweizer in den ersten acht Spielen nur fünf Punkte und wurde im Oktober 2022 entlassen.
Als Nachfolger holte Bayer 04 den Spanier Xabi Alonso. Eine mutige Entscheidung, denn der Weltmeister von 2010 hatte bis dahin als Trainer noch nie die erste Mannschaft eines Vereins betreut. Und der Verein lief zu diesem Zeitpunkt Gefahr, anderen deutschen Fußball-Schwergewichten wie Schalke, Hamburg und Hertha in die zweite Liga zu folgen.
"Das sollte man nicht als Experiment für Leverkusen sehen. Es geht nicht um Erfahrung, sondern um Qualität", betonte Sportdirektor Simon Rolfes bei der Präsentation des Spaniers als neuer Bayer-Trainer. "Es ist immer ein gewisses Risiko dabei, aber man muss sich immer verbessern. Ich bin absolut davon überzeugt, dass es klappen wird."
Und wie es geklappt hat. Nach durchwachsenen Ergebnissen in seinem ersten Monat begann sich Alonsos Stil durchzusetzen: Ballbesitzfußball, hohes Pressing, sehr offensiv ausgerichtete Außenverteidiger. Mit diesem System holte Leverkusen in der vergangenen Saison 46 Punkte aus den letzten 24 Spielen. Damit qualifizierte sich Bayer 04 noch für die Europa League. Und der Beweis war erbracht, dass Alonso, der ehemalige Mittelfeldspieler von Real Madrid, Liverpool und Bayern München, die richtige Wahl als Trainer war.
Durch den Verkauf des Franzosen Moussa Diaby im Sommer 2023 an den Premier-League-Klub Aston Villa flossen 55 Millionen Euro in die Bayer-Kassen. Damit hatte Sportchef Rolfes die Möglichkeit, für diese Saison einen Kader nach den Vorstellungen Alonsos zusammenzustellen. Der nigerianische Stürmer Victor Boniface, der für 20,5 Millionen Euro verpflichtet wurde, sowie die erfahrenen Mittelfeldspieler Jonas Hofmann (10 Millionen Euro) und Granit Xhaka (15 Millionen Euro) waren entscheidend für Leverkusens Lauf. Boniface sorgte im Offensivspiel für Schwung und erzielte in den ersten fünf Spielen sechs Tore, ehe er sich verletzte. Xhaka sorgte für Stabilität im Mittelfeld, er kam bisher in jedem Spiel zum Einsatz. Hofmann absolvierte 27 von bisher 29 Ligaspielen. Der Offensivspieler, der zuvor sieben Jahre lang bei Borussia Mönchengladbach unter Vertrag gestanden hatte, wurde zum wichtigen Bindeglied zwischen Mittelfeld und Angriff.
Hinzu kam ein weiterer Glückgriff: Der ablösefreie Transfer Alex Grimaldos von Benfica Lissabon nach Leverkusen dürfte der beste Deal eines deutschen Vereins in dieser Saison sein. Der Spanier, im Bayer-Team ebenfalls ein Dauerbrenner, erzielte bereits neun Tore und bereitete elf Treffer vor. Gemeinsam mit dem Niederländer Jeremie Frimpong zog er das Spiel der Bayer-Elf in die Breite und sorgte damit für noch mehr Durchschlagskraft. "Ich denke, es gehört zu meinen Stärken zu wissen, wo die Räume sind und wo ich Schaden anrichten kann", sagte Grimaldo. "Xabi [Alonso - Anm. d. Red.] gibt mir die nötige Freiheit dafür."
Aber es waren nicht nur die neuen Spieler, die für den Leverkusener Durchmarsch in dieser Saison sorgten. Auch etablierte Spieler wie Frimpong, die deutschen Nationalspieler Jonathan Tah und Robert Andrich oder der argentinische zentrale Mittelfeldspieler Exequiel Palacios spielten - anders als unter früheren Trainern - auf konstant hohem Niveau.
Das galt auch für Florian Wirtz, das aktuell wohl größte Talent im deutschen Fußball. Als Alonso nach Leverkusen kam, kurierte der Nationalspieler noch seine Kreuzbandverletzung aus, die ihn auch die Teilnahme an der Weltmeisterschaft 2022 gekostet hatte. Nach seinem Comeback wurde der 20-Jährige unter Alonso noch besser. Beide schätzen einander.
"Ich spüre sein Vertrauen", sagte Wirtz über den spanischen Trainer. "Xabi gibt mir viele Freiheiten auf dem Platz und hat immer einen Tipp parat, wie ich mich verbessern kann." Alonso wollte seine Rolle bei der Entwicklung von Wirtz nicht zu hoch bewerten: "Er hat diese Kontrolle zwischen den Linien, kann auf kleinem Raum Außergewöhnliches machen. Es ist etwas, das man einfach hat, das man keinem beibringen kann." Wirtz stand bei allen Ligaspielen dieser Saison auf dem Platz, erzielte elf Treffer und gab elf Torvorlagen. Im Spiel gegen Werder Bremen, in dem Bayer 04 die Meisterschaft perfekt machte, gelang ihm sogar ein Dreierpack.
Kein Wunder, dass Europas Topklubs Schlange stehen, um Wirtz von den Leverkusenern loszueisen. Die Entscheidung seines Trainers Alonso, auch nach dem Meistertitel in Leverkusen zu bleiben, könnte Wirtz dazu bewegen, dem Ruf des Geldes zu widerstehen und mindestens eine weitere Saison für den Werksklub zu spielen.
Wer in Deutschland Meister werden will, muss in der Lage sein, den FC Bayern München zu besiegen. In der Hinrunde rettete noch ein Elfmeter-Tor von Palacios in der Nachspielzeit den Leverkusenern einen Punkt in München. Der 3:0-Heimsieg gegen die Bayern in der Rückrunde war dagegen eine Machtdemonstration von Bayer 04. Auch die größten Skeptiker trauten nun den Leverkusenern zu, den Rekordmeister nach elf Titeln in Folge entthronen zu können.
Die Tatsache, dass Bayern-Leihgabe Josip Stanisic das Tor zum 1:0 erzielte, spiegelte die konfuse, zuweilen auch leicht arrogante Personalpolitik der Münchener wider. An jenem Tag wurden die harmlosen Bayern, die nur zu einem Torschuss kamen, von den Leverkusenern regelrecht zerlegte. Es war eine taktische Meisterleistung Alonsos. Der Bayer-Sieg gegen die einst übermächtigen Bayern wirkte wie eine Wachablösung.
Der Spottname Vizekusen haftete Bayer 04 nicht umsonst an. Bislang waren die Leverkusener geradezu prädestiniert dafür, auf der Zielgeraden die Nerven zu verlieren und selbst sicher geglaubte Titel noch zu verpassen. In dieser Saison jedoch gelang es der Elf von Trainer Alonso, den Fluch abzulegen. Der Gewinn der ersten deutschen Meisterschaft in der Vereinsgeschichte ist nicht der einzige Beleg dafür. Gerade in den Schlussphasen der Spiele bewiesen die Leverkusener diesmal große Nervenstärke: In 29 Ligaspielen erzielte die Werkself nach der 81. Minute sage und schreibe 24 Tore und verwandelte manche drohende Niederlage noch in ein Unentschieden oder sogar einen Sieg. Mit dem Meistertitel sollte der Spottname Vizekusen endgültig Geschichte sein.
Der Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.
"Paradeaufstellung hört auf mein Kommando", ruft Inka von Puttkamer bei einem feierlichen Appell im Marinestützpunkt in Kiel. Sie ist die neue Kommandeurin des 3. Minensuchgeschwaders - und damit die erste Frau an der Spitze eines Kampfverbands der deutschen Marine.
Seit 2001 sind alle Laufbahnen der Bundeswehr für Frauen geöffnet. Deutschland reagierte damit auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs ein Jahr zuvor. "Da ist einiges passiert seither", sagt Maja Apelt, Militärsoziologin an der Universität Potsdam der DW. Tatsächlich sind heute sehr viel mehr Frauen im Dienst der Bundeswehr als noch vor Jahrzehnten. Waren es Jahr 1985 gerade einmal 117 Frauen und ein verschwindend kleiner Anteil am Militärpersonal, ist der Anteil seither stetig gestiegen.
Im Dezember 2023 dienten über 24.000 Frauen in der deutschen Armee. Hinzu kommen neue Anlaufstellen wie militärische Gleichstellungsbeauftragte. "Auf formaler Seite ist da einiges passiert", ergänzt Apelt.
Und dennoch: Auf die gesamte Bundeswehr gesehen, ist der Frauenanteil immer noch gering. Gerade einmal rund 13 Prozent der militärischen Angehörigen sind Frauen. Die meisten - über 8000 - dienen im Sanitätsdienst. Rechnet man diese heraus, fällt die Quote auf unter neun Prozent. Und dabei hat es sich die Bundesregierung erst kürzlich zum Ziel gesetzt, eine Quote von 20 Prozent zu erreichen.
Damit würde Deutschland international viele Länder überholen. Noch aber hinkt es einigen Ländern hinterher. In den USA beispielsweise sind jetzt schon fast 20 Prozent der Soldaten Frauen. Sogar bei den Marine Corps, einer besonders anspruchsvollen Teilstreitkraft, gibt es fast 10 Prozent Frauen. In Europa liegt Norwegen vorn mit 15,7 Prozent Anteil der Soldatinnen am militärischen Personal. Schaut man nur auf die Wehrpflichtigen, sind es sogar 36 Prozent. In Frankreich macht der Frauenanteil 16,5 Prozent aus.
Von diesen Zahlen ist Deutschland noch weit entfernt. Dabei betont die Wehrbeauftragte Eva Högl in ihrem jährlichen Bericht die Bedeutung von Frauen in der Truppe: "Sie erhöhen mit ihren Erfahrungen und Fertigkeiten die Qualität des Dienstes, denn Studien zeigen: Gemischte Teams sind immer die besten und leistungsstärksten." Außerdem würden Frauen in Streitkräften dafür sorgen, dass in Konfliktgebieten auch die Anliegen und Sorgen von Frauen berücksichtigt würden, ergänzt Soziologin Maja Apelt.
Das hat offenbar auch die Bundeswehr erkannt. So warb Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius vergangenes Jahr explizit um Frauen und bezog sich dabei auf die niedrige Quote von Frauen in der Bundeswehr: "Das ist zu wenig. Im Übrigen wird das auch dem Anspruch der Bundeswehr nicht gerecht, eine Bürger-, eine Staatsbürgerinnen- und Staatsbürger-Armee zu sein."
Doch vor allem in der Führungsetage der Bundeswehr ist es noch nicht weit her mit der "Staatsbürgerinnen-Armee", wie der Bericht der Wehrbeauftragten betont. Darin heißt es: "Deutlich unterrepräsentiert sind Frauen nämlich immer noch in Führungspositionen, und zwar selbst im Sanitätsdienst, wo der Frauenanteil seit Jahren sehr hoch ist. Darüber können auch die wenigen, gern mit Vorzeigekarrieren präsentierten Soldatinnen - zuletzt etwa die erste Bataillonskommandeurin des Heeres oder die erste U-Boot-Kommandantin der Marine - nicht hinwegtäuschen". Tatsächlich gibt es in der gesamten Bundeswehr nur drei Frauen unter den Generälen - allesamt Ärztinnen.
Womöglich war dieser Umstand einer der Gründe für die Ergebnisse einer Umfrage, die kürzlich erschien. Herausgegeben wurde sie vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Demnach stimmten nur 36 Prozent der befragten jungen Frauen im Alter von 16 bis 29 zu, dass die Bundeswehr ein attraktiver Arbeitgeber sei. Bei jungen Männern stimmten dagegen 56 Prozent zu.
Weitere Probleme, die die Bundeswehr unattraktiv für Frauen machen könnte, sind die Unvereinbarkeit von Beruf und Familie und Fälle sexueller Belästigung. Die Wehrbeauftragte verweist in ihrem jährlichen Bericht beispielsweise auf den zweijährigen General-/Admiralstabslehrgang National. Dieser sei noch nicht flexibel genug gestaltet und erfordere häufige Umzüge - schwierig für Militärangehörige mit Kindern.
Gleichzeitig ist das Problem der sexuellen Belästigung noch immer ein Thema bei der Bundeswehr. Im Jahr 2022 hat es laut Bericht der Wehrbeauftragten über 350 meldepflichtige Ereignisse wegen des Verdachts auf Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung gegeben. Eine interne Untersuchung zeigte: 80 Prozent der Betroffenen sind Frauen.
Maja Apelt erkennt darin eine größere gesellschaftliche Dimension. Die Bundeswehr spiegele jene Bereiche wider, in denen Männer dominieren: "Kaum ein Beruf ist so sehr mit Männlichkeit verbunden wie der Soldatenberuf."
Dennoch, so Apelt, zeige gerade der Sanitätsdienst und die höhere Zahl von Frauen dort, dass die Bundeswehr nicht grundsätzlich abschreckend wirke. "Vorbilder sind wichtig", betont Apelt, gerade in Führungspositionen. "Es ist wichtig zu sehen, dass es möglich ist. Ich bin nicht die einzige, sondern es ist vorstellbar, als Frau diesen Weg zu gehen. Frauen in vorgesetzten Positionen sind einerseits Vorbilder, aber andererseits können sie natürlich auch Türöffner sein."
Inka von Puttkamer, die erste Frau an der Spitze eines Kampfverbands der Marine, versteht sich zwar auch als Vorbild. Allerdings betont sie zugleich, in der Marine sollte dies heute nichts Besonderes mehr sein. "Ich finde es schwierig, dass dieses Frausein immer herausgehoben wird. Die Bundeswehr bietet meinem Mann und mir gleichzeitig die Chance, in Führungspositionen zu sein und das mit der Familie vereinbaren zu können. Ohne Frage: Das ist stressig und es brauche dafür viel Organisation und Vorplanung. Aber es ist möglich."
Der Alptraum von Amir Schraff (Name von der Redaktion geändert) beginnt ziemlich genau am 24. Dezember 2022. An dem Tag flattert bei dem alleinerziehenden Vater aus Afghanistan, der schon seit mehr als 16 Jahren in Deutschland lebt, die Kündigung seiner Mietwohnung in der Nähe von Bonn wegen angeblichen Eigenbedarfs herein. Was folgt, ist das Schicksal, welches ihn derzeit mit Hunderttausenden in Deutschland verbindet: die monatelange, verzweifelte Suche nach einer bezahlbaren Wohnung.
Mit Dutzenden unbeantworteten Schreiben, hunderten konkurrierenden Mitbewerbern und schier endlosen Schlangen für einen Besichtigungstermin. Sofern man überhaupt das seltene Glück hat, dazu eingeladen zu werden. Nur um kurze Zeit später die Standardantwort zu bekommen: "Es tut uns leid, wir haben uns für jemand anders entschieden!" Schraff hat gegen die Kündigung geklagt und sagt gegenüber der DW: "Die Wohnungslage ist Deutschland wird immer dramatischer."
Wie explosiv die Lage am deutschen Wohnungsmarkt tatsächlich ist, zeigt der Blick auf die Zahlen: Über 800.000 Wohnungen fehlen in Deutschland, Tendenz steigend. Mehr als 9,5 Millionen Menschen, vor allem Alleinerziehende und deren Kinder, leben auf beengtem Wohnraum, so das Statistische Bundesamt. Das ambitionierte Ziel der Bundesregierung, jedes Jahr 400.000 neue Wohnungen inklusive 100.000 Sozialwohnungen zu bauen, ist wegen hoher Zinsen und Baukosten in weiter Ferne.
Laut dem Wirtschaftsforschungsinstitut ifo waren es 2023 rund 245.000 Wohnungen, dieses Jahr werden es sogar nur 210.000 sein. Weil das Angebot an Wohnraum hierzulande klein ist, die Nachfrage aber riesig, schießen außerdem die Mietpreise in die Höhe. Und immer mehr Menschen wie auch Amir Schraff wenden sich in ihrer Verzweiflung an Organisationen wie den Deutschen Mieterbund, der sich für die Interessen der Mieter einsetzt.
Peter Kox, Geschäftsführer des Deutschen Mieterbundes Bonn/Rhein-Sieg/Ahr, sagt gegenüber der DW: "In den großen Kommunen Düsseldorf, Köln oder Bonn hätten mittlerweile fast 50 Prozent der Menschen von ihren Einkommensverhältnissen her einen Anspruch auf einen Wohnberechtigungsschein; also eine mietpreisgebundene Wohnung. Es sind heutzutage eben nicht nur die 'üblichen‘ Bürgergeldempfänger, die sonst häufig unser Beratungsangebot aufsuchen, sondern auch die Mitte der Gesellschaft."
Wenn Bundeskanzler Olaf Scholz davon spricht, dass Wohnen die entscheidende soziale Frage in Deutschland sei, dann hat das einen Grund: Um den knappen bezahlbaren Wohnraum kämpfen mittlerweile nicht nur Alleinerziehende mit Kindern, Arbeitslose, Studierende und Geflüchtete, sondern auch zunehmend die Mittelschicht. Sozialer Sprengstoff.
Kox berichtet, dass seine Organisation mittlerweile den Rekordwert von fast 25.000 Mitgliedern erreicht hat, und jeden Tag würden es mehr. "Die Menschen sind schon sehr verzweifelt. Wir haben in den letzten Jahren erlebt, dass nicht nur solche mit akut neuen Problemen zu uns kommen, die beispielsweise eine Energiekostennachzahlung haben, von denen sie gar nicht wissen, wie sie diese bezahlen können."
Jetzt würden sich auch Mitglieder melden, von denen Kox jahrelang nichts gehört habe, und die nun Wohnraum suchten: "Zum Beispiel durch Kündigungen, also die Versuche von Vermieterinnen oder Vermietern, ihre Mieterinnen und Mieter loszuwerden, um die Wohnung dann im Zweifelsfall teurer neu vermieten zu können."
Und dann sind da noch die, die beim Wettkampf um Wohnraum auf der Strecke bleiben. Menschen, die draußen campieren, oder, wie Kox berichtet, als Wohnungslose von Freund zu Freund ziehen oder in städtischen Unterbringungen übernachten. Der Geschäftsführer des Deutschen Mieterbundes in Bonn schätzt ihre Zahl auf mittlerweile 3500 in seiner Region. Zehnmal so viel wie noch vor ein paar Jahren. Sein dringender Appell: "In den nächsten 20 Jahren werden etwa 30.000 Menschen nach Bonn ziehen, und für die brauchen wir 15.000 Wohneinheiten. Und davon 10.000 öffentlich geförderte Wohnungen, wenn man davon ausgeht, dass bei einem gesunden Wohnungsmarkt 12 bis 14 Prozent aller Wohnungen öffentlich gefördert und mietpreisgebunden sind."
Deutschland ist Mieterland und mit Abstand Spitzenreiter in Europa. Über die Hälfte der Bevölkerung lebt nicht in den eigenen vier Wänden; es ist das einzige Land in der Europäischen Union mit mehr Mietern als Eigentümern. Doch Deutschland zahlt jetzt teuer für seine politischen Fehler der Vergangenheit: Der Bund hatte tausende Wohnungen an private Investoren verkauft, die Bundesländer sich gleichzeitig massiv aus dem sozialen Wohnungsbau zurückgezogen.
Matthias Bernt, Experte für Wohnraumpolitik, sagt gegenüber der DW: "Wir hatten früher 4 Millionen Sozialwohnungen und 15 Millionen Mieterhaushalte, das heißt ein Verhältnis von 1:4. Heute haben wir eine Million Sozialwohnungen und 21 Millionen Mieterhaushalte, also ein Verhältnis von 1:21. Wer irgendwie jetzt eine Sozialwohnung bekommen kann, hat im Lotto gewonnen."
Bernt ist kommissarischer Leiter des Forschungsschwerpunkts „Politik und Planung" am Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung. Er beobachtet, dass die Wohnungskrise vor allem in den Groß- und Universitätsstädten besonders ausgeprägt ist. In der Hauptstadt Berlin zum Beispiel gebe es immer mehr Airbnb-Wohnungen. Gleichzeitig sei die Miete für Neuvermietungen im Durchschnitt ungefähr doppelt so hoch wie die Miete für Bestandswohnungen.
Die Bundesregierung versucht verzweifelt, dagegen zu steuern und hat jetzt die Mietpreisbremse bis 2029 verlängert. Bei Abschluss eines neuen Mietvertrages darf demnach die Miete nicht mehr als zehn Prozent über der ortsüblichen Vergleichsmiete liegen. Allerdings gibt es Ausnahmen für Neubauten, umfassend modernisierte oder auch teilmöblierte Wohnungen.
Schlupflöcher, die laut Berndt dringend geschlossen werden müssen. "Ich glaube, kurzfristig brauchen wir tatsächlich eine stärkere Regulierung des Mietwohnungsmarktes. Es geht nicht, dass zum Beispiel in Berlin die Hälfte der Wohnungen mit einem Trick als teilmöbliert angeboten wird. Und die Vermieter damit die Mietpreisbremse umgehen, indem sie einen Tisch und einen Schrank in die Wohnung stellen und dafür horrende Abstandssummen verlangen."
Beim Wohnungsbau-Tag in Berlin haben auch die Branchenverbände Alarm geschlagen. Sie forderten eine Summe von jährlich 23 Milliarden Euro, um den kriselnden Wohnungsbau wieder anzukurbeln. Gleichzeitig warnten sie vor einer "fatalen Entwicklung, bei der die Krise im Wohnungsbau einen Dominoeffekt und damit massiven Schaden für weite Teile der Wirtschaft auszulösen droht".
Argument Nummer zwei: Die dringend benötigten Fachkräfte aus dem Ausland würden nicht kommen, wenn sie keine Wohnung fänden, die sie sich leisten könnten. Und schließlich könnte das nicht gehaltene Versprechen der Bundesregierung von 400.000 neuen Wohnungen pro Jahr die Wähler zu den politischen Rändern treiben. Doch die Regierung um Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (B90/Grüne) und Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD) blieb hart und lehnte weitere Subventionen ab. Wohnraumpolitik-Experte Bernt empfiehlt einen Blick ins Ausland:
"Einfach bauen, bauen, bauen hilft nicht, sondern es muss vor allem preiswert und langfristig bezahlbar gebaut werden. Wenn man nach Österreich oder in die Schweiz schaut, die ja auch einen großen Mietwohnungsmarkt haben, gibt es durchaus Modelle, mit denen langfristig Bestände gehalten werden. Wien ist das leuchtende Beispiel, mit fast der Hälfte der Wohnungen im Gemeindewohlbestand. Das sorgt dafür, dass Wohnen in Wien bezahlbar ist."