Antiziganismus: Ukrainische Roma werden diskriminiert

Mehr als 1,1 Millionen Menschen sind vor dem Krieg in der Ukraine nach Deutschland geflüchtet - darunter geschätzt mehrere Tausend Roma, Angehörige der größten Minderheit Europas. Während Geflüchtete aus der Mehrheitsgesellschaft unbürokratisch versorgt und herzlich willkommen geheißen wurden, erlebten die meisten Roma ein ganz anderes Deutschland: sehr bürokratisch und wenig hilfsbereit, misstrauisch, abwertend, rassistisch.

Zu diesem Ergebnis kommt die Melde- und Informationsstelle Antiziganismus (MIA) in ihrem Monitoringbericht "Antiziganismus gegen ukrainische Roma-Geflüchtete in Deutschland". Antiziganismus ist eine Form des Rassismus, die sich gegen Sinti und Roma richtet oder gegen Menschen, die man dafür hält.

Diskriminierung ukrainischer Roma "vom ersten Tag an"

Roma-Familien, die vor dem Krieg in der Ukraine flüchten, haben in Deutschland denselben Anspruch auf Unterstützung wie ihre ukrainischen Landsleute. "Aber diese Willkommenskultur ist nicht für Roma da", sagt MIA-Geschäftsführer Guillermo Ruiz der DW: "Wir haben vom ersten Tag an beobachten können, wie ukrainische Roma in allen Formen diskriminiert worden sind." Rund 220 Meldungen seien dazu bei MIA eingegangen.

Blick in ein großes Zelt mit Tischen und Bänken. Im Hintergrund sitzen zahlreiche Menschen, vorne läuft ein Mädchen mit einer kleinen blau-gelben ukrainischen Flagge, die in die Kamera schaut
Gibt es in Deutschland Ukraine-Geflüchtete 1. und 2. Klasse? Ein Bericht dokumentiert Antiziganismus gegen ukrainische Romanull Adam Berry/Getty Images

Roma erleben demnach systematische Diskriminierung: in Flüchtlingsunterkünften, von der Polizei, die ihre Herkunft infrage stelle, von Bahn-Mitarbeitern, die sie aus Wartebereichen, Bahnhöfen oder dem Zug drängten, Schulbehörden, die Roma-Kindern monatelang keinen Unterricht ermöglichen, von Sozialarbeitern oder Ehrenamtlichen, die anderen Ukrainern engagiert helfen. "Das hat uns sehr geschockt", sagt Ruiz. Einige Roma-Familien seien so schlecht behandelt worden, dass sie zurückreisten ins Kriegsgebiet. Es gebe immer noch Hinweise aus ganz Deutschland auf rassistische Diskriminierungen.

"Ukrainische Roma sind Nachkommen von Holocaust-Überlebenden"

Gemeindevertreter in Bayern hätten gesagt: "Wir können weiter gerne ukrainische Geflüchtete aufnehmen, aber keine Roma." Ein Landrat äußerte sinngemäß, dass sie "Geflüchtete aufnähmen, nicht aber Hunde und Roma". Besonders erschreckende Aussagen, betont Ruiz, weil sie von deutschen Behörden ausgingen. "Deutschland hat eine historische Verantwortung für diese Minderheit."

MIA fordert, dass Deutschland dieser Verantwortung nachkommt, wie es der Bundestag am 14.12.2023 beschlossen hat, und betont: "Geflüchtete Roma müssen von der Bundesregierung als besonders schutzwürdige Gruppe anerkannt werden."

Blick auf eine historische Karte Europas, in der die Stätten des Völkermords an Sinti und Roma markiert sind wie Lager oder Orte von Massenerschießungen
Das nationalsozialistische Deutschland hat Sinti und Roma in ganz Europa verfolgt und hunderttausende Menschen ermordet

In Europa sind bis zu einer halben Million Sinti und Roma dem Völkermord durch das nationalsozialistische Deutschland zum Opfer gefallen. "Die ukrainischen Roma-Geflüchteten sind Nachkommen von Holocaust-Überlebenden", sagt Ruiz. Während der deutschen Besatzung wurde nach Schätzungen fast die Hälfte der ukrainischen Roma ermordet.

Kränze für die Ermordeten niederzulegen reiche nicht, mahnte Mehmet Daimagüler, Antiziganismusbeauftragter der Bundesregierung, am Internationalen Roma-Tag am 8. April. Er kritisierte den deutschen Umgang mit der Minderheit: "Wir achten die Toten und verachten ihre Nachkommen."

Ein Mann im dunklen Anzug richtet die Schleife an einem Kranz vor einem Denkmal, im Hintergrund sind viele weitere Menschen zu sehen
Verneigung vor den Toten: Der Antiziganismusbeauftragte der Bundesregierung Mehmet Daimagüler am Denkmal für die ermordeten europäischen Sinti und Roma im früheren Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau (2022)null Privat

Passgenaue Hilfe für geflüchtete ukrainische Roma

Renata Conkova ist jeden Tag im Einsatz für die Nachkommen der Verfolgten. Die 44-Jährige unterstützt geflüchtete ukrainische Roma bei Behörden und Ärzten, in der Schule und bei der Wohnungssuche. Als Romni in der Slowakei hat sie selbst Diskriminierung erlebt. Seit drei Jahren arbeitet sie in Thüringen für RomnoKher, eine Interessenvertretung für Menschen mit Roma-Hintergrund.

RomnoKher bietet Workshops an, in denen geflüchtete Roma erfahren, wie das Leben in Deutschland funktioniert. In einem Monitoring stellt Renata Conkova fest, ob Krankheiten vorliegen, Impfungen fehlen oder wie der Bildungsstand ist. Sie organisiert Alphabetisierungskurse für Kinder und Eltern. Das Interesse an Bildung sei groß.

Blick in ein Klassenzimmer: Im Vordergrund beugt sich eine Frau zu einem Mädchen und schreibt ihr etwas auf, im Hintergrund sitzen weitere Kinder vor ihren Heften
RomnoKher Thüringen bereitet gemeinsam mit anderen Organisationen geflüchtete ukrainische Roma-Kinder auf den Schulbesuch vornull RomnoKher Thüringen

Ausgrenzung in der Ukraine und in Deutschland

In der Ukraine seien viele Roma an den Rand der Gesellschaft gedrängt worden, lebten in extremer Armut am Rand der Städte, teils ohne Strom- und Sanitärversorgung. Viele berichteten, dass sie am Schulbesuch gehindert worden seien, sagt Conkova, das habe zu Analphabetismus über Generationen gesorgt. Der MIA-Bericht verweist auf Ausgrenzung bis hin zu antiziganistischer Gewalt in den 2010er Jahren.

Auch in Deutschland ist Rassismus für Roma-Geflüchtete Alltag, beobachtet Conkova: Einer Familie sagt man im Restaurant, da sei kein Platz für sie - alle Tische sind frei, keiner reserviert. Eine Frau muss in einem Textildiscounter ihre Handtasche öffnen: "Euer Volk klaut so gern." Als man nichts findet, entschuldigt sich keiner bei ihr. Ukrainische Roma erlebten, dass bei Behörden eingereichte Unterlagen mehrfach verloren gehen und sie ohne finanzielle Unterstützung dastehen.

"Was machen die Roma, wo ist das Problem?" - "Sie sind einfach da."

Bis heute seien uralte antiziganistischer Vorurteile gegen die Minderheit verbreitet, sagt Guillermo Ruiz, da sei die Rede von Kriminalität, Kinderraub oder Handel mit Kindern und Frauen. "Antiziganismus ist leider immer noch Normalität in Deutschland." Im MIA-Bericht finden sich Beispiele falscher Beschuldigungen. In einem Ort wurde behauptet, die Minderheit sei beteiligt an Schlägereien. Der Polizeichef wies die Aussage als falsch zurück.

Ein Mann mit Glatze steht an einem Rednerpult mit der Aufschrift: MIA - Melde- und Informationsstelle Antiziganismus
Dr. Guillermo Ruiz ist Geschäftsführer der Melde- und Informationsstelle Antiziganismus (MIA)null Annika Fuhrmann

Verbreitet würden Vorurteile durch Medienberichte, aber auch bei Versammlungen "besorgter Bürger" aus dem rechten bis rechtsextremen Spektrum, die teils durch die AfD organisiert werden, sagt MIA-Geschäftsführer Ruiz. Man bespreche das sogenannte "Roma-Problem". Er habe einen Bürgermeister gefragt, warum seine Bürger sich Sorgen machten: "Was machen die Roma, wo ist das Problem?" Der Bürgermeister sagte: "Sie sind einfach da."

Antiziganismus der ukrainischen Mehrheitsgesellschaft

Mehrfach erlebt Renata Conkova, wie ukrainische Dolmetscherinnen rassistisch über Geflüchtete sprechen: "Das sind nur Zigeuner, die können nichts." Unter der abwertenden Fremdbezeichnung wurden Sinti und Roma von den Nazis verfolgt und ermordet, das Z wurde ihnen in Auschwitz in die Haut tätowiert.

Eine Frau im schwarzen Kleid und Weste steht lächelnd vor einem Gebäude mit Glasfront über dem die blaue Flagge der EU mit goldenen Sternen hängt
Renata Conkova von RomnoKher Thüringen hat sich in der Roma-Woche in Brüssel über Antiziganismus in verschiedenen europäischen Staaten ausgetauschtnull RomnoKher Thüringen

Andere ukrainische Geflüchtete weigern sich, mit Roma an einem Tisch zu sitzen. Kein Einzelfall, hat MIA festgestellt: In Köln demonstrierten geflüchtete Ukrainer für ihre Unterbringung getrennt von ukrainischen Roma, ähnliche Berichte kommen aus vielen Bundesländern. In einem Fall seien Roma-Familien so eingeschüchtert worden, dass sie sich nicht mehr aus ihrem Zimmer trauten.

Aufklärung siegt über Antiziganismus gegen Nachbarn

Wo vermittelt wird, geschehen manchmal kleine Wunder, wie Renata Conkova berichtet: Die Kinder einer Roma-Familie schauen aus dem 3. Stock neugierig zum gegenüberliegenden Haus, wo Kinder in einem Swimmingpool plantschen. Das haben sie noch nie gesehen. Der Vater aus dem Nachbarhaus aber bedroht die Roma-Familie mit einer Waffe.

Als eine Integrationshelferin und Renata Conkova den Mann ansprechen, stellt sich heraus, dass er aus lauter Angst vor Pädophilen verhindern wollte, dass irgendjemand seine Kinder beobachtet. Über Roma hat er nur Schlechtes gehört.

Als er von den Problemen der Familie gegenüber erfährt, fragt er: "Warum hat mir das niemand erklärt?" Die Kinder dürfen mit seinen Kindern spielen. Er erklärt den Nachbarn die komplizierte Mülltrennung in Deutschland und zeigt der Mutter, wo sie günstig einkaufen kann. Viele Menschen wüssten nichts über die Minderheit, sagt Conkova. "Es ist nicht jeder Rassist."

"Stellen Sie sich an die Seite von Sinti und Roma"

Die Meldestelle MIA fordert Fortbildungen und Sensibilisierung für Antiziganismus bei Behörden und Helfern, ebenso wie das Ende der Benachteiligung von ukrainischen Roma in allen Lebensbereichen.

Eine Frau im grünen Oberteil mit rötlichen halblangen Haaren steht gestikulierend vor einem Mikrofon
Bundesfamilienministerin Lisa Paus rief am Internationalen Roma-Tag zur Solidarisierung mit Sinti und Roma aufnull Michael Kappeler/dpa/picture alliance

Am Internationalen Roma-Tag hat Bundesfamilienministerin Lisa Paus Hetze gegen die Minderheit klar verurteilt: "Jeder Fall ist einer zuviel." Sie rief dazu auf, antiziganistische Vorfälle zu melden: "Stellen Sie sich an die Seite von Sinti und Roma!"

Zweifel an FSC-Gütesiegel für Möbel aus Belarus

Menschenrechtsaktivisten, Abgeordnete des Europaparlaments und ehemalige politische Gefangene in Belarus haben dringende Fragen an das "Forest Stewardship Council". Die Organisation mit Hauptsitz in Deutschland bietet ein internationales Zertifizierungssystem für nachhaltige Waldwirtschaft an. Das FSC-Siegel gilt in diesem Bereich weltweit als Marktführer.

In einem offenen Brief an die Organisation wollen die Unterzeichner wissen, wieso Möbel, die in belarussischen Gefängnissen hergestellt wurden, jahrelang das FSC-Prüfsiegel bekommen konnten. 

"Das FSC-Siegel öffnete die Tür zur EU"

Dem FSC wird vorgeworfen, jahrelang die Augen vor Zwangsarbeit belarussischer Gefangener verschlossen zu haben. Damit sei dem Regime von Machthaber Alexander Lukaschenkos geholfen worden, Geld zu verdienen. "Das FSC-Siegel diente dazu, die Tür zum Handel mit der EU zu öffnen", heißt es in dem Brief, in dem die Unterzeichner Aufklärung fordern.

Der FSC bezeichnet sich auf seiner Website als die verlässlichste Organisation für die Absicherung wichtiger Umwelt- und Sozialstandards im Wald, und das FSC-Gütesiegel ist inzwischen zu einem Inbegriff für "ethischen" Konsum geworden. Die Zertifikate werden anhand mehrerer Kriterien ausgestellt. So darf es unter anderem bei der Produktion keine Menschenrechtsverstöße geben. Ein FSC-Siegel steigert ganz klar die Wettbewerbsfähigkeit.

Eine Frau bei der Möbelproduktion in Belarus, Juli 2023
Möbelproduktion in Belarusnull Ales Petrowitsch/DW

Laut Daten von Eurostat wurden von Januar bis November 2023 belarussische Holzmöbel im Wert von mehr als 103 Millionen Euro in die Europäische Union importiert. Zu den größten Abnehmern zählen Polen, Deutschland und die Niederlande sowie die baltischen Länder und Rumänien. Die Möbelproduktion ist nicht Teil der Sanktionen der EU, die gegen Belarus in Kraft sind. Ein ein großer Teil dieser Möbel wurde für den EU-Markt als ethisch vertretbar zertifiziert, noch bevor der FSC Belarus verließ. "Obwohl der FSC im März 2022 Belarus aus anderen Gründen verlassen hat, hat er es versäumt, seine früheren Fehler dort einzugestehen oder anzusprechen", heißt es in dem Brief an den FSC.

Dass der FSC Gefängnisarbeit in Belarus mehr als neun Jahre lang beschönigt hat, wurde durch eine im November 2022 veröffentlichte Untersuchung der britischen Non-Profit-Organisation "Earthsight" aufgedeckt. Demnach wurden in Belarus auch nach der vom herrschenden Regime gefälschten Präsidentenwahl im August 2020 weiterhin FSC-Zertifikate ausgestellt - ungeachtet der dortigen massenhaften Repressionen von Regimegegnern, der Zunahme politischer Gefangener und dokumentierter Folter .

"Zwangsarbeit nicht in allen Gefängnissen"

Der FSC beabsichtigt allerdings nicht, die Ausstellung von Zertifikaten für belarussische Haftanstalten zu untersuchen. Auf DW-Anfrage betont die Organisation, angemessene Arbeitsbedingungen würden zu den Grundsätzen der Zertifizierung gehören. Zudem sei der FSC "zutiefst besorgt über die Menschenrechtsverletzungen in Belarus als Folge von Gewalt und Repression seit 2020".

Holzabbau in Belarus, Juli 2023
An der Herstellung von Holzmöbeln sind in Belarus Häftlinge beteiligtnull Ales Petrowitsch/DW

Doch erst im März 2022 hatte der FSC die Risiken bewertet. Damals machte die bereits auch über belarussisches Territorium laufende russische Invasion der Ukraine Prüfungen unmöglich, weshalb beschlossen wurde, alle ausgestellten Zertifikate zu annullieren. Der FSC betont jedoch, bereits im Jahr 2021 seien für belarussische Haftanstalten ausgestellte Zertifikate annulliert worden. Der Grund seien Bedenken bezüglich Menschenrechtsverletzungen sowie Sicherheitsrisiken für Experten, die Prüfungen durchführen. Gleichzeitig heißt es, dass "bei den jährlichen Kontrollen in den Gefängnissen keine Verstöße festgestellt wurden". Weil Zwangsarbeit nicht in allen Haftanstalten ein Problem sei, könnten Gefängnisse eine FSC-Zertifizierung beantragen.

"EU muss Möbelhandel mit Belarus sanktionieren"

FSC-Vertreter hätten belarussische Aktivisten gar nicht kontaktiert, um sich über die Lage der Menschenrechte in Haftanstalten zu informieren, beklagt Pawel Sapelko, Anwalt des belarussischen Menschenrechtszentrums "Viasna". Schließlich würden die Gesetze Zwangsarbeit in belarussischen Gefängnissen erlauben. Laut dem Strafvollzugsgesetz ist jeder, der zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, zur Arbeit verpflichtet. Ausgenommen davon sind in Belarus nur Behinderte und Rentner. "Bei Verweigerung wird der Gefangene zunächst in eine Strafzelle gesteckt, dann kann er wegen böswilligen Ungehorsams gegenüber der Gefängnisleitung angeklagt und mit bis zu zwei weiteren Jahren Gefängnis bestraft werden", erläutert Sapelko.

Das bestätigt ein ehemaliger Häftling, der ungenannt bleiben möchte und in der Region Brest eine Haftstrafe verbüßte: "Wenn man ins Gefängnis kommt, wird man nicht gefragt, ob man arbeiten will oder nicht. Man muss es einfach. Die Leitung der Haftanstalt entscheidet, wohin man kommt und wie man bezahlt wird." Vom Lohn würden Zahlungen für Unterkunft und Verpflegung in Haft sowie für ausstehende Gerichtskosten abgezogen. So bekämen die Häftlinge zumeist nur zehn bis 15 Rubel im Monat - umgerechnet weniger als fünf Euro. Ferner müssen Gefangene ihre Familien bitten, ihnen Arbeitskleidung zu besorgen - auch Handschuhe für die Holzverarbeitung. Solche Bedingungen können nach Ansicht von Pawel Sapelko als Zwangs- oder sogar als Sklavenarbeit bezeichnet werden. Alle Gefangenen, auch politische, seien davon betroffen.

Der Europaabgeordnete und Mitvorsitzende der Europäischen Grünen, Thomas Waitz, hat sich dem Appell an den FSC angeschlossen. Der Möbelhandel sei weiterhin die größte unsanktionierte Kategorie der belarussischen Exporte in die EU, heißt es auf seiner Website. "Diese Exporte stützen ein Regime, das in einen Krieg verwickelt und in politischer Unterdrückung verwurzelt ist."

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk

Kosovo: Feministin Zana Avdiu kämpft gegen Machokultur

Zana Avdiu kennt sich aus mit Hass: mit dem leisen, vorwurfsvollen, der sie wie ein Raunen verfolgt, wenn sie durch Prishtina geht; und dem lauten, wütenden, der im Netz und im Fernsehen immer wieder über sie hereinbricht. Zana Avdiu, 30 Jahre alt, ist Aktivistin und setzt sich für Frauenrechte in ihrem Heimatland Kosovo ein. Worum es auch geht - häusliche Gewalt, Sexismus, Macho-Kultur, Patriarchat, das traditionelle Familienbild der kosovarischen Gesellschaft - Zana Avdiu hat eine Meinung. Und keine Scheu, sie bei Talkshows im Fernsehen oder auf ihrer Facebookseite mit ihren 32.000 Followern zu teilen.

Als letztens etwa in Kosovo ein Gesetzesentwurf debattiert wurde, der Frauen auch ohne Partner Zugang zu künstlicher Befruchtung ermöglichen soll, schrieb Avdiu auf Facebook: "Frauen brauchen keine Männer, um schwanger zu werden." In den empörten Kommentaren, die sich schon bald unter ihrem Beitrag stapelten, wurde Avdiu unter anderem zur "Feindin der kosovarischen Gesellschaft" erklärt; fünf Kommentare brachte sie zur Anzeige.

Avdiu weiß, dass sie mit Aussagen wie dieser provoziert. Die Provokation ist Teil des Prozesses, hat sie gelernt. Provokation, Debatte, und dann vielleicht irgendwann einmal: Veränderung - so ihre Hoffnung. Nur wenn darüber geredet werde, könne man die tiefverwurzelten patriarchalen Denkmuster der kosovarischen Gesellschaft aufbrechen, glaubt Avdiu. Also redet sie.

"Frauen in Kosovo zählen nicht"

Zana Avdiu arbeitet tagsüber als Wirtschaftsjuristin, in ihrer Freizeit engagiert sie sich für Frauenrechte, vernetzt etwa Frauen, die Gewalt erlebt haben, mit Polizei und Hilfsorganisationen, postet auf den sozialen Medien. Sie ist gerade einmal 27, als sie regelmäßig in abendliche Fernsehsendungen eingeladen wird. Für den kosovarischen Fernsehsender T7 kommentiert sie seitdem in der Talkshow "Pressing" aktuelle politische Geschehnisse. Meist ist sie die einzige Frau in einer Männerrunde.

Die Quoten sind gut, auch wegen der Kontroversen, die Avdius Auftreten auslöst. Äußerlich wirkt sie mit den manikürten Fingernägeln und dem freundlichen Lächeln auf den Lippen auf manche unbedarft. Doch geht das Wort an sie, stellt sie harte Thesen in den Raum, feuert ihre Argumente dazu ab, gespickt mit Fakten, die das Gesagte untermauern sollen. "Mehr als 69 Prozent der Frauen in Kosovo erleben Gewalt", sagt sie dann etwa, oder "In Europa werden 88 Prozent der Autounfälle von Männern verursacht, in Kosovo dürfte die Zahl noch höher sein".

Kritik gibt es von Anfang an: "Natürlich war mein junges Alter der Punkt, an dem mich viele angegriffen haben. Aber mehr noch als wegen des Alter werde ich angegriffen, weil ich eine Frau bin", sagt Avdiu.

Frauen sind in der kosovarischen Öffentlichkeit zwar immer stärker präsent - immerhin ein Drittel des aktuellen Regierungskabinetts sind Politikerinnen und mit Vjosa Osmani ist bereits die zweite Frau Präsidentin des Landes. Doch für Avdiu gibt es bei alldem ein großes Aber. "Die Frauen in Kosovo zählen nicht, haben keine Bedeutung" sagt die Feministin. "Sie bekommen kein Erbe, keine Sicherheit, keine Wertschätzung, keinen Wohlstand. Das ist das Schicksal von Frauen in Kosovo." Daran etwas zu ändern, das hat Avdiu sich zur Aufgabe gemacht.

"Frauen dürfen Männer nicht kritisieren"

Bekannt wurde Zana Avdiu weit über die Grenzen Kosovos hinaus durch einen Vorfall bei der Fußballweltmeisterschaft 2022 in Katar, beim Spiel Serbien gegen die Schweiz. Der Kapitän der Schweizer Fußball-Nationalmannschaft war damals - und ist bis heute - Granit Xhaka; seine Eltern sind Kosovo-Albaner, die vor Xhakas Geburt in die Schweiz auswanderten. Während des WM-Spieles im Dezember 2022 kommt es in der 66. Minute zu einem Wortgefecht zwischen Granit Xhaka und der serbischen Bank. Beleidigungen werden ausgetauscht und Xhaka greift sich demonstrativ in den Schritt.

Ein Mann im weißen Trikot hat die Hände zu einem Adler verschränkt, er schaut an der Kamera vorbei.
Der Kapitän der Schweizer Nationalmannschaft Granit Xhaka zeigt während der WM 2018 den doppelköpfigen Adler, Symbol der albanischen Identität - kurz vor der Aufnahme hatte er den 1:1 Ausgleich gegen Serbien geschossennull Laurent Gillieron/Keystone/dpa/picture alliance

Auf Facebook und in einer kosovarischen Sportsendung kritisiert Avdiu im Anschluss an das Spiel Xhakas Verhalten. Sie findet die Geste unreif, übergriffig - und vergleicht das Verhalten Xhakas mit dem eines "Straßenjungen".

Noch während der TV-Diskussion wird Ragip Xhaka, Vater des Nationalspielers, live in die Sendung geschaltet, er droht Avdiu, sie werde sich "verantworten" müssen für ihre Kritik und sie solle auf ihre Familie aufpassen. "Wenn es so weit ist, wird es schon zu spät sein, das garantiere ich mit meinem Leben. Du kennst die Familie Xhaka nicht." Avdiu lässt die Tirade Xhakas über sich ergehen, lächelt steif. Doch Xhakas Wutanfall ist nur der Anfang. Mehr als 11.000 Hasskommentare und Drohungen ergießen sich in den nächsten Tagen über die Aktivistin, 200 davon übergibt sie der Polizei für weitere Ermittlungen. 

Für Avdiu ist im Nachhinein klar: "Das Problem war, dass eine Frau einen Mann kritisiert hat. Es ging nicht um Patriotismus oder die Bewahrung einer starken nationalistischen Identität [gegenüber dem ehemaligen Kriegsgegner Serbien, Anm. d. Red.]." Sie glaubt: Für Männer ist die Meinung einer Frau die größte Gefahr für die patriarchalische Gesellschaft. Diese Stimme wollten sie zum Schweigen bringen, so Avdiu.

Sexistische Kommentare als Hintergrundrauschen eines Lebens

Die Drohungen in den darauffolgenden Monaten reichten von Anfeindungen bis zu Lynchjustiz. Sie änderten Zana Avdius Leben. "Etwa einen Monat lang stand ich unter Polizeischutz" erzählt sie. Bis heute meidet Avdiu öffentliche Orte und nimmt keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr - obwohl sie sonst dafür plädiert, so wenig wie möglich das private Auto zu nutzen. Aber, das hat Avdiu in diesen Monaten gelernt: Manchmal steht die Sicherheit über Prinzipien. "Diese Zeit hat meinen Alltag völlig verändert", erinnert sie sich heute.

Als die Deutsche Welle Zana Avdiu zum Interview in einem Café in Prishtina trifft, stehen auf einmal fünf Männer neben dem Tisch, stacheln sich gegenseitig auf, versuchen, Avdiu mit sexistischen Kommentaren zu provozieren. Avdiu kontert gelassen, widmet sich dann wieder ihrem Kaffee und dem Gespräch. Die ungefragten Kommentare, die derben Beleidigungen, sie sind mit den Jahren zu einem ständigen Hintergrundrauschen in ihrem Leben geworden.

Zana Avdiu weiß, es geht gar nicht so sehr um sie als Person. Es geht darum, was sie verkörpert: Kritik an einer Gesellschaft, in der vor allem Männer den Ton angeben. "Ich bin hier, um diese Mentalität zu bekämpfen, die Gewalt akzeptiert, die Unterdrückung akzeptiert, die Herrschaft akzeptiert - diese Mentalität einer patriarchalischen und konservativen Gesellschaft", sagt sie.

Seit November 2023 hostet Zana Avdiu eine eigene TV-Sendung auf T7, Zanat. Es ist eine Talkrunde, wie sie Avdiu selbst zu Hunderten besucht hat. Doch ein entscheidendes Detail ist anders: Die Diskussionsteilnehmer sind vor allem Frauen. Avdiu sitzt in ihrer Mitte, moderiert, ruft auf, heizt ein. Sie sieht zufrieden aus.

Redaktion: Astrid Benölken

EU-Beitrittskandidat Georgien will Anti-LGBTQ+-Gesetze

Georgien will Teil der Europäischen Union werden - aber ohne das zu übernehmen, was Regierungsvertreter LGBTQ+-"Propaganda" und "pseudoliberale Werte" nennen. In der vergangenen Woche hat die Regierungspartei Georgischer Traum einen entsprechenden Verfassungszusatz vorgeschlagen, um "den Wert der Familie und Minderjährige zu schützen".

Nach den Worten von Mamuka Mdinaradze, Mehrheitsführer des Georgischen Traums im Parlament, soll die Verfassungsänderung die Ehe ausschließlich als "Vereinigung eines alleinstehenden genetischen Mannes und einer alleinstehenden genetischen Frau" erlauben. "Falls jemand uns gleichgeschlechtliche Ehen aufzwingen will", so Mdinaradze, "dann werden wir sagen: Das verbietet unsere Verfassung."

Beobachter vermuten, dass die Änderungen erst später im Jahr verabschiedet werden, wahrscheinlich nach den Wahlen im Oktober. Falls sie angenommen werden, beträfen sie nicht nur gleichgeschlechtliche Ehen. Dann wäre auch jede Versammlung mit einem Bezug zu LGBTQ+ gegen das Gesetz. Verboten wären auch alle geschlechtsangleichenden Maßnahmen und Adoptionen durch gleichgeschlechtliche Paare.

LGBTQ+-Rechte als Waffe im Wahlkampf

Kritiker wie Oppositionspolitiker und zivilgesellschaftliche Gruppen verurteilen die Gesetzesinitiative als populistisch. Einige Beobachter glauben, dass die Regierungspartei konservative Einstellungen instrumentalisiert, um bei der Parlamentswahl im Oktober mehr Stimmen zu erringen. Das hat auch Konsequenzen für die Opposition.

"Die Opposition gerät in eine äußerst schwierige Lage. Falls sie für die Rechte von LGBTQ+ eintritt, könnte ihr das bei den Wahlen schaden, denn die georgische Gesellschaft ist ziemlich konservativ", sagt Kornely Kakachia, Professor für Politikwissenschaft und Direktor des Thinktanks Georgian Institute of Politics in der georgischen Hauptstadt Tiflis, der DW.

Menschen stehen vor einem Gebäude mit Säulen, eine Frau hält ein Plakat hoch
"Wer ist als nächstes dran?" Proteste nach queer-feindlichen Angriffen im Juli 2021null Sputnik/dpa/picture alliance

Ob der Georgische Traum die Gesetzesnovelle mit seiner Mehrheit im Parlament durchbringen kann, sei schwer zu beurteilen, meint der Verfassungsrechtler Vakhushti Menabde. "Sie haben nicht genug Abgeordnete, um die Verfassung zu ändern. Aber ich kann nicht ausschließen, dass sie einige Oppositionspolitiker für sich gewinnen." Mit Sorge sieht Menabde vor allem, dass eine solche Verfassungsänderung die georgische Gesellschaft spalten und Konflikte zwischen gesellschaftlichen Gruppen befeuern könnte.

Die Vorschläge aus Tiflis ähneln den Gesetzen, die Moskau jüngst erlassen hat, um LGBTQ+ zu unterdrücken. Kritiker werfen dem seit Februar regierenden Ministerpräsidenten Irakli Kobachidse vor, sein Land an Russland weiter annähern zu wollen.

Georgiens Jugend drängt nach Europa

So wollte Georgien Russland bereits mit einem sogenannten "Ausländische-Agenten"-Gesetz nachahmen. Danach müssen Organisationen, die mehr als 20 Prozent ihrer Finanzierung aus dem Ausland bekommen, sich als "ausländische Agenten" registrieren lassen. Faktisch, so sagen Menschenrechtsaktivisten, werden solche Gesetze gegen Oppositionsgruppen und zivilgesellschaftliche Initiativen eingesetzt. Nach heftigen und teils gewalttätigen Protesten im vergangenen Jahr hat die Regierung in Tiflis das georgische "Ausländische-Agenten"-Gesetz aufgehoben.

Die jetzt vorgeschlagene Verfassungsänderung in Sachen LGBTQ+ sehen viele Kritiker als eine Neuauflage des "russischen Gesetzes". Denn: "Tatsache ist, dass kein Staat der Welt ein Interesse an antidemokratischen Entwicklungen in Georgien hat - außer Russland", so Paata Zakareishvili, ehemaliger georgischer Minister für Versöhnung und bürgerliche Gleichstellung, im Sender Radio Free Europe/Radio Liberty. "Darum sehe ich das natürlich als ein russisches Gesetz."

Gewalt gegen LGBTQ+ in Georgien

Trotz des Bestrebens, in die Europäische Union aufgenommen zu werden, neigt die georgische Gesellschaft zu konservativen Werten. Die Georgische Orthodoxe Kirche gehört beispielsweise zu den bedeutendsten Institutionen im Land und spielt eine entscheidende Rolle in Politik und Gesellschaft.

Laut einer Umfrage der UN-Frauenrechtskommission im Jahr 2022 finden zwar 56 Prozent der Befragten, dass LGBTQ+-Rechte gewahrt werden müssen. Sie sagen aber auch, dass "Mitglieder der Community ihre Lebensweise nicht anderen aufzwingen" sollten.

Georgien, Tiflis | Anti-LGBTQ+-Demonstration: Polizisten versuchen, voran drängende Menschen zurückzuhalten
Mit Gewalt gegen LGBTQ+-Rechte: Gegendemonstranten gegen die Gay Pride in Tiflis im Juli 2023null Zurab Tsertsvadze/AP/picture alliance

Im Juli 2023 griffen rechtsextreme Gegendemonstranten die Tbilisi Pride an, das LGBTQ+-Festival. Dutzende Menschen wurden verletzt, darunter auch Journalisten. Die Parade musste abgesagt werden. Die Organisatoren der Tbilisi Pride werfen dem Innenministerium und antiwestlichen Gruppierungen vor, koordinierte Angriffe inszeniert zu haben.

EU: Georgien muss Europarecht achten

"Als EU-Beitrittskandidat wird von Georgien erwartet, seine Gesetze mit EU-Recht in Einklang zu bringen", teilte die EU-Delegation in Georgien der DW in einem Statement mit. Die Delegation repräsentiert die EU in Georgien und soll die gegenseitigen Beziehungen stärken. "Das Beitrittskandidatenland muss stabile Institutionen haben, um den Respekt vor den Menschenrechten zu garantieren sowie den Respekt vor und den Schutz von Minderheiten" - das seien die Voraussetzungen für eine EU-Mitgliedschaft.

Im vergangenen Dezember machten die Staats- und Regierungschefs der EU Georgien zum Beitrittskandidaten - der sehnlichst erwartete Startschuss, um Mitglied des Staatenbundes zu werden. Die EU-Kommission legte neun Bedingungen fest, um Georgien näher an die EU zu bringen. Dazu gehören: Die politische Spaltung des Landes angehen, die Menschenrechte besser wahren und äußere Einmischung in die Innenpolitik verhindern. Die jetzt vorgeschlagene Verfassungsänderung scheint mit diesen Bedingungen nicht übereinzustimmen.

Menschen demonstrieren und recken die Fäuste, April 2023
Große Zustimmung: Mehr als 80 Prozent der Georgierinnen und Georgier unterstützen eine EU-Mitgliedschaft ihres Landesnull Shakh Aivazov/AP/picture alliance

Die Regierung in Tiflis versuche eben, eine Balance zwischen zwei gegensätzlichen Zielen zu finden, meint Kornely Kakachia vom Georgian Institute of Politics. "Um an der Macht zu bleiben, muss die Regierungspartei einerseits auf EU-Kurs bleiben, weil das mehr als 80 Prozent der Georgier unterstützen. Gleichzeitig haben sie schon angefangen, Brüssel ihre Bedingungen zu diktieren: Sie wollen wie Ungarns Regierungschef Viktor Orbán sein." Orbán pflegt gute Beziehungen zu Kreml-Chef Wladimir Putin und hat die EU-Unterstützung für die Ukraine seit Beginn des russischen Angriffskriegs mehrfach blockiert. "Aber", ergänzt der Politikwissenschaftler Kakachia: "Ungarn ist bereits Mitglied der EU."

Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.

Görlach Global: Protest mit Sonnenblumen und Regenschirmen

Vor ziemlich genau zehn Jahren, am 18. März 2014, besetzten rund 200 Studierende in Taipeh das Parlament Taiwans. Sie wollten damit ein Handelsabkommen der amtierenden konservativen Regierung mit der benachbarten Volksrepublik China verhindern.

Dieser Deal im Hinterzimmer war ohne Diskussion im Parlament beschlossen worden. In den Augen der Demonstrierenden hätte das Abkommen die ökonomische Unabhängigkeit des kleinen Inselstaats aufs Spiel gesetzt und Taiwan in die Fänge Pekings getrieben.

Bis zum 10. April dauerte die friedliche Blockade des Parlaments, die am Ende von Erfolg gekrönt war. Denn das Abkommen kam nicht zustande.

Studenten stehen im Parlament von Taipeh in einer Reihe, um gegen ein Handelsabkommen mit China zu demonstrieren, Taiwan, 2014
Im April 2014 besetzten Studenten das Parlament in Taipeh, um gegen ein Handelsabkommen mit China zu demonstrierennull Wally Santana/AP Photo/picture alliance

Triumph der Freiheit

Mehr noch, bei der darauf folgenden Präsidenten- und Parlamentswahl am 16. Januar 2016 wurde die konservative Kuomintang KMT abgewählt. Seitdem regiert bereits in der dritten Amtszeit in Folge ein Staatsoberhaupt von der liberalen Fortschrittspartei.

Die "Sonnenblumen-Bewegung", wie die Proteste gegen das Handelsabkommen genannt wurden, ist die Geburtsstunde eines neuen demokratischen Bewusstseins auf Taiwan. Es war prägend für das Selbstverständnis einer ganzen Generation.

Etliche der Protagonisten gingen nach der Sonnenblumen-Bewegung zuerst ins Ausland, um zu studieren und dann, nach ihrer Rückkehr, in die Politik des Landes. Sie engagierten sich entweder in der Liberalen Fortschrittspartei oder in der 2015 neu gegründeten New Power Party.

Taiwan - Geschichten aus der digitalen Demokratie

Flower Power

Die Sonnenblume wurde zum Symbol des erfolgreichen demokratischen Protestes, nachdem ein Blumenhändler die Studierenden mit 1000 Blumen, die er vor das Parlamentsgebäude liefern ließ, ermutigte, nicht von ihren Protesten abzulassen.

Auch im benachbarten Hongkong kam es im Jahr 2014 zu Protesten von Studierenden. Sie richteten sich gegen die chinesische Zentralregierung unter dem gerade erst im Jahr 2013 ins Amt gekommenen Xi Jinping.

Die Welt setzte damals noch große Hoffnung in den neuen mächtigen Mann Chinas und glaubte, dass Xi den langsamen Reformkurs seines Landes fortsetzen würde. Doch am Beispiel Hongkong wurde schnell deutlich, dass diese Hoffnungen nicht erfüllt werden würden.

Regenschirme gegen Pfefferspray

Vom 28. September bis zum 15. Dezember 2014 gingen bis zu 100.000 Menschen auf die Straße, um gegen Xis Vorhaben zu protestieren, dass nur noch solche Kandidaten in der semi-autonomen Metropole zur Wahl aufgestellt werden durften, die Peking vorher abgesegnet hätte.

Die Proteste erhielten den Namen "Regenschirm-Bewegung". Namensgeber waren die vielen aufgespannten Regenschirme, mit denen sich die jungen Demonstrierenden gegen das von der Polizei versprühte Pfefferspray, das sie auseinander treiben sollte, schützten.

Sonnenblumen und Regenschirme - schon in den Namen und im Umgang mit den beiden Bewegungen zeigt sich der himmelweite Unterschied zwischen dem totalitären China und dem demokratischen Taiwan.

In Taipeh widersetzte sich die Polizei vor zehn Jahren der Weisung des KMT-Premierministers, den Plenarsaal räumen zu lassen. In Hongkong hingegen verabschiedete das unter Pekings Kontrolle stehende Parlament zum zehnjährigen Jubiläum der Sonnenblumen-Bewegung am 19. März eine Erweiterung des "Sicherheitsgesetzes".

Weltspiegel 6.5.21 | Proteste gegen Verurteilung von Aktivist Joshua Wong in Hongkong
Mitglieder der "Patriotisch-demokratischen Bewegungen Chinas" protestieren gegen die Festnahme des Aktivisten Joshua Wong im Mai 2021 in Hongkongnull Tyrone Siu/REUTERS

Resignation in Hongkong

Dazu gehören neue "Straftatbestände" wie "Aufruhr" und "Einmischung von außen". Die Maßnahme ist als reiner Einschüchterungsterror zu verstehen, denn mittlerweile sitzen die Demokratiedemonstranten, wie der bereits 2014 bekannt gewordene Joshua Wong, lange Strafen ab.

Etliche Menschen sind ins Ausland geflohen. Dort will Diktator Xi sie mit Hilfe von Kopfgeldjägern aufspüren, nach China überführen und dort ins Gefängnis werfen lassen.

Die Demokratiebewegungen in Taiwan und Hongkong zeigen, wohin eine Welt steuern würde, in der China das Sagen hat: In der ehemals quirligen, lebendigen Stadt, die beliebt war in Ost und West, ist Resignation eingekehrt. Wer Hongkong verlassen kann, der tut es.

Im demokratischen Taiwan hingegen, von dem Peking behauptet, dass es ein Teil der Volksrepublik sei, wurde am 13. Januar erfolgreich und frei gewählt. Der bisherige Vizepräsident Lai Ching-te von der Liberalen Fortschrittspartei wird im Mai als Staatsoberhaupt vereidigt.

Gelbes Symbol für Demokratie

Für China ist die Existenz einer funktionierenden und prosperierenden Demokratie vor der Haustür eine Gefahr. Denn die Taiwaner könnten die chinesische Bevölkerung auf dem Festland eines Tages dazu inspirieren, auch in Freiheit leben zu wollen.

Die Taiwaner haben dank der Sonnenblumen-Bewegung vor zehn Jahren ihre Demokratie erhalten können. Ihr Einsatz ist Inspiration für alle in der Welt, die sich zusammentun und gegen Totalitarismus und das Wiedererstarkten eines menschenfeindlichen Faschismus wehren - sei er chinesischer, russischer oder anderer Prägung.

London: Weiter Streit um Abschiebeflüge nach Ruanda

Wenn es um Asylsuchende geht, redet sich der 91-jährige Lord Dubs leicht in Rage. "Beschämend" sei der Plan der britischen Regierung, Flüchtende nach Ruanda zu schicken, er schade dem guten Ruf Großbritanniens. Wie es sich anfühlt, Familie und Heimat hinter sich zu lassen, weiß Alfred Dubs, denn er selbst fuhr im Alter von sechs Jahren mit dem Kindertransport von Prag nach London, um dem Holocaust zu entkommen. Heute sitzt er für die oppositionelle Labour-Partei im Oberhaus, dem House of Lords, und setzt sich für Flüchtlinge ein.

Lord Alfred Dubs (Archivbild)
Lord Alfred Dubs (Archivbild)null Christoph Meyer/dpa/picture alliance

Bisher haben sich die Lords geweigert, das sogenannte "Ruanda-Gesetz" zu verabschieden, und es damit verzögert. Unter anderem deshalb, weil es gegen internationales Recht verstoße. Doch schlussendlich werden sie nachgeben, schätzt Dubs, schließlich stellten die Konservativen auch im Oberhaus die größte Gruppe. Und der Kampfgeist der zumeist älteren Lords würde inzwischen schwächeln.

Tories verfolgen Ruanda-Plan schon seit Jahren

Premierminister Rishi Sunak hat es zur Priorität erklärt, "die Boote zu stoppen". Fast 30.000 Menschen kamen im vergangenen Jahr zumeist in kleinen Schlauchbooten über den Ärmelkanal. Ihnen, und all den anderen Flüchtenden, die seit Anfang 2022 "irregulär" das Land erreicht haben, könnte bald die Abschiebung nach Ruanda drohen. Ungeachtet ihrer Herkunft und ohne Prüfung ihres Asylantrages sollen sie in das ostafrikanische Land verfrachtet werden und dann dort statt in Großbritannien ihre Asylanträge stellen.

Rishi Sunak vor einer Pressekonferenz an Bord eines Grenzschutzkutters
Rishi Sunak vor einer Pressekonferenz zur Migrationspolitik an Bord eines Grenzschutzkuttersnull Yui Mok/PA Wire/dpa/picture alliance

Boris Johnson  hatte vor zwei Jahren als erster Premier ein Flugzeug chartern lassen, das eine kleine Gruppe Flüchtlinge nach Kigali bringen sollte - trotz heftiger Proteste vieler Menschenrechtsorganisationen. 140 Millionen Pfund haben die Briten bereits an Ruanda überwiesen, aber bisher hat noch kein einziger hiesiger Flüchtling ruandischen Boden betreten.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte machte Johnson in letzter Minute einen Strich durch die Rechnung. Auch das oberste britische Gericht erklärte den Plan zunächst für rechtswidrig, denn Ruanda sei kein sicheres Drittland. Hier hat die Regierung nachgebessert und ein neues Abkommen mit dem ostafrikanischen Land geschlossen, in dem der ruandische Staat versichert, niemanden in sein Herkunftsland abzuschieben.

Das britische Oberhaus, das House of Lords (Archivbild)
Das britische Oberhaus, das House of Lords (Archivbild)null Kirsty Wigglesworth/AP POOL/dpa/picture alliance

Premierminister Sunak argumentiert, die Unterbringung von Flüchtlingen in britischen Hotels koste täglich sechs Millionen Pfund; von den Ruanda-Abschiebungen erhofft er sich eine abschreckende Wirkung. Wenn das Gesetz nicht durchkomme, würden noch mehr Menschen auf der gefährlichen Überfahrt ihr Leben verlieren, warnte der zuständige Minister Lord Sharpe seine Kollegen im Oberhaus. Die Lords sollten dem "Willen des Volkes" nicht entgegenstehen, appellierte Rishi Sunak - er glaubt, durch seine scharfe Asylpolitik bei einigen Wählern punkten zu können.

Abschreckende Wirkung unklar

Aber werden Schutzsuchende durch so ein Gesetz wirklich abschreckt? Die Meinungen gehen auseinander. Jacqueline McKenzie ist Menschenrechts-Anwältin in London, vertritt unter anderem einen Iraker, der nach Ruanda deportiert werden sollte, bevor das der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Eilentscheidung verhinderte.

Der Mann saß bereits gefesselt im Bus auf dem Rollfeld, das Flugzeug im Blick. Für ihn sei das traumatisch gewesen, berichtet die Anwältin. Inzwischen habe er nachweisen können, dass er Opfer von Menschenhandel gewesen sei und nun dürfe er rechtmäßig in Großbritannien bleiben. An eine abschreckende Wirkung glaubt McKenzie nicht: "Wir reden doch schon seit Jahren über Ruanda - und die Leute kommen immer noch."

Demonstration der Menschenrechtsorganisation Amnesty International in London gegen das Ruanda-Gesetz
Demonstration der Menschenrechtsorganisation Amnesty International in London gegen das Ruanda-Gesetznull Tayfun Salci/ZUMA Press Wire/picture alliance

Nikolai Posner ist da nicht ganz so sicher. Er arbeitet für die französische Flüchtlingsorganisation Utopia 56 und ist immer wieder in der nordfranzösischen Hafenstadt Calais, in der viele Migranten ihre riskante Reise antreten. Als der Plan vor zwei Jahren das erste Mal bekannt geworden sei, habe es weniger Überfahrten gegeben, "bis die Schmuggler ihre Preise senkten" - das könnte auch jetzt wieder der Fall sein. Mit vielen anderen, die in der Flüchtlingshilfe arbeiten, verlangt auch er mehr sichere und legale Fluchtrouten.

Wer sich auf die gefährliche Reise von Frankreich an die südenglische Küste wagt, hat oft Familie in Großbritannien. Und die meisten haben einen Anspruch auf Asyl: Sie kommen aus Ländern, in denen Krieg oder Verfolgung an der Tagesordnung ist - aus dem Iran, Irak, aus Afghanistan - und die überwiegende Mehrheit der Anträge wurde bisher angenommen.

Flüchtlingsboote in einem Lager in Dover
Flüchtlingsboote in einem Lager in Dovernull Gareth Fuller/PA Wire/dpa/picture alliance

Sollte das Gesetz in den kommenden Tagen verabschiedet werden, bleiben weiterhin Unsicherheiten, wann die ersten Flüge nach Ruanda abheben könnten. Beamtenverbände fordern eine erneute rechtliche Klärung, weil die neuen Regelungen ihrer Meinung nach weiterhin gegen internationale Gesetze verstoßen. Auch die Anwältin McKenzie geht davon aus, dass weiterhin vor Gerichten gerungen wird.

Chefsache für Sunak

Doch Premierminister Sunak scheint entschlossen, die ersten Menschen so schnell wie möglich abzuschieben. Er hat das Thema Migration zur Chefsache erklärt - wenn es nach ihm geht, dann vergehen nur wenige Tage, bis der erste Flieger nach Kigali startet. Bei dem Gedanken laufen Lord Dubs Schauer über den Rücken: Schließlich sei Großbritannien eines der Gründungmitglieder des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, und Unterzeichner der Genfer Flüchtlingskonvention. Dass sein Heimatland, das ihn als Kind so großherzig aufgenommen hat, jetzt "so ein schlechtes Beispiel" abgebe, dagegen wird er weiterhin kämpfen, so gut er kann.

Für mehr Gleichberechtigung in Perus Kaffeebranche

Carolina Peralta füllt die Espressomaschine mit frischen Kaffeebohnen auf, kurz darauf übertönt ein Rattern das Quatschen der Gäste und der Duft von frisch gemahlenem Kaffee strömt durch den Raum. Es dauert nicht lange, bis ein Kunde an die Theke tritt und beginnt, die Karte zu scannen. "Welchen Kaffee hättest du gerne?", fragt Carolina, "den von Lidia oder den von Consuelo?" 

Lidia und Consuelo sind nur zwei von etwa ein Dutzend Frauennamen, die im Café "Florencia y Fortunata" in der peruanischen Stadt Cusco in großen Lettern auf den Behältern der Kaffeebohnen stehen, auf den Papierverpackungen, die sich im Regal hinter der Theke aneinanderreihen oder auf den Karten, die auf dem Tresen liegen.  

"Unsere Mission ist es, weibliche Kaffeeproduzentinnen in Peru sichtbarer zu machen", sagt die 27-jährige Carolina, die das Café 2021 gegründet hat. 

Das Café Florencia y Fortunata in Cusco
Das Café Florencia y Fortunata in Cusco zieht sowohl Touristen als auch Einheimische annull Hernán Martín/DW

"Wo sind die Frauen in der Kaffeebranche?"

Nachdem die junge Peruanerin Accounting an einer Business-Universität in Lima studiert hat, arbeitete sie bei einer großen Pharmafirma. Für den Job musste sie viel durch Peru reisen. "Ich hatte schon immer ein Faible für Cafés und habe die Reisen genutzt, um Kaffee an den unterschiedlichsten Orten zu trinken", erzählt Carolina.  

Dabei fiel ihr auf, dass die Kaffeekultur in Peru stark männlich geprägt ist. In den Cafés wurde fast ausschließlich von dem Kaffeeproduzenten, dem Röster, dem Barista gesprochen. "Ich fragte mich: Wo sind die Frauen in dieser Branche?" 

Und so begann Carolina auf eigene Faust zu verschiedenen Kaffeeplantagen in Peru zu fahren, vor allem in ihrer Heimatregion Cusco sowie in Cajamarca.

"Dort habe ich Muster gesehen, die sich wiederholt haben", berichtet sie. Natürlich würden Frauen auf den Plantagen arbeiten. Sie seien in vielen Familienbetrieben sogar das Rückgrat der Produktion, weil sie sich neben der Arbeit auch noch um die Organisation sowie um die Kinder und Tiere kümmern. "Die Frauen bringen alles zum Laufen", meint Carolina. 

 Blanca Flor Quispe Rubio auf ihrer Plantage in Cajamarca
Blanca Quispe ist eine der Produzentinnen, die ihren Kaffee jetzt unter ihrem eigenen Namen verkauftnull Carolina Peralta

Frauen auf den Kaffeeplantagen: viel Arbeit, wenig Sichtbarkeit  

Doch am Ende werde der Kaffee, für den die Frauen hart arbeiten, unter dem Namen von Männern verkauft. Carolina berichtet von Frauen, darunter Blanca Quispe (Foto), die zwar ihre Betriebe leiten, jedoch für ihren Kaffee zunächst den Namen ihres Vaters oder ihres Mannes wählten. So gebe es mehr Anerkennung und die Verkaufszahlen fielen besser aus.  

Um das zu ändern, machte Carolina einen Plan: Ein Café eröffnen, in dem Kaffee von Frauen verkauft wird, um so die Gleichberechtigung in der Kaffeebranche zu fördern. Dafür kündigte sie ihren Job und zog zurück in ihre Heimatstadt Cusco.

Das Café lief zunächst nicht gut an  

In ihrem Viertel Magisterio eröffnete sie ihr Café unter dem Namen "Florencia y Fortunata", die Namen ihrer beiden Großmütter.  

Doch der Anfang verlief holprig. Zum einen sind es die Cusqueños gewohnt, starken, destillierten Kaffee zu trinken. Mit Cappuccino oder Flat White konnten sie wenig anfangen. "Zum anderen gab es in meinem Viertel wenig Verständnis für das Konzept des Cafés", erzählt Carolina. Die Kundschaft blieb aus. 

Gründerin Carolina Peralta vor ihrem Café im Zentrum Cuscos.
Carolina Peralta ließ sich nicht unterkriegen und eröffnete eine Filiale im Stadtzentrumnull Hernán Martín/DW

Neuanfang im Zentrum von Cusco  

So verlegte die Unternehmerin ihr Café ins Stadtzentrum, nur wenige Meter von der Plaza Mayor, dem Hauptplatz, entfernt. "Hier sind wir auf mehr Neugier und Offenheit gestoßen", berichtet Carolina. Mit Erfolg. Immer mehr Kunden kamen, um den Kaffee von Consuelo, Lidia, Sonia oder Blanca zu probieren. 

Cusco ist eine Stadt, die unter anderem wegen der Nähe zum Weltwunder Machu Picchu viele Touristen anzieht. Auch Carolinas Café besuchen Reisende aus aller Welt. Peruanischer Kaffee ist insbesondere im westlichen Ausland sehr beliebt. Doch über strukturelle Probleme wie die Diskriminierung der Frauen wissen die wenigsten Bescheid. 

Es kämen aber auch viele Menschen aus Peru - sogar etwas mehr Männer als Frauen, so Carolina. "Ich finde es toll, wie sich das Café für Frauen einsetzt", sagt die 40-jährige Kundin Rosalina Susano zwischen zwei Schlucken von ihrem Eiskaffee. "Außerdem ist der Kaffee ausgezeichnet und ich habe mich mit der ganzen Atmosphäre, mit der Musik und mit den Leuten direkt verbunden gefühlt."

Die Kundin Rosalina Susano sitzt an einem der Tische und trinkt einen Eiskaffee.
"Ich liebe das Konzept des Cafés", sagt Kundin Rosalina Susano null Hernán Martín/DW

Mehr weibliche Baristas in Perus Cafés  

Rosalinas Kaffee wurde von Rosana Mantilla zubereitet. Die 29-Jährige kommt aus Venezuela und ist Barista und Servicechefin des Cafés. "In Lateinamerika findet man nur sehr wenige weibliche Baristas hinter den Theken", sagt sie. Frauen werden hauptsächlich im Service eingestellt, während die Männer an den Espressomaschinen arbeiten. "Aber in Peru gibt es langsam aber sicher mehr weibliche Baristas." Das ist zumindest ihr Eindruck, denn offizielle Statistiken gibt es dazu nicht. 

Rosana zaubert mühelos ein feines Muster in den Milchschaum eines Cappuccinos. "Ich denke, dass wir, egal ob Frau oder Mann, dieselbe Arbeit gleich gut erledigen können", meint sie. Das gelte sowohl für die Arbeit als Barista als auch für die Kaffeeproduktion.  

 Die Barista Rosana Mantilla serviert einen Cappuccino.
Rosana Mantilla liebt ihren Job als Barista im Café Florencia y Fortunatanull Hernán Martín/DW

Kaffeepackung mit eigenem Namen ist wie eine Trophäe 

Carolina hat vor kurzem eine zweite Filiale eröffnet - wieder in ihrem Heimatviertel Magisterio, in dem es anfangs nicht gut lief. Mittlerweile sind die Menschen auch hier offener und besuchen das Café. Außerdem nutzt Carolina das zweite Café als Röstlabor, um mit verschiedenen Kaffeesorten zu experimentieren.  

Bald möchte Carolina eine weitere Filiale im neuen Flughafen von Cusco eröffnen, der momentan gebaut wird. "Ich denke, dass Flughäfen ein großartiges Schaufenster sind", sagt Carolina. "So könnten wir den Kaffee unserer Produzentinnen bei Menschen aus aller Welt bekannt machen."

Auch bei den Produzentinnen spricht sich Carolinas Engagement herum. "Anfangs sind wir zu den verschiedenen Kaffeeplantagen gereist und haben die Frauen gefragt, ob sie ihren Kaffee direkt an uns verkaufen wollen", erzählt Carolina. Mittlerweile kämen Produzentinnen von selbst im Café vorbei und brächten Proben mit. 

"Wenn die Frauen ihre erste Packung, auf der ihr Name steht, in den Händen halten, ist das wie eine Trophäe für sie", berichtet Carolina. "Sie sind stolz darauf, dass sie ihren Kaffee unter ihrem Namen verkaufen können - ohne Unsicherheiten oder Diskriminierung."

Wie fundamentalistische US-Kirchen in Afrika Stimmung machen

Sie hetzen gegen Homosexuelle, verurteilen das Recht auf Abtreibung und predigen gegen Transidentität: Christlich-fundamentalistische Kirchen aus den Vereinigten Staaten gewinnen zunehmend an Einfluss in Gesellschaft und Politik in Afrika. Die Hintergründe dieser mächtigen Netzwerke recherchiert Haley McEwen, Soziologin an der Universität Göteborg.

"Christlich-rechte Gruppen in den USA sind seit Anfang der 2000er Jahre in der US-Außenpolitik sehr aktiv", sagt sie im DW-Interview. Schon in den 1970-er Jahren hätten sich viele von ihnen etabliert und später ihren Einfluss auf internationaler Ebene vergrößert. Zu dieser Zeit seien sie auch in afrikanischen Staaten, insbesondere in Uganda, Nigeria, Kenia, Ghana und Südafrika, sowie in den Gremien der Vereinten Nationen tätig geworden.

Den Vorstoß sieht McEwen als eine "Reaktion auf die Fortschritte der internationalen Frauenbewegung bei der Anerkennung der sexuellen und reproduktiven Gesundheit und Rechte im Rahmen der UN".

"Schutz der Kernfamilie”

Die konservativen Aktivisten, die sich als "pro-familiär" bezeichnen, sind laut McEwen jedoch ausschließlich daran interessiert, eine bestimmte Art von Familie zu schützen und zu verteidigen: die heterosexuelle, monogame, verheiratete Kernfamilie. Die Pro-Familien-Bewegung stelle Homosexualität und Geschlechtervielfalt als fremde Importe dar, die afrikanische Gesellschaften bedrohten.

Drei Demonstranten tragen rote Plakate, auf denen in gelber Schrift Slogans gegen das Anti-Homosexualitätsgesetz in Uganda stehen
Proteste gegen das neue ugandische Gesetz, das Homosexuellen mit Todesstrafe droht, fanden auch in Südafrika stattnull Themba Hadebe/AP/picture alliance

Irungu Houghton, Direktor von Amnesty International in Kenia, betont aber: Der Hass, der durch diese rechten Gruppen geschürt werde, sei nicht in der kenianischen bzw. afrikanischen Geschichte begründet. Er schaffe jedoch die Voraussetzungen für die Gewalt und die Übergriffe gegen die LGBTQ-Gemeinschaften - also Gruppen und Menschen, die sich als lesbisch, schwul, bisexuell, transgender oder queer identifizieren.

"Homosexualität wird von einer Minderheit diskret praktiziert, ist aber seit mindestens einem Jahrhundert Teil der afrikanischen Tradition und Kultur. Wie sonst wäre es zu erklären, dass die Kolonialisierung in den 1930-er Jahren Gesetze zur Kriminalisierung von Sex zwischen Männern erließ", sagt Houghton im DW-Interview.

Das Hauptziel der US-Netzwerke ist laut McEwen, afrikanische politische Führer für die Unterstützung ihrer Politik bei den Vereinten Nationen (UN) zu gewinnen. Zum Beispiel durch Beratung und Training, damit sie in ihren Ländern und auch bei internationalen UN-Versammlungen an vorderster Front für angeblich familienfreundliche Agenden eintreten.

Einfluss hängt vom Geld ab

"Einflussnahme findet auch durch Finanzierung afrikanischer Organisationen statt, die sich vor Ort für diese Familienpolitik und gegen LGBTQ-Rechte und eine umfassende Sexualerziehung einsetzen." Die afrikanische Pro-Familien-Bewegung habe sich zunehmend selbst entwickelt, aber der Erfolg afrikanischer Kampagnen hänge nach wie vor weitgehend von ausländischen Investitionen ab, behauptet McEwen.

Die unabhängige internationale Medienplattform "openDemocracy" mit Sitz in London gibt in ihrer Untersuchung 2020 an, dass mehr als 20 amerikanische christliche Gruppen seit 2007 mindestens 54 Millionen US-Dollar in Afrika ausgegeben hätten. Die Organisationen sind für ihren Kampf gegen LGBTQ-Rechte und gegen den Zugang zu sicherer Abtreibung, Verhütungsmitteln und umfassender Sexualaufklärung bekannt.

Zum Beispiel die rechte Organisation "Family Watch International", die laut openDemocracy 2023 mehrere Schulungen zu Anti-LGBTQ-Gesetzen für afrikanische Politiker und andere Gruppen einberufen oder finanziert hat.

So auch in Uganda. Dort hätte der Einfluss dieser ultra-konservativen Gruppe aus Arizona bis hin zu einem neuen Gesetz gegen Homosexuelle gereicht, sagt Frank Mugisha, einer der bekanntesten Verfechter von LGBTQ-Rechten in Uganda und Direktor der Organisation Sexual Minorities Uganda (SMUG).

Eine Frau hält einen Palmblatt-Fächer in Regenbogenfarben vor ihr Gesicht
In Uganda drohen den Menschen der LGBTQ-Gemeinschaft harte Strafen, sie sind ständiger Gewalt augesetztnull Abubaker Lubowa/REUTERS

"Es sind schon viele Prediger nach Uganda gekommen, einer von ihnen war Lou Engle aus Kansas City. Er hat vergangenes Jahr mit Politikern an der Sprache für das neue Gesetz gegen Homosexuelle gearbeitet und dafür gebetet, dass es angenommen wird", sagt Mugisha im DW-Interview.

Todesstrafe für Homosexualität in Uganda

Ugandas Präsident Yoweri Museveni unterschrieb im Mai 2023 eine veränderte Version seines international scharf kritisierten Anti-Homosexuellen-Gesetzes - ohne jedoch von harten Strafen gegen gleichgeschlechtliche Beziehungen abzurücken. Homosexuellen droht die Todesstrafe, LGBTQ-Aktivistengruppen können mit bis zu 20 Jahren Haft bestraft werden.

SMUG hatte geklagt, ohne Erfolg. Die Gruppe hat sich in den USA registriert, da die ugandische Regierung es nicht zu zuließ. Sie arbeitet in Uganda - trotz der Gefahr für ihre Mitglieder: "Diese Leute gehen in unsere Gemeinden, wo wir leben", so Mugisha. "Sie rufen 'Werft den Teufel raus, kämpft gegen Sodomie!' Wir sind also ständig der Gewalt und hasserfüllten Drohungen ausgesetzt." Seine Kollegen seien bereits geflohen, aber er wolle bleiben: "Ich habe hier noch viel zu tun."

Die US-Netzwerker seien extrem und gingen sehr systematisch vor, sagt Mugisha. Nur zwei Tage nach der Unterzeichnung des Gesetzes durch Präsident Museveni hatte das Gründerehepaar von Family Watch International, Greg und Sharon Slater, in Entebbe eine Konferenz mit Parlamentariern zahlreicher afrikanischer Länder veranstaltet, um das Momentum zu nutzen, wie Mugisha sagt.

Ugandas Nachbarland Kenia habe kurz darauf mit einem Gesetzesentwurf nachgezogen, sagt der Aktivist: Der Entwurf eines Gesetzes zum Schutz der Familie liegt vor. Es zielt darauf ab, Homosexualität zu kriminalisieren und eine aufklärende Sexualerziehung zu verbieten.

Demonstranten halten bei ihrem Marsch durch die Straßen von Nairobi rote Plakate mit gelb-weißer Schrift hoch, die Anti-LGBT-Slogans zeigen
Religiöse Aktivisten und Anti-LGBTQ-Demonstrierende in Nairobi null Thomas Mukoya/REUTERS

In Kenia, aber auch in Uganda und Ghana, sieht AI-Direktor Houghton ebenso einen "direkten Zusammenhang" zwischen dem Aufkommen von Hassgesetzen und den Interessen der US-Kirchengruppen. Sie zielten darauf ab, viele Errungenschaften im Bereich der Sexualerziehung und der Rechte auf sexuelle und reproduktive Gesundheit zunichte zu machen.

2023 hätte es zwölf Hasskundgebungen in den Straßen von Mombasa, Malindi und Nairobi gegeben. Der Nationalen Kommission für Menschenrechte wurden 1250 Fälle von Menschenrechtsverletzungen genannt. "Das muss unterbunden werden, das es sich um Vorfälle handelt, die nach unserem Recht strafbar sind."

Akzeptanz von Ungleichheit

In Ghana verabschiedete das Parlament erst vor zwei Wochen ein Gesetz, das die Strafen für einvernehmliche gleichgeschlechtliche Handlungen verschärft und Personen und Organisationen, die sich für die Rechte von LGBTQ-Menschen einsetzen, kriminalisiert. Damit der Gesetzentwurf in Kraft treten kann, müsste Präsident Nana Akufo-Addo ihn allerdings noch unterzeichnen. Ob und wann das passieren wird, ist offen.

Diese Entwicklung, die auch in anderen afrikanischen Ländern zu beobachten ist, findet laut McEwen nicht in einem Vakuum statt: Gesetze gegen Homosexualität gebe es in Ungarn, in Russland oder auch in Großbritannien und den USA. Ihr Fazit: "Wir dürfen Afrika nicht als homophoben Kontinent abstempeln, nur weil es dort diese Gesetze gibt."

Neues Anti-LGBT-Gesetz in Uganda

Belarus: Trotz Krankheit und Behinderung im Gefängnis

Fünf politische Häftlinge sind seit 2021 in belarussischen Gefängnissen gestorben. Menschenrechtsaktivisten führen das auf die unmenschliche Behandlung zurück. So hätten die Betroffenen keinen Zugang zu schneller und guter medizinischer Versorgung erhalten. Drei von ihnen hätten bereits vor ihrer Inhaftierung mit schweren gesundheitlichen Problemen zu kämpfen gehabt.

Dem Gesetz nach muss auch in Belarus auf den Gesundheitszustand eines Festgenommenen geachtet werden. Nach Angaben der belarussischen Justiz waren im Jahr 2010 zehn Prozent der Beschwerden erfolgreich, worauf die Inhaftierung der Gefangenen aufgehoben wurde. Im Jahr 2021 war das nur noch bei 1,3 Prozent der Beschwerden der Fall. Heute werden auch Menschen mit Behinderungen, Schwangere, ältere Menschen und auch solche, die an Diabetes, Krebs und anderen chronischen Krankheiten leiden, in Untersuchungshaft genommen.

Auf einer Trage liegend zum Verhör

Ermittler würden häufig den Gesundheitszustand eines Angeklagten ausnutzen, um "nützliche" Aussagen aus ihm herauszupressen, sagt der ehemalige Leiter des medizinischen Dienstes bei der Abteilung für Strafvollzug des belarussischen Innenministeriums, Wassilij Sawadskij. Sollte der Betroffene bestimmte Papiere nicht unterschreiben, werde ihm mit einer Verschlimmerung seines Gesundheitszustands gedroht.

In fast allen Fällen werden Personen, die aus politischen Gründen verfolgt werden, ungeachtet ihres Gesundheitszustands in Untersuchungshaft genommen. Ein ehemaliger belarussischer Anwalt, der ungenannt bleiben möchte, führt folgendes Beispiel an: "Ein aus politischen Gründen verfolgter Mandant musste operiert werden. Er konnte vor Schmerzen nicht mehr schlafen und wurde trotzdem in ein Untersuchungsgefängnis gesteckt. Dabei dürfen die Haftbedingungen keinesfalls Leben und Gesundheit gefährden. Der Ermittler sagt: 'Ich bin kein Arzt.' Und die Ärzte verweisen auf den Ermittler, weil er die Entscheidung getroffen hatte, die Person in Isolationshaft zu nehmen."

Es sei sehr schwierig gewesen, eine Operation durchzusetzen, berichtet der Anwalt weiter. Danach sei es dann zu Komplikationen gekommen. "Der Mandant wurde auf einer Trage zum Verhör gebracht. Auf dem Boden liegend wurde er vernommen und zudem auch noch gefilmt. Der Ermittler sah in diesem eindeutig unmenschlichen Umgang allerdings nichts Außergewöhnliches."

Ein Gerichtsgebäude in der belarussischen Stadt Mogilew im Winter
Gerichte in Belarus ignorieren mildernde Umstände wie schwere Krankheitennull A. Burakow/DW

Der Anwalt des belarussischen Menschenrechtszentrums "Viasna", Pawel Sapelko, weist darauf hin, dass in Belarus Folter systematisch gegen politische Gefangene angewandt werde, unabhängig von einer Behinderung oder einer schweren Krankheit. Dies habe zum Tod von fünf politischen Gefangenen in Haft geführt.

Harte Strafen aus politischen Gründen

Verurteilte würden vom Justizsystem in Belarus isoliert und nicht resozialisiert, erläutert ein weiterer ehemaliger belarussischer Anwalt, der auch ungenannt bleiben möchte. Zudem erhalte eine bisher nicht verurteilte Person, die ein weniger schweres Verbrechen begangen hat, gleich eine harte Strafe. Gerichte würden mildernde Umstände wie schwere Krankheiten und sogar Behinderungen häufig ignorieren.

Für politische Gefangene, so der Gesprächspartner weiter, gebe es die Anordnung, noch härtere Strafen zu verhängen. Als Beispiel nennt er den Fall von Nikolaj Klimowitsch, der eine Behinderung hatte. Weil er eine Karikatur des belarussischen Machthabers Alexander Lukaschenko mit einem Like versehen hatte, wurde er zu einem Jahr Gefängnis verurteilt.  Dabei hatten der Angeklagte und sein Anwalt während des Prozesses beteuert, dass eine Haftstrafe aus gesundheitlichen Gründen nicht zu bewältigen sei. Zwei Monate später verstarb Klimowitsch im Gefängnis.

Keine Haftentlassung aus medizinischen Gründen in Belarus?

Auch in Belarus sollte eine Haftentlassung aus medizinischen Gründen möglich sein. Dafür gibt es eine entsprechende Liste von Erkrankungen wie Tuberkulose, Krebs oder Diabetes. Die Entscheidung müsse dann eine Sonderkommission fällen, erläutert Wassilij Sawadskij. Danach entscheide ein Gericht. Es habe das Recht, eine Haftentlassung aus medizinischen Gründen zuzulassen, sei aber nicht dazu verpflichtet. Eine Garantie gebe es nicht, selbst wenn Ärzte eine Inhaftierung als lebensbedrohlich einstuften. In der Praxis kämen betroffene Gefangene nur in Ausnahmefällen frei, beispielsweise wenn sie bereits Krebs im Endstadium hätten und zum Sterben nach Hause geschickt würden.

Aber selbst unter solch extremen Umständen gelingt es nicht jedem, aus der Haft entlassen zu werden. So starb 2018 die ehemalige Richterin Jelena Melnikowa in einer Strafkolonie. Sie wurde 2016 wegen Annahme von Bestechungsgeldern zu 13 Jahren Haft verurteilt. Melnikowa sollte zur Behandlung in eine onkologische Klinik gebracht werden, doch sie starb einen Tag vor ihrer Haftentlassung.

Das Oberste Gericht von Belarus stellt keine Daten darüber zur Verfügung, wie viele Personen aus medizinischen Gründen aus der Haft entlassen wurden. Unter politischen Gefangenen sind solche Fälle jedenfalls unbekannt.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk

Belarus: Gewalt gegen Regierungskritiker

Gambia: Debatte um Verbot von Genitalverstümmlung

Mitglieder der gambischen Nationalversammlung haben einen Gesetzesvorschlag zur Aufhebung eines nationalen Gesetzes zum Verbot der weiblichen Genitalverstümmelung (FGM, "Female Genital Mutilation") vorgelegt. Das kleine westafrikanische Land hatte FGM, auch Beschneidung genannt, bereits im Jahr 2015 ausdrücklich unter Strafe gestellt.

Doch die Praxis ist nach wie vor weit verbreitet: In Gambia sind etwa 73 Prozent der Mädchen und Frauen zwischen 15 und 49 Jahren beschnitten. Fast ein Drittel dieser Frauen waren jünger als fünf Jahre, als ihre Genitalien verstümmelt worden sind. Das geht aus dem Bericht zur Demografie und Gesundheit 2019/20 der gambischen Statistikbehörde hervor.

Die Mehrheit der Bevölkerung des Landes ist muslimisch - viele Menschen glauben, dass Genitalverstümmelung ein Gebot des Islam ist. Isatou Touray, ehemalige Vizepräsidentin und Gründerin der Anti-FGM-Organisation GAMCOTRAP, weist diese Auslegung entschieden zurück: "Wer hat das Recht, sich in das einzumischen, was Allah geschaffen hat und zu definieren, wie eine Frau auszusehen hat?" sagte Touray dem gambischen Medienunternehmen Kerr Fatou.

Bei der Beschneidung der äußeren Genitalien von Frauen werden häufig auch die Klitoris oder die Schamlippen entfernt. Gefährliche Gesundheitsschäden quälen die Betroffenen häufig ein Leben lang. Beschneidungen werden in Gambia mit bis zu drei Jahren Gefängnis, einer Geldstrafe von 50.000 Dalasi (736 Dollar bzw. 674 Euro) oder beidem bestraft. Führt FGM zum Tod, droht eine lebenslange Haftstrafe.

Debatte um Kriminalisierung von FGM

Die Debatte um FGM flammte Mitte 2023 auf, als das Gesetz erstmals zum Einsatz kam: Drei Frauen waren zu einer Geldstrafe von 15.000 Dalasi oder einem Jahr Gefängnis verurteilt worden - sie hatten an acht kleinen Mädchen im Alter zwischen vier Monaten und einem Jahr Genitalverstümmelungen vorgenommen. Zuvor waren nach Angaben von UNICEF nur zwei Personen verhaftet und ein Fall vor Gericht gebracht worden - ohne Verurteilungen oder Sanktionen.

Der jetzt von einzelnen Abgeordneten eingebrachte private Gesetzentwurf zur Abschaffung des FGM-Gesetzes argumentiert, das derzeitige Verbot verletze die Rechte der Bürgerinnen und Bürger auf Ausübung ihrer Kultur und Religion.

Afrika Guinea Weibliche Genitalverstümmelung: Mädchen sitzen auf nebeneinander mit weißen T-Shirts mit der Aufschrift: Ein unbeschnittenes Mädchen ist rein und vollständig
Anti-FGM-Projekt in Guinea: Mädchen tragen T-Shirts mit der Aufschrift "Ein unbeschnittenes Mädchen ist rein und vollständig"null Johanna De Tessieres/Plan International/dpa

Die Befürworterinnen und Befürworter der Genitalverstümmelung glauben, die Praxis könne Mädchen in der Pubertät und vor der Heirat "läutern". "Wenn es um den sozialen Aspekt geht, werden sie dir sogar sagen: 'Oh, es soll sicherstellen, dass du eine Jungfrau bleibst, denn wenn du die Klitoris hast, würdest du Sex haben wollen'", sagte die Frauenrechtlerin Esther Brown in einem Interview mit der DW.

Verletzung der Menschenrechte

Genitalverstümmelung ist laut Weltgesundheitsorganisation international als Verletzung der Menschenrechte von Mädchen und Frauen anerkannt. Neben starken Blutungen kann FGM eine Reihe schwerwiegender Gesundheitsprobleme verursachen, darunter Infektionen, Narbenbildung, Schmerzen, Menstruationsstörungen, wiederkehrende Harnwegsinfektionen, Unfruchtbarkeit und Komplikationen bei der Entbindung. Eine Studie über die gesundheitlichen Folgen von FGM in Gambia ergab, dass beschnittene Frauen ein viermal höheres Risiko haben, während der Geburt Komplikationen zu erleiden. Und dass Neugeborene ein viermal höheres Risiko haben, gesundheitliche Komplikationen zu erleiden, wenn die Mutter beschnitten wurde.

Angesichts der hitzigen Diskussionen über das Gesetz ist die Parlamentsberichterstatterin Arret Jatta nicht überrascht, dass der Gesetzesentwurf zugunsten der FGM im Parlament eingebracht wurde. "Fast alle Mitglieder der Nationalversammlung sind für die Aufhebung des Gesetzes - insbesondere die weiblichen Mitglieder der Nationalversammlung", sagte sie im DW-Interview.

Afrika: Kampf gegen weibliche Genitalverstümmelung

Es sind aber nicht nur Politiker, die sich für die Aufhebung des FGM-Verbots einsetzen: Nach der Verurteilung der drei Frauen 2023 zahlte ein Imam ihre Geldstrafen - und der Oberste Islamische Rat von Gambia erließ eine "Fatwa", ein Gesetz nach islamischem Recht, in der FGM nicht nur als "ererbter Brauch, sondern vielmehr als eine der Tugenden des Islam" bezeichnet wird. "Sie sollen unsere Mütter nicht ins Gefängnis stecken", sagte Iman Alhaji Kebba Conteh der DW, als das Parlament über den Gesetzentwurf diskutierte. "Wir wollen nicht, dass sie uns unsere Frauen wegnehmen und sie verhaften."

Fatima Jarju hat ihre Genitalverstümmelung überlebt. Heute sensibilisiert sie Frauen in Gambia für die Schäden der Prozedur. Die Debatte schade den Frauenrechten, sagte sie der DW: "Ich denke, das ist ein großer Rückschlag. Auch mit Blick auf unsere Menschenrechts-Standards und die Verpflichtung der Regierung, die Rechte von Frauen und Mädchen in diesem Land zu schützen."

Gesetz nicht immer wirksam

Gambia ist eines von 28 Ländern südlich der Sahara, in denen FGM praktiziert wird. In sechs dieser Länder gibt es keine nationalen Gesetze, die das Verfahren unter Strafe stellen. Gambia, dessen Parlament noch in diesem Monat erneut über das FGM-Gesetz beraten wird, könnte sich ihnen bald anschließen.

Afrika  Sierra Leone  Weibliche Genitalverstümmelung: Frauen halten Plakate mit Sprüchen wie "Aus für die Genitalverstümmlung" und marschieren durch Freetown
Frauen in Sierra Leone protestieren gegen die Praxis weiblicher Genitalverstümmelungnull Saidu Bah/AFP

Rugiatu Turay lebt in Sierra Leone, einem der sechs afrikanischen Länder ohne Gesetz gegen weibliche Genitalverstümmelung. Sie hat internationale Anerkennung für ihren Anti-FGM-Einsatz bekommen. Zu den Strategien, die sie anwendet, gehören die Entwicklung von Übergangsriten für Mädchen, die Suche nach alternativen Einkommensmöglichkeiten für die Beschneiderinnen sowie ein intensives Engagement in den Gemeinden.

Gesetze allein reichen nicht aus, um FGM zu bekämpfen, sagt sie - vor allem, wenn sie nicht durchgesetzt werden: "In Afrika werden in der Regel Gesetze erlassen, um die Partner der Geberländer zufrieden zu stellen. Aber wenn es um die Umsetzung geht, werden sie nicht befolgt", so Turay gegenüber der DW.

Stattdessen - beziehungsweise parallel dazu - müsste sich die kulturelle Einstellung ändern. Dafür seien mehr Initiativen auf Gemeindeebene erforderlich. Dadurch könnten regionale Oberhäupter und lokale Vorsteher einbezogen werden, aber auch die Beschneiderinnen und die Mütter, die Entscheidungen für ihre Töchter treffen. "Wenn jeder Bereich in unserem Land über den Schnitt und die Narbe - und ihre Folgen - spricht, werden wir FGM beenden", hofft die Aktivistin.

Mitarbeit: Sankulleh Janko in Banjul, Eddy Micah Jr. und George Okach

Frauen im Iran wehren sich weiter gegen das Regime

Eine Frau und ihre Freundinnen im Zentrum von Teheran, Iran, werden bedrängt von sechs bewaffneten Männern auf drei Motorrädern. "Zieht euren Hidschab an", fordern sie die Freundinnen auf. "Zieht euren Hidschab an!"

Die Szene aus dem vergangenen Jahr hat sich in das Gedächtnis einer der Frauen eingebrannt, die Erinnerung daran wird sie nicht mehr los. "Seit diesem Tag friert mein Körper jedes Mal ein, wenn ich das Geräusch eines Motorrads hinter mir höre", berichtet sie. "Deshalb gehe ich nicht mehr spazieren. Wenn doch, habe ich die ganze Zeit meine Kopfhörer auf."

Von diesem traumatisches Erlebnis habe ihr eine Frau aus Teheran erzählt, sagt die iranische, in London lebende Menschenrechtlerin Ghoncheh Ghavami im Gespräch mit der DW. Ghawami, die selbst wiederholt in den Fängen der iranischen Justiz war, steht weiterhin mit vielen Iranerinnen in Kontakt, trotz aller Schwierigkeiten und Gefahren. 

Szenen wie diese sind Alltag in Teheran. Auch die landesweiten Proteste nach dem Tod von Jina Mahsa Amini im Herbst 2022 haben daran nichts geändert. Die Kurdin war während einer Reise in die Hauptstadt festgenommen und in ein Polizeirevier gebracht worden, angeblich weil sie ihr Kopftuch nicht angemessen getragen habe. Wenige Stunden später wurde sie leblos aus dem Polizeigewahrsam ins Krankenhaus gebracht. Drei Tage später, am 16. September, wurde sie offiziell für tot erklärt.

Die darauf folgenden Proteste unter dem Slogan "Frau, Leben, Freiheit" entwickelten sich zu den am längsten andauernden seit der Gründung der Islamischen Republik im Jahr 1979. Darauf reagierte die Regierung mit massiver Repression und Gewalt. Exakte Angaben sind schwer zu erhalten, aber unabhängigen Menschenrechtsorganisationen zufolge haben die Sicherheitskräfte im Iran bei den Protesten allein in den ersten zwölf Monaten nach dem 16. September 2022 mindestens 550 Demonstranten getötet. Sieben Männer wurden im Zusammenhang mit den Protesten hingerichtet. Wie Amnesty International mitteilte, gab es mehr als 22.000 Festnahmen.

Dass die Repressalien nach wie vor weitergehen, berichtet auch die Rechtsanwältin und Aktivistin Nasrin Sotoudeh . Mitte Februar habe sie mehrere Anrufe von Mädchen und Frauen erhalten, sagt die Trägerin des alternativen Nobelpreises im Gespräch mit der DW.  Sie alle hätten kein Kopftuch getragen und seien von Zivilisten und Basidsch-Milizen, einer Freiwilligen-Abteilung, die organisatorisch den Revolutionsgarden zugeordnet ist, angegriffen und erniedrigend behandelt worden. Am folgenden Tag habe man über 60 Frauen vor Gericht gestellt. Einige habe man zu Geldstrafen verurteilt. "Es ist ein frauenfeindliches Regime", sagt Sotoudeh.

"Dieses verdammte Kopftuch"

Drohungen, Prozesse, Strafen. Gängelungen wie die Beschlagnahme von Autos, körperliche Übergriffe und Demütigungen: Die Repressionen des Regimes, von denen die beiden Frauenrechtlerinnen berichten, setzten vielen Iranerinnen zu; insbesondere jenen, die sich weigern, ein Kopftuch zu tragen. "Dieses verdammte Kopftuch zu tragen oder nicht zu tragen, ist für uns mit vielen Gedanken und Emotionen verbunden, mit Angst, Scham, Hilflosigkeit, Wut, Demütigung", klagt eine Frau in einem Text auf der Webseite "harasswatch" von Ghoncheh Ghavami. Sie schwanke zwischen Kühnheit und Mut auf der einen und Zögerlichkeit auf der anderen Seite, berichtete die Frau. 

"Viele von uns durchlaufen diese Empfindungen tagtäglich. Wir stehen in einem ständigen inneren Dialog mit uns selbst und mit unseren Leidensgenossinnen", zitiert Ghavami aus den schriftlichen Aufzeichnungen, die ihr zugesandt wurden. "Wie können wir, die wir die Revolution wegen des Todes von Jina Mahsa Amini miterlebt haben, diese Demütigung passiv ertragen? Wie können wir den Aufruhr in unseren Körpern ignorieren? Die Islamische Republik mag den Hidschab als bedeutsam ansehen. Für uns und unser Leben bedeutet es sehr viel mehr, den Schleier abzulegen."

Ein Foto mit dem Gesicht von Jina Mahsa Amini und Blumen auf dem Gehweg während einer Kundgebung in Hamburg
Auch bei einer Kundgebung in Hamburg solidarisierten sich Menschen mit Jina Mahsa Amininull picture alliance/dpa

"Als würde ich mich in meinen eigenen Händen vergraben"

Denn die Entscheidung, ein Kopftuch zu tragen oder nicht, erschöpft sich nicht in einer bloßen Bekleidungsfrage. Sie rüttelt am Selbstverständnis der gesamten Person. "Für mich ist es Grundlage meiner Identität, kein Kopftuch zu tragen", zitiert Ghavami die Worte einer weiteren Frau, die sich ihr anvertraute. "Ich habe das Gefühl, mich selbst zu verleugnen, wenn ich dazu gezwungen werde. Es ist, als vergrabe ich mich in meinen eigenen Händen." Sie stecke in einer Zwangslage, klagt die Frau. "Ich muss entweder den Hidschab-Polizisten in der Metro fürchten, oder ich leide, weil mein Körper bedeckt ist. Ich will nicht zu diesem abstoßenden Aussehen zurückkehren, das sie für uns geschaffen haben."

Die Entscheidung entweder Kopftuch zu tragen oder mit Belästigungen, wenn nicht gar einem Prozess rechnen zu müssen, schränke die Frauen enorm ein, sagt Nasrin Sotoudeh der DW. "Die Fälle von Mahsa Amini und Armita Garawand erinnern uns daran, wie eingeschränkt die öffentliche Mobilität für Frauen ist. Im Zweifel ziehen sie es vor, zu Hause zu bleiben - und genau das wollen die Herrscher." 

Die 16-jährige Armita Garawand hatte kein Kopftuch getragen, als sie Anfang Oktober 2023 in der U-Bahn zusammenbrach. Laut iranischen Staatsmedien sei sie wegen niedrigen Blutdrucks gestürzt. Menschenrechtler sind sich aber sicher, dass sie Opfer der Sittenpolizei wurde. Sie starb nach Wochen im Koma.

"Die Behörden behandeln Frauen nach wie vor als Bürgerinnen zweiter Klasse", heiß es in einem Report zur Lage der Menschen- und Frauenrechte im Iran, den die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) im Herbst 2023 veröffentlicht hat. Das gelte auch mit Blick auf Heirat, Scheidung, Sorgerecht für Kinder, Beschäftigung, Erbschaft und politische Ämter. AI weist zudem auf das nach iranischem Recht heiratsfähige Alter von Mädchen hin. Dieses liegt derzeit bei 13 Jahren.

Sacharow-Preis für Iranerin Jina Mahsa Amini

"Ein Kampf um die Sexualität der Frau"

Dass das Regime in seiner Geschlechterordnung sich so auf die Bekleidungsvorschriften konzentriere, sei aus dessen Sichtweise heraus nachvollziehbar, schreibt die US-Politologin Hamideh Sedghi in ihrem bereits 2007 erschienenen Buch "Women and Politics in Iran. Veiling, Unveiling and Reveiling".

Denn das Kopftuch sei für die Machthaber das stärkste Symbol der Iranischen Revolution. "Die Islamische Revolution entwickelte sich auch zu einer sexuellen Gegenrevolution, einen Kampf um die Sexualität der Frau", schreibt Sedghi. Diese Sexualität war fortan stark politisch, das heißt, als anti-westlich konnotiert. "Trag ein Kopftuch, oder wir schlagen dir auf den Kopf", lautete eine Parole im Revolutionsjahr 1979, "Tod den Unverschleierten" eine andere.

Gegen diese bis heute fortdauernde Bevormundung wehrten sich die Iranerinnen aber, sagt Nasrin Sotoudeh der DW. Ihr Protest richte sich etwa gegen den fortgesetzten Versuch, die Frauen zur Immobilität zu zwingen: "Genau das dürfen wir iranischen Frauen nicht zulassen."

Frauen mit und ohne Kopftuch gehen eine Straße in der iranischen Hauptstadt entlang.
Immer mehr Frauen im Iran leisten Widerstand und gehen beispielsweise ohne Kopftuch auf die Straßenull Arne Bänsch/dpa/picture alliance

"Durch die Idee der Menschenrechte vereint"

Darum gehe der Widerstand gegen die Vorschriften weiter, sagt Sotoudeh im DW-Gespräch. Das geschehe oft gemeinsam mit den iranischen Männern. "Denn unabhängig von Machtkämpfen sind Männer und Frauen in diesem Land durch die Idee der Menschenrechte vereint." Dieses Konzept betreffe ihren Alltag unmittelbar. "Sie sehnen sich danach, ihr Leben zu normalisieren, wie alle anderen auf der Welt zu leben und jeden Morgen aufzuwachen, ohne zu hören, dass ein anderes junges Mädchen aufgrund der Kleidungswahl getötet wird."

Hat der Widerstand der vergangenen zweieinhalb Jahre Erfolge gebracht? Ja, sagt Nasrin Sotoudeh – wenngleich sich die Regierung nicht geändert habe. Um den Erfolg zu messen, sagt sie, müsse man die Frage anders stellen: "Wie sähe unsere Situation aus, wenn es keine Mahsa-Bewegung gäbe? Ich wage zu behaupten, dass es noch viel schlimmer wäre."

EU-Parlamentarierin: Iran-Politik der EU ist gescheitert

Repressionen bis ins Grab: Nawalnys Beerdigung in Moskau

"Na-Wal-Ny!", skandieren die Menschen immer wieder vor der Kirche zu Ehren der Gottesmutterikone "Lindere meine Trauer" im Moskauer Stadtteil Marjino. In der Kirche ist der Leichman von Alexej Nawalny aufgebahrt, davor hat sich seit Freitagmorgen eine Schlange von mehreren Kilometern gebildet: Tausende Russinnen und Russen wollen dem schärfsten Kremlkritker ihre letzte Ehre erweisen. Unweit der Versammlung liegt die Lublinskaja-Straße, in der Nawalny lebte.

Am Vorabend der Beerdigung gab es viele Absagen von Bestattungsunternehmen - aus Angst, sich an einer "nicht genehmigten Versammlung" zu beteiligen, wie die russischen Behörden Nawalnys Trauerfeier bezeichneten. Im letzten Moment erklärte sich eines der Unternehmen dann doch noch bereit, einen Leichenwagen zur Verfügung zu stellen. 

Am Tag der Beisetzung halten viele Blumen in den Händen. Die "Na-Wal-Ny"-Rufe wollen nicht enden, wie schon vor zehn Jahren auf den Straßen von Moskau und Sankt Petersburg, als Alexej Nawalny seinen aktiven politischen Kampf führte. Er kandidierte für das Amt des Moskauer Bürgermeisters und führte dann 2018 einen Präsidentschaftswahlkampf. Im Laufe der Jahre wurde es immer gefährlicher, Nawalnys Namen in der Öffentlichkeit zu nennen. Tausende Anhänger des Oppositionspoltikers wurden verhaftet, seine engsten Mitarbeiter leben inzwischen im Exil.

Keine Massenverhaftungen

Diesmal verzichten die Behörden aber auf Massenverhaftungen, trotz der ursprünglichen Drohungen, alle, die zur Beerdigung kommen, als Teilnehmer einer nicht genehmigten Versammlung zu bestrafen. In der Hauptstadt Moskau werden zunächst nur sechs Personen festgenommen. In den russischen Regionen ist die Polizei weniger zurückhaltend: In Jekaterinburg, Woronesch und Nowosibirsk nehmen die Ordnungskräfte im Laufe des Tages mindestens 45 Personen fest. Einige von ihnen wollten Blumen an den Denkmälern für politische Gefangene niederlegen. Im Rahmen der Gedenk- und Trauerveranstaltungen sollen laut der NGO "OVD-Info" in ganz Russland insgesamt über 90 Personen inhaftiert worden sein. 

Nawalnys Eltern Ljudmila und Anatoli (3. und 2. v. rechts) bei der Beerdigung auf dem Borissowskoje-Friedhof, im Bild weitere Personen sowie mehrere Kränze und Blumengestecke und eine Gedenktafel mit Nawalnys Foto
Nawalnys Eltern Ljudmila und Anatoli (3. und 2. v. rechts) bei der Beerdigung auf dem Borissowskoje-Friedhofnull Olga Maltseva/AFP/Getty Images

Nur ein paar Dutzend Menschen, darunter Nawalnys Mutter und Vater, dürfen die Kirche betreten. Das Gelände ist abgesperrt - eine Reihe von Polizeibeamten steht entlang den am Vortag errichteten Metallzäunen von der nächstgelegenen U-Bahn-Station bis zur Kirche. Sowohl innerhalb als auch außerhalb der Kirche gibt es erhebliche Probleme mit dem Internet. Journalisten müssen ihre Live-Übertragungen immer wieder abbrechen.

"Danke für die 26 Jahre absoluten Glücks"

Weder Nawalnys Frau Julia Nawalnaja noch ihre gemeinsamen Kinder sind anwesend. Aus Sicherheitsgründen kam die Familie nicht nach Russland. Erst zwei Tage zuvor hatte Julia Nawalnaja vor dem Europaparlament eine Rede gehalten. Sie machte Russlands Präsidenten Wladimir Putin persönlich für den Tod ihres Mannes verantwortlich. "Ljoscha, danke für die 26 Jahre absoluten Glücks", schrieb sie später auf Instagram und versprach, den Kampf gegen das Regime Putins fortzusetzen.

Julia Nawalnaja - Nawalnys Witwe fordert Putin heraus

Nach dem Trauergottesdienst werfen die Menschen Blumen auf den Leichenwagen, in dem Nawalnys Leichnam zum Borisow-Friedhof gefahren wird. Dabei skandiert die Menge neben dem Namen des Oppositionellen Sätze wie "Nein zum Krieg", "Liebe ist stärker als Angst" und "Putin ist ein Mörder". 

Als der Sarg ins Grab gesenkt wird, hört man "My way" von Frank Sinatra und den Soundtrack von "Terminator 2". Zu diesem Zeitpunkt hat sich bereits eine lange Schlange am Eingang des Friedhofs gebildet. Viele Menschen wollen nach einer russischen Sitte persönlich eine Handvoll Erde auf Nawalnys Sarg werfen, bevor er zugeschüttet wird, um Sympathie und Dankbarkeit auszudrücken. Auch nach der offiziellen Schließung des Friedhofs dürfen die Menschen noch mehrere Stunden lang das Grab Nawalnys besuchen.

Einige russische Politiker sowie die Botschafter der USA und der EU erwiesen dem Oppositionspolitiker die letzte Ehre. Der ehemalige Bürgermeister von Jekaterinburg, Jewgeni Roisman, brachte Blumen zu Nawalnys Grab. Er nannte den Putin-Kritiker einen orthodoxen "Märtyrer" und wünschte sich, dass der tote Oppositionelle in Zukunft als kanonischer Heiliger anerkannt wird. "Dafür hat er viel mehr Gründe geliefert als Nikolaus II.: Nawalny hat keine Menschen in den Tod geschickt, hat kein Geld der Menschen verschwendet", sagte Roisman und zog damit eine Parallele zu dem 1918 von den Bolschewiki ermordeten russischen Zaren Nikolaus II., der für die russisch-orthodoxe Kirche als Märtyrer und Heiliger gilt. 

Die Moskauer Kirche zu Ehren der Gottesmutterikone "Lindere meine Trauer" vor der Trauerfeier für Nawalny - im Vordergrund ein Strauß dunkler Rosen, dahinter unscharf mehrere Menschen vor der Kirche
Rote Rosen für Alexej Nawalny vor der Moskauer Kirche null Alexander Nemenov/AFP/Getty Images

Der Politiker Boris Nadeschdin und die Journalistin Jekaterina Duntzowa kamen ebenfalls. Die beiden Kritiker des Ukraine-Kriegs wollten für das Präsidentenamt 2024 kandidieren und wurden daran gehindert. Über Nawalny schrieb Duntzowa in ihrem Telegram-Kanal: "Er wird den Frühling nie wieder sehen, denn hier, wo er weggegangen ist, hat er den Winter und den Dauerfrost des Polarkreises bekommen, und dort, wo er hingeht, wird es nur ewigen Sommer geben." Sie fügte hinzu, dass die Erinnerung an Nawalny "in der Geschichte bleiben wird".

Ein Symbol für Millionen Russen

Im Gespräch mit der DW bezeichnete Nadeschdin den Tod Nawalnys als Tragödie und betonte, dass sein Name für Millionen von Russen nach wie vor "symbolisch" sei: "Schauen Sie sich die Schlange an, die hier ansteht, um sich von ihm zu verabschieden." Nadeschdin sagte, er habe Alexej Nawalny zu Beginn seiner politischen Karriere gekannt, als dieser in den 2000er Jahren für die Werbekampagne der Partei "Union der Rechten Kräfte” verantwortlich war und selbst der liberalen Partei "Jabloko” angehörte.

Dennoch kamen weder "Jabloko"-Gründer Grigori Jawlinski noch der derzeitige Parteivorsitzende Nikolai Rybakow zur Beisetzung ihres ehemaligen Parteikollegen - und das obwohl "Jabloko" zuvor die derzeitige Regierung in Russland für den Tod von Nawalny verantwortlich gemacht hatte.

Nur Andreij Morew, stellvertretender Vorsitzender der Moskauer Sektion von "Jabloko” kam zum Friedhof. Auf dem Heimweg wurde er von der Polizei festgehalten und später mit der Begründung freigelassen, er habe Ähnlichkeit mit einem gesuchten Verbrecher gehabt. 

Trauergäste nebeneinander in einer langen Reihe auf dem Weg zum Friedhof
Trauergäste auf dem Weg zum Friedhofnull REUTERS

Menschenrechtsaktivisten schließen nicht aus, dass es später zu "stillen" Repressionen kommen könnte: Die Identität der Trauernden kann mit Hilfe eines Gesichtserkennungssystems festgestellt werden, das extra zur Beisetzung installiert wurde. So war es beispielsweise auch am 27. Februar, als die Polizei drei Teilnehmer einer Nawalny-Gedenkveranstaltung zuhause aufsuchte und festnahm. Laut dem Menschenrechtsverein "OVD-Info" wurden im Jahr 2021 mit Hilfe von Außenüberwachungskameras 454 Menschen nachträglich festgenommen, von denen 363 mit den Aktionen zur Unterstützung von Alexej Nawalny in Verbindung gebracht wurden.

Befreit aus Myanmars Online-Betrugsfabriken

Rund tausend Menschen harren im Grenzgebiet zwischen Myanmar und Thailand aus. Sie wurden offenbar aus sogenannten Betrugsfabriken freigelassen: Opfer von Menschenhandel, die in streng bewachten Gebäudekomplexen eingesperrt waren und gezwungen wurden, systematisch online zu betrügen. Es ist das erste Mal, dass an diesem Grenzabschnitt so viele Opfer auf einmal freikommen. Die Opfer kommen aus der gesamten Welt, doch ein Großteil von ihnen sind chinesische Staatsbürger.

Am Donnerstag wurden die ersten 150 von ihnen mit Bussen nach Thailand gebracht und direkt mit drei Charterflügen nach China ausgeflogen. Das Investigativ-Team der DW konnte die Bilder des Transports mit Flugdaten abgleichen. 

Satellitenbild vom Flughafen Mae Sot mit eingezeichneten farbigen Markierungen
Ein Screenshot aus dem Sicherheitsbriefing mit thailändischen Behörden einen Tag vor der ersten Übergabenull

Arbeitsbedigungen in den Fabriken

Die Freilassung erfolgt einen Monat, nachdem das DW-Team eine Recherche veröffentlichte, die die brutalen Bedingungen in KK Park, der berüchtigtsten von mehreren solcher Betrugsfabriken aufdeckte. KK Park und eine Reihe anderer dieser Orte moderner Sklaverei sind in den letzten Jahren hier in Karen-Staat entstanden, wo seit Jahrzehnten Bürgerkrieg herrscht und unklare Machtstrukturen viel Raum für dunkle Geschäfte bieten. 

Mehrere ehemalige Insassen erzählten von Folter durch Gewalt, dem Entzug von Nahrung und Schlaf und von umfassender Überwachung. Ihre Aufgabe: Online das Vertrauen von Ahnungslosen vor allem in Europa und den USA, aber auch China zu gewinnen und sie zu überreden, ihr Geld in dubiose Kryptowährungs-Konten anzulegen. Immer wieder konnten Einzelne entkommen oder freigekauft werden, die von den menschenunwürdigen Verhältnissen in den Lagern berichteten. Das Team der DW konnte die Spur des Geldes damals ins Umfeld der berüchtigten Triade 14k aus Hongkong zurückverfolgen.

Myanmar: Satellitenaufnahme des Geländes von KK Park
Eine Satellitenaufnahme vom KK Park - aufgenommen am 17.01.2024 - an der Grenze zu Thailandnull Maxar Technologies provided by European Space Imaging

Opfer oder Betrüger?

Was mit den chinesischen Opfern geschieht, die nun ausgeflogen wurden, ist unklar. Möglicherweise droht ihnen Haft wegen illegalen Grenzübertritts - sofern sie auf dem Landweg aus China nach Myanmar geschmuggelt wurden - oder wegen Betrugs. 

Verschiedene Quellen bestätigten der DW, dass neben den Opfern aus China auch 350 Menschen anderer Nationalität freikamen - vor allem wohl aus Afrika. Was mit ihnen geschehen wird, ist ebenfalls unklar. Erkennt Thailand sie als Opfer von Menschenhandel an, können sie in ihre Heimat zurück. Ansonsten droht ihnen bis zu einem Jahr Gewahrsam wegen illegalen Grenzübertritts.

Dass jetzt so viele auf einmal freikommen, scheint auf eine koordinierte Aktion der Behörden aus China, Thailand und Myanmar zurückzugehen. Allerdings ist unklar, ob mit dem Crackdown auch das Ende dieser Betrugsfabriken eingeleitet wurde. Ein Insider, der sich im Grenzgebiet aufhält, berichtet der DW, dass sowohl der berüchtigte KK Park als auch andere Betrugsfabriken weiter in Betrieb sind.

Hier geht es zur DW Investigation "Krypto-Falle – Zwangsarbeit in Asiens Betrugsfabriken”

Krypto-Falle - Zwangsarbeit in Asiens Betrugsfabriken

 

EU: Weiter kein einheitlicher Vergewaltigungsbegriff

"Es ist eine klare Botschaft an die gesamte Union, dass wir Gewalt gegen Frauen ernst nehmen," erklärt Frances Fitzgerald, Berichterstatterin für eine EU-Richtline zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Doch als sie das Ergebnis der Verhandlungen zwischen den beiden EU-Gesetzgebern – dem EU-Parlament und dem EU-Rat – am Dienstagabend der Presse vorstellt, ist klar, dass es trotz großer Bemühungen an einigen Stellen noch immer hakt.

Was unter dem Tatbestand der Vergewaltigung verstanden wird, regeln die EU-Staaten in ihren Strafgesetzbüchern unterschiedlich. Und das wird auch in absehbarer Zukunft erstmal so bleiben. Denn der EU-Rat, der die Mitgliedstaaten vertritt, hat sich im Verhandlungsprozess gegen eine Vereinheitlichung ausgesprochen.

Sie habe "recht verstörende Einsichten in die Haltung einiger Mitgliedstaaten gegenüber Vergewaltigungen gewonnen," sagte eine verärgerte wirkende Frances Fitzgerald, die Teil der konservativen Europäischen Volkspartei ist. Viele EU-Politiker hatten vergeblich darauf gehofft, dass der so genannte konsensbasierte Begriff von Vergewaltigung europaweit flächendeckend eingeführt wird.

Verschiedene Definitionen innerhalb der EU

Nach einer Analyse des Dachverbandes "European Women's Lobby" vom Oktober letzten Jahres gilt in 14 EU-Staaten das sogenannte "Nur-Ja-heißt-Ja"- Prinzip. Darunter sind etwa Schweden und Spanien, aber auch Kroatien und Griechenland. Dahinter steht die Idee, dass einem sexuellen Kontakt eindeutig zugestimmt werden muss, damit er nicht als Vergewaltigung gilt.

Italien Tag der Gewalt gegen Frauen Ravenna
Im italienischen Ravenna wird am 25. November 2023, dem Tag zur Beseitigung der Gewalt gegen Frauen, demonstriert. null Fabrizio Zani/ANSA/picture alliance

In Deutschland und Österreich sei der Grundsatz "Nein-heißt-Nein" anwendbar, welches weiterhin vom Opfer verlange, die verbale Ablehnung des Geschlechtsverkehrs zu beweisen.

In den restlichen 11 EU-Mitgliedstaaten sei der Widerstand gegen Gewalt oder eine Bedrohungslage weiterhin ein Wesenselement einer Vergewaltigung, führt die europäischen Frauenlobby aus. Zu diesen Ländern gehören etwa die meisten osteuropäischen Staaten sowie Frankreich und Italien.

Bezug zur Istanbul-Konvention

Als die Europäische Kommission am 8. März 2022 den Vorschlag für ein einheitliches EU-Gesetz vorlegte, ging es ihr auch darum, die Ziele der 2018 in Kraft getretenen Istanbuler Konvention zu erreichen. Die Istanbuler Konvention ist ein Abkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt, welches die meisten EU-Mitgliedstaaten ratifiziert haben. Am 1. Juni 2023 ist auch die EU als Ganzes dem Abkommen beigetreten.

Frauen in der Türkei fürchten um ihre Rechte

Die Istanbul-Konvention sieht unter anderem vor, dass das nicht einverständliche, sexuell bestimmte vaginale, anale oder orale Eindringen in den Körper unter Strafe gestellt werden muss. In ihrem Gesetzesvorschlag aus dem Jahr 2022 schlug die Kommission in Artikel 5 einen Vergewaltigungsbegriff vor, der auf die „nicht-einvernehmlichen sexuellen Handlung an einer Frau" abstellt. Das hätte wohl die Einführung des "Nur-Ja-heißt-Ja"-Prinzips in der ganzen EU bedeuten können.

Große Staaten gegen europaweite Regelung zu Vergewaltigung

Doch schon in einer Stellungnahme des Rates der EU aus dem Mai 2023 tauchte dieser Artikel 5 nicht mehr auf. Auf der Grundlage eines Rechtsgutachtens hatte sich der Rat entschlossen, diesen zu streichen.

"Der juristische Dienst des Rates und viele andere Mitgliedstaaten sind zu dem Ergebnis gekommen, dass für diese strafrechtliche Vorschrift im europäischen Primärrecht keine ausreichende Rechtsgrundlage vorliegt," sagte der deutsche Justizminister Marco Buschmann vor rund zwei Wochen bei einem informellen Treffen in Brüssel. Nach dieser Lesart besäße die EU gar nicht die Kompetenz dazu, eine juristische Vereinheitlichung einzuleiten. Auch andere Staaten, wie etwa Frankreich und Ungarn vertreten laut AFP diese Position.

Allerdings sind sich die Mitgliedstaaten untereinander auch darüber nicht einig. Laut Berichterstatterin Fitzgerald seien insgesamt 13 der 27 Staaten dafür gewesen, den konsensbasierten Ansatz europaweit einzuführen.

Berlin | NKR-Jahresbericht | Justizminister Marco Buschmann
Der deutsche Justizminister sieht keine EU-Kompetenz zur Regelung des Tatbestandes der Vergewaltigung (Archivbild). null Florian Geartner/photothek/picture alliance

Kritik an Deutschland und Frankreich 

Die ablehnende Haltung der anderen Staaten führte zu vehementer Kritik von Frauen und Frauenrechtlerinnen in ganz Europa. In Deutschland hatten über 100 prominente Frauen den deutschen Justizminister dazu aufgerufen, seine Position zu ändern. Die "European Women's Lobby" bedauere zutiefst die "empörende Entscheidung Frankreichs und Deutschlands, Artikel 5 [...] zu streichen," teilt der Dachverband auf seiner Webseite mit.

Weitere Bestimmungen der neuen Richtlinie zum Schutz von Frauen vor Gewalt sehen Regeln gegen Genitalverstümmelung und Zwangsehen vor. Außerdem soll Cyber-Gewalt, wie etwa das ungewollte Teilen intimer Fotos, das unaufgeforderte Zusenden anstößiger Bilder (Cyberflashing), sowie das Cyberstalking unter Strafe gestellt werden. Die Einigung muss formell noch von Rat und Parlament beschlossen werden. Im Anschluss haben die EU-Staaten drei Jahre Zeit, die Regeln in nationales Recht umzusetzen.

Wie Chinas Mafia Onlinebetrug in Myanmar betreibt

Jetzt muss alles schnell gehen. Eine Gruppe Menschen wartet am Straßenrand. Jederzeit könnte einer ihrer Bewacher auftauchen. Rasant fährt der Entwicklungshelfer Judah Tana mit einem Jeep vor, sie springen ins Auto. "Endlich, mein Herz schlägt wieder an seinem richtigen Ort", seufzt Lucas erleichtert, als er erschöpft auf den Rücksitz fällt. Lucas, ein stämmiger Mann aus Westafrika, und die anderen wurden zwölf Monate von Menschenhändlern in einer Cyber-Betrugsfabrik in Myanmar gefangen. 

Hier in Südostasien werden Tausende von Menschen an solche geheimen Orte verschleppt, wo sie gezwungen werden, ahnungslose Menschen in Europa, den USA und China online Geld aus der Tasche zu ziehen. Sie betrügen Menschen, sind aber selbst auch Opfer von organisierter Kriminalität. 

Das Investigativ-Team der DW hat mit Zeugen gesprochen, Bildmaterial ausgewertet und Dokumente analysiert, um das ausgeklügelte System von Betrug, Menschenhandel und Cyberkriminalität zu dokumentieren.

Krypto-Falle - Zwangsarbeit in Asiens Betrugsfabriken

Menschenhandel mit Vortäuschung falscher Tatsachen

Aaron, der jetzt neben Lucas im Auto sitzt, kommt aus dem südlichen Afrika. Kurz nachdem er sein Studium abgeschlossen hatte, wurde er von einem IT-Unternehmen mit Sitz in Thailand angeworben. "Ich hatte immer davon geträumt, im Ausland zu arbeiten”, erzählt er später. Er ist noch sehr mitgenommen, immer wieder muss er lange Pausen machen. 

Der vermeintliche Arbeitgeber schickte ihm ein Flugticket nach Bangkok und holte ihn am Flughafen ab. "Er brachte mich und zwei weitere Männer zu einem Auto. Die Fahrt sollte zu einem Hotel gehen." Doch dort ist er nie angekommen. Stattdessen fuhren er und seine Begleiter in den Norden an den Moei, den Grenzfluss zwischen Thailand und Myanmar. Dort angekommen, setzten sie mit einem Boot über und erreichten auf der anderen Seite ein von hohen Mauern und Stacheldraht umgebenes Areal: die Betrugsfabrik KK Park. 

KK Park Satellitenaufnahme - ein riesen Gebäudekomplex
Eine Satellitenaufnahme vom KK Park - aufgenommen am 17.01.2024 null Maxar Technologies provided by European Space Imaging

KK Park – Myanmars berüchtigte Betrugsfabrik 

KK Park liegt im Südosten Myanmars im Karen-Staat, eine Region Myanmars, wo seit Jahrzehnten Aufständische aus dem Volk der Karen für ihre Unabhängigkeit kämpfen. 

Die Konfliktregion mit ihren unklaren Machtverhältnissen bietet fruchtbaren Boden für kriminelle Aktivitäten. KK Park ist nur eine von mindestens 10 solcher Betrugsfabriken in der Gegend. Was hinter deren Mauern passiert, bleibt oft im Verborgenen. Satellitenbilder zeigen, dass die ersten Gebäude von KK Park 2020 entstanden. Seitdem ist das Anwesen um das Vierfache gewachsen. 

Wir haben exklusives Filmmaterial und Bilder aus dem Inneren des Lagers gesehen und mit mehreren Opfern gesprochen, die hier festgehalten wurden.

Im KK Park leben und arbeiten Tausende von Menschen vor allem aus Asien und Afrika. Bewaffnete Soldaten bewachen die Eingänge. Überall sind Überwachungskameras. Ehemalige Insassen haben uns gegenüber die Abzeichen auf den Uniformen der Wachleute identifiziert. Es sind die Insignien der Grenzschutztruppen des burmesischen Militärs, deren Soldaten sich offenbar im KK Park aufhalten und diesen bewachen. 

Bewaffnete Soldaten der Grenzschutztruppen in Myanmar
Grenzschutztruppen des burmesischen Militärs im Karen-Staatnull Ko Nitar

Arbeiten unter Druck - Folter wenn Ziele nicht erreicht wurden

Im Park angekommen, erhielten Aaron, Lucas und die anderen Anweisungen, wie man Menschen online betrügt. Handbücher erklären detailliert, wie man Vertrauen aufbaut und Schwächen der Opfer ausnutzt. Zum Beispiel: 'Sei witzig. Die Kunden müssen sich so in Dich verlieben, dass sie alles vergessen'. Oder einfach: 'Stellt Vertrauen her'. 

Aaron und die anderen bekamen Wochenziele: Eine bestimmte Summe Geld, die sie einnehmen müssen oder eine Zahl von Neukunden, mit denen Sie Kontakt aufnehmen müssen. Erreichten sie die Ziele nicht, wurden sie bestraft. "Wenn du mittags keinen neuen Kunden hattest, gab es kein Mittagessen. Wenn jemand gesehen hat, dass du einem Kunden nicht geantwortet hast, wurdest du geschlagen oder musstest stundenlang stehen", erzählt Lucas. "Wir mussten 17 Stunden am Tag arbeiten. Keine Beschwerden, kein Urlaub, keine Pause." Filmaufnahmen und die Berichte anderer ehemaliger Insassen bestätigen systematische psychische und physische Folter. Die Opfer werden aus der ganzen Welt hierhin verschleppt. Aber die Kontrolle im Lager haben Menschen, die Mandarin sprechen. Das bestätigten uns mehrere Quellen übereinstimmend. Die Aufseher überwachen die Bildschirmzeit und inspizieren regelmäßig die Zimmer.

Geld fließt zur chinesischen Mafia

Die Insassen von KK Park müssen ihre "Kunden", wie sie intern genannt werden, überreden, Geld in Kryptowährungen anzulegen. Die Betrugsopfer denken, dass sie ihre Ersparnisse in eine lukrative Anlage investieren, stattdessen fließt ihr Geld auf ein Konto, dass von den Betrügern kontrolliert wird. Sobald genug Geld dort eingegangen ist, wird das Konto leergeräumt und das Geld ist weg. Diese Form des Online-Betrugs wird "Pig-Butchering” genannt - Schweineschlachtung. Der Betrüger mästet das Opfer und führt es dann zur Schlachtbank.

Was ist eine Kryptowährung?

Das Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung schätzt, dass mit Online-Betrug in Südostasien mehr Geld verdient wird als mit dem Drogenhandel. Allein KK Park macht mehrere Millionen Umsatz im Monat. 

Das Investigationsteam der DW konnte das Geld eines Betrugsopfers nachverfolgen. Über mehrere Umwege landete es im Wallet – so heißen in der Welt der die digitalen Konten - eines Chinesischen Geschäftsmanns. Von hier führt die Spur zu einem Netzwerk der chinesischen Triaden. Wang Yi Cheng, so heißt der Geschäftsmann, war zum Zeitpunkt der Überweisungen Vizevorsitzender einer chinesisch-thailändischen Handelsvereinigung. Sie teilt sich ein Gebäude mit einem chinesischen Kulturzentrum, das sich auf die "Hongmen” beruft, ein Geheimbund aus der chinesischen Kaiserzeit. Heute stehen viele dieser Hongmen-Vereine in enger Verbindung mit den Triaden, der chinesischen Form der Mafia. Ihre prominenteste Figur: Wan Kuok Koi, bekannt als "Broken Tooth". Wan ist ein berüchtigter Mafia-Boss aus Macau. Immer wieder taucht sein Name im Zusammenhang mit den dubiosen Vereinen auf.   

Wan Kuok Koi, sitzt in einem Polizeiauto
Wan Kuok Koi, auch bekannt als "Broken-Tooth", war Chef der berüchtigten 14K-Triade, die als kriminelle Organisation in illegale Aktivitäten verwickelt warnull AFP/dpa/picture-alliance

Flucht aus Betrugsfabrik gelungen

Lucas' Chance zu entkommen bot sich, als die Mafia-Bosse beschlossen, ihn zu verkaufen. Nachdem ihnen mehrmals der Lohn vorenthalten wurde, hatten Lucas und andere sich geweigert, weiterzuarbeiten. Sie erhielten die Anweisung ihre Sachen zu packen. "Ich hörte wie sie sagten, sie würden uns an eine andere Organisation verkaufen", erinnert er sich. Lucas und seine Kollegen reagierten schnell. Sie konnten Judah Tana kontaktieren, der im Grenzgebiet als Fluchthelfer bekannt ist. So landeten Aaron und Lucas auf der Rückbank seines Jeeps. Für sie endete der Alptraum damit. Wenige Wochen später konnten sie in ihre Heimat zurückkehren. 

Die Namen der Opfer wurden von der Redaktion geändert.

EuGH-Urteil: Häusliche Gewalt ist Fluchtgrund für Frauen

Frauen können den Flüchtlingsstatus zuerkannt bekommen, wenn ihnen in ihrem Herkunftsland "aufgrund ihres Geschlechts physische oder psychische Gewalt" droht. Dies schließe sexuelle Gewalt und häusliche Gewalt mit ein, urteilte der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) am Dienstag.

Im Ausgangsfall ging es nach Angaben des Gerichtshofs um eine türkische Staatsangehörige kurdischer Herkunft. Die geschiedene Muslimin gibt an, von ihrer Familie zwangsverheiratet sowie von ihrem Ehemann bedroht und geschlagen worden zu sein.

Im Falle einer Rückkehr sei ihr Leben bedroht, weshalb sie in Bulgarien einen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Mit diesem Fall - in dem es sich im Kern um die Androhung eines sogenannten "Ehrenmordes" handelt - hat sich nun der EuGH befasst.

Blick in den Gerichtssaal des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg
Der EuGH hat klargestellt, wann Frauen, die Gewalt ausgesetzt sind, Asyl und subsidiärer Schutz gewährt werden muss. null /Patrick Scheiber/imago

Frauen sind Teil einer sozialen Gruppe

Die Flüchtlingseigenschaft gelte, wenn jemand wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt werde und deshalb sein Land verlassen habe, teilt der EuGH mit.

Nun stellt der Gerichtshof klar, dass Frauen insgesamt als soziale Gruppe angesehen werden können. Falls sie "in ihrem Herkunftsland aufgrund ihres Geschlechts physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt und häuslicher Gewalt, ausgesetzt sind", könne ihnen damit die Flüchtlingseigenschaft zugestanden werden.

Falls betroffene Frauen die "Flüchtlingseigenschaften" nicht erfüllen sollten, könne ihnen dennoch subsidiärer Schutz gewährt werden, so der Gerichtshof. Dies treffe zu, falls ihnen tatsächlich die Gefahr drohe, Opfer von Gewalt oder gar getötet zu werden.

Insbesondere die Drohungen eines Familienangehörigen oder ihrer Gemeinschaft, "wegen eines angenommenen Verstoßes gegen kulturelle, religiöse oder traditionelle Normen" könnten den Anspruch auf subsidiären Schutz begründen, so der Gerichtshof.

Politiker und NGOs begrüßen die Entscheidung grundsätzlich

"Das ist ein sehr wichtiges Urteil für den Schutz von Frauen vor häuslicher und sexueller Gewalt", erklärte die EU-Abgeordnete der Grünen, Terry Reintke, auf Anfrage der DW. Denn es mache deutlich, dass die EU auch Frauen ohne europäischen Pass vor häuslicher Gewalt in ihren Heimatländern schützen müsse.

Die Grünen-Politikerin Theresa Reintke vor einer blauen Wand mit dem Logo des EU-Parlaments
"Ein sehr wichtiges Urteil für den Schutz von Frauen" - Terry Reintke, Ko-Vorsitzende des Frauenausschusses im EU-Parlament (Archivbild)null Philippe Stirnweiss/EP

Robert Biedron, Vorsitzender des Ausschusses für Frauenrechte und Mitglied in der sozialdemokratischen Fraktion, erkennt in dem Urteil einen "wichtigen Schritt zur Förderung eines integrativen und mitfühlenden Ansatzes in der Asylpolitik" des EuGH.

Sowohl die Organisation Terre des Femmes, als auch Pro Asyl begrüßen das Urteil. Karl Kopp, Europasprecher von Pro Asyl, sieht die Rechtsstellung der Frau gestärkt. Stephanie Walter, Referentin bei der Nichtregierungsorganisation Terre des Femmes, hält das Urteil für begrüßenswert, weil es die Chancen von Frauen stärke, die von häuslicher Gewalt betroffen seien.

Bedeutung und Reichweite des Urteils

Im Gespräch mit der DW zeigt sich Terre des Femmes-Referentin Walter allerdings skeptisch, ob sich durch das Urteil in der deutschen Praxis etwas ändern werde. Denn in deutschen Verwaltungsgerichten werde bereits in vielen Fällen nach den Maßstäben entschieden, die dieses Urteil aufstellt.

Ihrer Meinung nach liegt der "Knackpunkt" woanders. Damit die betroffenen Frauen ihre Asylgründe vortragen könnten, bräuchte es einen gewissen Rahmen, wie eine sichere Unterbringung und Zugang zu spezialisierten Beratungsstellen, sagt Walter.

Auch wüssten die Frauen oft nicht, dass es sich bei Genitalverstümmelung, Zwangsheirat oder häuslicher Gewalt um Fluchtgründe handelt, die sie bereits bei der ersten Anhörung vor den Behörden vorbringen müssten.

Frauen in der Türkei fürchten um ihre Rechte

Migrationsexperte Kopp betont, es komme bei dem Urteil auch auf die Implementierung in den Nationalstaaten an. Er schätzt die Wirkung aber grundsätzlich positiv ein.

Bei ordentlicher Umsetzung des Urteils sei davon auszugehen, dass in Zukunft mehr Frauen Schutz bekämen. Außerdem sorge es dafür, dass die "Errungenschaften der Istanbuler Konvention noch einmal in Gänze im Asylverfahren zum Tragen" kommen.

Bedeutung des Istanbuler Übereinkommen für das Urteil

Das Istanbuler Abkommen verpflichtet seine Unterzeichner zu einer Reihe von Maßnahmen, welche Frauen vor häuslicher Gewalt schützen sollen. Am 1. Juni 2023 ist die EU diesem Abkommen offiziell beigetreten.

Es wurde zwar von allen EU-Staaten unterzeichnet, jedoch von Bulgarien, Tschechien, Ungarn, Litauen und der Slowakei bislang nicht ratifiziert. In seinem Urteil hat sich der EuGH explizit auf dieses Übereinkommen bezogen.

Nach Einschätzung von EU-Parlamentarierin Terry Reintke ist das Urteil erst durch den Beitritt der EU zur Istanbul-Konvention möglich geworden. Sie hat die restlichen Staaten dazu aufgefordert, die Konvention zu ratifizieren.

Der polnische Abgeordnete Robert Biedron betont, der Beitritt der EU zur Istanbul-Konvention sei auch ein "Symbol für die Bereitschaft der EU, Gewalt gegen Frauen zu beseitigen". Dazu werde man stehen.

Nordkoreanerin kämpft um das Leben ihrer Schwester

Für einen Moment leuchten Kim Kyu Lis Augen, als ihr junger Hund Cookie an ihr hochspringt. Während sie in ihrem Londoner Wohnzimmer durch sein wuscheliges Fell streichelt, rücken ihre Sorgen kurz in den Hintergrund. Die letzten Monate waren hart für die 46-jährige Nordkoreanerin. Seit dem 9. Oktober 2023 gibt es von ihrer jüngeren Schwester Kim Cheol Ok kein Lebenzeichen mehr. 

An diesem Tag wurde Kim Cheol Ok aus China nach Nordkorea abgeschoben. "Ich bin mir sicher, dass sie geschlagen wird", sagt Kim Kyu Li der DW. Dieses Schicksal hätten bereits andere Familienmitglieder erlitten. Inhaftierte würden nicht nur misshandelt, sondern bekämen auch sehr wenig zu essen. "Sie essen Mäuse und Kakerlaken und werden krank davon." Kim Kyu Li hat große Angst, dass ihre Schwester diese Torturen nicht überlebt.

Die Nordkoreanerin Kim Kyu Li betrachtet in ihrem Londoner Wohnzimmer alte Familienfotos
"Ihr einziges Vergehen war, dass sie in Nordkorea geboren wurde", sagt Kim Kyu Li über ihre jüngere Schwesternull Esther Felden/DW

Die Flucht aus dem Land wird im diktatorisch geführten Nordkorea als schweres Vergehen gewertet, auf das harte Strafen stehen. Wer unerlaubt das Land verlässt, gilt als Verräter und wird eingesperrt. Nach Angaben der UN sind in nordkoreanischen Gefängnissen und Straflagern Folter und Misshandlungen an der Tagesordnung.   

Massenabschiebung nach Öffnung der Grenze

Kim Kyu Lis Schwester war nicht die Einzige, die am 9. Oktober nach Nordkorea deportiert wurde. Offenbar fand an diesem Tag eine regelrechte Massenabschiebung statt: Etwa 500 in China lebende Nordkoreaner seien unter Zwang in ihr Heimatland zurückgebracht worden, bestätigt Ethan Hee-Seok Shin von der Transitional Justice Working Group. Aus chinesischer Haft sollen sie in schwer bewachten Bussen und Lastwagen nach Nordkorea zurückgebracht worden sein. Und zwar über fünf Grenzübergänge, die die in Südkorea ansässige Menschenrechtsorganisation in einer Karte dokumentiert hat.

Die Übergabe der Gefangenen findet zumeist auf Brücken statt, die über die Grenzflüsse Tumen oder Yalu führen. Über die Einzelheiten ist wenig bekannt, aber ein Detail schildert Yoo Suyeon von der Menschenrechtsorganisation Korea Future, die seit Jahren Interviews mit nordkoreanischen Geflüchteten aufzeichnet: "In der Mitte der Brücke werden ihnen die chinesischen Handschellen abgenommen und stattdessen nordkoreanische angelegt." Diese seien im Vergleich zu den chinesischen "rostig und alt".

Die Nordkoreanerin Kim Ceol Ok steht in China in einem weißen T-Shirt vor Bäumen
Sorge um die jüngere Schwester Kim Cheol Ok, hier auf einem Foto aus China, wo sie 25 Jahre lebtenull Privat

Abtrünnige IT-Spezialisten hatten Priorität

Während der COVID-19-Pandemie hielt das Regime in Pjöngjang die Landesgrenzen für dreieinhalb Jahre rigoros geschlossen. Nach der Öffnung im Sommer 2023 sollen sich Nordkorea und China darauf verständigt haben, eine größere Zahl von Nordkoreanern zurückzuschieben.

Höchste Priorität hätten diejenigen gehabt, die zuvor eng mit dem Regime von Kim Jong Un zusammengearbeitet hatten. Zum Beispiel Diplomaten, die sich absetzen wollten oder Hacker, die im Auftrag des Regimes an Cyber-Operationen in China beteiligt waren. Das berichten Experten übereinstimmend gegenüber der DW. Sie stützen sich dabei auf vertrauenswürdige Informanten, deren Identität aus Sicherheitsgründen geheim bleiben muss. 

An diesen IT-Spezialisten und anderen Menschen, die Zugang zu sensiblen Informationen hatten, war das Regime in Pjöngjang mutmaßlich besonders interessiert. Sie sollen in der ersten Gruppe von 80 Deportierten gewesen sein, die bereits Ende August nach Nordkorea zurückgeschoben wurden. Die Sorge ist groß, dass diese Personen für den Rest ihres Lebens in Straflagern für politische Gefangene verschwinden könnten und man nie wieder etwas über ihr Schicksal erfährt. 

Nordkoreanische Soldaten patrouillieren im Winter an der streng bewachten Grenze zu China
Nordkoreanische Soldaten patrouillieren an der mehr als 1400 Kilometer langen Grenze zu Chinanull Kyodo/picture alliance

Das letzte Lebenszeichen

Es war nur ein einziger, hastiger Anruf, den Kim Cheol Ok am 9. Oktober machen konnte, um ihre Familie über die unmittelbar bevorstehende Abschiebung nach Nordkorea zu informieren. Kurz durfte sie dafür das Mobiltelefon eines chinesischen Wachmannes benutzen.

Die Abschiebung traf sie und ihre Familie wie ein Schock. Die 40-jährige Cheol Ok lebte bereits seit 25 Jahren in China. Ihre Schwester in London beschreibt sie als ruhige, aber starke Persönlichkeit voller Energie. Cheol Ok war 1998 aus Nordkorea geflohen, ein Jahr nach ihrer älteren Schwester Kyu Li. Zum Zeitpunkt ihrer Flucht herrschte in Nordkorea eine beispiellose Hungersnot.

Wie China geflüchtete Nordkoreaner deportiert

Als Cheol Ok mit gerade einmal 14 Jahren in China ankam, wurde sie von einem Schlepper mit einem 30 Jahre älteren Mann verheiratet. Die beiden haben eine gemeinsame Tochter, die chinesische Staatsbürgerin ist.

Ohne Papiere

Sie selbst bekam jedoch nie einen Aufenthaltstitel und lebte zurückgezogen in einer ländlichen Gegend in der Provinz Jilin im Nordosten Chinas. Sie arbeitete auf dem Feld und später in Restaurants. Ihr Mann habe sie gut behandelt, erzählt ihre Schwester Kyu Li.

Im April wurde sie von der chinesischen Polizei festgenommen, mutmaßlich bei dem Versuch, das Land zu verlassen. "Sie hat nichts getan, ihr einziges Vergehen war, dass sie in Nordkorea geboren wurde", sagt Kyu Li. Nach 25 Jahren in China spreche ihre Schwester nur noch wenig Koreanisch und habe keine Verwandten mehr in Nordkorea.

Der chinesische Staatschef Xi Jinping schüttelt Nordkoreas Diktator Kim Jong Un die Hand.
China ist Nordkoreas engster Verbündeter - Staatschef Xi Jinping (links) mit Nordkoreas Kim Jong Un null Yonhap/picture alliance

Ein Bruder starb in Haft

Die Abschiebung von Cheol Ok reißt in der Familie Wunden auf, die nie verheilt sind: Neben Kyu Li gelang noch einer zweiten, älteren Schwester die Flucht aus dem abgeschotteten Land. Auch sie war zuvor in nordkoreanischer Haft misshandelt worden. Die Erinnerungen daran suchen sie bis heute heim: "Seit Cheol Ok in China verhaftet wurde, habe ich furchtbare Alpträume", erzählt Kim Yu Bin, die ebenfalls in London lebt.

Sie berichtet der DW von einem Bruder, der in nordkoreanischer Haft gestorben sei: "Er wurde zu Tode geprügelt, in einen Reissack gestopft und weggeworfen." Das hätten ihr Mitgefangene berichtet. "Es hat mir das Herz gebrochen." 

Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen

Von grausamen Misshandlungen berichten viele Nordkoreaner, denen die Flucht nach Südkorea oder in einen anderen sicheren Staat gelungen ist. Auf mehr als 1000 dieser Augenzeugenberichte stützt sich die Nichtregierungsorganisation Korea Future, die Menschenrechtsverletzungen im nordkoreanischen Strafvollzug dokumentiert.

Demnach werden die Deportierten zunächst Verhören unterzogen, die die Motive ihrer Flucht klären sollen: Sind sie aus wirtschaftlichen Gründen geflüchtet, um Armut und Hunger zu entfliehen? Oder hatten sie die Absicht, nach Südkorea weiterzureisen, das Nordkorea als Erzfeind betrachtet? Allein das gilt bereits als politisch motivierte Straftat, da es als Verstoß gegen die von allen Nordkoreanern geforderte absolute Loyalität gegenüber Land und Führung gewertet wird.

Nord- und Südkorea – siebzig Jahre im Kalten Krieg

Egal, wie das Strafmaß ausfällt, misshandelt würden alle Gefangenen, erklärt Yoo Suyeon von Korea Future. "Unabhängig davon, ob sie als Wirtschaftsflüchtlinge oder als politische Kriminelle eingestuft werden, erleiden die Gefangenen Positionsfolter. Das bedeutet, dass sie jeden Tag mehr als 12 Stunden im Schneidersitz sitzen müssen. Jede Bewegung oder jedes Geräusch kann zu einer individuellen oder kollektiven Bestrafung führen." Zu diesen Strafen zählten Tritte, Schläge mit Gegenständen oder den Händen und der Entzug von Nahrung und Schlaf.

"Schlechter als Tiere behandelt"

Die DW konnte mit weiteren Nordkoreanern sprechen, die aus China in ihr Heimatland zurückgeschoben worden waren, bevor ihnen zu einem späteren Zeitpunkt die Flucht nach Südkorea gelang. Sie berichten ebenfalls über Misshandlungen in der Haft. "Wir wurden schlechter behandelt als Tiere", erzählt die 50-jährige Lee Young Joo der DW in einem Videointerview aus Seoul.

Modell von Zellen in einem nordkoreanischen Gefängnis, in der die Gefangenen nach Angaben von "Korea Future" stundenlang in derselben Position verharren müssen
Modell von Zellen in einem nordkoreanischen Gefängnis, wo die Gefangenen nach Angaben von "Korea Future" stundenlang in derselben Position verharren müssen null Korea Future

Während der Verhöre sei sie geschlagen worden: "Wenn ich nur eine Sekunde gezögert habe mit der Antwort auf Fragen, hatten sie schon den Schlagstock vorbereitet, um damit zu foltern. Man wurde überall geschlagen, auch am Kopf und im Gesicht." 

China: "Keine Beweise für Folter"

Schon bevor die Abschiebungen im August 2023 wieder aufgenommen wurden, appellierte das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte in einem Brief an China, keine Nordkoreaner zu deportieren. "Wir befürchten, dass ihnen dadurch schwere Menschenrechtsverletzungen wie willkürliche Inhaftierungen, Folter, Verschwindenlassen und außergerichtliche Tötungen drohen", heißt es in dem Schreiben vom 18. Juli.  

Knapp zwei Monate später übermittelte die Regierung in Peking ihre Antwort an die Vereinten Nationen: Es gebe "derzeit keine Beweise für Folter oder sogenannte 'massive Menschenrechtsverletzungen' in Nordkorea", steht in der Antwort vom 13. September. Überdies seien die Nordkoreaner illegale Wirtschaftsmigranten und keine Flüchtlinge. Sie stünden daher nicht unter dem Schutz der Genfer Flüchtlingskonvention.  

Ein Auszug aus dem Schreiben Chinas an die Vereinten Nationen
Ein Auszug aus dem Schreiben Chinas an die Vereinten Nationen null Office of the High Commissioner for Human Rights, Geneva

Der südkoreanische Völkerrechtler Ethan Hee-Seok Shin von der Transitional Justice Working Group hält diese Argumentation für unglaubwürdig. China sei "verpflichtet, Menschen nicht in Länder zurückzuschicken, in denen ihnen Folter oder Verfolgung drohen würde". Dieses "Prinzip der Nicht-Zurückweisung" ist völkerrechtlich in der Genfer Flüchtlingskonvention und in der Antifolterkonvention verankert. Beide Verträge hat auch China ratifiziert.

Die DW hat sowohl die chinesische als auch die nordkoreanische Regierung wiederholt um eine Stellungnahme gebeten. China reagierte nicht. Die nordkoreanische Botschaft in Berlin bezeichnete die Vorwürfe in einer kurzen schriftlichen Antwort als "irreführende Propaganda" von "feindlichen Kräften" wie den USA.  

Kim Kyu Li hält alte, schwarz-weiße Familienfotos aus Nordkorea in den Händen
Kim Kyu Li mit alten Familienfotos aus Nordkoreanull Esther Felden/DW

Öffentlicher Druck

Normalerweise schweigen die Familien von in Nordkorea Inhaftierten, um ihre Angehörigen keiner zusätzlichen Gefahr auszusetzen. Kim Kyu Li aber hat sich entschlossen, den Kampf um ihre verschwundene Schwester öffentlich zu machen. Sie ist sogar nach New York gereist, um während einer Konferenz des Internationalen Strafgerichtshofs auf das Schicksal von Cheol Ok aufmerksam zu machen. 

"Cheol Ok, bleib stark und gib nicht auf", ruft sie ihrer Schwester im Gespräch mit der DW zu, auch wenn sie weiß, dass die sie nicht hören kann.  

Es sei sehr unwahrscheinlich, dass sie aus der Haft entlassen werde, sagt Ethan Hee-Seok Shin, dessen Organisation die Familie von Kim Cheol Ok unterstützt. "Aber zumindest ist ihre und auch unsere Hoffnung, dass diese Art von internationaler Aufmerksamkeit es den nordkoreanischen Behörden erschweren wird, sie zu misshandeln oder zu foltern."

Afghanistan: "Frauen leiden unter Geschlechterapartheid"

Seit der Übernahme der Macht durch die Taliban in Afghanistan setzt sich die pakistanische Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai aktiv für die Frauenrechte im benachbarten Afghanistan ein. "Millionen von Frauen und Mädchen werden systematisch aus dem öffentlichen Leben in Afghanistan verdrängt. Wir alle müssen mehr tun, um die Taliban zur Verantwortung zu ziehen", schreibt sie der DW. Dabei betont sie: "Vor allem rufe ich alle Regierungen dazu auf, Geschlechterapartheid zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu erklären."

Am Mittwoch wird sich der UN-Sicherheitsrat mit der Lage in Afghanistan befassen. Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) hatte Anfang Dezember ihren neuesten Bericht zur Situation in dem Land veröffentlicht. Diese Mission hatte der Sicherheitsrat 2002 ins Leben gerufen, um afghanische Institutionen in Bereichen wie Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Gleichberechtigung zu unterstützen. Mehr als zwanzig Jahre später ist alles, was diese Mission zwischenzeitlich erreicht hatte, wieder zunichte gemacht.

Der Bericht, der die herrschende Taliban-Regierung mangels internationaler Anerkennung nur als "de-facto-Behörden" bezeichnet, stellt fest: "Die de-facto-Behörden setzen ihre Restriktionen gegenüber Frauen und Mädchen fort."  Seit der Machtübernahme der Taliban werden Frauen in Afghanistan systematisch entrechtet. Frauen haben keinen Zugang zu Hochschulbildung und Mädchen können die Schule nicht über die sechste Klassen hinaus besuchen. In einigen Regionen, wie in den Provinzen Chost und Sabul, ist es Frauen ohne männlichen Begleiter sogar untersagt, lokale Märkte oder Geschäfte zu besuchen, so der Bericht der UNAMA. 

Viele Berichte, keine Besserung 

Die Weltgemeinschaft sei seit Langem über die Situation informiert, betont Niloufar Nikseyar aus dem westafghanischen Herat im Gespräch mit der DW. Die 35-jährige Schriftstellerin und ehemalige Dozentin an der Universität Herat fügt hinzu: "Bei jeder Gelegenheit wird ein neuer Bericht über die Situation von Frauen und Mädchen in Afghanistan verfasst. Jedes Mal wird uns versichert, dass die Welt unsere Stimme hört und sich die Situation zum Besseren wenden wird. Trotzdem haben wir in den vergangenen zwei Jahren keine Verbesserungen gesehen. Dennoch bemühe ich mich stets, als Frau die Stimme der Opfer in Afghanistan zu sein. Wir wollen unsere Hoffnung nicht aufgeben." 

Niloufar Nikseyar gehört einer Gruppe von Frauen an, die zu Hause Lesungen von Büchern für Frauen und Mädchen organisieren. Selbst über solche Treffen unter Frauen müssen sie die Taliban informieren und um Erlaubnis bitten. 

Gebrochene Versprechen der Taliban 

Millionen von Frauen in Afghanistan leiden unter den Regelungen und Einschränkungen, die die Taliban  erlassen haben. Trotz anfänglicher Versprechen, Frauenrechte im Rahmen der Scharia zu respektieren, haben die Taliban seit ihrer Machtübernahme im August 2021 Gesetze und politische Maßnahmen eingeführt, die Frauen und Mädchen im ganzen Land ihre Grundrechte verweigern - allein aufgrund ihres Geschlechts. Frauen wurde sogar der Zugang zu Parks, Sporteinrichtungen und Cafés verwehrt. Von Frauen geführte Schönheitssalons für Frauen wurden ebenfalls geschlossen. 

Melodie des Widerstands - Afghanische Musiker im Exil

Die afghanische Regisseurin Sahraa Karimi spricht gegenüber der DW deshalb von "Geschlechterapartheid", die "ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit" sei. Bis zu ihrer Flucht aus Afghanistan war Karimi die Präsidentin der staatlichen afghanischen Filmorganisation. Die 38-jährige Regisseurin hat aus Angst um ihr Leben Afghanistan verlassen und wohnt heute in den USA. Sie unterstreicht: "In den vergangenen zwei Jahren haben aktuelle Berichte aus Afghanistan und die tägliche Einschränkung der Rechte afghanischer Frauen gezeigt, dass die Taliban ihre Haltung überhaupt nicht geändert haben. Leider unterstützt die internationale Gemeinschaft durch ihr Schweigen die Taliban. Das ermöglicht ihnen, die Grundrechte der Frauen weiter zu unterdrücken." 

Weltgemeinschaft am Zug 

Karimi ist besorgt um die Zukunft Afghanistans. Sie fürchtet, unter den Taliban könne Afghanistan zu einem rückständigen Land werden. Das wiederum könne radikalen Kräften als Basis dienen und am Ende eine ernsthafte Gefahr für die Welt darstellen. Es sei an der Zeit, dass die Weltgemeinschaft sich aktiv dafür einsetzt, die Geschlechtertrennung in Afghanistan  abzuschaffen, und sicherstellt, dass die Taliban für ihre Handlungen verantwortlich gemacht werden. 

"Die westlichen Länder und die Staaten der Region können diese Situation ändern, aber ich sehe keinen politischen Willen dafür", sagt Shaharzad Akbar. Die 33-jährige afghanische Menschenrechtsaktivistin war von 2019 bis 2021 Chefin der Unabhängigen Afghanischen Menschenrechtskommission. Heute lebt sie in England. Im November hat sie den diesjährigen Menschenrechtspreis der SPD-nahen deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung erhalten. Am Rande der Preisverleihung forderte sie gegenüber der DW: "Afghanistan darf nicht in Vergessenheit geraten. Es ist unsere Aufgabe, die Stimme der Frauen in Afghanistan zu sein. Menschenrechtsaktivisten und Medien dürfen nicht zulassen, dass die Lügen der Taliban die Wahrheit über Afghanistan werden." 

Neue Wege, um Frauen und Mädchen zu unterstützen 

"Wir müssen den Frauen und Mädchen in Afghanistan ein deutliches Signal senden, dass wir sie wahrnehmen, ihren Appell zur Aktion vernehmen und bereit sind, unsere Solidarität anzubieten", betont auch die Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai. Sie fügt hinzu: "Es ist sehr wichtig, Mädchen dabei zu unterstützen, ihre Bildung weiterzuverfolgen, solange das Schulverbot besteht. Unterstützer und Investoren können ihre finanzielle Hilfe für afghanische und internationale Organisationen aufstocken, die kreative alternative und digitale Lernprogramme entwickeln, um afghanische Mädchen in ihren eigenen Häusern zu erreichen."

Mitarbeit: Wadud Salangi

Zahlreiche Afghanen müssen Pakistan verlassen

Narges Mohammadi - unbeugsam im Kampf für die Freiheit

Narges Mohammadi hat den Friedensnobelpreis nicht persönlich entgegennehmen können. Sie sitzt weiter in iranischer Haft. Für sie stand ein leerer Stuhl symbolisch auf der Bühne im Rathaus von Oslo. An ihrer Stelle haben ihre Kinder, die 17-jährigen Zwillinge Kiana und Ali Rahmani, die Auszeichnung am Sonntag entgegengenommen und eine Rede verlesen, die Mohammadi im Gefängnis verfasst hat. Auch ihr Ehemann Taghi Rahmani und weitere Angehörige von ihr waren bei der Preisverleihung dabei. Die 51-jährige Narges Mohammadi hat die renommierte Auszeichnung "für ihren Kampf gegen die Unterdrückung der Frauen im Iran und ihren Einsatz für die Förderung der Menschenrechte und der Freiheit für alle" erhalten, wie das Nobelkomitee die Preisvergabe begründet hatte. 

Jubeln im Gefängnis

Der Preis markiert nach den Worten von Mohammadi einen Wendepunkt in "der Stärkung von Protesten und sozialen Bewegungen weltweit", wie sie in einem aus dem Gefängnis geschmuggelten Brief an das Nobelkomitee betont. Ihre Tochter Kiana hat diesen Brief in einem auf der Nobel-Website veröffentlichten Video vorgelesen. Mohammadi berichtet darin, dass die Nachricht von ihrem Nobelpreis im Gefängnis von Rufen ihrer Mitgefangenen begleitet wurde: "Frau, Leben, Freiheit!", skandierten sie. Es ist der Slogan jener Bewegung, der sie selbst angehört. "Ich bin euch allen dankbar und ermutige euch, das iranische Volk bis zum endgültigen Sieg zu unterstützen", sagt sie in dem Brief und betont: "Der Sieg ist nicht einfach, aber er ist sicher."

Die Menschenrechtsaktivistin, die derzeit im Evin-Gefängnis in Teheran inhaftiert ist, wurde wegen mehrere "Straftaten", darunter "Propaganda gegen das politische System", zu rund zwölf Jahre Haft verurteilt. Wegen ihres friedlichen Engagements für die Menschenrechte in den letzten knapp 30 Jahren ist sie den Machthabern in Teheran seit langem ein Dorn im Auge.

Journalistin, Autorin, Menschenrechtsaktivistin 

Schon während ihres Studiums setzte sich Mohammadi für Frauenrechte ein und veröffentlichte Artikel in Universitätszeitungen. Sie vernetzte sich mit anderen reformistischen Studierenden, Journalisten und Autoren. Mohammadi wurde Journalistin und Autorin und verliebte sich in den Schriftsteller und politischen Journalisten Taghi Rahmani. Sie heirateten 1999.

Mohammadi arbeitete für mehrere reformorientierte Zeitungen und veröffentlichte 2001 ein Buch mit politischen Essays unter dem Titel "Die Reformen, die Strategie und die Taktiken" (The Reforms, the Strategy and the Tactics). Im Gegensatz zu heute glaubte sie damals noch an Reformen. Sie schloss sich dem iranischen Zentrum für die Verteidigung der Menschenrechte an, dem Defenders of Human Rights Center (DHRC). Das bietet unter anderem Familien von politischen Gefangenen Rechtsbeistand an. Das Zentrum wurde 2001 von der Menschenrechtsanwältin Shirin Ebadi gegründet, die 2003 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Später wurde Mohammadi Vizepräsidentin der Organisation, die 2008 geschlossen wurde.

Hoher Preis des Widerstandes 

Ihren Kampf aufzugeben, kam für Narges Mohammadi nie in Frage. Auch nicht, als ihr Mann, der insgesamt 14 Jahre hinter Gittern verbracht hatte, sich entschied, das Land zu verlassen und im Exil zu leben. Als sie 2015 wegen ihres Einsatzes für die Abschaffung der Todesstrafe erneut verhaftet wurde, schickte sie ihre Kinder zu ihrem Mann ins Exil nach Frankreich. Aus früheren Gefängniserfahrungen wusste Narges Mohammadi, dass ihre Kinder als Druckmittel gegen sie eingesetzt werden könnten.

Seither hat sie ihre Kinder nicht mehr gesehen. Aus dem Gefängnis heraus darf sie auch nicht mit ihnen telefonieren. Sie darf nur mit ihren Verwandten im Iran sprechen.

Frankreich Familie von Narges Mohammadi in Paris
Der Ehemann von Narges Mohammadi, der iranische Journalist Taghi Rahmani, und ihr Sohn Ali in Parisnull Thomas Samso/AFP/Getty Images

Kurz vor ihrer letzten Inhaftierung im November 2021 sagte sie in einem Interview mit der DW: "Ich bin eine Frau, die sich nicht beugt. Seit der Gründung der Islamischen Republik im Iran 1979 werden die Frauen systematisch unterdrückt. Wer sich nicht anpasst, wird bestraft. Frauen, die wie ich und andere Menschenrechtsaktivistinnen Widerstand leisten, fordern dieses System besonders heraus. Die Machthaber versuchen mit allen Mitteln, uns zu brechen und zum Schweigen zu bringen."

Seit dem 3. Dezember haben die Behörden alle ihre Verbindungen mit der Außenwelt gekappt. Narges Mohammadi darf weder telefonieren noch Besuch empfangen – wegen eines weiteren Briefes, der aus dem Gefängnis geschmuggelt wurde. Dieses Mal richtete sie sich an das Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte. In diesem offenen Schreiben, das ihr Ehemann der DW zur Verfügung gestellt hat, bittet sie den UN-Menschenrechtskommissar im Namen der Menschlichkeit um dringende, entschlossene und schnelle Maßnahmen, um die Welle der Hinrichtungen im Iran zu stoppen. Im Schatten des Gaza-Kriegs rechnen die Machthaber im Iran mit ihren Kritikern ab. Mutige Stimmen wie Narges Mohammadi können sie nicht zum Schweigen bringen.

China wegen Abschiebung von Nordkoreanern unter Druck

China beharrt auf seinem Standpunkt, dass die Rückführung von Menschen nach Nordkorea, die Peking üblicherweise als "Wirtschaftsmigranten" statt Flüchtlinge betrachtet, der richtige Weg sei. Doch Menschenrechtsorganisationen warnen, den Abgeschobenen drohten harte Strafen durch das nordkoreanische Regime von Kim Jong Un. Überlaufen gilt in Nordkorea als Hochverrat.

Die südkoreanische Nationalversammlung verabschiedete am 30. November eine Resolution, die Peking auffordert, die Rückführung von Nordkoreanern zu stoppen. Stattdessen sollten die Menschen als Flüchtlinge anerkannt und es ihnen erlaubt werden, nach Südkorea oder in andere Länder zu reisen. Die Resolution fordert auch mehr Bemühungen ein, andere Regierungen und Hilfsorganisationen zu ermutigen, ebenfalls den Druck auf China zu erhöhen, damit es die Rückführungen einstellt.

Anfang November veröffentlichte auch ein Ausschuss der Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) für humanitäre Fragen einen Resolutionsentwurf. Für die Vereinten Nationen wurde die Angelegenheit erneut Thema, nachdem Menschenrechtsgruppen berichtet hatten, dass China im Oktober bis zu 600 nordkoreanische Flüchtlinge zwangsweise zurückgeschickt hatte - kurz nachdem Nordkorea die Grenzen wieder geöffnet hatte, die seit Beginn der Corona-Pandemie geschlossen waren.

Verletzt China einen UN-Grundsatz?

Der UN-Ausschuss drückte in dem Resolutionsentwurf große Sorgen über die "ernste Menschenrechtslage in Nordkorea" und die Bestrafung derjenigen aus, die von China über die Grenze zurückgeschickt werden. Der Ausschuss betont, von einem UN-Mitgliedsstaat werde erwartet, dass der Grundsatz der Nichtzurückweisung befolgt wird. Dieser garantiert: Niemand wird in ein Land zurückgeschickt, in dem ihm Folter, grausame Behandlung, Bestrafung oder sonstiger schwerer Schaden droht.

Nord- und Südkorea – siebzig Jahre im Kalten Krieg

Peking teilte den Vereinten Nationen mit, Berichte, denen zufolge China Flüchtlinge zwangsweise zurückgeschickt hat, seien "völlig unbegründet". Das Land rechtfertigte die Abschiebungen damit, dass es keine Beweise für Folter oder Menschenrechtsverletzungen in Nordkorea gebe.

Dieser Behauptung stehen Berichte von Menschenrechtsorganisationen gegenüber, die sich auf Überläufer berufen, denen es gelungen ist, sich in einem Drittland in Sicherheit zu bringen. Ihnen zufolge werden Zurückgeschickte gefoltert und zur Strafe in Arbeitslager gebracht.

Es wird davon ausgegangen, dass etwa 2000 Nordkoreaner in China inhaftiert sind. Menschenrechtsgruppen befürchten, dass auch die übrigen zurückgeschickt werden.

Geopolitik wichtiger als internationale Kritik

Hyobin Lee, Lehrbeauftragte für koreanische Politik an der Chungnam National University in Daejeon, Südkorea, sagt, dass trotz der weit verbreiteten Kritik an der Rückführungspolitik geopolitische Rivalitäten für China wichtiger seien. Was bedeute, dass sich Peking wahrscheinlich nicht von seinem Kurs abbringen lasse.

"Die Rückführung nordkoreanischer Überläufer durch China wird erheblich von der Allianz zwischen Peking und Pjöngjang beeinflusst", sagt Lee zur DW. "Nordkorea reagiert bei dem Thema Überläufer besonders empfindlich. China kann es sich angesichts der Sensibilität Nordkoreas in der Überläuferfrage nicht leisten, sich auf die Seite Südkoreas und der Vereinigten Staaten zu stellen, indem es Überläufern erlaubt, in diese Länder zu gehen."

Jedoch scheinen nach Lees Beobachtung die zuvor aggressiven Bemühungen von China etwas nachgelassen zu haben, Nordkoreaner aufzuspüren, sie zu inhaftieren und zurückzuschicken. Denn sie hätten sich als wichtige Quelle billiger Arbeitskraft für die chinesische Wirtschaft erwiesen.

Ein Zaun mit Stacheldraht an einem Fluss
Die Grenze zwischen Nordkorea und China in der Nähe von Dandong - rund 1420 Kilometer ist die Grenze zwischen beiden Staaten langnull ZUMA Press/IMAGO

Kim Sang-woo ist der Ansicht, dass die jüngste Rückführung von Nordkoreanern als unausgesprochene Warnung an Südkorea gesehen werden kann, das praktisch keinen Einfluss auf China hat, um die Praxis zu stoppen. "Hier geht es nicht einfach darum, Flüchtlinge zurückzuschicken", sagt der ehemalige Politiker der linksgerichteten Partei "Nationaler Kongress für Neue Politik" (NCNP), der jetzt Vorstandsmitglied der Stiftung des ehemaligen südkoreanischen Präsidenten und Friedensnobelpreisträgers Kim Dae-jung ist, die sich für Frieden auf der koreanischen Halbinsel einsetzt. "Dies geschieht aufgrund der schlechten Beziehungen zwischen China und Südkorea, vor allem aber auch zur (aktuellen südkoreanischen, Anm. d. Red.) Regierung Yoon Suk Yeol, die hart daran arbeitet, die militärischen und politischen Beziehungen mit Japan und den USA zu verbessern." China sei besorgt, dass diese Beziehungen enger würden. Menschen nach Nordkorea abzuschieben ist laut Kim Sang-woo nur eine der vielen Möglichkeiten, mit denen Peking seine Unzufriedenheit zeigen kann.

China will Führungsposition behalten

China ist auch alarmiert darüber, wie sich zuletzt die Beziehungen zwischen Nordkorea und Russland entwickelten. Peking droht, aus seiner langjährigen Rolle als wichtigster Verbündeter Pjöngjangs verdrängt zu werden. Die USA und Südkorea beschuldigen Russland, Artilleriegeschosse und Kleinwaffen von Nordkorea zu kaufen und im Gegenzug Treibstoff, Nahrungsmittel und vor allem die Technologie zu liefern, die Kim Jong Uns Regierung für ihr Raketen- und Atomwaffenprogramm benötigt. Im September besuchte Kim Jong Un den russischen Präsidenten Wladimir Putin. "Nachdem China so lange an erster Stelle stand, will es sich nicht mit der zweiten Reihe begnügen. Die neue Freundschaft zwischen Russland und dem Norden bereitet Peking Unbehagen", sagt Kim Sang-woo.

Nordkoreas Machthaber Kim zu Besuch bei Putin

Südkorea könne keinen wirksamen Druck auf den Wirtschafts- und Militärriesen China ausüben, um ihn davon zu überzeugen, die Rückführung von Flüchtlingen in den Norden zu stoppen, so Kim. Stattdessen sollte sich der seit 2022 amtierende Präsident Yoon seiner Ansicht nach "darauf konzentrieren, die Rückführung zu einer humanitären Angelegenheit zu machen, die international kritisiert wird, insbesondere von Europa, den USA und anderen Ländern".

"Südkorea kann diese Menschen nicht allein retten", fügte er hinzu. "Es braucht die Hilfe aller, die sich Sorgen darüber machen, was mit diesen Menschen geschieht, wenn sie nach Nordkorea zurückkehren."

Aus dem Englischen adaptiert von Uta Steinwehr

Trans-Rechte in Bulgarien: Der Hunger nach einem normalen Leben

Zwölf Tage - so lange hielt Gabriella Bankova durch. Saß auf den Stufen des Justizpalasts in Sofia und aß nichts - auch als der Hunger immer lauter in ihr wütete. Der Hungerstreik, erzählt sie der DW, sei eine spontane Entscheidung gewesen - einerseits. Und doch habe er sich gewissermaßen lange angebahnt. Denn Gabriella Bankova ist trans. Der bulgarische Staat weigert sich jedoch, das anzuerkennen. Als es ein Gericht im November ablehnte, die Spalte "Geschlecht" auf ihrem Personalausweis zu "weiblich" zu ändern, wusste Bankova nicht mehr weiter. Und setzte sich vor den Justizpalast.

Sieben Kilogramm nahm Gabriella Bankova während ihres Hungerstreiks ab. Der ist seit vergangenem Samstag, 25.11.2023, zwar vorbei. Doch Bankovas Kampf für ihre Rechte ist es noch lange nicht. "Ich denke, es ist an der Zeit für eine Justizreform", sagt die 32-Jährige gegenüber der DW.

Keine Ehe, keine Adoption, kein Erbe

Die europäische Sektion der Internationalen Lesben-, Schwulen-, Bisexuellen-, Transgender- und Intersexuellenvereinigung (ILGA) veröffentlicht jährlich einen Regenbogenindex, in dem sie 49 Länder in Europa anhand ihrer Gleichstellungsgesetze und -politik für die LGBTQ-Community bewertet. Im Jahr 2023 landete Bulgarien auf Platz 40. Von allen EU-Ländern schnitten nur Rumänien und Polen schlechter ab.

LGBTQ-Personen werden in Bulgarien rechtlich benachteiligt. Die Organisation "Deystvie", die sich im Land für die gesellschaftliche und rechtliche Gleichstellung von Menschen der LGBTQ-Community einsetzt, untersuchte vor fünf Jahren 79 bulgarische Gesetze. Das Ergebnis: Queeren Menschen in Bulgarien werden rund 300 Teilaspekte dieser Gesetze vorenthalten. So dürfen gleichgeschlechtliche Paare nicht heiraten, sie können nicht gemeinsam Kinder adoptieren, den Besitz ihres Partners nicht erben.

Das für Bankova und andere Transpersonen so wichtige Recht auf eine geschlechtliche Selbstbestimmung gibt es nicht. Eine offizielle Anpassung des Geschlechtseintrags oder eine Änderung des Namens: unmöglich.

Selbstverständlichkeiten werden zum täglichen Kampf

Aufgrund der Angaben in ihrem Personalausweis, wo unter "Geschlecht" weiterhin die Bezeichnung "männlich" steht, wurden Gabriella Bankova schon häufig Krankenhausaufenthalte und andere Gesundheitsleistungen verweigert, berichtet sie. Vor Kurzem sei sie an einer Lungenentzündung erkrankt, konnte aber keine Antibiotika kaufen, da sie dafür ein ärztliches Rezept benötigt - das sie aber nicht bekam. Denn die Gesundheitseinrichtungen glaubten, sie benutze einen gefälschten Ausweis und sei eigentlich nicht krankenversichert.

Die 32-Jährige schildert, dass ihr aus demselben Grund auch Arbeits- und Mietverträge verweigert wurden. Immer wieder kollidiert in ihrem Alltag ihre Identität mit dem "m" auf ihrem Ausweis.

Geschlechtsanpassung? Unmöglich

Die ersten Diskussionen über die Möglichkeit, das Geschlecht in Bulgarien legal zu verändern, begannen in den frühen 1990er-Jahren. Bis 2017 gab es immer wieder auch positive Entwicklungen, berichtet Denitsa Lyubenova, Rechtsanwältin und Vorsitzende von Deystvie. Weil es keine eindeutige Rechtssprechung gab, konnten Transpersonen gelegentlich vor Gericht eine Anpassung ihres Geschlechtseintrags durchsetzen.

Ein Plakat aus Pappe lehnt gegen einen Zaun, davor liegen Decken
Plakat vor dem Justizpalast, auf dem in Bulgarisch "Wir werden nicht schweigen oder leiden" stehtnull Margarita Nikolova/DW

Doch 2018, inmitten der Kampagne gegen die Ratifizierung der Istanbul-Konvention, entschied das Verfassungsgericht, dass der Begriff "Geschlecht" nur im biologischen Sinne zu verstehen sei - und es "nur zwei Geschlechter" gebe. Drei Jahre später wurde ein Auslegungsverfahren eingeleitet. Im Februar 2023 verkündete der Oberste Gerichtshof, er habe entschieden, dass es keinen juristischen Rahmen gebe, der eine rechtliche Geschlechtsanpassung regele. Oder anders gesagt: Transgeschlechtliche Menschen in Bulgarien haben keine Möglichkeit mehr, auch formal ihr Geschlecht anzupassen.

Es gibt keine Statistiken darüber, wie viele Menschen in Bulgarien sich in einer ähnlichen Situation wie Gabriella Bankova befinden. Anwältin Lyubenova ist sich sicher, dass es einige sind. Allein ihre Organisation Deystvie vertritt derzeit etwa 30 bis 40 Menschen.

"Die bulgarische Justiz hat in den vergangenen Jahren durch ihre Entscheidungen dafür gesorgt, dass wir zu Menschen erklärt werden, die in der Gesellschaft nicht willkommen sind", sagt Bankova verbittert.

Gemischte Reaktionen vor dem Justizpalast

Zwei Mal wurde Gabriella Bankova von der Polizei während ihres Hungerstreiks verhaftet, angeblich unter anderem, weil sie sich nicht ausweisen konnte. Ungerechtfertigt, wie Bankova sagt. Sie zeigt die blauen Flecken an ihrem rechten Handgelenk und erzählt, sie sei auf der Polizeiwache beleidigt, gedemütigt, entkleidet und sogar körperlich verletzt worden. "Was immer sie auch tun, sie können mich nicht brechen. Ich bin geistig stärker als je zuvor", sagt sie.

Während ihres Hungerstreiks erlebte Bankova vor dem Justizpalast die zwei Seiten der bulgarischen Gesellschaft.

Eine Frau hält eine Regenbogenfahne, neben ihr steht ein Mann, der eine Regenbogenfahne als Umhang trägt
Zwei Besucher der Pride-Parade in Sofia am 17.06.2023null Alexander Detev/DW

Einige Passanten hätten sie offen beleidigt und seien aggressiv geworden - vor allem Jugendliche und junge Männer. Bankova glaubt, dass das an nationalistischen, rechtsextremen oder populistischen Parteien liege, die in Bulgarien immer wieder gegen LGBTQ-Personen hetzen. Vereinzelt kommt es dabei nicht nur zu Hate Speech, sondern auch tätlichen Übergriffen.

So stürmte etwa im Oktober 2022 der rechtspopulistische Politiker Boyan Stankow mit zehn weiteren Personen den LGBTQ-Treffpunkt Regenbogen-Hub in Sofia und verletzte dabei eine Mitarbeiterin.

Viele Passanten jedoch hätten auch Solidarität gezeigt und wollten mehr über das Leben von Transmenschen erfahren, erzählt Bankova. "Selbst Menschen, die mich nicht direkt angesprochen haben, haben mich angelächelt", sagt sie.

Mit ihrem Sit-In vor dem Justizpalast habe sie gezeigt, dass in Bulgarien Transpersonen existieren - und dass sie, wie alle anderen, das Recht auf ein normales und würdiges Leben haben. Deswegen sei der Hungerstreik erst der Anfang gewesen. "Jetzt fangen wir mit der richtigen Arbeit an", sagt Bankova.

USA: "Unberührbare" kämpfen für Gleichberechtigung

Als Prem Pariyar 2015 beschloss, in die Vereinigten Staaten zu gehen, hoffte er mit seiner Heimat Nepal auch die Diskriminierung hinter sich zu lassen, die er dort erlebte. "Ich dachte, hier gäbe es keine Diskriminierung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kaste. Das deprimierte mich sehr", erzählt Pariyar, der aus einer Familie von Dalits stammt. Es ist die unterste Gruppe des hinduistischen Gesellschaftssystems der Kasten. Im Deutschen werden Dalits häufig auch als "Unberührbare" oder auch "Paria" bezeichnet, obwohl diese Bezeichnung nicht ganz korrekt ist.

In den USA fand Pariyar zwar Arbeit in einem Restaurant und sein Arbeitgeber brachte ihn zu einer Unterkunft für Mitarbeiter. Doch seine Kollegen weigerten sich, ein Zimmer mit ihm zu teilen. Sie beschimpften und beleidigten ihn, weil er Dalit ist. So blieb Pariyar nichts anderes übrig, als im Auto oder auf dem Sofa zu schlafen.

Pariyar ist einer der vielen südasiatischen Aktivisten, die sich dafür einsetzen, dass die Diskriminierung aufgrund der Kastenzugehörigkeit in den USA gesetzlich verboten wird. Das Kastensystem wird gewöhnlich mit Indien und dem Hinduismus in Zusammenhang gebracht, es handelt sich jedoch um eine hierarchische Ordnung der Gesellschaft, die schon tausende Jahre alt ist und in verschiedenen, nicht nur hinduistischen Ländern der Region praktiziert wird.

Auswanderung bietet keinen Ausweg

In Nepal lebte Pariyar mit seiner Familie in der Hauptstadt Kathmandu. Eines Nachts wurden sie in ihrem Zuhause brutal überfallen - nur wegen ihrer Kastenzugehörigkeit, sagt er. Als er deswegen zur Polizei ging, seien die Behörden nicht nur untätig geblieben, sie hätten ihm sogar gedroht, weil er Anzeige erstatten wollte, berichtet er der DW.

Lässt sich soziale Ungleichheit in Indien verbieten?

Das ist nun einige Jahre her. Heute gehört Pariyar zum Vorstand des Ortsverbands Kalifornien der National Association of Social Workers, eines nationalen Sozialarbeiterverbands. Aber er weiß, dass seine Geschichte kein Einzelfall ist, und deshalb beschäftigt sie ihn weiterhin.

In den Vereinigten Staaten leben mehr als 5,4 Millionen Menschen aus Südasien, die Mehrzahl davon in Kalifornien. Sie zählen zu den am stärksten wachsenden demografischen Gruppen des Landes. Viele Menschen kommen aus der Region, um in der Tech-Industrie im Silicon Valley zu arbeiten. Das diskriminierende Kastensystem haben sie mitgebracht, berichten viele Dalits in den USA. Sie klagen, dass sie am Arbeitsplatz belästigt, sabotiert oder sogar gewalttätig angegangen werden.

In den letzten Jahren haben sich Aktivisten zu Gruppen zusammengeschlossen, die sich dagegen einsetzen, dass Menschen aufgrund von Kastenzugehörigkeit in den USA diskriminiert werden. "Wir müssen die Menschen aufklären, damit dieses System abgeschafft wird", sagt Pariyar. "Von Generation zu Generation werden wir isoliert. Das Trauma wirkt generationenübergreifend."

Veto trotz überwältigender Zustimmung

Pariyar ist in der "Californians for Caste Equity Coalition" aktiv. Sie und andere Aktivistengruppen spielen eine wichtige Rolle beim Kampf für die rechtliche Grundlage gegen die Kastendiskriminierung. Fast ein Jahr lang stritten die Aktivisten für ein Gesetz, das Kalifornien zum ersten US-Bundesstaat gemacht hätte, der die Kastenzugehörigkeit in die Liste der geschützten Kategorien im Rahmen der Bürgerrechtsgesetze aufnimmt. Einige der Aktivisten traten dafür sogar für einen Monat in Hungerstreik.

Die Kastenzugehörigkeit wäre damit in einer Reihe mit Kategorien wie Ethnie (engl.: race), Geschlecht und sexuelle Orientierung aufgenommen worden, die einen gewissen Schutz vor Diskriminierung bei der Wohnungssuche und am Arbeitsplatz bieten.

Der kalifornische Senat stimmte dem Gesetz mit einer überwältigenden Mehrheit von 31 zu 5 Stimmen zu. Doch vergangenen Monat entschied Kaliforniens Gouverneur Gavin Newsom, das Gesetz sei "unnötig", und legte sein Veto gegen die Senatsvorlage 403 ein. Die geltenden Schutzmechanismen seien "großzügig auszulegen" und würden eine Diskriminierung aufgrund der Kastenzugehörigkeit bereits rechtlich abdecken, begründete Newsom seine Ablehnung.

Gavin Newsom, Gouverneur von Kalifornien grüßt (vermutlich in eine auf dem Foto unsichtbare Menge)
Gavin Newsom hält ein neues Gesetz für "unnötig"null Godofredo A. Vásquez/AP/picture alliance

Unter den Südasiaten in den USA führte das Veto zu einem Aufschrei - sowohl bei Unterstützern als auch Gegnern. Vor dem Kapitol in Sacramento, dem Parlaments- und Regierungssitz von Kalifornien, fanden Kundgebungen statt und im Gebäude selbst gaben sich die verschiedenen Interessenvertreter die Klinke in die Hand.

Gegner des Gesetzes wie die "Hindu American Foundation" nannten es rassistisch und eine potenzielle "verfassungsrechtliche Katastrophe", die "Hunderttausende von Kaliforniern zur Zielscheibe gemacht hätte, allein wegen ihrer ethnischen Herkunft oder Identität".

Newsoms Kritiker dagegen unterstellen dem Gouverneur, dass er sein Veto eingelegt habe, um eine wachsende hinduistische Wählerschaft zu umwerben, die das Kastensystem mehrheitlich gutheißt: "Wir haben mit diesem Verfahren ein Schlaglicht auf eine Form der Diskriminierung gerichtet, die noch immer in vielen Gemeinschaften in Kalifornien existiert, aber lange verborgen blieb", sagt Senatorin Aisha Wahab, die erste Muslima und Frau mit afghanischen Wurzeln, die in den Senat des Staats gewählt wurde. Sie hatte den Gesetzesentwurf verfasst.

Gestärkter Zusammenhalt

Die kalifornische Stadt Fresno war dem Veto des Gouverneurs zuvorgekommen und hatte eine Woche zuvor einstimmig beschlossen, die Diskriminierung aufgrund der Kastenzugehörigkeit zu verbieten. Seattle im Bundesstaat Washington hatte dies als erste Stadt in den USA bereits im Februar getan.

Bildungseinrichtungen wie die California State University, Harvard, Brandeis und der Campus der University of California in Davis hatten in den vergangenen Jahren ähnliche Regelungen in Kraft gesetzt. Und auch Unternehmen leisten ihren Beitrag: Tech-Riesen wie Apple und IBM passten ihre Mitarbeiterrichtlinien entsprechend an.

Aktivisten in Seattle mit einem Schild: Dalits und Muslime gegen Kastendiskriminierung
Seattle ist die erste US-Stadt, die Diskriminierung aufgrund der Kastenzugehörigkeit verbietetnull APTN

Angestoßen wurden diese Schutzmechanismen durch eine Klage, die das kalifornische Ministerium für Fairness im Arbeits- und Wohnungsmarkt 2020 gegen den Technologiekonzern Cisco Systems eingereicht hatte. Dem Unternehmen mit einem Börsenwert von aktuell rund 200 Milliarden US-Dollar (ca. 183 Mrd. Euro) wurde vorgeworfen, Vorgesetzte höherer Kasten hätten einen Mitarbeiter der Dalit-Kaste massiv diskriminiert. Wäre diese Form der Diskriminierung damals schon anerkannt gewesen, argumentieren Aktivisten, hätte der Mitarbeiter den Prozess gewonnen.

Der Einsatz für gesetzliche Regelungen habe die Gemeinschaft der Dalits und andere, die sich gegen Diskriminierung einsetzen, zusammengeschweißt, betont Pariyar: "Viele weitere Städte haben begonnen, über das Kastensystem nachzudenken. Zuvor war ich allein. Jetzt sind wir vereint und wir kämpfen mit einer Stimme, um das System zu überwinden."

Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.

Writers in Prison Day: Wenn das freie Wort bedroht ist

Weltweit geraten Schriftsteller, Journalisten und Verleger ins Visier von Unrechtsregimen. Den Mut zur Meinungsäußerung bezahlen sie mit ihrer Freiheit. So kam Iryna Danylovych von der russisch besetzten ukrainischen Halbinsel Krim ebenso ins Gefängnis wie Go Sherab Gyatso im zur Volksrepublik China gehörenden Tibet, Soulaiman Raissouni in Marokko oder auch María Cristina Garrido Rodríguez in Kuba. Die vier Schriftstellerinnen und Autoren seien "akut bedroht", mahnen die weltweit 140 PEN-Zentren in einem gemeinsamen Appell. Najem Wali, der Writers-in-Prison-Beauftragte des deutschen PEN-Zentrums in Darmstadt, ergänzt: "Solange eine oder einer von ihnen nicht frei ist, ist niemand frei."

Es sind tragische Schicksale, auf die der PEN den Blick der Öffentlichkeit lenkt. "Schriftstellerinnen und Schriftsteller leisten Widerstand, setzen sich für Gerechtigkeit und freie Gesellschaften ein", so Wali im DW-Gespräch. "Dafür werden viele verfolgt, bedroht, angriffen, eingekerkert, verbannt und nicht selten getötet." Ein Beispiel ist der in Indien geborene britisch-amerikanische Schriftsteller Salman Rushdie. Ein Attentat auf offener Bühne im August 2022 überlebte der Autor der "Satanischen Verse" nur knapp. Erst kürzlich wurde er in Frankfurt am Main mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.

Iryna Danylovych
Verfolgt: die ukrainische Autotin Iryna Danylovychnull Mary Lawlor UN Special Rapporteur

Unter Vorwänden inhaftiert

Iryna Danylovych etwa, eine ukrainische Bürgerjournalistin und Menschenrechtsaktivistin, deckte Missstände im Gesundheitssystem der besetzten Krim auf. Im Am 29. April 2022 wurde sie gewaltsam entführt. Am selben Tag durchsuchten russische Sicherheitskräfte ihr Haus und beschlagnahmten ihr Telefon und ihre technische Ausrüstung. Erst zwei Wochen später spürte ihr Anwalt sie in einem Untersuchungsgefängnis in Simferopol auf. Wegen des angeblichen Besitzes von Sprengstoff wurde sie angeklagt, als "ausländische Agentin" gelistet und zu einer siebenjährigen Haftstrafe verurteilt. Aus Protest gegen die schlechte medizinische Versorgung im Gefängnis trat Danylovych im März in einen Hungerstreik. Nach Angaben ihrer Familie ist sie gesundheitlich schwer angeschlagen. 

Ein Mann im roten Gewand spricht in ein Mikrofon
In Tibet verfolgt: der Schriftsteller Go Sherab Gyatsonull TCHRD

Nicht besser ergeht es dem tibetischen Schriftsteller, Pädagogen und Intellektuellen Go Sherab Gyatso, auch bekannt als "Gosher". Auch um seine Gesundheit sorgt sich die Schriftstellervereinigung wegen "mangelnder medizinischer Versorgung". Gosher verbüßt eine zehnjährige Gefängnisstrafe. Verurteilt wurde er dem PEN zufolge Ende 2021 nach einem geheimen Prozess. Zuvor hätten ihn Sicherheitskräfte in der Stadt Chengdu in der Provinz Sichuan unter dem Verdacht der "Anstiftung zur Sezession" festgenommen. Gosher wurde in die Autonome Region Tibet überstellt und dort offiziell angeklagt. In seinen Schriften widmet er sich dem tibetischen Buddhismus sowie der Sprache und Kultur Tibets. Er hatte Chinas Regierung kritisiert: sie schränke den Zugang tibetischer Kinder zu Bildung in ihrer Muttersprache ein.

Sorge um die Gesundheit der Inhaftierten

Soulaiman-Raissouni
In Marokko verfolgt: der Journalist Soulaiman Raissouninull privat

Der marokkanische Journalist Soulaiman Raissouni hingegen wurde im Mai 2020 wegen angeblicher sexueller Übergriffe festgenommen, was er als politisch motiviert zurückweist. Fast ein Jahr lang saß er ohne Gerichtsverfahren in Haft und wurde dann zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Der Prozess sei von Unregelmäßigkeiten geprägt gewesen und habe ohne ihn und seine Verteidiger stattgefunden, berichtet der PEN. Auch sei Raissouni mittels Pegasus-Spyware überwacht worden. Nach einem langen Hungerstreik gehe es ihm gesundheitlich nicht gut, sein Berufungsantrag sei abgelehnt worden. Die Vereinten Nationen und das Europäische Parlament äußerten Besorgnis über die Willkür seiner Inhaftierung und fordern Raissounis Freilassung.

Eine Frau hält ihre Handfläche hoch, dort steht auf Spanisch: Keine Gewalt gegen die Frau
In Kuba verfolgt: die Autorin María Cristina Garrido Rodrígueznull privat

Offenkundig vorgeschoben waren auch die Vorwürfe gegen die kubanische Dichterin und Aktivistin María Cristina Garrido Rodríguez: Wegen "Öffentlicher Unordnung", "Angriffs", "Anstiftung zu einer Straftat”, "Verachtung" und "Widerstands" wurde sie im März 2022 zu sieben Jahren Haft verurteilt. Zuvor hatte sie an friedlichen Protesten teilgenommen. Rodríguez verbüßt ihre Haft im Frauengefängnis Guatao. Dort werde sie grausam behandelt, erklärt der PEN. 

"Die Mechanismen bei der Verfolgung missliebiger Autorinnen und Autoren sind", wie Najem Wali sagt, "überall auf der Welt dieselben." Diktaturen hätten Angst vor dem freien Wort, weil es Erinnerung und Gedächtnis bedeute. Das könne zu Protesten führen. "Diktatoren regieren mit der Hoffnung, dass die Menschen nichts gesehen und nichts gehört haben - und daher schweigen." Der Schriftsteller Wali erfuhr das am eigenen Leib, als er in den 1980er-Jahren im Irak verhaftet wurde und in den Folterzentren von Machthaber Saddam Hussein landete. Seit Mai 2022 ist Wali Writers-in-Prison-Beauftragter und Vizepräsident des deutschen PEN-Zentrums.

Meinungsfreiheit weltweit bedroht

Derweil zeichnet das Internationale Writers-in-Prison Committee in London ein düsteres Bild der Lage der Meinungsfreiheit. Mindestens 68 getötete oder bedrohte Schriftsteller und Journalisten verzeichnet der PEN International in seinem Jahresbericht 2022, "vor allem in Nord- und Südamerika, Europa, Asien-Pazifik und dem Nahen Osten.”

Am stärksten bedroht ist die Meinungsfreiheit laut Wali derzeit in Mexiko - gemessen an der Zahl ermordeter Journalisten und Autoren. Doch beobachte man Ähnliches auch in China, in Russland, in der Türkei, in Syrien, Zimbabwe und El Salvador. Es sei schwer, sagt Wali, eine Rangliste aufzustellen. Gleichwohl gebe es "Brennpunkte” wie etwa den Iran mit der von Frauen angeführten Protestbewegung. 

Seit 1980 erinnert die Schriftstellervereinigung PEN immer am 15. November an das Schicksal verfolgter Autorinnen und Autoren. Der Gedenktag wurde durch das "Writers in Prison"-Komitee des internationalen PEN ins Leben gerufen - als Reaktion auf die, wie es heißt, "wachsende Zahl der Länder, die versuchen, Autorinnen und Autoren durch Repressionen mundtot zu machen."

Afrika: Wie relevant ist das Commonwealth heute noch?

Das moderne Commonwealth of Nations ist so alt wie sein Oberhaupt, der britische König Charles III.: Seit 75 Jahren besteht der Bund souveräner Staaten in seiner heutigen Form, aber für viele junge Menschen hat die einst aus dem britischen Weltreich hervorgegangene Gemeinschaft offenbar nur wenig politischen Nutzen.

Das Commonwealth ist für Khalil Ibrahim eine Organisation, die zwar aktiv ist, aber "nicht wirklich", sagt der 32-jährige Aktivist aus Accra im DW-Interview: "Sie bietet Stipendien an, Praktika für junge Fachkräfte aus den Mitgliedsländern, kostenlose Online-Kurse." Auch er habe von einigen Kursen profitiert. "Aber auf politischer Ebene ist es eine nutzlose Organisation."

Kenianische Demonstranten protestieren über den Besuch von König Charles III und halten ein weißes Plakat hoch mit der Aufschrift: König Charles ist nicht willkommen
Im Commonwealth-Mitgliedsland Kenia wurde König Charles III. im vergangenen Oktober nicht von allen Menschen herzlich empfangennull Luis Tato/AFP

Keine Relevanz - zu wenig Einfluss

Auch Eyram Yorgbe glaubt weder an Relevanz noch Wirksamkeit des Commonwealth, insbesondere für die afrikanischen Mitgliedsstaaten. Die Organisation behaupte, dass sie die wirtschaftlichen Partnerschaften zwischen ihren Mitgliedern erleichtere, sagt die 34-jährige Verwaltungsangestellte einer ghanaischen Firma. "Aber diese Partnerschaften gelten hauptsächlich für stärker entwickelte Volkswirtschaften im Commonwealth." Die afrikanischen Länder seien nur deshalb im Commonwealth, weil sie historisch mit der Monarchie verbunden seien, sagt Yorgbe zur DW. "Aber es ist höchste Zeit, dass wir unsere Strategien überdenken."

Von den 56 Mitgliedstaaten liegen 21 in Afrika. In keinem dieser Länder ist der britische Monarch Staatsoberhaupt. Die Mitgliedschaft wurde über die Jahrzehnte auch auf nicht-britische ehemalige Kolonien, darunter Mosambik (1995) und Ruanda (2009) ausgedehnt. Gabun und Togo sind 2022 als jüngste Mitglieder dazugekommen. Die Organisation setzt nach wie vor auf gemeinsame Werte.

Nutzen: Ein diplomatisches Netzwerk

Aber laut Philip Murphy, Direktor für Geschichte und Politik am Institut für historische Forschung an der University of London, gibt es zu viele verschiedene Länder und Herangehensweisen. Damit lasse sich kein klarer Konsens zu den wichtigsten politischen Themen finden, sei es der Krieg in der Ukraine oder der Klimawandel.

König Charles III - hier 2018 als Prinz - im blauen Anzug vor einer Holzbank mit Commonwealth-Plakate vor dem stellvertretenden Hochkommissariat in Lagos
König Charles III. 2018 in Nigeria, damals war er noch Prinz und zu Gast im britischen stellvertretenden Hochkommissariat in Lagos null Sunday Alamba/AP Photo/picture alliance

Das moderne Commonwealth hat eine Gesamtbevölkerung von 2,5 Milliarden Menschen, von denen mehr als 60 Prozent unter 30 Jahre alt sind. Die Mehrheit der Bürger lebt im globalen Süden und stammt zumeist aus ehemaligen britischen Kolonien.

"Es ist ein Relikt aus der Vergangenheit, aber es ist ein nützliches diplomatisches Netzwerk, insbesondere das Netzwerk der Hohen Kommissare in London", betont Murphy. Gerade für die mehrheitlich kleinen Mitgliedsländer und Inselstaaten sei auch der Zugang zur britischen Regierung und Außen- und Bildungsminister des Commonwealth von Vorteil. Dazu zählten reiche Geberstaaten wie Kanada und Australien.

Sekretariat zu schwach

"Das Netzwerk ist also wichtig genug, um zu verhindern, dass Mitglieder die Organisation verlassen oder sie auflösen, aber der Commonwealth ist sehr schwach und das hat mit seiner Geschichte zu tun", bilanziert Murphy im DW-Interview.

Das 1965 gegründete Commonwealth Secretariat sei nicht befugt, Politik zu machen. Es hatte laut Murphy nie einen ausreichend starken Durchsetzungsmechanismus, um die souveränen Mitgliedsstaaten zu verpflichten, sich den westlichen Werten wie Demokratie, Menschenrechte oder Rechtsstaatlichkeit anzuschließen. Oft seien sie nur dem Namen nach Demokratien. Die aktuelle Kritik am Commonwealth ziele häufig darauf, dass Menschenrechtsverbrechen in einzelnen Mitgliedstaaten und repressive homophobe Gesetze nicht nachdrücklich genug angeprangert werden.

Frauen in afrikanischen Kleidern applaudieren zu den Vorträgen auf dem Frauen-Forum des Commonwealth 2022 in Kigali
Das Commonwealth-Frauen-Forum fand 2022 im ostafrikanischen Kigali stattnull SIMON WOHLFAHRT/AFP

Neue Mitglieder treten ein

Erfolgreiches Engagement zeigte das Commonwealth in den Zeiten der Entkolonialisierung der weißen Siedlerkolonien in seinen Ex-Kolonien im damaligen Rhodesien (heute Simbabwe) und Südafrika, sagt Murphy. Und spielte eine wichtige Rolle bei der Sicherstellung eines friedlichen Machtwechsels in Südafrika in den 1990iger Jahren. Danach habe die Organisation an Bedeutung verloren.

Das Commonwealth sei aber keine sterbende Organisation, betont Alex Wines, Leiter des Afrika-Programms in der Londoner Denkfabrik Chatham House. Sie gewinne neue Mitglieder. Das habe nichts mit der imperialen Vergangenheit des Vereinigten Königreichs zu tun, sondern mit handfesten Interessen.

Neben Angola steht auch Simbabwe auf der Warteliste für die Mitgliedschaft. Das Land war 2003 wegen schweren Menschenrechtsverletzungen unter der Präsidentschaft des Autokraten Robert Mugabe aus dem Staatenbund ausgeschlossen worden. Eine eher seltene Sanktion innerhalb der Gemeinschaft, sagt Murphy.

Simbabwe will wieder Mitglied werden

Seit 2018 bemüht sich das international isolierte Land um einen Wiedereintritt. Aus strategischen Gründen, so der politische Analyst Gibson Nyikadzino in Harare: "Es geht um das Ansehen, Mitglied innerhalb des Komitees der Nationen zu sein, um Zugang zu billigen Märkten mit geringen Handelszöllen zu haben."

Prinz Charles in weißer Militäruniform wendet den Kopf zu Robert Mugabe im Anzug - dazwischen stehen britische und simbabwische Offizielle
Aus der Kolonialherrschaft ins Commonwealth: Prinz Charles (rechts) mit dem späteren Diktator Robert Mugabe am 16. April 1980 - einen Tag vor der Unabhängigkeit Simbabwesnull picture alliance/AP Photo

Die junge Rechtsanwältin Fortunate Nyamayaro findet das überflüssig: Simbabwe könne auf sich allein gestellt sein und auch mit anderen regionalen Blöcken zusammenarbeiten, und bilaterale Abkommen schließen, die für beide Seiten von Vorteil sind, sagt sie zur DW. "Für mich ist das Commonwealth ein koloniales Erbe, mit dem sich Simbabwe nicht zu identifizieren braucht."

Reformen notwendig

Zu den Funktionen der Organisation gehört auch die Wahlbeobachtung in Mitgliedsländern. Vor wenigen Tagen veröffentlichte die Beobachtergruppe des Commonwealth ihren Bericht über die Präsidentschaftswahlen in Nigeria 2023. Darin stellte sie erhebliche Mängel fest, die die Glaubwürdigkeit und Transparenz der Wahlen insgesamt beeinträchtigten.

Prinz Harry wird bei seiner Ankunft auf dem Flughafen in Lusaka von afrikanischen Tänzern in traditionellen Kostümen begrüßt
Der inzwischen aus den Diensten des Palasts ausgeschiedene Prinz Harry reiste 2018 im Auftrag des Commonwealth-Büros zum Staatsbesuch nach Sambianull Tsvangirayi Mukwazhi/AP Photo/picture alliance

Diese Kritik begrüßt der Anti-Korruptions-Aktivist Bishir Dauda im Bundesstaat Katsina: "Das ist wichtig für gute Regierungsführung", sagt er zur DW. Aber er fordert auch Reformen im Commonwealth, um den sich ändernden Anforderungen und Herausforderungen der Welt gerecht zu werden.

Für die Studentin Rabi Marafa überwiegen die negativen Auswirkungen des Kolonialismus: Nigeria profitiere in keiner Weise vom Commonwealth, sagt sie zur DW. "Es erinnert mich an unsere dunkelste Vergangenheit und ist das letzte Überbleibsel des Imperialismus."

Mitarbeit: Isaac Kaledzi in Ghana, ⁠Privilege Musvanhiri in Simbabwe, Muhammad Al-Amin in Nigeria