Nachrichten für Lehrkräfte

Koloniale Verbrechen: kaum Thema im Unterricht

Ausbeutung, Gewalt, Unterdrückung, Völkermord: Schon Jahrzehnte vor der NS-Zeit begingen Deutsche während der Kolonialzeit schlimmste Verbrechen. Doch im Schulunterricht ist das nur selten Thema – mit Folgen bis heute.

Auf einer Bronze-Tafel sind Personen, die an einem Baum erhängt wurden, abgebildet. Davor zwei Soldaten mit Gewehren.

Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg, Holocaust – die Schrecken, für die Deutsche im 20. Jahrhundert verantwortlich waren, sind zahlreich. Im Schulunterricht werden sie in der Regel ab dem 9. Schuljahr behandelt, besonders die Zeit des Nationalsozialismus ist ein vergleichsweise großes Thema. Doch nur wenige Schülerinnen und Schüler wissen, dass Deutsche bereits in der Kolonialzeit mehr als 30 Jahre vorher entsetzliche Verbrechen begingen.

„Maji-Maji-Krieg? Nie gehört", sagt etwa die 17-jährige Sarah in Frankfurt am Main. Auch die angehende Abiturientin Magdalene in Hamburg hat in der Schule nichts über deutsche Kolonialverbrechen in Ostafrika wie die brutale Niederschlagung des Maji-Maji-Aufstandes erfahren. Überhaupt sei die Kolonialvergangenheit nur am Rande im Geschichtsunterricht gestreift worden. Ein großes Versäumnis – mit Folgen für die Gesellschaft und die Demokratie, findet Merel Fuchs vom Verein „Decolonize Berlin".

„Die Auseinandersetzung mit unserer Kolonialgeschichte ist auch für uns und die Gegenwart wichtig", betont die Politikwissenschaftlerin. „Die Kolonialzeit ist kein abgeschlossenes Kapitel." Rassismus und Stereotype seien nach wie vor verbreitet, Ausbeutung, Abhängigkeiten und Ungerechtigkeiten setzten sich im Konsum oder im Umgang mit der Klimakrise fort. Sie fordert: „Das Thema deutscher Kolonialismus muss zum Pflichtthema im Geschichtsunterricht werden." In den Lehrplänen werde es recht offen gehalten, und im Unterricht nehme es nach ihrer Einschätzung oft nur einen kleinen Raum ein. Kolonialverbrechen würden nur teilweise thematisiert.

Deutsche Kolonialzeit: kurz, aber brutal

Das deutsche Kaiserreich war bis 1919 Kolonialmacht, unter anderem ab 1884 auf dem Gebiet des heutigen Namibia, dem damaligen Deutsch-Südwestafrika, oder ab 1885 im heutigen Tansania, Ruanda und Burundi („Deutsch-Ostafrika"). Auch Kamerun und Togo sowie Inseln im Pazifik und die heute zu China gehörende Region Kiautschou waren sogenannte deutsche „Schutzgebiete".

Schwarz-weiß-Aufnahme: Eine große Gruppe von weiß gekleideten Männern steht um ein Maschinengewehr herum
Deutsche Offiziere bei einer Übung in "Deutsch-Ostafrika"null United Archives/VisualEyze/picture alliance

Versuche der Bevölkerung, sich gegen Ausbeutung und Unterdrückung aufzulehnen, schlug das Kaiserreich gnadenlos nieder. Im damaligen Deutsch-Südwestafrika beging es ab 1904 den ersten Völkermord im 20. Jahrhundert – mehr als 80.000 Herero und Nama wurden getötet oder verdursteten in der Wüste. In Ostafrika reagierten die deutschen Truppen von 1905 bis 1907 mit aller Härte auf den sogenannten Maji-Maji-Aufstand, zerstörten Felder und Dörfer und hungerten die Bevölkerung aus. Schätzungen zufolge gab es bis zu 300.000 Opfer.

Erst 2004 entschuldigte sich die damalige Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) für den Völkermord an den Herero und Nama. Entschädigungszahlungen, für die sich auch Aktivistinnen und Aktivisten wie Merel Fuchs starkmachen, sind bis heute nicht geflossen. Immerhin wurde seitdem die Kolonialvergangenheit im heutigen Namibia zunehmend Thema in der deutschen Öffentlichkeit – und bekam auch mehr Raum in den Schulbüchern, wie Marcus Otto vom Leibniz-Institut für Bildungsmedien | Georg-Eckert-Institut (GEI) in Braunschweig, erklärt. Allerdings werde dabei zuweilen ein kolonialer Blick unbewusst reproduziert, wenn die Verwendung alter Bildquellen, Stereotype und Bezeichnungsweisen nicht ausreichend reflektiert werde, sagt der Historiker und Soziologe.

Mehr Platz in Lehrwerken, aber auch im Unterricht?

Ganz wichtig sei, die Lehrwerke zu dem Thema nicht auf die deutsche Perspektive zu begrenzen, betont Stefanie Hein, Redaktionsleiterin für Gesellschaftswissenschaften beim Cornelsen Verlag. Die Stimme der Kolonialisierten müsse gehört werden. Gegenwartsbezug und Aufarbeitung spielen auch nach Angaben anderer Verlage wie Klett, Buchner oder Westermann zunehmend eine Rolle. Als Ansatzpunkt für den Unterricht könnten etwa Straßen und Plätzen dienen, die noch immer den Namen von damaligen „Kolonialhelden" und Verbrechern tragen. Oder die Tatsache, dass noch immer unzählige gestohlene Kulturgüter in deutschen Museen und Archiven lagern. Auch Schädel und Gebeine – oft von Hingerichteten – brachten die Deutschen mit nach Europa.

Die Gewichtung des Themas in Schulbüchern unterscheidet sich nach Schulform und Bundesland. Der Seitenumfang ist begrenzt, die Redaktionen in den Verlagen müssen Schwerpunkte setzen. Und dass das Thema im Schulbuch stehe, heiße noch lange nicht, dass es genutzt werde, sagt Patrick Mielke von der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg, der zur Umsetzung von Geschichtsbüchern im Unterricht geforscht hat. „Das sind oft ganz schnöde Alltagsentscheidungen", erklärt er mit Blick auf die Fülle des Lehrplans und den Zeitdruck. Das Lehrbuch sage außerdem nichts darüber aus, wie der Inhalt vermittelt werde: Schon die Wörter, die die Lehrkraft verwende, könnten ungewollt koloniale Stereotypen reproduzieren.

Deshalb fordern „Decolonize"-Initiativen, dass das Thema auch an den Unis und in der praktischen Lehrkräfteausbildung auf die Agenda kommt. „Ich glaube schon, dass sich etwas tut", sagt Merel Fuchs. „Aber es verändert sich sehr, sehr, sehr langsam." Magdalene in Hamburg weiß inzwischen, was im Maji-Maji-Krieg passierte. Sie hat es sich selbst angelesen. Und Sarah aus Hessen erfährt es vielleicht im neuen Schuljahr im Oberstufenunterricht.

ip/io (epd)