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Die Chancenkarte ist da

Der Fachkräftemangel in Deutschland ist groß, immer mehr Arbeitsstellen bleiben unbesetzt. Mit der Chancenkarte will die Bundesregierung nun qualifizierten Arbeitskräften den Zuzug nach Deutschland erleichtern.

Ein Schild mit der Aufschrift "Mitarbeiter gesucht!" vor einem Restaurant (Quelle: Michael Bihlmayer/CHROMORANGE/picture alliance)

In vielen Branchen funktioniert der Arbeitsmarkt in Deutschland längst nur dank Menschen mit ausländischen Wurzeln. Vergangenes Jahr stieg die Zahl der Aufenthaltstitel eingewanderter Erwerbstätiger aus Nicht-EU-Staaten um 68.000 auf 419.000. Trotzdem wächst die Fach- und Arbeitskräftelücke. Sieben Millionen Fachkräfte müssten bis 2035 laut Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) ersetzt werden, da die Gesellschaft immer älter wird. Besonders gravierend ist der Mangel beispielsweise in der Pflege und der Gastronomie, aber auch IT-Fachleute fehlen in vielen Unternehmen und Behörden. Deswegen will die Regierung bei der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte Tempo machen und dabei so erfolgreich werden wie Kanada, Neuseeland oder Australien. Am 1. Juni ist nun der dritte Teil des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes in Kraft getreten, das die Ampel-Koalition im vergangenen Jahr beschlossen hatte.

Punkte sammeln für die Chancenkarte

Mit einem neuen Punktesystem – der sogenannten „Chancenkarte“ – soll der Zuzug qualifizierter Arbeitskräfte nach Deutschland erleichtert werden. Dieses neue Instrument im Aufenthaltsgesetz richtet sich an Menschen, die nicht aus der Europäischen Union stammen. Ein Vertrag mit einem Arbeitgeber in Deutschland ist keine Voraussetzung für einen Zuzug. „Wir setzen auf Sprachkenntnisse, Qualifikationen und Erfahrungen, um motivierte und talentierte Kräfte nach Deutschland zu holen“, so Innenministerin Nancy Faeser (SPD). Grundvoraussetzungen sind aber eine im Erwerbsland staatlich anerkannte, mindestens zweijährige Berufsausbildung oder ein entsprechender Hochschulabschluss sowie Sprachkenntnisse in Deutsch oder Englisch.

Je nach Sprachkenntnis, Berufserfahrung, Alter und Deutschlandbezug bekommen Interessierte Punkte, die sie zum Erhalt der Chancenkarte berechtigen: Maximal 4 Punkte erhält, wer eine ausländische Qualifizierung nachweisen kann, die in Deutschland teilweise anerkannt ist, bis zu 3 Punkte gibt es für die bisherige Berufserfahrung. Sprachkenntnisse können bis zu 4 Punkte einbringen, das Alter bis zu 2 Punkte. Für rechtmäßige Voraufenthalte in Deutschland sowie Ehe- oder Lebenspartner oder -partnerinnen, die die Voraussetzungen für die Chancenkarte ebenfalls erfüllen, sowie Qualifikationen in Engpassberufen wird jeweils ein weiterer Punkt vergeben. Mindestens 6 Punkte sind nötig, um sich für die Chancenkarte zu qualifizieren. Mit der Karte können Nicht-EU-Ausländerinnen und Ausländer nach Deutschland kommen und haben dann ein Jahr lang Zeit, sich einen festen Job zu suchen. Unter bestimmten Voraussetzungen ist eine einmalige Verlängerung um zwei Jahre möglich.

Neue Regelungen für den Westbalkan

Ausgeweitet wurden zum 1. Juni außerdem die Möglichkeiten für Arbeitskräfte aus den Westbalkanstaaten, für einen Job nach Deutschland zu kommen. Davon können auch Ungelernte profitieren. Allerdings müssen alle, die über die sogenannte Westbalkanregelung einreisen wollen, vorab einen Arbeitsvertrag nachweisen. Die Westbalkanregelung erleichtert den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt für Staatsangehörige aus Albanien, Bosnien und Herzegowina, dem Kosovo, Nordmazedonien, Montenegro und Serbien. Bislang werden für Arbeitskräfte aus diesen Staaten von der Bundesagentur für Arbeit pro Jahr 25.000 Genehmigungen vergeben. Dieses Kontingent soll nun auf 50.000 Zustimmungen jährlich verdoppelt werden.

Die drei Stufen des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes sind nun komplett

Deutschland hat schon seit März 2020 ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das die damalige Koalition aus CDU und SPD beschlossen hatte, um den Zuzug von qualifizierten Arbeitskräften aus Nicht-EU-Staaten zu fördern. Nach Einschätzung von Expertinnen und Experten blieb seine Wirkung jedoch einerseits wegen der Reisebeschränkungen durch die Corona-Pandemie, andererseits wegen des nach wie vor hohen bürokratischen Aufwands für die Erwerbsmigrantinnen und -migranten begrenzt. Im vergangenen November trat dann der erste Teil der von der Ampel-Koalition beschlossenen Reform des Gesetzes in Kraft. Die erste Stufe umfasste vor allem Erleichterungen bei der „Blauen Karte EU“ und bei anerkannten Fachkräften.

Mit der zweiten Stufe, die im März dieses Jahres in Kraft trat, wurde eine Aufenthaltsmöglichkeit für Ausländerinnen und Ausländer aufgrund berufspraktischer Erfahrung eingeführt – ein Herzstück des Gesetzes zur Fachkräfteeinwanderung. Fachkräfte mit Abschluss und Berufserfahrung können seitdem ohne vorheriges Anerkennungsverfahren einreisen und in Deutschland arbeiten. Sie müssen also noch keine in Deutschland anerkannte Ausbildung vorweisen. Das soll den bürokratischen Aufwand senken und Verfahren verkürzen. Das Arbeitsplatzangebot in Deutschland muss ein Bruttojahresgehalt von mindestens 40.770 Euro zusichern. Zur Deckung von zeitweilig besonders hohem Arbeitskräftebedarf wurde eine begrenzte kurzzeitige Beschäftigung ermöglicht. Die Bundesagentur für Arbeit hat hierfür für das Jahr 2024 ein Kontingent von 25.000 festgelegt.

Mit der Einführung der Chancenkarte zur Jobsuche sind alle Regelungen des neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetzes nun vollständig anwendbar.

Die Chancenkarte – „eine Chance für Deutschland“

Die Möglichkeiten für die Zuwanderung seien nun so vielfältig wie die Bedürfnisse der Unternehmen, so Arbeitsminister Hubertus Heil. Doch gibt es neben teils hohen Anforderungen und bürokratischen Hindernissen noch andere Schwierigkeiten. Nicht zufällig macht sich Migrationsbeauftragte Reem Alabali-Radovan (SPD) stark für „smarte, digitale Behördenverfahren“, „Integration von Anfang an in Kitas, Deutschkurse oder Arbeitsmarkt“ und „konsequenten Antirassismus“. Angesichts des Arbeitskräftemangels von über 400.000 Menschen pro Jahr sei die Chancenkarte in erster Linie eine Chance für Deutschland, meint die Grünen-Innenpolitikerin Misbah Khan. Deutschland müsse die Änderungen mit Leben füllen – und als Einwanderungsland noch attraktiver werden.

Im Vergleich zu anderen klassischen Einwanderungsländern ist die Steuern- und Abgabenlast in der Bundesrepublik relativ hoch. Das schreckt besonders Hochqualifizierte ab. Außerdem hat sich inzwischen herumgesprochen, dass es in einigen Ballungsgebieten schwierig ist, bezahlbaren Wohnraum zu finden.

Expertinnen und Experten sind skeptisch

Migrationsforscher bleiben hinsichtlich der Wirkung der Chancenkarte skeptisch. Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) rechnet mit einer begrenzten Wirkung. Anders als beispielsweise in Kanada gehe es ja nur um die Möglichkeit, sich eine Arbeit zu suchen. In Kanada führt das Punktesystem dagegen zu einem dauerhaften Aufenthaltsrecht – und ist damit deutlich attraktiver. Außerdem sei die Chancenkarte keine echte Erleichterung. Denn schon jetzt vernetzten sich Arbeitssuchende rund um die Welt per Telefonkonferenz mit potenziellen Arbeitgebern und bekommen ihren Job via Facetime oder Zoom. Andere kämen als Tourist nach Deutschland und begäben sich dann auf Jobsuche.

„Wir sind als Gesetzgeber aber auch noch nicht ans Ende gekommen“, meint Ann-Veruschka Jurisch, Innenexpertin der FDP im Bundestag. „Wir haben uns vorgenommen, das Ausländerrecht zu vereinfachen; das bleibt weiterhin eine offene Aufgabe“, sagt die Abgeordnete. Große Hoffnung setzt sie in die Nutzung Künstlicher Intelligenz bei der Bearbeitung von Anträgen potenzieller Erwerbsmigranten. Das Auswärtige Amt leiste hier bereits Pionierarbeit. Das sei auch notwendig – heutige Wartezeiten von über einem Jahr könne sich Deutschland nicht leisten.
 

io/ip (mit dpa/epd)