Hochbegabung – Fluch oder Segen?
Sozial inkompetent, arrogant, unangepasst: Hochbegabte Menschen begegnen manchen Vorurteilen. Wer allerdings weiß, dass er nur anders denkt als die Mehrheit, kann besser mit seiner Hochbegabung umgehen.
„Ich hab früher intuitiv ganz viele Sachen anders gemacht als man die normal machen würde, als einem diese Gesellschaft das aufdrückt, weil ich einfach nicht anders konnte. Das wurde mir dann auch gerne mal als oppositionell vorgehalten. / Als ich’s noch nicht wusste, war’s ‘ne Belastung, weil viele immer zu mir gesagt haben: ‚Du denkst zu viel‘, und ich mich dann ‘n bisschen geschämt hab, dass ich die Leute quäle mit meinen seltsamen Überlegungen.“
Zwei Aussagen von zwei Hochbegabten, die bei einem Hochbegabtentreffen in Bonn über ihre frühen Erfahrungen berichten, vor allem über das Gefühl, außerhalb der Gesellschaft zu stehen, ein Außenseiter beziehungsweise eine Außenseiterin zu sein. Dabei stellen sie sich nicht bewusst gegen die Gesellschaft, sind oppositionell. Stattdessen handeln sie, wie es der Mann formuliert, aus einem natürlichen Gefühl heraus, intuitiv, so wie sie selbst das als richtig empfinden und nicht wie die anderen es von ihnen verlangen, es ihnen aufdrücken. Und das trifft auf die meisten zu, die als hochbegabt gelten: Sie fühlen sich unter anderem unverstanden, im Unterricht unterfordert, haben in der Schule kaum Freunde, gelten als arrogant und eingebildet. Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für das hochbegabte Kind sind – gemessen an der Gesamtbevölkerung – etwa zwei bis drei Prozent aller Kinder in Deutschland hochbegabt. Sie haben weit über dem Durchschnitt liegende intellektuelle Fähigkeiten. Ob jemand hochbegabt ist, kann durch einen standardisierten Intelligenztest ermittelt werden. So einen Test machte auch Heinrich:
„Ich mache ja gerne solche Denksportaufgaben, Knobeleien, und hatte da immer schon den Eindruck, dass ich da deutlich besser bin als die meisten anderen. Und insofern war es für mich dann nicht wirklich überraschend, dass das Testergebnis diesen Eindruck auch bestätigte.“
Mit einem Intelligenzquotienten von mehr als 140 gilt Heinrich als hochbegabt. Dass er einen IQ von über 140 hat, weiß er erst, seit er 2014 den Test bei „Mensa“ ablegte, dem weltweit größten Vereins für hochbegabte Menschen jeden Alters. 1946 kamen die beiden Briten Roland Berrill und Lance Ware auf die Idee, Intelligenz zum Wohl aller Menschen einzusetzen und intelligente Menschen an einen Tisch zu bringen. Der Begriff „mensa“ leitet sich vom lateinischen Wort für „Tisch“ ab, gleichzeitig steckt aber auch das lateinische Wort für Geist oder Verstand in ihm: „mens“. Wie die meisten Hochbegabten stellte auch Heinrich fest, dass er sehr gerne über etwas knobelte, schwierige Aufgaben und Rätsel löste, Denksport betrieb. In Deutschland gilt jeder mit einem Wert ab 130 als hochbegabt, denn der Quotient liegt dann höher als bei 98 Prozent der Bevölkerung. Dass Heinrich intelligenter ist als Gleichaltrige, wurde nicht sofort entdeckt. Als Kind wurde er zunächst auf eine Hauptschule geschickt, weil er mit seiner Familie als Aussiedler aus Russland nach Deutschland gekommen war. Seine Lehrer merkten allerdings schnell, dass er unterfordert war und unterstützten ihn. Nach zwei Jahren Hauptschule wechselte er auf ein Gymnasium, machte mit Bestnoten sein Abitur, studierte Mathematik und Philosophie und promovierte in Linguistik. Sowohl Sprachen als auch Mathematik haben eine grundlegende Struktur, Zusammenhänge müssen verstanden werden. Genau da liegt seine Stärke:
„Ich glaube, ich sehe Zusammenhänge, die nicht alle sehen, so Strukturen, die dann aus ganz verschiedenen Bereichen kommen und sich sehr stark ähneln. Das fällt auf – zumindest am Anfang hab ich mich immer gewundert, dass das nicht jedem auffällt.“
Allerdings musste Heinrich erst mal lernen, mit dem Gefühl umgehen zu können, hochbegabt zu sein. Das Wissen darum machte aber vieles leichter, wie er sagt:
„Weil man das Gefühl hat, man ist irgendwie ‘n bisschen anders als die anderen – und die anderen vermitteln einem auch dieses Gefühl. Dann ist das immer leichter, damit umzugehen, wenn man eine Erklärung dafür hat. Und wenn man dann die Erklärung hat, das könnte daran liegen, dass man schneller, dass man vielleicht etwas anders strukturiert denkt als die anderen, dann kann das durchaus in einer Situation, in der man den Eindruck hat: ‚Irgendwie pass’ ich im Moment schlecht zu meinem Gesprächspartner oder der zu mir‘, auf diese Weise zu erklären, als dass man dann so vollkommen ratlos steht und sich fragt: ‚Ja, bin ich jetzt irgendwie sozial inkompetent?‘.“
Das Gefühl, überheblich, arrogant, zu sein oder nicht mit anderen Menschen klarzukommen, sozial inkompetent zu sein, haftet den meisten Hochbegabten an. Ihnen hilft dann unter anderem das, was diese Frau schildert:
„Ich denk’: ‚Okay, wenn mich jemand jetzt nicht versteht, dann liegt das nicht daran, dass ich doof bin, sondern der kann mir im Moment nicht folgen‘.“
Sich klarzumachen, dass es einfach Unterschiede im Denken gibt, ist auch für das eigene Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein wichtig. Geteilt ist die Ansicht unter diesen Mensa-Mitgliedern, ob ihnen die Tatsache, dass sie hochbegabt sind, einen Vorteil bringt:
„Für mich ‘ne Bereicherung. Es sorgt dafür, dass Anerkennung da ist, und mir gehen einige Sachen einfach besser von der Hand. / Bei mir mal so, mal so, muss ich ehrlich sagen. Streckenweise hatte ich auch das Gefühl: ‚Na, ich wär’s eigentlich lieber los‘, weil es das Leben mit anderen manchmal sehr kompliziert macht aus meiner Sicht. Manchmal fällt es mir unheimlich schwer, so langsam zu sein, wie die anderen es halt brauchen. Oder ich muss mir dann immer wieder sagen: ‚Ja, die meinen das nicht böse‘. / Es ist nur teilweise ‘ne Bereicherung, hochbegabt zu sein. Es hat Vorteile, aber es hat auch gewisse Nachteile.“
Für die einen stellt es eine Bereicherung in ihrem Leben dar, einen persönlichen Gewinn und Nutzen. In dem Wissen der Hochbegabung fallen manchem bestimmte Dinge dann leichter, gehen besser von der Hand. Andere wiederum haben manchmal, streckenweise, Schwierigkeiten, sich auf andere Menschen einzustellen. Denn diese erkennen und verstehen Strukturen und Zusammenhänge nicht so schnell wie sie und verhalten sich dann auch entsprechend ablehnend. Allerdings hilft es dann, wie es die Frau formuliert, sich zu sagen: Die meinen es nicht böse, machen das ja nicht mit Absicht. Und wie sollte man mit einer Hochbegabung umgehen? Damit angeben oder sie verschweigen? Heinrich geht offen damit um, stellt seine Hochbegabung aber nicht öffentlich zur Schau. Ganz in dem Sinne, wie es dieses Mensa-Mitglied sagt:
„Das heißt ja nicht besser, sondern das heißt einfach nur anders.“