Ukraine-Krieg: Bis zu zehn Millionen weitere Flüchtlinge?

Das Szenario ist drastisch: "Wenn Putin sich durchsetzt und die Ukraine den Krieg verlieren sollte, könnte das noch einmal zehn Millionen Menschen zusätzlich zu Flüchtlingen machen." Das sagt der Migrationsexperte Gerald Knaus im Gespräch mit der DW.

Porträt von Migrationsexperte Gerald Knaus
Gerald Knaus ist Chef der Denkfabrik "Europäische Stabilitätsinitiative" (ESI)null Francesco Scarpa

Derzeit meldet Russland fast täglich weitere Einnahmen von ukrainischem Territorium. Beide Seiten beschießen sich massiv mit Raketen und Drohnen. Deutlich ist aber: Russland ist auf dem Vormarsch, ist besser ausgerüstet und benennt den Krieg seit kurzem als solchen und nicht mehr als "militärische Spezialoperation". Gleichzeitig bröckelt die internationale Unterstützung für das Land.

"Wenn jetzt große Städte wie Charkiw und andere zerstört werden, wenn die Opferzahlen steigen und die Hoffnung sinkt, dann erleben wir möglicherweise die weltweit größte Fluchtbewegung seit den 1940er Jahren", warnt Migrationsexperte Knaus. Ein Szenario, das der Innenexperte der SPD, Helge Lindh, im Gespräch mit der DW relativiert: "Ich rechne nicht mit so exorbitanten Zahlen, wie sie im Raum sind. Ein weiterer Anstieg der Zahlen, bei weiterer Dramatisierung des Kriegsgeschehens, wäre aber durchaus möglich. Aber es ist kein Grund zu sagen, es droht jetzt eine riesige Fluchtwelle."

Menschengruppe bei einer SPD-Veranstaltung. Eine Frau hält ein Plakat hoch. Darauf steht: Danke Deutschland für die Hilfe.
Kriegsflüchtlinge bedanken sich im August 2023 bei einer SPD-Kundgebung für die Hilfenull Sachelle Babbar/ZUMA/picture alliance

Als vor rund zwei Jahren die russische Armee völkerrechtswidrig die gesamte Ukraine angriff, war die Solidarität in Deutschland sehr groß. Geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer wurden spontan unterstützt - von den Menschen und der Politik. Geflüchtete aus der Ukraine müssen in Deutschland kein bürokratisches Asylverfahren durchlaufen. Sie können direkt eine Arbeit aufnehmen, haben einen Anspruch auf Sozialleistungen, medizinische Versorgung und Sprachkurse.

Nach Angaben des Mediendienstes Integration halten sich derzeit von insgesamt 4,3 Millionen Kriegsflüchtlingen rund 1,15 Millionen in Deutschland auf. Die Zahl steigt kontinuierlich an. Politiker der konservativen Parteien CDU und CSU sehen das schon jetzt mit Besorgnis: "Wir als Europäer haben eine besondere Verantwortung für Kriegsflüchtlinge aus unserer unmittelbaren Nachbarschaft. Aber natürlich stoßen auch unsere Kapazitäten irgendwann an Grenzen", sagt CDU-Innenpolitiker Thorsten Frei der DW.

Kurz nach Kriegsbeginn flohen die meisten Menschen in die mittelosteuropäischen Nachbarländer, insbesondere nach Polen. Zwischenzeitlich waren dort rund 1,6 Millionen Ukrainer registriert. Heute sind es knapp unter einer Million. Mittlerweile meldet Deutschland in absoluten Zahlen die höchste Zahl von Kriegsflüchtlingen. Rechnet man die Anzahl der Flüchtlinge auf die Gesamteinwohnerzahl, ergibt sich jedoch ein anderes Bild: Bulgarien hat demnach einen Flüchtlingsanteil von 3,4 Prozent, Tschechien 2,6 Prozent, Deutschland lediglich 1,4 Prozent. Das haben Berechnungen des Migrationsforschers Knaus ergeben. Auch Polen stemmt, gemessen an der Gesamtbevölkerung von rund 38 Millionen, einen Großteil der Versorgung von Geflüchteten, hier sind immer noch rund 2,6 Prozent der Menschen im Land Geflüchtete aus der Ukraine.

CDU-Politier Frei: Deutschland muss Hauptlast des Zustroms bewältigen

CDU-Innenexperte Thorsten Frei dagegen kritisiert, dass, in absoluten Zahlen gerechnet, "die Hauptlast des Zustroms Deutschland zu bewältigen hat". Die Bundesregierung müsse sich dringend für eine gleichmäßige Verteilung von ukrainischen Kriegsflüchtlingen einsetzen. Der DW sagt er: "Allein Baden-Württemberg hat mehr Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen als ganz Frankreich." Baden-Württemberg hat 11 Millionen Einwohner. Frankreich hingegen rund 68 Millionen.

SPD-Migrationsexperte Helge Lindh schaut in die Kamera. Ein junger Mann mit Bart und Brille, fotografiert im Regierungsviertel von Berlin.
SPD-Migrationsexperte Helge Lindh warnt vor einem "Drohszenario" von mehr Kriegsflüchtlingennull Fionn Große

Helge Lindh von der Regierungspartei SPD hat Verständnis: "Wenn Geflüchtete vor der Wahl stehen: In welches Land gehe ich - Frankreich, Belgien, Italien? Wenn dann die sozialen Bedingungen in Deutschland mit der Möglichkeit der direkten Arbeitsaufnahme und besseren Sozialleistungen klar sind. Dann ist es nachvollziehbar, dass sie eher nach Deutschland kommen."

Die Angst der Anwohner von Kupiansk vor russischen Angriffen

Migrationsexperte Knaus: EU ist auf Worst-Case-Szenario nicht vorbereitet

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine fordert immer mehr Opfer. Er verursacht Flucht und Vertreibung. Russlands Präsident Wladimir Putin könnte sogar siegen. Oder einen Teil des Landes dauerhaft annektieren und Terror verbreiten. "Auf ein Worst-Case-Szenario, was dann folgen könnte, ist die EU nicht vorbereitet", kritisiert Knaus. Politiker von Regierung und Opposition sind ratlos, weil auch immer mehr Menschen aus anderen Ländern in Deutschland Schutz beantragen. CDU-Politiker Thorsten Frei rechnet mit möglicherweise weiteren 300.000 Asylanträgen in diesem Jahr. "Das betrifft direkt auch ukrainische Kriegsflüchtlinge, für die dann Unterbringungs- und insbesondere Integrationskapazitäten fehlen."

Betten in der Flüchtlingsunterkunft in der Turnhalle des Gymnasiums Kirchseeon
Viele Kommunen wissen nicht mehr, wie sie weitere Geflüchtete unterbringen sollen - Turnhalle des Gymnasiums Kirchseeon im März 2022null Wolfgang Maria Weber/IMAGO

SPD-Politiker Helge Lindh sorgt sich: "Die Kommunen sagen schon jetzt, wir sind am Rande der Belastungsfähigkeit. Das heißt, wenn die Zahlen von Menschen aus der Ukraine noch einmal deutlich hochgehen, dann werden wir in Deutschland sofort wieder eine Migrationsdebatte haben."

Einig sind sich Lindh, Frei und Knaus aber in einem Punkt: Der beste Weg wäre es, die Ukraine massiv militärisch zu unterstützen, damit nicht weiter Menschen vor dem Krieg fliehen müssen.

 

Mittelmeer: Gefährliche Flucht und schwierige Seenotrettung

An einem strahlenden Sonnentag im März sticht das Seenotrettungsschiff "Life Support" im Mittelmeer in See - zu einer 30-stündigen Reise vom sizilianischen Hafen Catania in Maltas Such- und Rettungszone. Das Boot gehört der italienischen Hilfsorganisation Emergency.

Während der Fahrt üben die Crewmitglieder Abläufe eines Rettungseinsatzes - zum Beispiel, was zu tun ist, wenn ein Boot mit Migranten kentert und die Menschen ertrinken oder wie sie Personen retten, die ihre Beine nicht bewegen können. Danach diskutieren sie, wie sie sich verhalten, wenn die libysche Küstenwache sich ihnen nähert. Die Empfehlungen variieren - je nachdem, ob Mitglieder der Küstenwache Schusswaffen ziehen oder ob ihr Boot lediglich in der Nähe "herumlungert", um die Crew des Rettungsschiffs einzuschüchtern.

Libyens Küstenwache: Grenzschutz, Gewalt - und Geld aus der EU

Nur wenige Stunden später wird dieses Szenario Wirklichkeit, an einer anderen Stelle des Mittelmeers: Männer der libyschen Küstenwache versuchen mit Gewalt, das Seenotrettungsschiff "Geo Barents" der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) zu entern. Es war kurz vor der "Life Support" von Italien aus ausgelaufen. Zwei Stunden lang hätte die Küstenwache "Überlebenden und MSF-Beschäftigten aggressiv damit gedroht, sie zu verhaften und mit Gewalt nach Libyen zu bringen", so Ärzte ohne Grenzen

Die libysche Küstenwache hat sich der "Life Support" in dem einen Jahr, seit sie im Einsatz ist, etwa fünf Mal genähert, erzählt Nicola Selva Bonino der DW. Er fährt als Seenotretter auf dem Schiff. Die libysche Behörde wird in Teilen von der Europäischen Union finanziert und ausgerüstet. Seit 2017 hat die EU mehr als 57 Millionen Euro bereitgestellt, um Libyen zu helfen, seine Grenzen zu kontrollieren.

Hohe Anzahl von Opfern auf den Migrationsrouten nach Europa

In den acht Jahren seit der sogenannten "Flüchtlingskrise" von 2015 haben die EU-Staaten fast alle Einsätze in den Such- und Rettungszonen zwischen der Südküste Europas und der Küste Nordafrika gestoppt. Schiffe wie die "Life Support" übernehmen nun diese Aufgabe.

Kritiker der Seenotrettung monieren, die Hilfsorganisationen böten einen Anreiz für irreguläre Migrantinnen und Migranten, in die EU zu kommen. Flüchtende, die versuchten, das Mittelmeer zu überqueren, verließen sich darauf, von europäischen NGOs gerettet zu werden. Das gelte besonders, wenn sie in klar seeuntüchtige Boote stiegen, die die Überfahrt nicht überstehen könnten. Bisher hat keine wissenschaftliche Studie nachgewiesen, dass diese Behauptung stimmt - sie bleibt in den EU-Mitgliedsstaaten jedoch ein zentraler Einwand gegen Seenotrettungsmissionen.

In den frühen Morgenstunden des 16. März erreicht die "Life Support" Maltas Such- und Rettungszone und erfährt kurz darauf, dass etwa 35 Seemeilen entfernt ein Flüchtlingsboot in Seenot ist. Die Crew findet die Geflüchteten sieben Stunden später: 71 Menschen in einem überladenen Glasfaserboot mit einem kaputten Motor. Die meisten sind junge Männer aus Bangladesch, einige kommen aus Eritrea, dazu ein Ägypter und eine junge Frau.

Geflüchtete sitzen in warmen Jacken auf dem Deck eines Seenotrettungsschiffes
Gesundheitscheck: Teammitglieder der "Life Support" kümmern sich um schiffbrüchigen Geflüchteten, die sie an Bord genommen habennull Clare Roth/DW

Viele von ihnen haben vor der Reise mehrere Monate in libyschen Gefängnissen verbracht, berichten sie der DW. Die Gefängniswärter hätten sie ausgepeitscht - sie zeigen Blutergüsse und Prellungen auf dem Rücken. "Das Gefängnis war so hart", erzählt Mehretab aus Eritrea. "Man bekommt nur einmal am Tag etwas zu essen. Und denen ist es egal, ob du lebst oder tot bist." Einige der Bengalis berichten, sie seien als Arbeiter nach Libyen gekommen - aber sie hätten keinen Lohn erhalten und ihre Pässe seien gestohlen worden.

Nachdem sie von der libyschen Stadt Tadschura östlich von Tripolis aufgebrochen waren, befanden sie sich 20 Stunden ohne Nahrung und Trinkwasser auf See. Sie seien sicher gewesen, dass sie alle sterben müssten, berichten sie.

Italien: Rettungsleitstelle sagt Rettungseinsatz ab

Kurz nachdem die Crew der "Life Support" die Migranten aufgenommen hat, meldet sich das Maritime Rescue Coordination Center (MRCC) aus Rom. Diese Rettungsleitstellen, die es weltweit gibt, regeln die Rettung Schiffbrüchiger in den Gewässern der jeweiligen Länder. Das MRCC in Rom weist die "Life Support" nun an, ein zweites Boot in Seenot zu finden.

Vielleicht ist das das Boot, das eine Viertelstunde vor ihrem aus Tadschura losgefahren ist, glauben die Überlebenden an Bord der "Life Support". Darin säßen ihre Freunde mit Frauen und Kindern, die meisten aus afrikanischen Ländern. Mehretab sagt, dabei seien auch Eritreer, mit denen er in den vergangenen zwei Monate in Libyen zusammengelebt habe.

Das Boot soll sich nur fünf Seemeilen beziehungsweise 30 Minuten entfernt befinden. Doch nach stundenlangem Suchen bricht das MRCC die Mission gegen vier Uhr morgens ab. Die "Life Support" wird angewiesen, den Hafen Ravenna an Norditaliens Adriaküste anzulaufen - eine Fahrt von vier Tagen.

Männer stehen und sitzen auf dem Boden im Innern eines Schiffes
Warm und trocken: Die Überlebenden bekommen Decken, frische Kleidung und heißes Essennull Clare Roth/DW

Die Crew der "Life Support" fragt, ob sie bis Tagesanbruch weitersuchen darf, um sicherzustellen, dass sie nichts übersehen. Die Nacht ist klar, aber ohne Mondschein sehr dunkel. "Man kann dann wirklich sehr leicht an einem Boot vorbeifahren, ohne es zu bemerken", sagt Anabel Montes Mier, Such-und-Rettungsdienst-Leiterin bei Emergency. Das MRCC schlägt die Bitte ohne Erklärung ab. Eine Nachfrage der DW zu den Gründen der Entscheidung bleibt unbeantwortet.

Seenotrettungsschiffe im Hafen festgesetzt

Die "Life Support" muss sich an die Anweisung des MRCC halten. Täte sie es nicht, würde sie wahrscheinlich bei ihrer Ankunft in einem italienischen Hafen festgesetzt. Während der Mission der "Life Support" wurden mehrere andere zivile Seenotrettungsschiffe in Verwaltungshaft genommen: die "Sea-Watch 5", die "Sea-Eye 4" und die "Humanity 1". Ebenfalls festgesetzt wurde am 20. März die "Geo Barents". Nach Angaben von Ärzte ohne Grenzen darf sie 20 Tage lang nicht auslaufen, weil sie angeblich den Anweisungen der libyschen Küstenwache nicht Folge geleistet habe.

Vier Tage nach ihrer Rettung wissen die Geflüchteten immer noch nicht, was mit dem zweiten Boot passiert ist - das Team der "Life Support" bekommt keine Informationen. Es ist möglich, aber unwahrscheinlich, dass die Passagiere es bis nach Lampedusa geschafft haben. Die Insel ist das EU-Territorium, das Libyen am nächsten liegt und darum das Ziel der meisten Migranten, die das Mittelmeer zu überqueren versuchen. Möglich ist auch, dass die libysche Küstenwache es abgefangen hat - oder dass es gesunken ist.

Dekret aus Rom: "Mehr Menschen werden ertrinken"

Rettungseinsätze im Mittelmeer waren nicht immer so schwierig. Es gab Zeiten, als die Schiffe von Sizilien ab- und dort auch wieder anlegten. Das ist etwa eine Tagesreise von der Such- und Rettungszone. Und sie kehrten erst zurück, wenn sie so viele Passagiere von Booten in Seenot aufgenommen hatten wie möglich.

Doch Anfang 2023 hat Italiens Regierung ein Dekret erlassen, nach denen die Schiffe nach einer einzigen Rettungsaktion umgehend in den ihnen zugewiesenen Hafen einlaufen müssen - und der ist oft Tage entfernt. So hätte dieser Einsatz der "Life Support" am Freitagnachmittag begonnen und am Montagmorgen beendet werden können, wenn das Schiff einem sizilianischen Hafen zugewiesen worden wäre. Stattdessen brauchte es fast eine ganze Woche.

Menschen gehen die Gangway eines Schiffes hinunter zu Wagen einer medizinischen Ambulanz
Ankunft: Nachdem die Migranten in Ravenna von Bord gehen, bringt das italienische Rote Kreuz sie in Auffanglagernull Clare Roth/DW

Drei Tage nach Inkrafttreten des Dekrets veröffentlichten 18 Seenotrettungsorganisationen, die im Mittelmeer operieren, ein gemeinsames Statement. Darin warnen sie davor, "dass mehr Menschen im Mittelmeer ertrinken". Das Dekret werde "die Rettungskapazitäten auf See reduzieren und damit das zentrale Mittelmeer, eine der tödlichsten Fluchtrouten der Welt, noch gefährlicher machen", schreiben sie. "Das Dekret zielt vordergründig auf Seenotrettungsorganisationen ab, doch den wahren Preis werden die Menschen zahlen, die über das zentrale Mittelmeer fliehen müssen und in Seenot geraten."

Bittersüßes Ende für die Geflüchteten

Das vergangene Jahr war das bisher tödlichste für Migranten auf dem Seeweg nach Europa seit 2017. In den nicht mal 24 Stunden, in denen die "Life Support" in der Such- und Rettungszone war, hat sie sechs Notrufe von Booten in Seenot bekommen, berichtet Anabel Montes Mier der DW. Aufgrund der neuen Beschränkungen konnte sie jedoch nur ein Boot und seine Passagiere retten.

Nachdem die "Life Support" die Zone verlassen hatte, hat an zwei klaren und sonnigen Tagen tatsächlich kein einziges Schiff im Gebiet zwischen Libyen und Italien patrouilliert.

Auf ihrer Reise nach Ravenna hat die "Life Support" 71 Migrantinnen und Migranten in Sicherheit gebracht - weniger als die Hälfte ihrer Kapazität. Diese Menschen haben überlebt. Aber keiner von ihnen hat etwas von den Freunden auf dem zweiten Boot gehört.

Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.

Unentdeckt nach Thailand: Flucht vor dem Wehrdienst in Myanmar

In der Ortschaft Wale sind Thailand und Myanmar mit einer kleinen Holzbrücke verbunden. Der schmale Fluss darunter ist die Landesgrenze. Die Dörfer auf beiden Seiten teilen sich den gleichen Namen, das Leben dort ist eng verwoben. Über den Steg tragen Einheimische Reis und Gemüse hin und her. Im Wasser darunter tollen Kinder herum. Der thailändische Grenzbeamte in seinem Beobachtungsposten schenkt seinem Handy weit mehr Beachtung als dem Pendlerstrom.

Der Großteil der Grenzgänger stammt aus den umliegenden Dörfern. Doch in den letzten Wochen passieren außerordentlich viele junge Menschen aus anderen Regionen Myanmars die Grenze in dem beschaulichen Dorf. "Ich erkenne sie sofort an ihren dicken Rucksäcken", sagt Tungsa, die auf der myanmarischen Seite vor ihrem Gemischtwarenladen Domino spielt.

„Wenn sie es bis hierhin schaffen, sind sie in Sicherheit"

Es sind junge Menschen, die vor der Zwangsrekrutierung des Militärs in Myanmar fliehen. Tausende versuchen noch vor April auszureisen, bevor die obligatorische Wehrpflicht für Männer zwischen 18 und 35 Jahren und Frauen zwischen 18 und 27 Jahren in Kraft tritt. Wer sich nicht versteckt, muss damit rechnen, als Soldatin oder Soldat an Menschenrechtsverbrechen beteiligt zu werden. Und wer die Militärpflicht verweigert, dem drohen mehrjährige Haftstrafen.

"Wenn sie es bis hierhin schaffen, sind sie in Sicherheit”, sagt Tungsa. Denn die myanmarische Seite von Wale steht unter der Kontrolle der Karen National Union (KNU). Sie ist eine der ethnischen Milizen, die in Myanmar an vielen Fronten gegen die myanmarische Armee kämpfen. In den vergangenen Monaten hat die Militärjunta herbe Verluste erlitten.

Die verbündeten Widerstandsgruppen drängen die Generäle immer weiter ins Landesinnere zurück und weiten gleichzeitig ihre Territorien in den Randgebieten Myanmars aus. Das United States Institute of Peace (USIP) schätzt in einer Analyse, dass die myanmarische Armee nur noch über maximal 130.000 Soldaten verfügt, wovon nur etwa die Hälfte kampfbereit sei. Die angekündigte Zwangsrekrutierung sei ein verzweifelter Versuch, ihre geschrumpfte Truppenstärke gewaltsam aufzustocken, glauben Beobachter.

Myanmar Thailand | Grenzdorf Wale
Das Grenzdorf Wale: hier der Teil, der in Myanmar liegtnull Julian Küng/DW

Nun drängen in den thailändischen Grenzbezirk Phop Phra, zu dem auch das Dorf Wale gehört, immer mehr junge Menschen, die der Wehrpflicht entkommen wollen. Hunderte wurden in den letzten Wochen von patrouillierenden Grenzpolizisten verhaftet.

Das Schicksal der gefassten Flüchtlinge ist oft ungewiss. Je nach Grenzpolizist oder Behörde werden sie inhaftiert, zurück über die Grenze geschickt oder auch mal nach Erhalt von Bestechungsgeldern freigelassen, berichten Menschenrechtler.

Durchlässige grüne Grenze

Doch die meisten schaffen es unentdeckt ins Königreich, indem sie entweder über die durchlässige, kaum kontrollierte Dschungel-Grenze schleichen oder sich unter den Pendlerverkehr mischen. An der Flussgrenze "Ban Mun Ru Chai", westlich von Wale, ist der thailändische Grenzposten sogar unbewacht. Ein paar Ziegen haben stattdessen im Wachhäuschen Quartier bezogen und beobachten die vielen Grenzgänger, die den Fluss ungehindert zum thailändischen Ufer überqueren.

Myanmar Thailand | Flussgrenze Ban Mun Ru Chai
Flussgrenze Ban Mun Ru Chai - Wachposten auf der thailändischen Seite, besetzt allein von Ziegennull Julian Küng/DW

Die thailändische Regierung scheint auf die Situation in Myanmar völlig unvorbereitet zu sein, meint Professor Panitan Wattanayagorn, der an der Chulalongkorn-Universität in Bangkok lehrt. Der Sicherheitsexperte geht davon aus, dass sich die Kämpfe zwischen der Militärjunta und den Widerstandsgruppen in den kommenden Monaten intensivieren und die angekündigte Zwangsrekrutierung fortwährend Menschen ins Land treiben wird. Bangkok müsse schleunigst Maßnahmen ergreifen, um mit dem drohenden Flüchtlingsstrom aus Myanmar umzugehen, fordert Wattanayagorn im Fernsehsender ThaiPBS.

Das thailändische Außenministerium kündigte an, an der Westgrenze eine humanitäre Sicherheitszone einzurichten, um Geflüchtete mit Nahrungsmitteln und medizinischer Hilfe zu versorgen. Informationen darüber, wo die Schutzzone genau liegen wird und wann diese eingerichtet werden soll, blieben die Behörden jedoch schuldig.

Unterdessen wird an der über 2000 Kilometer langen Grenze zwischen Myanmar und Thailand nur stichprobenartig kontrolliert. "Ich überprüfe Leute nach dem Zufallsprinzip", sagt der Grenzwächter in Wale. In den vergangenen Wochen habe er sechs Geflüchtete, die der Wehrpflicht entkommen wollten, verhaftet.  Aber "manchmal lasse ich sie auch einfach durch", gibt er zu und widmet sich wieder seinem Reisteller, während drei Personen aus Myanmar unbehelligt über die Brücke huschen.

Billige Arbeitskräfte aus Myanmar werden gebraucht

Angst vor einer Flüchtlingswelle scheint man in Wale nicht zu haben. "Lass die ruhig alle rein", meint Motorradtaxifahrer Pattanew auf dem Warteplatz neben der Grenzbrücke. Auf dem Rücksitz seines Rollers transportiert er Tagelöhner, die für wenig Geld thailändische Felder bestellen und Haushalte sauber halten. "Ohne die Gastarbeiter aus Myanmar wären wir in großen Schwierigkeiten. Sie sind sehr fleißig, ertragen die Sonne und den Regen, ohne zu murren." Seine Fahrgäste arbeiten meist in der umliegenden Grenzregion. Die neuen Flüchtlinge hingegen reisen meist weiter, in große Städte wie Bangkok, Chiang Mai, oder in die Migrantenviertel von Samut Sakhon, wo sie bei Landsleuten Unterschlupf finden.

Thailand / Myanmar / Flüchtling Mao Uh
Der illegal in Thailand lebende Flüchtling "Mao Uh" in seiner Unterkunft. Er zeigt den Dreifingergruß, ein Symbol des Widerstands gegen die Militärjunta in Myanmar.null Julian Küng

Zwischen zwei und drei Millionen Menschen aus Myanmar leben schätzungsweise in Thailand. Wie viele genau, weiß niemand, weil sich viele illegal im Land aufhalten. Einer von ihnen, Anfang 20, möchte nur unter den Pseudonym "Mao Uh" erwähnt werden. Er befürchtet, andernfalls vom Radar der Behörden erfasst zu werden.

Hoffnung auf Arbeitserlaubnis

Knapp ein Monat sei vergangen, seit er seine Familie in Ayeyarwady in Myanmar zurückließ und Richtung Thailand aufbrach. Die Flucht sei ein Spießrutenlauf gewesen. An jedem Checkpoint der Junta lauerte die Gefahr, entdeckt und festgenommen zu werden. "Ich hatte großes Glück", sagt er. Schließlich schafft er es, über die grüne Grenze nach Thailand zu gelangen.

Seither sitzt er in einem muffigen Zimmer in einem Vorort von Bangkok, das er nur selten verlässt. Er macht sich Sorgen um seine Schwester in der Heimat. Wie ihm selbst, droht auch ihr die Einberufung zum Militärdienst. "Wir haben bereits abgemacht, dass sie nachkommt, sobald ich hier eine Arbeit gefunden habe", sagt Mao. Am liebsten würde er in der Sicherheitsbranche arbeiten und als Wachmann Menschen beschützen. Aber eigentlich sei er bereit, jede Arbeit zu erledigen, "egal was, egal wo".

Mao hofft auf die sogenannte Arbeiteramnestie der thailändischen Behörden. Viermal pro Jahr können illegale Migranten eine Amnestie beantragen, um für eine bestimmte Zeit legal im Land arbeiten zu können. Arbeitsrechtler kritisieren das Verfahren jedoch als zu kompliziert und korruptionsanfällig, weshalb viele Geflüchtete aus Myanmar einfach illegal arbeiten.

Thailand / Myanmar - Burmesisches Migrantenviertel in Samut Sakhon
Migrantenviertel, mehrheitlich bewohnt von Menschen aus Myanmar, in der thailändischen Stadt Samut Sakhon null Julian Küng

Thailändische Behörden drücken Augen zu

Die unsichtbaren Gastarbeiter aus Myanmar tragen laut der Internationalen Arbeitsorganisation ILO bereits heute bis zu 6,6 Prozent zum thailändischen Bruttoinlandsprodukt bei. Der Zustrom aus dem Nachbarland wird die Wirtschaft weiter stützen, ist Sompong Srakaew vom Netzwerk zur Förderung für Arbeitnehmerrechte (LPN) überzeugt: "Das ist gut für die thailändische Wirtschaft, da Unternehmer billige Arbeitskräfte brauchen, um konkurrenzfähig zu bleiben." Srakaew, der sich für die Rechte von Migranten einsetzt, schätzt, dass bereits über zehntausend Wehrdienstflüchtlinge die Grenze überquerten und tagtäglich weitere hinzukommen. "Es scheint, als ob die thailändischen Behörden die Augen zudrücken und viele inoffiziell einreisen lassen."

Eine Zunahme von Billiglohnarbeitern berge jedoch auch Risiken für die Modernisierung des Landes, mahnt Thitinan Pongsudhirak von der Bangkoker Chulalongkorn-Universität. "Der Anstieg billiger, ungelernter Arbeitskräfte könnte Thailand vor Herausforderungen stellen, da die thailändische Wirtschaft dadurch weiterhin stark von billigen Arbeitskräften abhängig und arbeitsintensiv bleiben könnte", sagt der Direktor des Instituts für Sicherheit und Internationale Studien gegenüber der DW.

Mit TikTok und YouTube aus China in die USA

Die Haut unterhalb von Guos Hosenbein ist rau, seine Füße stecken trotz der Kälte in staubigen Plastiksandalen. Er habe sie unterwegs in Kolumbien gekauft, sagt der 24-Jährige - auf einer Migrationsroute, die vor allem Menschen aus Südamerika und der Karibik nutzen, um in die USA zu gelangen. Aber auch immer mehr Chinesen sind dort unterwegs sind. So wie Guo.

Begonnen hat der junge Mann seine Reise in Shenzhen, im Südosten Chinas. Von dort flog er zunächst nach Ecuador: "Die meisten von uns gehen nach Ecuador, weil man dort mit einem chinesischen Pass ohne Visum einreisen kann." Den Rest der Strecke habe er auf dem Landweg zurückgelegt, unter anderem durch den Darien-Dschungel, ein schier undurchdringliches Regenwaldgebiet zwischen Kolumbien und Panama. So gelangte er schließlich in die kalifornische Kleinstadt Jacumba Hot Springs, 60 Kilometer östlich von San Diego.

Durch die grüne Hölle - Migration im Darién Gap

Guo sitzt auf einer Plastikplane auf dem Boden. Seine Arme hat er um die Knie geschlungen, um sich vor der morgentlichen Kälte in der Wüste zu schützen. In China hat er als Mechaniker in einer Fabrik gearbeitet, sein Englisch ist gebrochen. Trotzdem ist er euphorisch: "Es ist so aufregend, endlich hier in den USA zu sein."

Mit 50 anderen Menschen hat er heute Nacht den Grenzzaun zwischen Mexiko und den USA durchquert. Die Migranten, die hier ankommen, schlüpfen durch Löcher im massiven Grenzzaun zwischen den USA und Mexiko, wie das "San Judas Break" bei Jacumba. Nun warten sie in einer Schlange darauf, dass die US-Grenzschutzbehörde sie abholt und sie offiziell Asyl beantragen können. Einige tragen Daunenjacken, andere wickeln Decken um ihren Körper. Sie haben wenig Gepäck, nur zwei von ihnen tragen kleine Rollkoffer bei sich. Der Großteil von ihnen kommt aus China.

Eine Lücke am Ende des Grenzzauns, von dem Stacheldraht herunterhängt. Darin verfangen sich Kleidungsstücke und Müll
Das "San Judas Break": Tausende Migranten sind bereits durch diese Lücke im Grenzzaun von Mexiko in die USA gelangtnull Franziska Wüst/DW

Chinesen sind die am schnellsten wachsende Migrantengruppe

Laut Daten der US-Grenzbehörde ist der Anteil der Chinesen an den landesweiten illegalen Grenzübertritte mit rund 2,5 Prozent immer noch klein. Doch sie gehören zu den am schnellsten wachsenden Migrantengruppen - vor allem an der Südgrenze der USA. Zwischen Oktober 2023 und Januar 2024 registrierten die Grenzer dort knapp 19.000 illegale Grenzübertritte durch chinesische Staatsbürger. Im selben Zeitraum 2021, als noch Reisebeschränkungen wegen der Corona-Pandemie galten, waren es ganze 55. Ihre Zahl hat sich also im Durchschnitt jedes Jahr versiebenfacht.

"Einige Politiker warnen seit 2020 vor einem dramatischen Anstieg der Migration aus China", sagt Michelle Mittelstadt vom Migration Policy Institute in Washington, DC, und weist darauf hin, dass Chinas Reise-Beschränkungen während der Corona-Pandemie zu den striktesten und längsten weltweit gehörten. "Dadurch haben nun die Migrationsbewegungen, die sich ab Anfang 2020 künstlich aufgestaut hatten, wieder eingesetzt."

Eine Reihe Menschen mit verpixelten Gesichtern steht vor Steinhügeln
Migranten warten auf die Grenzschutzbehörde, aus Angst vor der chinesischen Regierung wollen sie nicht erkannt werdennull Franziska Wüst/DW

Treiben Visa-Regelungen Chinesen auf die Landroute?

Dass so viele von ihnen die Route über die mexikanische Grenze wählen, liege unter anderem an den Visa-Beschränkungen der USA und den langen Wartezeiten für chinesische Staatsangehörige, sagt Mittelstadt. Auch die Aufnahmekriterien könnten ein Grund dafür sein, erklärt Ian Johnson, Senior Fellow für Sinologie beim US-Thinktank Council on Foreign Relations: "Das ist nicht so einfach. Man muss zeigen, dass man wieder ausreisen wird und dass man genug Geld hat."

Die Chancen auf Asyl hingegen stehen für Chinesen nicht schlecht: Laut Justizministerium wurden im Geschäftsjahr 2023 mehr als 50 Prozent der Asylanträge von chinesischen Staatsbürgern positiv entschieden, während nur vier Prozent der Asylanträge mexikanischer Staatsangehöriger genehmigt wurden.

"Zouxian" trendet in den Sozialen Medien 

"Ich habe all diese Informationen aus dem Internet, von TikTok", erklärt Guo und holt sein Handy aus der Tasche. Social-Media-Kanäle auf Kurzvideo-Plattformen und Messenger-Diensten zeigen die besten Routen von China in die USA, geben Schritt-für-Schritt-Anleitungen, empfehlen Unterkünfte und Transportmittel oder erklären, wie viel die Bestechung von Polizisten in den verschiedenen Ländern kostet.

Zwei offene Metallrohre beinhalten Geldscheine und ein Handy
Ein User auf YouTube zeigt in einem Video wie sich "Fallstricke" auf der Fluchtroute vermeiden lassennull 徐有鬼/youtube

Für die Einreise über die US-Südgrenze hat sich der Begriff "Zouxian" etabliert, der so viel bedeutet wie "Nimm das Risiko". Seine Verbreitung in Sozialen Medien verleitet viele junge Chinesen dazu, sich auf den Weg zu machen. "In China sind die Menschen bei der Informationsbeschaffung stärker auf die sozialen Medien angewiesen", sagt China-Experte Johnson. "In westlichen Ländern würde man sagen: 'Was sagen die Mainstream-Medien dazu?' Aber in China gibt es keine Möglichkeit, die Fakten zu überprüfen." Er sieht die Gefahr, dass viele von ihnen nicht genau wissen, worauf sie sich einlassen.

Freiwillige betreiben Flüchtlingscamps an der Grenze 

"Sie sind meist besser gekleidet und wohlhabender. Bei der Grenzkontrolle werden sie aufgefordert, ihr Geld herauszuholen und zu zählen. Ich habe einige ziemlich große Geldstapel gesehen", sagt Sam Schultz über chinesische Migranten. Er ist ein Einwohner Jacumbas, der im, wie er es nennt, "Jacumba Migrant Camp" arbeitet.

Ein Mann in militärischer Kleidung steht vor dem Grenzzaun
Der Quäker Sam Schultz versorgt neu angekommene Migranten auf der US-Seite der Grenzenull Franziska Wüst/DW

Es ist kein offizielles Lager, sondern ein provisorischer Aufbau: Heute besteht es aus vier mobilen Toilettenkabinen und ein paar zerfetzten Zelten. Laut den Freiwilligen vor Ort kommt die US-Grenzbehörde regelmäßig und räumt die Überbleibsel weg, damit die Migranten nicht das Gefühl kriegen, willkommen zu sein.

Schultz trägt eine graue Feldmütze und olivgrüne Kleidung, um seine Hüften ist ein wuchtiger Gürtel gespannt. Ein paar andere Helfer hier nennen ihn "den Captain". Als im Mai letzten Jahres die Zahl der Migranten an der Grenze stieg, hat er gemeinsam mit seiner Familie damit begonnen zu helfen. Er ist Quäker, also Mitglied einer christliche Religionsgemeinschaft, deren Glaube keine Diskriminierung von Individuen und Gruppen zulässt. Schultz hat lange als Entwicklungshelfer gearbeitet. Er sagt, er habe keine andere Wahl, als den Menschen zu helfen, wenn es sonst niemand tue.

Zwischen zwei großen Steinen liegen Plastikplanen, leere Wasserflaschen und die ausgebrannte Asche eines Lagerfeuers
Verloschene Lagerfeuer und alte Plastikplanen an der Stelle, an der Migranten die Nacht verbracht habennull Franziska Wüst/DW

Jeden Morgen fährt er mit seiner Frau und seinem Sohn an die Grenze. Auf der Ladefläche ihres Jeeps bringen sie Wasserflaschen und warme Jacken für die Neuankömmlinge mit. Sams Sohn läuft die Schlange der Migranten mit Informationsblättern in den Händen ab - heute viele auf Chinesisch. Die Helfer finanzieren ihre Arbeit über Spenden, Unterstützung aus der Politik gibt es nicht.

Junge Chinesen verlieren die Hoffnung auf berufliche Zukunft

"China hat viele Probleme. Junge Leute können sich die Hauspreise in der Stadt nicht leisten", sagt Guo. Dass die USA eine Demokratie und starke Wirtschaftsnation seien, habe er schon gewusst, als er sehr jung war.

Chinas Wirtschaft befindet sich laut Experten auf einem Abwärtskurs. Die Bevölkerung hat mit hoher Jugendarbeitslosigkeit zu kämpfen und Beobachter prognostizieren eine Deflation für das kommende Jahr. Das könnte zu einer Abwärtsspirale führen, mit einem Konsumeinbruch, Unternehmenspleiten und Massenarbeitslosigkeit. Und das habe dann nicht mehr nur Folgen für die Ärmsten, erklärt Ian Johnson vom Council on Foreign Relations: "Der wirtschaftliche Abschwung betrifft breitere Bevölkerungsschichten, einschließlich der unteren Mittelschicht." Hinzu komme die verstärkte politische Verfolgung unter Staatspräsident Xi Jinping.

Eine Reihe Menschen von hinten steht vor einem Auto mit offenem Kofferraum
Chinesische Migranten haben sich in einer Reihe am Auto einer Hilfsorganisation angestellt, die Daunenjacken verteiltnull Franziska Wüst/DW

Guos Familie weiß nicht, dass er in die USA geflohen ist: "Ich habe kein gutes Verhältnis zu meiner Familie, weil ich eine völlig andere Meinung über die Regierung, über die Kommunistische Partei Chinas, über diese Welt habe. Ich mag keinen Totalitarismus."

Wie lange Guo hier noch sitzen wird, ist unklar. Die weißen Jeeps der Grenzbehörden fahren Streife. Es kann einige Stunden dauern, bis er abgeholt wird - oder eine weitere Nacht. Angst davor, zurückgeschickt zu werden, hat er nicht. Sein Plan: "Einen Job finden, um ein besseres Leben zu haben. Und in ein paar Jahren will ich Trucker werden."

Illegal von Mexiko in die USA

Bezahlkarte für Asylbewerber in Deutschland: Wie läuft es?

Anfang Dezember hat die kleine Stadt Greiz im Bundesland Thüringen als einer der ersten Orte in Deutschland die umstrittene Bezahlkarte für Asylbewerber eingeführt. Spricht man mit der Landrätin Martina Schweinsburg von der konservativen Christlich-Demokratischen Union (CDU), ist das bisher ein Erfolg. Das liegt vor allem daran, so Schweinsburg, dass das System in der ostdeutschen Kleinstadt geholfen hat, Spannungen abzubauen.

Besonders manche Situationen mit Ausländern hatten nach Ansicht von Schweinsburg zu angespannten Situationen geführt: "Wenn sie im Supermarkt Lebensmittel für 20 Euro kaufen, dann eine dicke Geldpackung aufrollen und dann einen Hundert-Euro-Schein herauszuziehen, dann macht das keinen guten Eindruck", sagte Schweinsburg der DW in ihrem Büro. "Ich wollte hier Frieden reinbringen."

Wenn das stimmt, ist das allerdings nur ein Nebeneffekt. Ursprünglich steckt ein anderer Gedanke hinter den Bezahlkarten: Sie sollen verhindern, dass staatliche Sozialleistungen an die Familie im Ausland geschickt oder damit Schleuser bezahlt werden.

Martina Schweinsburg mit Bezahlkarte für Asylsuchende
Martina Schweinsburg: Die Bezahlkarte soll "Frieden reinbringen"null Ben Knight/DW

Im laufenden Jahr wird das System in irgendeiner Form vermutlich in allen Bundesländern in Deutschland eingeführt. Der Stadtstaat Hamburg ist das erste Bundesland, das mitgeteilt hat, die Karte bereits auszugeben. Andere Bundesländer wollen die Einführung ebenfalls vorantreiben, darunter Bayern.

Verschiedene Versionen der Karte werden diskutiert. Das Modell in Greiz ist einfach: Den Asylbewerbern wird der größte Teil ihrer monatlichen Leistungen von 496 Euro auf einer speziellen Chipkarte ausgezahlt. Den Rest erhalten sie in bar - je nach Person etwa 100 Euro.

In Greiz leben 730 Asylbewerber. Derzeit bekommen etwa 200 von ihnen das Geld auf die Karte gebucht, die anderen sollen bis Anfang März folgen.

Kreditkarten in einer Bargeld-Welt

Die Karte kann in allen Geschäften verwendet werden, die Mastercard-Kreditkartenzahlungen akzeptieren. Allerdings nur in Geschäften innerhalb des Postleitzahlgebiets von Greiz. Und sie kann nicht für Bestellungen im Internet verwendet werden. Das ist gut für große Supermärkte, aber nicht für kleine Lebensmittelläden.

Greiz ist, wie Deutschland im Allgemeinen, nicht besonders kreditkartenfreundlich. In Cafés und an Fast-Food-Ständen wird fast überall nur Bargeld akzeptiert. Keines der Geschäfte mit Produkten aus Asien oder Nahost, die die DW in der Greizer Innenstadt besuchte, nahm Kartenzahlungen an. Ein arabischer Ladenbesitzer sagte, er wolle sich ein Kartenlesegerät anschaffen, nur wegen der neuen Bezahlkarte. "Das ist schlecht für mich", sagte Ibrahim (Name geändert) zur DW. "Ich verkaufe viele arabische Produkte. Ich habe gemerkt, dass manche Leute nur noch notwendige Dinge kaufen wie Brot. Die Leute sind nicht glücklich."

Greiz, Thüringen, Deutschland: Ein kleines Lebensmittelgeschäft - der "Karthago Markt"
Nun müssen alle Geschäfte ein Lesegerät kaufen: Kleiner Lebensmittelladen in Greiznull Ben Knight/DW

Landrätin Schweinsburg betont, sie habe nur einmal Kritik gehört: "Eine Frau hat sich beschwert, dass sie ihre Kredite nicht mehr abzahlen kann. Da haben meine Mitarbeiter klipp und klar gesagt, dass das Geld dazu da ist, den Lebensunterhalt in Deutschland zu finanzieren und nicht Kredite in der Heimat. Da hat sie geschluckt und es akzeptiert."

Das eigentliche Ziel der Bezahlkarte ist, Zuwanderung insgesamt einzudämmen - auch wenn das selten laut ausgesprochen wird. Es gibt Anzeichen dafür, dass die Karte in dieser Hinsicht sofort Wirkung zeigt. Laut Schweinsburg haben 15 Personen oder drei Familien "aus dem ehemaligen Jugoslawien" die Karte abgelehnt und das Land sofort verlassen. "Aber wenn sie abreisen, sind sie einfach weg und sagen nicht, warum. Deswegen kann man das auch statistisch nicht belegen, dass sie wegen der Bezahlkarte abreisen."

Vorteile wiegen Nachteile auf

Obwohl das neue System für die Asylbewerber mit Unannehmlichkeiten verbunden ist, halten einige der freiwilligen Helfer es insgesamt für eine gute Sache. Ehrenamtliche, die die DW in einer Kleiderkammer für Migranten besuchte, bezeichneten das System als "diskriminierend". Aber sie sahen auch Vorteile: Sie hätten festgestellt, dass Familien so ihr Geld besser einteilen konnten.

Stadtrat Holger Steiniger von der Linkspartei stimmte für das System, obwohl seine Partei auf nationaler Ebene offiziell gegen Bezahlkarten ist. "Die Vorteile überwiegen aus meiner Sicht", sagte er der DW. " Man muss einfach anschauen, wie die Stimmung in der Bevölkerung ist."

Was der Abgeordnete mit "Stimmung" meint, hat viel mit Wahlergebnissen zu tun. Bei der jüngsten Bundestagswahl 2021 stimmten 29 Prozent der Greizer für die einwanderungsfeindliche Partei Alternative für Deutschland (AfD) - damit wurden die Sozialdemokraten (SPD) mit 22 Prozent locker auf den zweiten Platz verwiesen.

Greiz, Thüringen, Deutschland: Frauen in einer Kleiderkammer
Kritiker sagen, die Bezahlkarte diskriminiere Geflüchtete: Ehrenamtliche in einer Kleiderkammernull Ben Knight/DW

"Mit so einer Bezahlkarte kann ich viele Unwahrheiten oder Fake News entkräften", sagt Steiniger. "Die Leute können damit einkaufen, aber sie können kein Bargeld abheben. Sie haben keine Möglichkeit, irgendwelche Schleuser zu bezahlen." Dieser letzte Punkt ist ihm wichtig geworden. Vor allem, wenn er mit Einheimischen spricht, die davon überzeugt sind, dass das Geld sofort ins Ausland geschickt wird - obwohl es dafür keine eindeutigen Beweise gibt.

Der Abgeordnete sagt auch, das System habe für die lokalen Behörden viele bürokratische und sicherheitsrelevante Probleme beseitigt. Bisher musste das gesamte Bargeld direkt zum Monatsanfang verfügbar sein.

Das Einzige, was Steiniger kritisiert, ist die Beschränkung auf das Postleitzahl-Gebiet. Somit können sich Asylbewerber weniger frei bewegen. "Wir sind froh, dass die Residenzpflicht abgeschafft worden ist, und über die Karte führen wir sie durch die Hintertür in gewisser Weise wieder ein", sagte der Linke-Politiker. "Die Einkaufsmöglichkeiten im Landkreis Greiz sind nicht unbedingt die besten. Das ist ein bisschen das Problem."

Die Angst, Kritik laut zu äußern

Doch andere sind mit der neuen Maßnahme und der offensichtlichen Begeisterung in den politischen Reihen Deutschlands nicht so glücklich. So auch Peter Lückmann, Vorsitzender der Flüchtlingshilfsorganisation Aufandhalt in der Nachbarstadt Gera. Laut Lückmann sind Asylsuchende, denen er hilft, mit der Regelung unzufrieden, aber sie trauen sich nicht, darüber zu sprechen.

Greiz, Thüringen, Deutschland: Stadtrat Holger Steiniger, Linkspartei
Blickt auf die "Stimmung in der Bevölkerung": Stadtrat Holger Steiniger von der Linksparteinull Ben Knight/DW

"Wir finden niemanden, der den Mut hat", sagte Lückmann der DW, weil die Meinungen kritisch wären. "Sie haben schlicht und ergreifend Angst", dass herauskomme, wer die Kritik geäußert hat. "Dann haben die Behörden Handlungsspielräume, um ihnen das Leben noch mehr zu erschweren."

Die Bezahlkarte sei nur zu eingeschränkt nutzbar, habe er von den Asylbewerbern gehört. Sie könne nicht überall genutzt werden, da sie praktisch eine Kreditkarte sei. Wenn Geschäfte Kartenzahlung anbieten, heißt das in Deutschland nicht automatisch, dass auch Zahlungen per Kreditkarte akzeptiert werden. "Wenn die Karte so wäre, dass man sie überall wie eine normale Bankkarte nutzen kann - im Café, beim Friseurversuch -, dann wäre das eine Geschichte, die man durchaus mal versuchen sollte", sagt Lückmann.

Das größere Problem ist, dass es einen guten Grund dafür gibt, warum Asylbewerber Geld ins Ausland schicken. Viele der Menschen, die Lückmann berät, schicken tatsächlich Geld nach Hause - "damit ihre Familien in den Herkunftsländern überleben können".

Aus dem Englischen adaptiert von Uta Steinwehr

Dieser Artikel wurde aktualisiert.

Was bringen Migrationspartnerschaften?

Beim Thema Migration scheint die Bundesregierung unermüdlich zu sein. So verkündete Entwicklungsministerin Svenja Schulze Ende Januar bei ihrem Besuch in Rabat eine sogenannt Migrationspartnerschaft mit Marokko. Bereits wenige Tage später, am 6. Februar, eröffnete sie gemeinsam mit der nigerianischen Staatsministerin Nkeiruka Onyejeocha ein Migrationsberatungszentrum in der Stadt Nyanya. Und Bundeskanzler Olaf Scholz hatte bereits im Mai vergangenen Jahres in Kenia um Fachkräfte geworben und eine Migrationspartnerschaft mit dem ostafrikanischen Land angekündigt.

Nigeria, Marokko, Kenia, Kolumbien, Indien, Kirgisien, Usbekistan, Georgien und Moldau - mit all diesen Ländern strebt die Bundesregierung solche Migrationspartnerschaften an oder hat entsprechende Abkommen bereits unterzeichnet. Auf EU-Ebene werden derartige Abkommen bereits seit über 15 Jahren praktiziert. Dort existieren laut der Migration Partnership Facility (MPF) rund 50 verschiedene solche Partnerschaften.

Doch was macht diese Partnerschaften im Vergleich zu normalen Rückkehrkooperationen oder Migrationsabkommen aus?

Fachkräfte aus Marokko - ein Gewinn für alle?

Mehr Visa, bessere Kooperation

Für den Sonderbevollmächtigten der Bundesregierung für Migrationsabkommen, Joachim Stamp, sind "Migrationspartnerschaften ein Baustein eines Gesamtkonzepts". Zu diesem gehört laut Bundesinnenministerium, wo Stamps Posten angesiedelt ist, "ein Paradigmenwechsel zur Reduzierung irregulärer und Stärkung legaler Migration".

Porträtaufnahme Dr. Steffen Angenendt, Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP)
Migrationsexperte Steffen Angenendt von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP)null SWP

Im Gegensatz zu allgemeinen Migrationsabkommen geht es bei diesen Partnerschaften stärker um vertrauensvollen Austausch und Kooperation in den Bereichen Arbeitsmarkt, Ausbildung und Fachkräftezuzug. Irreguläre Einwanderung soll nicht nur bekämpft, sondern durch reguläre ersetzt werden.

Auch Migrationsexperte Steffen Angenendt von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) hält Migrationspartnerschaften für "extrem wichtig" und "unverzichtbar". Allerdings: "Sie sind kein Allheilmittel für große Fluchtbewegungen", stellt er im DW-Gespräch klar.

Und er fügt hinzu: "Die bisherigen Abkommen sind in der Regel wirkungslos oder erzielen nicht die Wirkung, die sie eigentlich erzielen sollten. Denn alle Migrations- und Mobilitätspartnerschaften der EU, die seit 2007 geschlossen worden sind, zielten darauf ab, vor allem die irreguläre Einwanderung zu reduzieren", erklärt Angenendt. Problematisch sei, dass dabei die Interessen der Partnerländer immer zu kurz gekommen seien.

Zu diesen gehören unter anderem die Ausweitung der regulären Einwanderungsmöglichkeiten, um in EU-Ländern zu arbeiten, zu studieren oder eine Ausbildung zu absolvieren. Solange diese Interessen nicht berücksichtigt würden, so Angenendt, sei der politische Wille der Länder gering, ihre Vertragspflichten zu erfüllen.

Dazu gehören auch die schnelle Ausstellung von Ausweispapieren für Staatsangehörige, die sich ohne Bleiberecht in anderen Ländern aufhalten, um eine Rückführung in das jeweilige Herkunftsland zu ermöglichen. Oder eine strengere Kontrolle von Ausreisewilligen im Land selbst.

Kanzler Scholz (Mitte) besichtigt Geothermiewerk Olkaria in Kenia. Er wird begleitet Davies Chirchir (r), Minister für Energie in Kenia (rechts) und Geophysikerin Anna Mwangi  (links)
Bei seiner Reise nach Kenia im Mai 2023 besichtigt Bundeskanzler Scholz (Mitte) die größte Geothermie-Anlage Afrikas in Olkaria am Naivsha-See. Er wird begleitet von Kenias Energieminister Davies Chirchir (rechts) und Geophysikerin Anna Mwangi (links)null Michael Kappeler/dpa/picture alliance

Nicht geeignet für Bürgerkriegsländer

Bei genauer Betrachtung bedeutet dies, dass sich Migrationspartnerschaften nur bedingt dafür eignen, Fluchtbewegungen zu verringern - auch wenn der Begriff andere Assoziationen weckt.

Denn die meisten Menschen, die als Flüchtling nach Deutschland einreisen, stammen aus Ländern, in denen Krieg herrscht oder Menschenrechte massiv verletzt werden.

"Mit Ländern wie Syrien und Afghanistan können wir keine Migrationspartnerschaft entwickeln", stellt der Sonderbevollmächtigte Stamp klar. Die Bundesregierung versuche stattdessen, deren "Nachbarländer zu unterstützen, die Flüchtlinge aus diesen Länder aufnehmen", heißt es in einem Statement.

Nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) stammen bereits seit Jahren die meisten Asylsuchenden aus Syrien und Afghanistan. Zudem habe die Anzahl der Asylsuchenden aus der Türkei in den vergangen drei Jahren zugenommen und mache mittlerweile 19 Prozent aus. Länder wie Georgien, mit denen Deutschland eine Migrationspartnerschaft abgeschlossen hat, stehen eher auf den hinteren Rängen der Statistik.

Pressekonferenz beim Flüchtlingsgipfel im Februar 2023 in Berlin: Joachim Stamp (links), Sonderbevollmächtigter der Bundesregierung für Migrationsabkommen, sitzt neben Innenministerin Nancy Faeser. Daneben (vlnr) sitzen noch drei weitere Politiker: Andy Grote (SPD), Innensenator von Hamburg, Peter Beuth (CDU), Innenminster von Hessen, und Reinhard Sager, Präsident des Deutschen Landkreistages.
Joachim Stamp (links), Sonderbevollmächtigter der Bundesregierung für Migrationsabkommen, und Innenministerin Nancy Faeser beim Flüchtlingsgipfel in Berlin im Februar 2023null Kay Nietfeld/dpa/picture alliance

"Ich bin sehr froh, dass es uns gelungen ist, mit Georgien und in den nächsten Wochen auch mit Moldau zu einer entsprechenden Vereinbarung zu kommen", so Stamp in einem TV-Interview. Außerdem befinde sich die erst Ende Januar verkündete Migrationspartnerschaft mit Marokko "bereits in der Umsetzung". "Nach vielen Jahren, in denen es nicht so gut gelaufen ist, haben wir jetzt ein vertrauensvolles Verhältnis."

Legale statt unkontrollierte Einwanderung

Das von Italien mit Albanien angestrebte Abkommen zur Reduzierung von Migration nach Italien wird zwar auch bisweilen als "Migrationspartnerschaft" bezeichnet, scheint aber nicht so recht in dieses Schema zu passen. Danach sollen noch in diesem Frühjahr im EU-Beitrittskandidat Albanien zwei Zentren zur Aufnahme von Migranten errichtet werden. Angeblich sollen Asylsuchende bereits dort ihre Asylanträge stellen.

Die deutsche Entwicklungsministerin Svenja Schulze schlägt deshalb bewusst andere Töne an als Italiens Ministerpräsidentin Meloni, auch wenn sie die Anzahl der Abschiebungen für Migranten ohne Bleiberecht in Deutschland erhöhen will. 

Bei der Einweihung eines Migrationsberatungszentrums im nigerianischen Bundesstaat Nassarawa Anfang Februar erklärte sie: "Migration ist eine Tatsache. Wir müssen mit ihr so umgehen, dass alle davon profitieren: Migranten, Herkunftsländer und die Gemeinden, die Migranten aufnehmen." 

Wird Migration zur größten Herausforderung für die EU?

Die Asyl- und Migrationspolitik hatte Brüssel im Jahr 2023 fest im Griff. Insbesondere überlastete Kommunen in Deutschland und Streitigkeiten innerhalb der regierenden Ampel-Koalition beherrschten die Schlagzeilen und die politische Debatte. Auch andere europäische Staaten klagten über eine Überlastung ihrer Asylsysteme.

Mehr Menschen suchen Schutz in Europa

Die Zahl der Menschen, die in die EU gekommen sind, um Asyl zu beantragen, ist in den vergangenen zwei Jahren gestiegen. Waren es 2022 noch knapp eine Million Menschen, dürfte diese Marke der EU-Asylagentur EUAA zufolge 2023 geknackt werdenDies wäre dann die höchste Zahl seit 2015, dem Jahr, in dem besonders viele Menschen nach Europa kamen und die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel die Losung ausgab: "Wir schaffen das!" 

Belgien: Flüchtlinge auf der Straße

Von diesen Schutzsuchenden sind in den ersten elf Monaten des Jahres 2023 mehr als 350.000 irregulär, also ohne Erlaubnis, in die EU gekommen, so die offizielle Zahl der EU-Grenzschutzagentur Frontex. 

Allerdings: Die irreguläre Migration mache nur einen Bruchteil der gesamten Migration in die EU aus, schreibt die EU-Kommission auf ihrer Website. Zum Vergleich: Im Jahr 2022 sind fast 3,5 Millionen Menschen insgesamt auf regulärem Weg in die EU migriert, das heißt Geflüchtete mit Asylstatus ebenso wie Menschen, die etwa für ihre Ausbildung oder einen Arbeitsplatz gekommen sind. 

Weiterhin werden viele Menschen nach Europa aufbrechen

Auch für das Jahr 2024 erwarten Experten, dass sich viele Menschen auf den gefährlichen - und oft tödlichen Weg - in sichere Länder machen. Laut Catherine Woollard, Direktorin des Europäischen Flüchtlingsrates (ECRE), werden weltweit Rekordzahlen registriert. Doch nur ein geringer Anteil der Menschen werde in der EU Schutz suchen. Für 2024 geht sie von etwa einer Million Menschen aus. Die meisten von ihnen sind tatsächlich schutzbedürftig, wie die Migrationsexpertin im Gespräch mit der DW betont.

David Kipp, der sich bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin mit der deutschen und europäischen Migrationspolitik beschäftigt, erkennt "derzeit keine Anzeichen für eine Trendwende". Die Krisen nähmen weltweit eher zu als ab, ergänzt Kipp.

Italien Hotspot Lampedusa
In Lampedusa warten Migranten auf ihre Registrierung (Archiv) - die meisten Geflüchteten gibt es allerdings jenseits von Europanull Zakaria Abdelkafi/AFP

Doch diese Zahl an Migranten sei händelbar, meint Woollard. Das habe etwa der Umgang mit den Menschen gezeigt, die 2022 aus der Ukraine in die Europäische Union geflüchtet seien. Nach offiziellen Angaben genossen im September 2023 rund 4,2 Millionen Ukrainer vorübergehenden Schutz in der EU. Anstatt in Panik über Zahlen zu verfallen, rät Migrationsexpertin Woollard, sollten die europäischen Asylsysteme funktionsfähig gemacht werden.

EU-Asylrechtsreform muss erst umgesetzt werden

In der Woche vor Weihnachten einigten sich das EU-Parlament und die Mitgliedstaaten auf eine weitreichende Reform der Migrations- und Asylpolitik in der EU. Bevor diese politische Einigung in Kraft treten kann, muss sie noch formal von den Mitgliedstaaten und dem EU-Parlament beschlossen werden. Dies ist nach der Klärung technischer Details für die erste Hälfte dieses Jahres geplant.

Politologe Kipp erwartet die Umsetzung der neuen Gesetze in zwei bis drei Jahren. Im Vordergrund stünde erst einmal die symbolische Einigung, die für die Akteure ein "politischer Befreiungsschlag" sei.

Die Reform sieht verschärfte Verfahren vor, wie etwa ein Grenzverfahren für Asylbewerber mit geringen Erfolgschancen. Dabei sollen diese unter haftähnlichen Bedingungen untergebracht werden - ohne Ausnahmen für Familien mit Kindern. Auch soll es zur Entlastung der Grenzländer einen verpflichtenden Solidaritätsmechanismus unter den Mitgliedstaaten geben. Weigert sich ein Mitgliedsstaat, Asylbewerber aufzunehmen, muss er einen finanziellen Ausgleich zahlen oder einen anderen Beitrag leisten.

Griechenland Proteste gegen Frontex und Pushbacks gegen Migranten
Proteste gegen die EU-Grenzschutzagentur Frontex und Migranten-"Pushbacks" im Juni 2023 in Griechenlandnull Louisa Gouliamaki/AFP/Getty Images

Etliche Menschenrechtsorganisationen haben die geplanten Regelungen scharf kritisiert. Auch Catherine Woollard befürchtet eine Aushöhlung des ohnehin bereits fragilen Rechts auf Asyl. Sie denkt, dass diese Reform die Probleme im Bereich der Migration nicht lösen wird. "Aufgrund der größeren Verantwortung der Grenzländer, die in dem Pakt vorgesehen ist, erwarten wir mehr Pushbacks und Zurückweisungen an den Grenzen", so die Migrationsexpertin.

Mit Blick auf die Umsetzbarkeit meint Kipp, müsse man auch erst einmal abwarten, wie praxistauglich die neuen Vorschläge sind. Geklärt werden müsse zum Beispiel, ob Lager für die Grenzverfahren gebaut werden müssten und wie diese menschenwürdig gestaltet werden könnten.

Weitere Migrationsabkommen mit Drittstaaten

Im Sommer 2023 hatte die Europäische Union sich mit Tunesien auf ein Migrationsabkommen verständigt. Im Austausch für insgesamt über eine Milliarde Euro Finanzhilfen soll das Land Migranten an der Überfahrt über das Mittelmeer hindern. Bislang hat die Vereinbarung noch keine nennenswerten Resultate gebracht. Und auch sonst scheint es in den Beziehungen eher zu knirschen: Im Oktober lehnte der tunesische Präsident Kais Saied eine millionenschwere Zahlung der EU als "Almosen" ab.

Menschenschmuggel hat Hochkonjunktur in Tunesien

2024 werde die Migrationsdiplomatie weiter an Bedeutung gewinnen, prognostiziert Politologe David Kipp. Der Tunesien-Deal ist nicht das erste Abkommen der EU mit Drittstaaten, um Migranten von Europa fernzuhalten. In der Vergangenheit wurden vergleichbare Vereinbarungen mit der Türkei und Libyen getroffen. Derzeit arbeitet die EU auch an einem solchem Abkommen mit Ägypten. Diese Deals sind aus menschenrechtlicher Sicht hoch umstritten. Und sie seien wenig erfolgreich, argumentiert Catherine Woollard: "Es gibt kein wirkliches Interesse oder Verlangen, Europa seine Aufgabe abzunehmen."

Und es geht noch weiter: Auch die nun geplanten Grenzverfahren erfordern weitere Kooperationen mit Ländern, die die abgelehnten Asylbewerber aufnehmen, wie Politologe David Kipp erläutert. Es liege aber nicht im Interesse der Transitländer, Menschen aus Drittstaaten zurückzunehmen. 

Wird Migration noch Thema im EU-Wahlkampf sein?

Mal mehr, mal weniger. Inoffiziell ist in Brüssel zu hören, dass man eine Einigung in der Asylpolitik auch deswegen gebraucht habe, um den Rechtspopulisten den Wind aus den Segeln zu nehmen. Im Sommer 2024 stehen nämlich Wahlen für das Europaparlament an. Und das Thema Migration hat bei den jüngsten Wahlen in Europa häufig eine große Rolle gespielt, wie gerade erst bei den Wahlen in den Niederlanden.

Fachleute wie der Politologe David Kipp sind aber skeptisch, dass die neuen Asylregeln dazu beitragen können, dem Thema seine Brisanz zu nehmen. Denn die Realität sei, dass die Wanderungsbewegungen anhalten werden.

Vor der Europawahl: EU-Staaten verschärfen Asylgesetze

In einem halben Jahr werden die Wahlen zum Europäischen Parlament in allen 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union abgehalten. Die steigenden Zahlen von Zuwanderern und Geflüchteten sowie Asylverfahren gehören laut Meinungsumfragen zu den Hauptthemen im Wahlkampf.

In den drei größten Zielländern für Migrantinnen und Migranten, Deutschland, Frankreich und Italien, ist es deshalb nicht verwunderlich, dass 2023 nationale Gesetze verschärft wurden, um die Anzahl der Ankünfte zu verringern und Abschiebungen zu erleichtern.

Politisch bewegen sich die drei wirtschaftlich stärksten EU-Länder zwar in die gleiche Richtung. Doch die Voraussetzungen sind in jedem Land höchst unterschiedlich. So regiert in Deutschland eine Koalition aus Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen, in Frankreich eine liberale Minderheitsregierung und in Italien eine rechtspopulistische Koalition aus Rechtsextremen und Christdemokraten.

Deutschland

Beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BaMF) geht man für 2023 davon aus, dass etwa 350.000 der mehr als eine Million Asylbewerber in der EU ihren Erstantrag in Deutschland stellen. 

Zusätzlich zu den Asylbewerbern, die hauptsächlich aus Syrien, Afghanistan und der Türkei stammen, wurde rund eine Million Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine untergebracht. Die Ampelkoalition hat mit mehreren Gesetzen auf die zugespitzte Lage reagiert.

Deutschland Berlin |  Notunterkunft für Geflüchtete am ehemaligen Flughafen Tegel
Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine im Aufnahmelager Berlin-Tempelhof: Sie bekommen auf jeden Fall Schutz null Sebastian Gollnow/dpa/picture alliance

So soll das "Chancenaufenthaltsgesetz" die legale Arbeitsaufnahme von Migranten und deren Eingliederung verbessern, wenn diese seit mindestens fünf Jahren im Land leben.

Das "Rückführungsverbesserungsgesetz" hingegen soll Abschiebungen von abgelehnten Asylbewerbern in ihre Heimatländer oder sichere Drittstaaten beschleunigen. Diese dürfen laut Gesetz nun länger in Abschiebehaft genommen, ihre Wohnungen können einfacher durchsucht und Abschiebungen ohne lange Ankündigungsfristen vorgenommen werden.

Zurzeit gestaltet sich dies in der Praxis schwierig. Von etwa 50.000 zur Ausreise verpflichteten Personen wurden nach Angaben der Bundesregierung im ersten Halbjahr 2023 rund 7900 tatsächlich abgeschoben. 

Ein weiteres Gesetz modernisiert das Einbürgerungsrecht in Deutschland. Doppelte Staatbürgerschaften werden zugelassen. Die Wartezeit für eine Einbürgerung wird von acht auf fünf Jahre reduziert. Antisemitismus oder Rassismus des Bewerbers können allerdings zu einer Ablehnung führen.

Frankreich

Die französische Nationalversammlung hat kurz vor Weihnachten ein umstrittenes neues Migrationsgesetz mit den Stimmen des rechtspopulistischen Rassemblement National angenommen. Die Vorsitzende der Partei, Marine Le Pen, sprach von einem ideologischen Sieg für ihre Politik des "Frankreich zuerst".

Der liberale Präsident Emmanuel Macron war im Parlament zwar nicht direkt auf den Rassemblement National angewiesen, aber auf die Stimmen der konservativen Republikaner, die für eine Verschärfung der Vorschriften stimmten.

Nun will Macron das Gesetz vom französischen Verfassungsrat überprüfen lassen. Es sieht vor, dass illegale Einwanderer schneller abgeschoben werden können, der Zugang zu Sozialleistungen für Migranten erschwert und der Nachzug von Familienangehörigen eingeschränkt wird.

Frankreich | Migration | Protest in Paris
Migranten in Paris demonstrieren gegen das neue Asylgesetz (11.12.2023)null Mohamad Alsayed/Anadolu/picture alliance

Ausländische Studenten sollen künftig eine Kaution hinterlegen, bevor sie nach Frankreich kommen. 70 Prozent der Franzosen sind nach Umfragen für eine Verschärfung der Migrationsgesetze.

Italien

Die rechtspopulistische Koalition unter Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hat unter anderem mit dem Versprechen, die Anzahl der Migranten zu senken, die nach Italien kommen, die Wahlen 2022 gewonnen.

Nun will Meloni Ergebnisse vorweisen. So handelte sie mit der EU ein Rückführungsabkommen mit Tunesien aus, das letztlich aber nicht umgesetzt wurde.

Mit Albanien vereinbarte die Ministerpräsidentin ein Abkommen, das die Auslagerung von zwei Aufnahmezentren mit einer Kapazität von 3000 Personen von Italien nach Albanien vorsieht.

Albanien gilt als sicherer Drittstaat in Asylverfahren und verhandelt mit der EU über einen Beitritt zur Union. Allerdings überprüft das höchste Gericht in Albanien derzeit, ob der Deal mit Italien zulässig ist.

Berlin und Rom wollen Kooperation ausbauen

Zudem hat Meloni die Armee angewiesen, Abschiebelager in dünn besiedelten Gegenden Italiens einzurichten. Dort sollen ausreisepflichtige Migranten statt bisher zwölf künftig 18 Monate festgehalten werden können, während die Behörden über ihre Abschiebung entscheiden.

Der Dachverband europäischer Flüchtlingsorganisationen, European Council on Refugees and Exiles (ECRE), kritisiert in seinem Länderbericht zu Italien, dass der reguläre Zugang zu Asylverfahren oft sehr schwer und langwierig sei. Bewerber müssten monatelang auf Termine warten.

Viele Migranten ziehen aus Italien weiter nach Norden, vor allem nach Österreich und Deutschland, um dort Asylanträge zu stellen. Eigentlich wäre Italien nach den sogenannten Dublin-Regeln der EU für die Aufnahme zuständig. Doch Rom weigert sich, Migranten wieder aufzunehmen, die aus Deutschland in das Land ihrer ersten Einreise zurückgeschickt werden sollen.

Griechenland  Peloponnes | Fischereiboot mit Migranten gekentert
Tragödie vor Griechenland: Ein überladenes Flüchtlingsboot kentert. War die Küstenwache beteiligt? (Juni 2023)null Griechische Küstenwache/Eurokinissi/ANE/picture alliance

Griechenland, Ungarn, Österreich und die Niederlande

In Griechenland sind direkte Zurückweisungen von Migranten an den Grenzen oder das Rückführen von Booten in türkische Hoheitsgewässer (sogenannte Pushbacks) eher die Regel als die Ausnahme. Das zumindest schreibt die Hilfsorganisation ECRE aus Brüssel in ihrem Jahresbericht.

Der Zugang zu Asylverfahren ist erschwert, weil Migranten während der Wartezeit auf Anhörungen keine Sozialleistungen erhalten. Für einige Termine werden in Griechenland 100 Euro an Gebühren von den Asylbewerbern verlangt, ein einmaliger Vorgang in der EU.

Griechenland Proteste gegen Frontex und Pushbacks gegen Migranten
Proteste gegen gewaltsame Zurückweisungen an griechischen Grenzen in Athen (Juni 2023)null Louisa Gouliamaki/AFP/Getty Images

Ungarn sticht aus den anderen EU-Staaten heraus. Seit 2016 gilt hier Ausnahmerecht an den Grenzen. Die Einreise für Asylbewerber ist fast unmöglich. Verfahren müssen an den ungarischen Botschaften in Belgrad oder Kiew beantragt werden.

Der Dachverband ECRE der Hilfsorganisationen in der EU geht davon aus, dass am dichten ungarischen Grenzzaun rund 150.000 Menschen unmittelbar nach Serbien zurückgeschoben wurden. Sowohl der Europäische Gerichtshof in Luxemburg als auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg haben die ungarische Praxis für illegal erklärt. Budapest ignoriert die Urteile.

Hohe Anzahl von Opfern auf den Migrationsrouten nach Europa

In den Niederlanden scheiterte die rechtsliberale Regierung an einer Verschärfung der Asylgesetze. Ministerpräsident Mark Rutte trat zurück, weil er eine Beschränkung der Familienzusammenführung von abgelehnten Asylbewerbern nicht durchsetzen konnte.

In Österreich hat das Innenministerium beschlossen, eine Arbeitspflicht für Asylbewerber während ihres Verfahrens einzuführen. Sollten sie gemeinnützige Arbeiten ablehnen, würde ihnen die Unterkunft und die Verpflegung gestrichen.

Europäische Union

Bis April 2024 wollen das Europäische Parlament und der Ministerrat, die Vertretung der 27 EU-Staaten, einen neuen sogenannten Migrationspakt auf den Weg bringen. Diese umfassende Reform der Asylverfahren in der EU soll einige Neuerungen bringen.

Dazu gehören schnelle Asylverfahren direkt an den Grenzen für 30.000 Menschen mit wenig Chancen auf Anerkennung sowie schnelle Abschiebung aus den Grenzlagern. Außerdem ist erstmals eine verbindliche Solidarität der EU-Staaten untereinander vorgesehen.

Bei Überlastung der Ersteinreisestaaten Italien, Griechenland, Zypern, Spanien, Malta oder Kroatien sollen nach einem Quotensystem Migranten im Rest der EU verteilt werden. Bis zur vollständigen Umsetzung aller acht Gesetze aus dem Migrationspakt wird es bis 2026 dauern.

Ruanda | Aussenministerin Baerbock in Kigali
Außenministerin Baerbock (re.) bei ihrem Kollegen Vincent Biruta in Ruanda: Kein Abschiebemodell für Deutschlandnull Florian Gaertner/photothek/picture alliance

Trotzdem will man mit dem Pakt schon im Wahlkampf für das Europäische Parlament punkten, so die Präsidentin des Parlaments, die Christdemokratin Roberta Metsola aus Malta.

Großbritannien

Ein Blick auf ein Zielland außerhalb der EU: Der britische Premierminister Rishi Sunak hat das "Stoppen der Boote" im Ärmelkanal zu einer seiner politischen Prioritäten erhoben.

Im Jahr 2023 kamen geschätzt 30.000 Menschen in Booten von Frankreich nach Großbritannien. Seit dem Ausscheiden aus der EU hat Großbritannien seine Asylgesetze drastisch verschärft.

Der Plan, Asylverfahren nach Ruanda auszulagern und so Migranten von der Überfahrt auf die britischen Inseln abzuhalten, stockt allerdings. Erst hatte ein britisches Gericht eine Neufassung des Gesetzes nötig gemacht und dann Ruanda nicht den Status eines sicheren Drittstaates zuerkannt, in den Überführungen möglich wären.

Premier Rishi Sunak kündigte an, er werde notfalls internationale Flüchtlingsabkommen überdenken, um die Zahlen der Ankünfte zu senken. Sunak erklärte, er wolle eng mit Italiens rechtspopulistischer Regierung bei der Rückführung von Migranten via Tunesien zusammenarbeiten.

Migration: Deutschlands CDU debattiert über Ruanda-Plan für Asylbewerber

In Deutschland wird seit Jahren versucht, die irreguläre Migration zu begrenzen. Bisher ohne großen Erfolg. Für neue Diskussionen sorgt nun die konservative Christlich Demokratische Union (CDU). Sie hat Pläne zur Abschiebung von Asylbewerbern in Drittstaaten in den Entwurf ihres neuen Grundsatzprogramms aufgenommen. Anfang kommenden Jahres soll es verabschiedet werden.

Demnach sollen Flüchtlinge nach ihrer Ankunft in Europa direkt in Drittstaaten gebracht werden, nämlich in Partnerländer außerhalb der EU. Dort sollen die Asylverfahren durchgeführt werden. Die Bundesregierung hat zugesagt, das "Ruanda-Modell", dass sich am britischen Vorbild orientiert, zu prüfen.

Drastische Reduzierung der Einwanderung als Ziel

Nach Veröffentlichung des Entwurfs betonte der CDU-Parlamentarier Jens Spahn, dass ein solcher Plan die "irreguläre Einwanderung" nach Deutschland drastisch reduzieren würde. "Wenn wir das vier, sechs oder acht Wochen lang konsequent durchziehen, dann werden die Zahlen dramatisch zurückgehen", sagte Spahn der Neuen Osnabrücker Zeitung vor Weihnachten.

Jens Spahn steht hinter dem Rednerpult im Bundestag.
Jens Spahn während einer Rede im Bundestagnull dts Nachrichtenagentur/IMAGO

Die Regelung würde Migranten davon abhalten, das Mittelmeer zu überqueren, so die Argumentation. Spahns sagte, dass mehrere Länder bereit wären, Angebote zur Aufnahme von Migranten zu machen: "Ruanda wäre wohl dazu bereit. Ghana möglicherweise auch. Auch mit osteuropäischen Ländern wie Georgien, Moldawien sollten wir sprechen", so das Präsidiumsmitglied der CDU.

Britischer Vorschlag: Schlappe vor Gericht

Spahn äußerte sich optimistisch, obwohl das 2022 unterzeichnete Abkommen Großbritanniens mit Ruanda im vergangenen Monat auf eine rechtliche Hürde stieß. Der Oberste Gerichtshof Großbritanniens entschied, dass "die Abschiebung nach Ruanda die Antragsteller einem realen Risiko der Misshandlung aussetzen würde". Das Gericht stellte fest, dass es keine Möglichkeit gibt, zu garantieren, dass das ruandische Asylsystem fair und menschenwürdig ist.

Die britische Regierung hält dennoch an ihrem Plan fest und beharrt darauf, dass die Regelung mit einigen Änderungen realisiert werden kann. Inzwischen hat sie ein neues Abkommen mit Ruanda unterzeichnet. Allerdings zahlte das Vereinigte Königreich dem afrikanischen Land bereits umgerechnet 280 Millionen Euro, wobei im nächsten Jahr weitere rund 58 Millionen Euro fällig werden. Dabei hat Großbritannien noch keinen einzigen Migranten nach Ruanda abgeschoben.

Deutschland ergreift Maßnahmen zur Verschärfung der Asylpolitik

Dänemark führte ähnliche Gespräche mit der ruandischen Regierung wie das Vereinigte Königreich. Allerdings wurde noch keine Vereinbarung unterzeichnet. Denn Dänemark hofft, den Plan in Abstimmung mit anderen EU-Ländern umsetzen zu können. Vergangene Woche stellte dann die EU ihren Asylreformplan vor, der darauf abzielt, Asylsuchende direkt an den EU-Außengrenzen aufzuhalten, ihre Anträge zu überprüfen und sie gegebenenfalls von dort aus abzuschieben.

Nach Einschätzung des Migrationsforschers Gerald Knaus ist der Entwurf der CDU zwar etwas vage, könne aber durchaus dazu führen, dass sich Menschen nicht auf gefährliche Migrationsrouten begeben. "Ruanda nimmt teil unter der Annahme, dass eine glaubwürdige Drittstaaten-Asylpolitik die Menschen davon abhalten wird und dann auch die Zahl der Überstellungen zurückgehen wird", sagt er der DW.

Eine Gruppe von Erwachsenen mit einem Kind und Koffern betreten ein Flughafen-Terminal.
Abgelehnte Asylbewerber, die auf dem Flughafen im hessischen Calden freiwillig ausreisennull Uwe Zucchi/dpa/picture alliance

"Die britischen Gerichte haben gezeigt, wie man das nicht macht", fügt Knaus hinzu. Er ist der Ansicht, dass die deutsche Regierung viel von den Gerichtsurteilen lernen kann.

Die Idee, Asylgesuche im Ausland zu bearbeiten, ist nicht neu. Die derzeitige Mitte-Links-Regierung in Deutschland vereinbarte in ihrem Koalitionsvertrag zu prüfen, "ob die Feststellung des Schutzstatus in Ausnahmefällen in Drittstaaten unter Beachtung der Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention möglich ist".

Lampedusa, Italien | Asylreform in der EU
Ein Boot der italienischen Küstenwache hat im September 2023 vor der Insel Lampedusa Schiffbrüchige aufgenommennull Yara Nardi/REUTERS

Es gibt verschiedene Modelle, wie dies erreicht werden kann. Nach Ansicht einiger Experten ist das Ruanda-Modell eines der am wenigsten praktikablen, sowohl rechtlich als auch logistisch. Ein realistischeres Modell könnte das Abkommen darstellen, das Italien und Albanien im vergangenen Monat unterzeichneten. Es sieht vor, dass Migranten, die in internationalen Gewässern im Mittelmeer aufgegriffen werden, nach Albanien gebracht werden. Dort können sie einen Asylantrag stellen.

Ausnahmen für Menschen in Notlage

Einerseits wirft dieses Abkommen Fragen zu den rechtlichen und ethischen Auswirkungen auf; andererseits enthält es einige Vereinbarungen zum Schutz Geflüchteter: Frauen, Kinder und Menschen, die sich in einer außergewöhnlichen Notlage befinden, sind davon ausgenommen. Ebenso Menschen, die bereits in italienische Gewässer gelangt sind. Außerdem werden die Asylanträge in Albanien von italienischen Beamten bearbeitet, die laut Italien an das EU-Asylrecht gebunden sind. Darüber hinaus sollen sowohl bewilligte als auch abgelehnte Asylbewerber nach Italien zurückgebracht werden - die bewilligten dürfen sich dort niederlassen, während abgelehnten Bewerber abgeschoben werden sollen.

In Deutschlands Flüchtlingsunterkünften wird es eng

Dennoch, so Lorenzo Piccoli, Forscher für Migrationspolitik am Robert-Schuman-Zentrum des European University Institutes in Florenz, Italien, "gibt es starke Gründe, an der Wirksamkeit solcher Pläne zu zweifeln. Sie sind extrem kostspielig und betreffen nur eine relativ kleine Anzahl von Menschen". Einer dieser Gründe ist, dass laut einer Studie der EU-Kommission von 2018 nicht klar ist, ob EU-Recht außerhalb der Union angewendet werden kann, wie Italien behauptet. Ebenso unklar ist, wie Italien die Logistik und Organisation meistern will. Es müsste etwa entschieden werden, wer von den meist traumatisierten Migranten auf den Schiffen in internationalen Gewässern nach Italien gebracht wird und wer nach Albanien.

Große Hürden für Regelung der Weltflüchtlingshilfe

Ein anderes System für die Bearbeitung von Asylanträgen in Drittländern ist immerhin bereits in Kraft: das Umsiedlungs-Programm der Weltflüchtlingshilfe UNHCR, das Asylanträge in Transitländern wie Jordanien bearbeitet. Sobald die Anträge bewilligt sind, sucht das UNHCR nach Ländern, die bereit sind, Bewerber aufzunehmen. Doch genau hier wird es schwierig: Wie das UNHCR erklärte, waren im Jahr 2021 mehr als 1,4 Millionen Menschen auf eine neue Heimat angewiesen, von denen nur 63.000 neu angesiedelt wurden. Für das Jahr 2023 wird mit einem weltweiten Umsiedlungsbedarf von mehr als zwei Millionen Menschen gerechnet.

Eine Familie mit drei Kindern geht den Gang einer Flüchtlingsunterkunft entlang.
Eine Flüchtlingsunterkunft auf dem Gelände der Messe Frankfurt am Mainnull epd

Eine zufriedenstellende Lösung im Umgang mit der Migration ist bisher nicht gefunden worden. Vor allem das "Ruanda-Modell" bewertet Migrationsforscher Piccoli in seiner Wirkung als eher politisch denn praktisch. "Indem damit demonstriert wird, dass die Bedingungen für Asylsuchende erschwert werden sollen, wollen politische Parteien politische Ziele erreichen", sagt Piccoli. "In der Praxis sind solche Vorschläge rechtlich zweifelhaft, wie wir bei der Vereinbarung zwischen dem Vereinigten Königreich und Ruanda gesehen haben. Es ist unwahrscheinlich, dass sich die Zahl der Asylsuchenden dadurch nennenswert ändert."

Der Artikel wurde aus dem Englischen übersetzt.

Schickt China Häftlinge zum Arbeiten nach Nigeria?

Es ist ein altes Gerücht, das in Nigeria erneut die Runde macht: Einige chinesische Unternehmen, heißt es, würden Gefangene aus China importieren, um sie in Nigeria arbeiten zu lassen. Nun kochte es wieder einmal hoch. Zuletzt sprach der Vorsitzende des Senatsausschusses für innere Angelegenheiten Adams Oshiomhole davon.

"Ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass Gefangene aus dem Ausland in Nigeria als Bauarbeiter arbeiten", sagte Oshiomhole Anfang des Monats. Etwas später formulierte er mit anderen Worten: "Ich glaube sogar und wage zu sagen, dass es ausländische Gefangene gibt, die in Nigeria arbeiten. Sie wurden in unser Land verlegt, um ihre Haftstrafe zu verbüßen."

Die neu ernannte Chefin der Einwanderungsbehörde, Caroline Wura-Ola Adepoju, äußerte sich vor Kurzem zu den Anschuldigungen, ohne sie zu bestätigen oder zu dementieren: "Die Behauptung, dass chinesische Gefangene nach Nigeria gebracht und in ihren Unternehmen beschäftigt werden, ist sehr subjektiv", sagte Adepoju. "Es verstößt gegen die internationale Konvention, eine bestimmte Rasse zu nennen. Bevor jedoch jemand ins Land kommt und einen Visumsantrag ausfüllt, wird er gründlich überprüft" sagte Adepoju und betonte, sie werde Unregelmäßigkeiten nicht dulden.

Nigeria in der Krise

Kein Platz für ausländische Gefangene in Nigeria

"Das nigerianische Arbeitsrecht, das internationale Arbeitsrecht und das nigerianische Einwanderungsgesetz - nirgendwo sehen die Gesetze vor, dass ein ausländischer Häftling eine Arbeitserlaubnis erhält und den Status eines Arbeiters eines ausländischen Unternehmens in Nigeria bekommt", erklärt Zakari Sokga, ein Anwalt aus Kaduna, der DW. Auch bilaterale Vereinbarungen dazu gebe es nicht - kurz: "Eine solche Praxis ist illegal und kann rechtlich nicht verteidigt werden."

"Wenn chinesische Gefangene durch die Hintertür nach Nigeria kommen, haben sie weder Rechte noch eine Arbeitserlaubnis. Das ist illegal", sagt der nigerianische Wirtschaftswissenschaftler Zuhumnan Dapel. Es sei die Aufgabe der Immigrationschefin Adepoju, derartige Praktiken im Zweifel - in Zusammenarbeit mit der chinesischen Botschaft - zu unterbinden. "Die Einwanderungsbehörde ist eine Strafverfolgungsbehörde. Sie tragen Schusswaffen, um das Gesetz durchzusetzen", so Dapel. Es sei naheliegend, dass die Behörde Zugang zu anderen Informationen habe. Er selbst könne die Gerüchte aber nicht verifizieren.

Warum sich Gerüchte über chinesische Arbeiter verbreiten

Der Sozialwissenschaftler und China-Experte Barry Sautman geht seit mehr als einem Jahrzehnt Gerüchten über chinesische Gefangene nach, die in verschiedenen afrikanischen Ländern kursieren: Neben Nigeria nennt er Sambia, Tansania und Angola. Klare Belege für eine solche Praxis habe er bisher nicht gefunden.

"Nicht eine einzige Person hat jemals irgendeinen Aspekt davon bestätigt", so Sautman im Gespräch mit der DW. Der in Hongkong ansässige Akademiker ist für gründliche Recherchen bekannt, steht bisweilen aber in der Kritik, mit seinen Positionen auf einer Linie mit der Regierung in Peking zu stehen.

Chinas Präsident Xi grüßt vor einer offenen Flugzeugtür
Im Oktober 2023 sagte der chinesische Präsident Xi Jinping weitere Investitionen über mehrere Milliarden US-Dollar in Nigeria zunull BRITTANY HOSEA-SMALL/REUTERS

Für chinesische Geschäftsleute sei das Narrativ von Gefangenen, die nach Afrika geschickt würden, unvorstellbar, sagt Sautman. "Sie haben ja so schon alle möglichen Probleme, ihr Personal nach Afrika zu bringen. Sträflinge mitzubringen und auch noch absichern zu müssen - das ist für sie völlig abwegig."

Eine Ursache für das Gerücht sieht Sautman in den gut bewachten und gesicherten Wohnanlagen, in denen chinesische Arbeiter in afrikanischen Ländern leben. "Einige Afrikaner, mit denen ich darüber spreche, denken: 'Das sieht für uns wie ein Gefängnis aus'. Sie wissen auch, dass die Unternehmen ihre Arbeiter als Gruppe zum Einkaufen und zu Unterhaltungsevents fahren und gemeinsam zurückbringen." Das wecke in diesen Ländern, wo Menschen meist selbstständig unterwegs sind, den Eindruck von Gefangenentransporten.

Die Politik hinter den Anschuldigungen in Nigeria

Um die Dynamik hinter den Gerüchten zu verstehen, hilft ein Blick auf den jeweiligen Kontext. "Diese Anschuldigungen tauchen meist während Wahlzyklen auf", sagt Wirtschaftswissenschaftler Dapel. "In Nigeria stand 2019, als die Vorwürfe aufkamen, die Wahl des Präsidenten an." Damals habe es auch Proteste von arbeitslosen nigerianischen Hochschulabsolventen gegeben, erklärt Dapel: "Die Aussage der Proteste: 'Ihr übernehmt die Jobs, die wir machen sollten.'"

Das gleiche Argument bringen Menschen vier Jahre später immer noch vor: "Es ist mehr oder weniger so, dass man Leute, die eine gute Arbeit machen, überflüssig macht", beklagt eine Frau in Nigerias Hauptstadt Abuja im Gespräch mit der DW. "Warum sollte man Leute, die im Gefängnis sitzen, ihre Strafe in einem anderen Land absitzen lassen? Das ist unfair."

Sozialwissenschaftler Sautman meint, in anderen Ländern verhalte es sich ähnlich: "In den afrikanischen Ländern, in denen die Opposition China zum Thema gemacht hat, kann die Idee, dass chinesische Gefangene den Einheimischen die Arbeitsplätze wegnehmen, gelegen kommen." Bei seinen Recherchen in Sambia habe er festgestellt, dass mehrere Oppositionspolitiker, die gegen die chinesische Dominanz auf dem Kontinent waren, ihre Haltung lockerten, als sie selbst an der Regierung waren.

Viele chinesische Unternehmen in Afrika

Ein Hauptgrund für die Empörung scheint die starke Präsenz chinesischer Unternehmen in Afrika zu sein, die im Ruf stehen, vor allem Arbeitskräfte aus China unter Vertrag zu nehmen. Die Gerüchte von den chinesischen Sträflingen machten in Nigeria erstmals 2019 die Runde - also just in dem Jahr, in dem laut der US-amerikanischen Johns-Hopkins-Universität die Zahl chinesischer Arbeitskräfte in dem Land mit knapp über 12.000 einen Höchststand erreichte.

Chinesische Arbeiter in orangen Warnwesten an einer Zuglinie in Nairobi.
Auch in Kenia beschäftigen Firmen aus China viele chinesische Mitarbeiter in Großprojekten (Archivbild)null YASUYOSHI CHIBA/AFP

Auch die Wahrnehmung, dass es bei Abkommen mit chinesischen Unternehmen an Transparenz fehlt, könnte den Boden für die Debatte bereitet haben, deutet Ökonom Dapel an: "Die Staats- und Regierungschefs sind es ihrem Volk schuldig, die Wahrheit zu sagen und transparent zu sein. Wenn es Grauzonen gibt, versuchen die Menschen, das Unbekannte zu verstehen, und dabei entwickeln sie Verschwörungstheorien." Mit Offenheit und Transparenz lasse sich dem am besten entgegenwirken.

Laut Dapel sorgt zudem für Irritationen, dass chinesische Unternehmen lokale und internationale Konkurrenten immer wieder unterbieten würden - obwohl der Mindestlohn in China etwa siebenmal höher sei als in Nigeria.

China-Experte Sautman hat dafür indes eine Erklärung: "Viele chinesische Unternehmen haben nicht die gleiche Vorstellung von Gewinnen." Westliche Unternehmen würden Projekte als rentabel ansehen, wenn sie 30 bis 35 Prozent Gewinn abwerfen. Bei chinesischen Unternehmen sei das anders: "Fünf bis zehn Prozent Gewinn sind völlig in Ordnung, denn auf dem chinesischen Markt liegt die Gewinnmarge bei einem bis vier Prozent." Das mache es ihnen leicht, Mitbewerber in Afrika zu unterbieten - und dennoch mehr Profit zu machen als in der Heimat.

Dieser Artikel erschien zunächst auf Englisch.

Mitarbeit: Ben Adam Shemang.

Faktencheck: Nein, die deutsche Regierung verkuppelt Migranten nicht mit minderjährigen Mädchen

Immer wieder tauchen in den Sozialen Medien oder einschlägigen Medien falsche Behauptungen auf. Hinzu kommen oft Bilder, die alt sein können oder aus dem Kontext gerissen wurden. Auch dieses Beispiel zeigt Fotos, die nicht im Zusammenhang mit der Behauptung des Nutzers stehen. 

Behauptung: Die deutsche Regierung (und andere europäische Regierungen) sollen aktiv daran beteiligt sein, dass erwachsene Migranten mit jungen deutschen Mädchen in Schulen zusammenkommen, um sich "kennenzulernen". Dieser Nutzer (archiviert) behauptet auf der Plattform X, dass die deutsche Regierung Geflüchtete "importiere", um ihnen dann "absichtlich ihre Töchter zu geben." Belegen sollen das Fotos, die angeblich ein solches Treffen zeigen. Der Beitrag wurde über eine Millionen Mal angesehen. 

DW Faktencheck: Falsch.

Diese Fotos, die der Nutzer auf X zusammen mit seiner Behauptung teilt, sind weder aktuell noch wurden sie in Deutschland aufgenommen. Sie sind bereits mehrere Jahre alt und stammen aus Polen. Das lässt sich mithilfe einer einfachen Bilderrückwärtssuche, etwa über die Suchmaschinen Google oder Yandex, herausfinden. 

Die Rückwärtssuche mit den Screenshots der einzelnen Bilder aus dem Post führt zu diversen alten Medienberichten oder anderen Posts in den Sozialen Medien, die bereits vor etwa fünf Jahren veröffentlicht wurden. So stammt zum Beispiel dieser Tweet (archiviert) aus dem Jahr 2018. Der Verfasser heißt Dariusz Matecki und ist Vorsitzender der rechten polnischen Partei "Souveränes Polen" . Er schreibt in seinem Beitrag von einem "Multikulti-Indoktrinationslager in Polen". Dieselbe Collage an Bildern taucht ebenfalls in diesem bereits 2018 veröffentlichten polnischen Medienbericht(archiviert) auf. 

Fotos stehen nicht in Verbindung zu deutscher Regierung

Auch die anderen drei Bilder aus dem Beitrag bei X stammen aus demselben Jahr. Alle Fotos wurden auf diversen polnischen Seiten gefunden, die zurück auf das Jahr 2018 datieren. Die Originalbilder sind auf den Accounts, die in den Medienberichten angegeben sind, nicht mehr zu finden. Teilweise existieren die Profile nicht oder die Bilder sind nicht auf den jeweiligen Accounts zu finden. 

Berichte und Hashtags deuten außerdem darauf hin, dass die Bilder bei der "Euroweek 2018" in Polen aufgenommen wurden. Laut der Internetseite ist die Euroweek ein "Bildungsprogramm" für Schüler und Studierende aller Altersgruppen sowie für junge Erwachsene. Dabei sollen diverse Workshops und ein interkultureller Austausch stattfinden. Laut dem Vorwurf der zu den Bildern veröffentlichten Beiträge soll dort sexueller Missbrauch an minderjährigen Mädchen stattgefunden haben. Nach den Untersuchungen der polnischen Schulaufsichtsbehörde "Kuratorium Oswiaty in Wroclaw" , die sich dem Fall 2018 angenommen hat, ließen sich die Vorwürfe gegen die freiwilligen Betreuer von Euroweek nicht bestätigen. Auf eine schriftliche Anfrage der DW bezüglich der Bilder reagierten die Veranstalter bis zur Veröffentlichung dieses Artikels nicht. 

Wie genau die Bilder entstanden sind, ist nicht gänzlich geklärt. Klar ist aber: Die Fotos stammen aus Polen aus dem Jahr 2018 und haben keine Verbindung zur deutschen Regierung. Das Bundesinnenministerium wollte sich auf eine Anfrage der DW zu dem konkreten Fall nicht äußern. 

Migranten auf einem Schiff (vor den Kanaren)
Zum Thema Migration werden immer wieder falsche Behauptungen in den Sozialen Medien geteiltnull IMAGO/ABACAPRESS

Migration oft im Zentrum von Falschbehauptungen 

Kriminell, gewaltbereit, parasitär - so werden Migranten häufig in den Sozialen Medien dargestellt. Laut einem Bericht des European Digital Media Observatory (EDMO) gehören diese Narrative zu den am häufigsten verbreiteten in den Sozialen Medien oder in einschlägigen Medien. Das Thema Migration gehört laut EDMO oft zu jenen Themen, zu denen regelmäßig besonders viele Falschnachrichten, Fakes oder aus dem Kontext gerissene Bilder kursieren. 

Nach dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine stiegen so etwa die Falschmeldungen über ukrainische Geflüchtete, aber auch über Geflüchtete, die über das Mittelmeer kommen, gab es in den vergangenen Jahren häufig irreführende oder falsche Behauptungen. Solche Behauptungen haben alle offenbar ein gemeinsames Ziel: Geflüchtete zu diffamieren. 

Um solche Aussagen oder falsche Bilder zu erkennen, kann zunächst eine einfache Bilder-Rückwärtssuche gemacht werden. Mit dieser Methode gibt es oft schon einen ersten Hinweis, ob es sich um ein gefälschtes Bild handeln könnte. Und wer sich dann immer noch unsicher ist, kann zusätzlich weitere vertrauenswürdige Quellen heranziehen. Weitere Tipps, wie manipulierte Bilder erkannt werden können und welche Tools es gibt, zeigt etwa dieser Faktencheck der DW

Mitarbeit: Kathrin Wesolowski

Faktencheck: Wie erkenne ich Fake News?

Migration: Wie weit rückt Europa nach rechts?

Wenige Stunden bevor sich der französische Präsident am Mittwochabend im Fernsehen zur Verschärfung des Einwanderungsgesetzes äußern sollte, hat Emmanuel Macron den deutschen Oppositionsführer Friedrich Merz im Élysée empfangen. Macron und Merz sprachen bei ihrem Kennenlerngespräch auch über Migrationsfragen. Dieses Thema steht derzeit nicht nur wegen des Asylkompromisses in der Europäischen Union im Fokus, sondern auch, weil die französische Regierung ihre Migrationspolitik gerade deutlich verschärft hat.

Am Dienstag votierte das Regierungslager in der Nationalversammlung mit den Stimmen des extrem rechten Rassemblement National (RN) nach schwierigen Verhandlungen mit der Opposition für ein verschärftes Einwanderungsgesetz. RN-Fraktionschefin Marine Le Pen sieht darin einen "ideologischen Sieg" und frohlockt: "Macrons Abgeordnete können uns nicht mehr vorwerfen, dass wir den Vorrang der Franzosen wollen. Sie haben das jetzt selbst beschlossen." 

Folgt Deutschland dem Modell Frankreichs?

Das Einwanderungsgesetz, das der Präsident noch vom Verfassungsrat prüfen lässt, wollte der deutsche Oppositionsführer in Paris nicht kommentieren, doch in seiner eigenen Partei setzt Merz ebenfalls auf eine strengere Migrationspolitik. Ein entsprechender Präsidiumsbeschluss liegt bereits vor. Dass Frankreich nun den Zugang zu Sozialleistungen für bestimmte Ausländer verschärft und längere Wartezeiten für den Anspruch auf Sozialhilfe festlegt, folgt einer vergleichbaren Logik. Auf das Verhältnis seiner Partei zur rechtsgerichteten Alternative für Deutschland (AfD) angesprochen, wiederholte Merz in Paris sein Mantra, dass er eine Zusammenarbeit mit der Partei ausschließe.

In Frankreich hingegen tobt nach der Parlamentsabstimmung eine Debatte darüber, wie stark die extreme Rechte bereits die Regierungspolitik bestimmt. Macrons Vorgänger François Hollande kritisierte den Kompromiss in einem Interview mit der Zeitung Le Monde: "Auch wenn Präsident Macron und die Regierung nicht die Stimmen des Rassemblement National genommen haben, haben sie doch die Ideen der Partei übernommen." Der amtierende Präsident wiederum verteidigte den Kurs der Regierung im Fernsehen: "Das Gesetz verrät nicht unsere Werte", so Macron, der 2022 mit dem Versprechen wiedergewählt worden war, den Aufstieg der extremen Rechten zu stoppen. Doch um zu verhindern, dass der RN an die Macht kommt, "müssen wir die Probleme angehen, die sie nähren".

Marine Le Pen in ihrem Büro in Paris
Hat den politischen Einfluss des RN ausgeweitet: Fraktionschefin Marine Le Pen null JB Autissier/PanoramiC/imago images

Europa blickt nach rechts

Eine verschärfte Migrationspolitik ist Thema in vielen Hauptstädten Europas. Der britische Premierminister Rishi Sunak steht in dieser Frage in seiner Partei aktuell besonders unter Druck, weil die Einwanderung trotz Brexit nicht gesunken ist.

Während in vielen Hauptstädten noch an politischen Konzepten gearbeitet wird, haben die nordischen Staaten ihre Gesetze bereits verschärft. In Dänemark verfolgt die sozialdemokratische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen seit ihrem Amtsantritt 2015 einen restriktiven Migrationskurs. Der Familiennachzug wurde erschwert und Asylsuchende erhalten vermehrt Sachleistungen statt Geld. Ein "Ghettogesetz" schreibt vor, dass in einem Stadtteil nicht mehr als 30 Prozent "nicht-westliche Ausländer" leben dürfen.

Porträt Mette Frederiksen, Ministerpräsidentin Dänemark
Seit 2015 an der Macht: die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksennull John Thys/AFP/Getty Images

Die rechtspopulistische Dänische Volkspartei, die bei den Parlamentswahlen 2015 noch 21 Prozent der Stimmen erhielt, ist bei den Wahlen im vergangenen Jahr mit 2,6 Prozent auf das Niveau einer Splitterpartei abgestürzt. Auch Schweden und Finnland haben ihre Migrationspolitik deutlich verschärft, nachdem Rechtspopulisten in Finnland in die Regierung eingetreten sind und sie in Schweden tolerieren.

Rechtspopulist Wilders liegt laut Prognose vorn
Hat in den Niederlanden die Parlamentswahlen im November gewonnen: PVV-Parteichef Geert Wildersnull Remko de Waal/ANP/IMAGO

Die Frage nach der Verantwortung

Der französische Populismusforscher Dominique Reynié verweist auch auf das Beispiel Niederlande, wo Rechtspopulist Geert Wilders im November die Parlamentswahlen überraschend deutlich gewonnen hat. "Die Wähler in Europa", so Reynié in einem Interview mit der konservativen Tageszeitung Le Figaro, "fordern seit einem Vierteljahrhundert dasselbe: eine Einwanderungspolitik, die auf Auswahl und Integration beruht. Und auf Ausweisung derjenigen, die die Werte der Freiheit, Gleichheit und Toleranz verletzen".

Viele Journalisten, Politiker und Analysten, analysiert der Wissenschaftler der Elitehochschule Sciences Po, hätten diese Entwicklung in der Bevölkerung nicht erkannt oder ernst genommen. Dabei gehe es den Menschen nicht nur um materielle Fragen: "Sie (die Politiker, Analysten und Journalisten, Anm. d. Red.) übersehen die oft größere Bedeutung des 'immateriellen Erbes‘. Da geht es um Lebensstil, Mentalitäten, Gewohnheiten, Denkweisen und Lebenseinstellungen.  All jene Elemente, die eine Kultur ausmachen und den Menschen ein Zugehörigkeitsgefühl verschaffen - in diesem Fall zur europäischen Kultur."

Zerrissene Wahlplakate von Macron und Le Pen in Lyon
Bündnis gegen den RN: Welche Zukunft hat der "republikanische Pakt"?null Laurent Cipriani/AP/picture alliance

Bemühen um Entzauberung

Im politischen Wettbewerb mit der extremen Rechten haben die Parteien der Mitte in Deutschland und Frankreich ähnliche Strategien verfolgt. Der deutschen "Brandmauer" gegen die AfD entspricht in Frankreich der "Pacte républicain". Die Idee dahinter: Wann immer ein Kandidat des RN in die Stichwahl kommt, einigen sich Sozialisten, Grüne und Bürgerliche auf einen gemeinsamen Gegenkandidaten. Doch dieser Pakt, kritisiert die linke Opposition nach der Abstimmung über das Zuwanderungsgesetz, sei tot. Schon zuvor hatten bei den rechtsbürgerlichen Republikanern Politiker an Einfluss gewonnen, die die programmatische Distanz ihrer Partei zur extremen Rechten verringert haben.  Wie sehr der "republikanische Pakt" über die Jahre an Schlagkraft verloren hat, zeigt die Rekordzahl der RN-Abgeordneten in der Nationalversammlung. Mit 88 Abgeordneten verfügt die extreme Rechte mittlerweile über mehr Sitze im Parlament als die rechtsbürgerlichen Republikaner.

Auch wenn der Pakt in den Wahlkreisen noch weitgehend zu stehen scheint, "sind die Wähler davon zunehmend unbeeindruckt", analysiert Philip Manow, der an der Universität Bremen als Professor zur Politischen Ökonomie des Wohlfahrtstaates forscht. "Wenn man davon ausgeht, wie das die meisten Beobachter der französischen Politik tun, dass die nächste Präsidentin Marine Le Pen heißen wird, wäre die Antwort: Nein, der republikanische Pakt war und ist nicht wirksam", so Manow im DW-Interview.

Deutschland Pirna | Oberbürgermeisterwahl | Tim Lochner
Die AfD feiert in Pirna am 17.12. die erste Wahl eines AfD-Bürgermeisters in Deutschland null Sebastian Kahnert/dpa/picture alliance

Die extreme Rechte und die Macht

Für den RN scheint Gefahr aktuell weniger vom "republikanischen Pakt" auszugehen als von den Verlockungen der Macht. In Fréjus - 40 Kilometer südwestlich von Cannes - amtiert seit 2014 mit David Rachline ein RN-Politiker als Bürgermeister. Vor wenigen Tagen hat die örtliche Staatsanwaltschaft eine "Voruntersuchung" gegen den langjährigen Le Pen-Vertrauten und Vizepräsidenten der Partei aufgenommen. Medienberichten zufolge geht es dabei um "Angelegenheiten im Zusammenhang mit der Vergabe öffentlicher Aufträge" und Anhaltspunkte, die auf Günstlingswirtschaft hindeuten könnten.

Die Ermittlungen gehen zurück auf eine Buch-Veröffentlichung über die Lokalpolitik in dem kleinen Küstenort. In "Les Rapaces" (Die Greifvögel) wirft die Journalistin Camille Vigogne Le Coat dem einflussreichen RN-Politiker Rachline unter anderem vor, mit einem mächtigen lokalen Bauunternehmer Absprachen über die Vergabe öffentlicher Aufträge getroffen zu haben. Vigogne Le Coat beschreibt in "Les Rapaces" eine Amtsführung, die weit entfernt ist vom vorbildlichen Image, das sich die Partei selbst gibt.

Rachline hat alle gegen ihn erhobenen Vorwürfe als unhaltbar zurückgewiesen. Mit einer Rückendeckung für ihren langjährigen Vertrauten war Marine Le Pen in den vergangenen Tagen allerdings sparsam. Die Entzauberung durch eigene Mandatsträger könnte derzeit die größte Gefahr sein für die in den nationalen Umfragen deutlich führende Partei.

Warum Ruanda Flüchtlinge willkommen heißt

Der deutsche Oppositionspolitiker Jens Spahn von der Mitte-Rechts-Partei CDU hat in einem Zeitungsinterview mal wieder eine nicht ganz neue Idee ins Spiel gebracht: Deutschland könnte Migranten nach Ruanda schicken, wo sie ein Asylverfahren bekämen - ähnlich wie das etwa Großbritannien vorgeschlagen hat. Die Antwort von Regierungsseite kam prompt: "Kindlich naiv" nannte Außenministerin Annalena Baerbock die Idee am Montag während eines Besuchs in Ruanda.

Aber der Vorschlag zeigt einmal mehr, wie sich die Idee zunehmend verfestigt, Aufnahmeverfahren für Asylsuchende aus Europa auszulagern. Und er belegt Ruandas erfolgreiche Bemühungen, sich als sicherer Hafen für Asylsuchende zu inszenieren. Aber wie ist die Situation im Land wirklich? Ein Überblick.

Wie funktioniert Ruandas Regierung?

Seit 2000 heißt Ruandas Präsident Paul Kagame. De facto regieren er und seine Ruandische Patriotische Front (RPF) das kleine ostafrikanische Land seit dem Ende des Völkermords von 1994. Auf dem Papier ist Ruanda eine Mehrparteien-Demokratie. Doch politische Beobachter wie auch die US-Entwicklungsagentur USAID weisen darauf hin, dass eine Opposition "nicht vorhanden" sei.

Dreimal schon haben Ruanderinnen und Ruander Kagame zum Präsidenten gewählt. Die jüngste Wahl gewann er 2017 mit 99 Prozent der Stimmen. Jedes Mal gab es ernst zu nehmende Kritik: Die Rede war von Wahlfälschung und Einschüchterung.

Das Projekt "Varieties of Democracy", eine internationale Datenplattform zu Demokratie, stuft Ruanda als "Wahlautokratie" ein. Beim "Freedom in the World"-Bericht von 2023 bekommt das Land nur acht von 40 möglichen Punkten in der Kategorie politische Rechte.

Welche Rechte und Freiheiten haben Menschen in Ruanda?

Ruanda hat internationale und regionale Menschenrechtsverträge unterzeichnet, diese sind auch in seine Verfassung und nationale Gesetze eingeflossen. Aber Beobachter haben immer wieder schwerwiegende Menschenrechtsprobleme in Ruanda festgestellt. Sie berichten von außergerichtlichen Hinrichtungen, Folter und dem Verschwinden von Systemkritikern.

Unbefestigte Straße zwischen grün bewachsenen Hügeln, auf der Straße tragen Frauen Lasten auf den Köpfen
Immer noch lebt rund die Hälfte der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenzenull Vito Finocchiaro/ZUMAPRESS/picture alliance

Auch die Meinungs- und Versammlungsfreiheit ist de facto eingeschränkt. Durch die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen herrscht eine "Kultur der Intoleranz gegenüber abweichenden Meinungen", wie die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch feststellt. Und die Organisation Reporter ohne Grenzen (RSF) setzt Ruanda in ihrem aktuellen Pressefreiheitsindex nur auf Platz 131 von 180. Begründung: "Von Jahrzehnten der Unterdrückung gebeutelt, ist die ruandische Medienlandschaft eine der ärmsten in Afrika."

Ist Ruanda wirtschaftlich erfolgreich?

Paul Kagame übernahm 1994 ein Land, das von 100 Tagen Gewalt zerrissen war: Während des Völkermords waren eine Million ethnische Tutsi und moderate Hutu ermordet worden. Auch die Wirtschaft lag danach am Boden. Diese stützt sich bis heute auf Selbstversorgung in der Landwirtschaft. Nennenswerte Rohstoffvorkommen hat das "Land der tausend Hügel" im Gegensatz zu einigen Nachbarländern nicht.

Dennoch gelang es Kagame mit seinem Reformwillen, dem Land wirtschaftliches Wachstum zu bringen und - der Weltbank zufolge - "bedeutende Verbesserungen" der Lebensbedingungen zu erzielen. Das Bruttoinlandsprodukt ist zwischen 2000 und 2020 um 142 Prozent angewachsen. 2016/2017 lebten nur noch 52 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Die Mütter- und Säuglingssterblichkeit ist drastisch zurückgegangen. Heute sticht die Lebenserwartung in dem 13-Millionen-Einwohner-Land als eine der höchsten in Subsahara-Afrika heraus.

Daneben zählt Ruanda heute zu den am wenigsten korrupten Ländern Afrikas. Als guter Standort, um Geschäfte zu machen, belegt das Land den zweiten Platz auf dem Kontinent. In der internationalen Rangfolge hat Ruanda im vergangenen Jahrzehnt 100 Plätze gutgemacht. 

Mit Blick auf private Investitionen liegt Ruanda allerdings unter dem Durchschnitt der afrikanischen Länder mit niedrigem Einkommen: Hier wirken sich der niedrige Bildungsgrad, die hohen Energiepreise und die Lage des Binnenlandes ohne direkten Zugang zum Meer negativ aus.

Warum ist Ruanda bei Geldgebern im Westen so beliebt?

Als stabiles Land mit geringer Korruption wurde Ruanda zum Liebling der Entwicklungshilfe: Jahr für Jahr empfängt es rund eine Milliarde US-Dollar (920 Millionen Euro). Kein anderes ostafrikanisches Land bekommt so hohe Pro-Kopf-Hilfen.

Stadtansicht mit verschiedenen Gebäuden in Kigali
Kigali gilt als saubere, ruhige und sichere Stadtnull Pond5 Images/imago images

"Wenn man sich die sauberen Straßen und schicken Gebäude ansieht, vermittelt das Land einen Eindruck von effektiv genutzter Entwicklungshilfe", sagt Toni Haastrup, Leiterin des Fachbereichs Globale Politik an der Universität von Manchester. Doch diese Rechnung funktioniere nur, wenn man Frieden und Sicherheit, Ruandas regionale Rolle und Menschenrechte außer Acht lasse.

Wie leben Geflüchtete in Ruanda?

Fast 135.000 Flüchtlinge leben in Ruanda. Die meisten von ihnen kommen aus den Nachbarländern Burundi und der Demokratischen Republik Kongo. In Ruanda müssen sie - anders als in vielen anderen Ländern - nicht in Camps wohnen, können sich frei bewegen und dürfen arbeiten, Besitz haben, Unternehmen anmelden oder Bankkonten eröffnen.

So kommt ein aktueller Bericht von der Organisation Refugees International zu dem Schluss, dass Ruandas Flüchtlingspolitik der "wirtschaftlichen Inklusion" anderen Ländern in Ostafrika und darüber hinaus zum Vorbild dienen könne. Nichtsdestotrotz sehen sich Migranten in Ruanda Benachteiligung und Diskriminierung ausgesetzt, oft sind sie arm. Die große Mehrheit (93 Prozent) lebt in Camps und ist auf eine dürftige monatliche Hilfe von 10.000 Ruanda-Franc (7,27 Euro) angewiesen.

Urteil: Abschiebungen nach Ruanda rechtswidrig

Das Leben in Ruanda sei hart, sagte der Burundier Kelly Nimubona der DW vergangenes Jahr: "Wir können es uns nicht leisten, zweimal täglich zu essen." Eine Arbeit zu finden, sei schier unmöglich.

Menschenrechtsorganisationen sehen neben der Armut auch Ruandas schlechte Menschenrechtslage als Problem für Geflüchtete. In Großbritannien entschied das Oberste Gericht im November, dass Asylsuchende hier nicht sicher seien.

Warum inszeniert sich Ruanda als sicherer Hafen für internationale Geflüchtete?

Für das internationale Flüchtlingshilfswerk UNHCR ist Ruanda ein willkommener Partner: Erst vergangenen Monat nahm das Land ein neues Kontingent an Flüchtlingen auf, die aus den umstrittenen libyschen Auffanglagern evakuiert worden waren. Das Land hatte sich in der Vergangenheit auch bereiterklärt, abgelehnte Asylsuchende aus Israel aufzunehmen - inzwischen wurde die kontroverse Praktik gestoppt. Zu den jüngeren Partnerschaften gehören Abkommen mit Großbritannien und Dänemark, um die Aufnahme von Asylsuchenden zu prüfen. Umgesetzt wurden die Deals aber noch nicht.

Menschen spielen auf einem Volleyballfeld
Das Gashora Emergency Transit Centre wurde nach einer Vereinbarung mit dem UNHCR eingerichtet, um Asylsuchende aus Libyen umzusiedelnnull SIMON WOHLFAHRT/AFP

Laut Yolande Makolo, Sprecherin der ruandischen Regierung, liegt die offene Flüchtlingspolitik des Landes an der ruandischen Geschichte. "Die Menschen in Ruanda wissen, was es heißt, unterwegs zu sein, vertrieben zu sein", sagte Makolo der lokalen Newsplattform KT Press zufolge im November.

Die Geopolitikerin Toni Haastrup sieht hinter Ruandas Flüchtlingspolitik hingegen eine Strategie: "Es ist ein Weg, Ruandas Ansehen in der internationalen Gemeinschaft zu erhöhen", sagt sie der DW. "Wenn Ruanda all diese Flüchtlinge für Sie aufgenommen hat, werden Sie es nicht zurechtweisen."

Adaptiert aus dem Englischen von Philipp Sandner.

EU einigt sich auf Asylreform

Übermüdet und erleichtert traten die Unterhändler von Europäischem Parlament, Europäischem Ministerrat und Europäischer Kommission am Mittwochmorgen in Brüssel vor die Kameras. In langen Nachtsitzungen hatten sie sich auf einen Gesetzentwurf für ein umfassendes europäisches System für Asylverfahren geeinigt.

Zehn Jahre lang sei daran gearbeitet worden, sagte die Präsidentin des Europäischen Parlaments, Roberta Metsola. Nun endlich stehe das Gesetzespaket, das aus acht Teilen besteht. "Das ist gewaltiger Erfolg, vor einem Jahr, in dem das Europäische Parlament neu gewählt wird", freute sich Metsola.

Roberta Metsola
EU-Parlamentspräsidentin Metsola (Archiv): "Ein historischer Tag"null European Union

Das Reformpaket sei nicht perfekt, sondern ein Kompromiss, der viel besser sei als der jetzige Zustand der Asylverfahren, sagte die Präsidentin. Sie hofft darauf, rechtspopulistischen Parteien im Wahljahr 2024 den Wind aus den Segeln nehmen zu können. "Europa kann bei einem Thema liefern, das die Menschen bewegt", so die Parlamentspräsidentin.

In zwei Jahren praktische Umsetzung

Bis die neuen Asylverfahren greifen, wird allerdings noch einige Zeit vergehen. Zunächst müssen Parlament und Mitgliedsstaaten der Europäischen Union die Gesetze bis Ende April formal verabschieden. Danach werden ungefähr zwei Jahre für die komplette Umsetzung der Regelungen in den Mitgliedsstaaten nötig sein, sagte der Europaabgeordnete Tomas Tobe aus Schweden, der für die christdemokratische Fraktion verhandelt hat.

Kern der neuen Regelungen ist die Pflicht für alle Mitgliedsstaaten, alle ankommenden Migrantinnen und Migranten an den Außengrenzen zu erfassen und zu überprüfen. Dieses Screening soll zeigen, ob die Migranten aus Ländern kommen, die eine Anerkennungsquote in Asylverfahren unter 20 Prozent haben.

Wildes Lager auf Lampedusa (08.09.2023)
Wildes Lager auf Lampedusa (im September): Können überforderte Inseln entlastet werden?null Marco Alpozzi/LaPresse via ZUMA Press/picture alliance

Ist dies der Fall, sollen die Migranten in ein "schnelles Grenzverfahren" kommen - auch Familien mit Kindern. In geschlossenen Lagern in der Nähe der Grenze soll innerhalb von zwölf Wochen entschieden werden, ob diese Migranten sofort abgeschoben werden oder vielleicht doch schutzbedürftig sind.

Erstmals Pflicht zur Solidarität der EU-Staaten

Schutzbedürftige würden dann wie Migranten aus Staaten mit einer Asylanerkennungsquote von über 20 Prozent das normale Asylverfahren durchlaufen. Zuständig bleibt für die Asylverfahren wie bisher der EU-Staat, in den die Migranten zuerst eingereist sind.

Neu ist, dass es erstmals eine "verpflichtende Solidarität" für alle 27 Mitgliedsstaaten geben soll. Überlasteten Staaten wie Italien, Zypern, Malta oder Griechenland sollen Asylbewerber abgenommen werden. Sollten EU-Staaten im Norden oder Osten der Europäischen Union sich weigern, Menschen aufzunehmen, können sie wahlweise auch Sachleistungen oder eine Abgabe von 20.000 Euro für jeden nicht aufgenommen Asylbewerber zahlen.

Um eine Rückführung nach abgeschlossenen Grenzverfahren zu gewährleisten, will die EU-Kommission noch stärker als bisher mit Herkunfts- und Transitstaaten verhandeln. Abschiebungen sollen auch in sogenannte sichere Drittstaaten möglich sein. Bislang konnte nur ein Fünftel aller Ausreisepflichtigen auch tatsächlich zurückgeführt werden.

EU-Kommission weist Kritik zurück

EU-Kommissarin Ylva Johansson, die jahrelang an dem Asylkompromiss gefeilt hat, bestand darauf, dass sich die Lage für die künftigen Migranten nicht verschlechtere. "Während des ganzen Verfahrens wird es jetzt eine Rechtsberatung geben und das Recht auf eine gerichtliche Überprüfung bleibt erhalten", sagte Johansson vor der Presse. Sie reagierte damit auf die harsche Kritik von fast 50 Hilfsorganisationen, die glauben, dass die neuen Regeln nicht praktikabel sind und zu einer Einschränkung des Asylrechts oder gar der Menschenrechte führen.

Ylva Johansson
EU-Kommissarin Johansson (Archiv): "Menschenrechte werden gewahrt, Verfahren kürzer"null Johanna Geron/REUTERS

Die Kritik hatten die Flüchtlingshelfer in einen offenen Brief an die Unterhändler von Parlament, Ministerrat und Kommission dargelegt. Familien mit Kindern, die im Grenzverfahren landen, sollen eine spezielle Unterbringung und Betreuung bekommen, versprach Kommissarin Johansson.

Die deutsche Bundesregierung hatte sich lange gegen eine Einbeziehung von Familien mit kleinen Kindern in die Schnellverfahren gewehrt, konnte sich letztendlich aber nicht durchsetzen. Die Deutschlands Innenministerin Nancy Faeser lobte das ausgehandelte Paket trotzdem als großen Erfolg für Europa. "Wenn wir das Europa der offenen Grenzen im Inneren bewahren wollen, müssen wir die Außengrenzen schützen und funktionierende Verfahren erreichen. Wir wollen, dass das Sterben auf dem Mittelmeer und das Chaos und die Rechtlosigkeit an den Außengrenzen ein Ende haben", sagte Faeser in Berlin.

Migranten an der russisch-finnischen Grenze bei Salla (21.11.2023)
Migranten an der russisch-finnischen Grenze bei Salla (im November): "Instrumentalisierung"null Jussi Nukari/picture alliance

"Die geplante Reform ist menschenrechtswidrig und wird zu mehr Leid, mehr Pushbacks und mehr Gewalt an den EU-Außengrenzen führen", kritisierte dagegen Julia Duchrow, die Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland. "Sie wird bestehende Herausforderungen nicht lösen, sondern verschärfen."

Bei einer "Instrumentalisierung" von Migranten, die zum Beispiel von Belarus oder Russland an die EU-Grenzen verfrachtet werden, sehen die neuen Regeln sofortige Zurückweisungen ohne Verfahren vor. Das wird von Amnesty International besonders kritisiert. Italien könne zum Beispiel Rettungsorganisationen "Instrumentalisierung" vorwerfen und Schiffbrüchige zurückweisen.

Auf die Anerkennungsquote kommt es an

Das neue schnellere Grenzverfahren würde nach Angaben der Europäischen Statistikbehörde Eurostat zum Beispiel Menschen aus Pakistan oder Venezuela betreffen, weil deren Anerkennungsquote im EU-Durchschnitt unter 20 Prozent liegt. Migranten aus Syrien, Somalia, Mali oder Afghanistan würden das normale Verfahren durchlaufen, das derzeit mehrere Jahre dauern kann. Ihre Anerkennungsquoten liegen deutlich über 20 Prozent.

Im Falle der Türkei entwickeln sich die Zahlen gerade sehr dynamisch. Die Zahl der Asylbewerber hat in diesem Jahr stark zugenommen. Die Anerkennungsquote zum Beispiel in Deutschland sank allerdings von 28 Prozent im Jahr 2022 auf geschätzte 15 Prozent in diesem Jahr.

Migranten vor dem Standort des Bundesamtes für Migration in Braunschweig (18.10.2023)
Standort des Bundesamtes für Migration in Braunschweig (im Oktober): Die Zahlen der Ankünfte sollen sinkennull Julian Stratenschulte/dpa/picture alliance

Noch haben sich weder Griechenland noch Italien verpflichtet, neue Internierungslager für die Grenzverfahren zu bauen, die von der EU-Kommission in den Gesetzestexten "Aufnahmezentren" genannt werden. Ungarn und Polen weigerten sich bei der Abstimmung im Ministerrat im Juni, sich an der verpflichtenden Solidarität zu beteiligen. Bei der praktischen Umsetzung der neuen Asylgesetze könnte also noch Ärger drohen.

Tunesien: Wird Migration Topthema im Wahlkampf 2024?

Angesichts des Krieges in Gaza ist ein anderes Drama am Mittelmeer in den Hintergrund der weltweiten Aufmerksamkeit getreten: das der Migrantinnen und Migranten, die versuchen, von Afrika aus nach Europa zu gelangen. Laut einer aktuellen Mitteilung des italienischen Innenministeriums kamen zwischen Januar und November 2023 rund 146.000 Menschen mit kleinen Booten in Italien an - ein Anstieg um 65 Prozent gegenüber den mehr als 88.000 Personen im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Die Hälfte von ihnen reiste demnach aus Tunesien ein.

Zugleich hat die tunesische Küstenwache im selben Zeitraum auch fast 70.000 Personen - mehr als doppelt so viele wie 2022 - an der Überfahrt in italienische Gewässer gehindert. Die meisten Migranten wurden nahe der tunesischen Hafenstadt Sfax abgefangen. Von dort aus beträgt der Seeweg zur italienischen Insel Lampedusa rund 130 Kilometer.

Geflüchtete in Tunesien: Misshandelt und abgeschoben

Die kürzlich von der Küstenwache veröffentlichten Statistiken weisen auf einen starken Anstieg der Zahl nicht-tunesischer Migranten hin. Ihr Anteil unter beträgt 78 Prozent. Im vergangenen Jahr lag er noch bei 59 Prozent.

Einer dieser Flüchtenden ist Enosso aus Burkina Faso. Im Interview mit der DW bat er darum, seinen Nachnamen nicht zu veröffentlichen. "Ich kam vor drei Monaten nach Tunesien und habe seitdem zweimal versucht, nach Italien zu gelangen", so der 30-Jährige. "Jeder Versuch hat mich rund 1000 Euro gekostet." Doch die erste Reise endete bereits nach sieben Kilometern, die zweite nach zwölf. "Die tunesische Küstenwache war nicht gewalttätig. Aber sie hat uns an der Überfahrt gehindert und nach Sfax zurückgeschickt", sagt Enosso.

Afrikanische Flüchtlinge im Hafen von Sfax
Menschenrechtsorganisationen werfen den tunesischen Behörden vor, Migranten zu misshandelnnull Ferhi Belaid/AFP/Getty Images

Nicht jeder habe das Glück, unversehrt nach Tunesien zurückkehren zu können, sagt Lauren Seibert, zuständig für Flüchtlings- und Migrantenrechte bei Human Rights Watch (HRW), im DW-Gespräch. In diesem Jahr dokumentierte HRW mehrere Fälle, in denen Mitglieder der tunesischen Polizei, des Militärs, der Nationalgarde und der Küstenwache  Geflüchtete misshandelt und rechtswidrig kollektiv ausgewiesen haben. Seibert: "Wenn die Abfangaktionen ohne ernsthafte Kontrolle und Rechenschaftspflicht zunehmen, drohen weitere Übergriffen auf Migranten."

Ungeachtet derartiger Risiken wartet auch Mohammed Awal Saleh aus der Republik Benin auf seine Chance, nach Italien zu kommen. Die tunesische Polizei hat ihn vor einigen Wochen aufgegriffen und in einem Olivenhain außerhalb von Sfax abgesetzt. "Jetzt regnet es und wir wissen nicht, wo wir Schutz suchen können", erzählt Saleh der DW.

Umstrittener Migrationspakt mit der EU

Im Juni bot die Europäische Kommission dem tunesischen Präsidenten Kais Saied ein finanziell üppig ausgestattetes, als "Migrationspakt" bezeichnetes Partnerschaftsprogramm an, das die Zuwanderung nach Europa verringern soll.

Damals stellte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen dem wirtschaftlich angeschlagenen Tunesien bis zu 900 Millionen Euro und weitere 105 Millionen Euro für das laufende Jahr 2023 in Aussicht. Im Gegenzug sollte das nordafrikanische Land irreguläre Migration möglichst verhindern. Das Angebot überstieg fast um das Dreifache die Summe, die Tunesien in den beiden vorangegangenen Jahren erhalten hatte. Dann aber erklärte Saied, sein Land werde nicht zum Schleusenwärter für Migranten.

"Bisher gibt es nur eine nicht bindende Absichtserklärung", kommentiert Heike Löschmann, Leiterin des Tunis-Büros der Heinrich-Böll-Stiftung, den Stand der Verhandlungen. Diese sehe fünf Bereiche der Zusammenarbeit vor, darunter die Energiewende und den Ausbau der Bildung. Nur eine Säule des Abkommens betreffe direkt die Migration

Gewalt und Verfolgung treiben mehr Menschen nach Europa

Seit Oktober sei die Migration zurückgegangen, sagt Ramadan Ben Omar vom tunesischen Forum für wirtschaftliche und soziale Rechte der DW. Das liege nicht nur an dem raueren Seewetter im Herbst und Winter. "Die tunesischen Behörden haben die Grenzkontrollen verschärft und Aktionen gegen Schmuggler und Bootsbauwerkstätten gestartet", begründet er den Rückgang.

Es sei gut möglich, dass die Fluchtbewegungen "nicht viel mit dem Migrationspakt zu tun haben", meint die Politologin Hager Ali vom German Institute for Global and Area Studies (GIGA) in Hamburg. Vor allem die steigende Zahl der aufgegriffenen Nicht-Tunesier spiegele die politische Situation in Staaten wie Burkina Faso, Mali, Guinea, Elfenbeinküste, Sudan, Eritrea und Libyen. "Diese Länder erlebten in den vergangenen zwei Jahren Militärputsche, politische und wirtschaftliche Instabilität, extreme Gewalt, Verfolgung und Binnenvertreibung. Das hat viele Menschen zur Flucht veranlasst."

Der tunesische Präsident Kais Saied während einer Rede
Verliert die Gunst der jungen Wähler: Präsident Kais Saiednull Tunisian Presidency/APA Images/ZUMA/picture alliance

Diese Entwicklung könnte erklären, weshalb die Statistik der Küstenwache ausweist, dass der Anteil der tunesischen Migranten Richtung EU von 41 Prozent im Jahr 2022 auf 22 Prozent im Jahr 2023 auf nahezu die Hälfte gesunken sei, sagt Heike Löschmann. Zwar sei auch der Wunsch jüngerer Tunesier, ihr Land zu verlassen, weiterhin ungebrochen - doch die Zahl der Geflüchteten aus Subsahara-Afrika sei enorm angestiegen. 

Zudem haben sich die Lebensbedingungen für diese Migranten in Tunesien im ablaufenden Jahr stark verschlechtert. Im Februar entfachte Präsident Saied eine Gewaltwelle gegen afrikanische Geflüchtete, als er ihnen vorwarf, sie wollten Tunesien von einem "arabisch-muslimischen" in ein "afrikanisches" Land verwandeln. Und Abschiebungen von Geflüchteten in die Libysche Wüste kostete mehr als 100 Menschen das Leben. 

Dürre verschärft Tunesiens Wirtschaftskrise 

Die Migranten halten sich in einem Land auf, das seinerseits unter hohem ökonomischem Druck steht. Angaben des tunesischen Statistikamtes zufolge betrug die Inflation im November 8,3 Prozent. Die Arbeitslosigkeit lag bei 15 Prozent. Zudem setzte die anhaltende Dürre den Agrarsektor unter Druck - und der gibt vielen Migranten Arbeit. Das führte zu einem Rückgang der Wirtschaftsleistung um 16,4 Prozent.

Selbst der Kauf von Lebensmitteln ist schwierig geworden. "Manchmal kann ich mir nicht einmal mehr einfache Weizenknödel leisten", sagt Mohammed Awal Saleh aus Benin der DW.

Menschenschmuggel hat Hochkonjunktur in Tunesien

Migration und Wirtschaftskrise dürften auch die im November 2024 anstehenden Präsidentschaftswahlen dominieren, erwarten Beobachter. Der im Oktober 2019 demokratisch gewählte, seit dem Sommer 2021 aber zunehmend autoritär regierende Saied habe inzwischen vor allem bei jungen Wählern an Unterstützung verloren, sagt Hager Ali. 

"Für Kais Saied steht viel auf dem Spiel", so die Politologin. "Leider haben wir in den vergangenen Jahren bei den Europawahlen gesehen, dass die Verunglimpfung von Migranten, insbesondere aus Subsahara-Afrika, als Wahlkampfstrategie gut funktioniert. Denn sie lenkt die Frustration der Wähler auf verletzliche Menschen. Sie sind ein leichtes Ziel."

Wie Migranten über Russland nach Finnland gelangen

Finnland schließt alle Grenzübergänge zu Russland - bis auf eine Ausnahme im Nordosten des Landes. Damit bleibt die Grenze zwischen den beiden Ländern fast vollständig geschlossen.

Bereits in der Nacht zum 18. November waren vier Grenzübergänge an der russisch-finnischen Grenze geschlossen worden. In der Nacht auf 24. November sollen drei weitere Übergänge für einen Monat unpassierbar werden (siehe Karte). 

"Rache des Kremls"

Helsinki begründet die Entscheidung mit der Zunahme illegaler Grenzübertritte. Der finnische Präsident Sauli Niinistö glaubt, dass der "Zustrom von Migranten die Rache des Kremls" für den Beitritt Finnlands zur NATO sei. Aus Moskau heißt es, die Grenzübergänge würden nur von Personen genutzt, die dazu berechtigt seien.

Seit August dieses Jahres haben 684 Bürger aus dem Jemen, Irak und Somalia sowie anderen Ländern Afrikas und des Nahen Ostens in Finnland Asyl beantragt. Das teilte der finnische Grenzschutz auf Anfrage der DW mit. Alle Migranten seien über russische Grenzübergänge auf finnisches Hoheitsgebiet gelangt, ohne eine EU-Einreiseerlaubnis zu haben.

Reise-Tipps in Messenger-Gruppen 

Über eine Einreise von Russland nach Finnland ohne gültige Papiere kursieren im Internet viele Informationen. So führte eine DW-Recherche im Nachrichtendienst Telegram zu mehreren Gruppen auf Arabisch, in denen diesbezügliche Erfahrungen ausgetauscht wurden.

Ein Kleinbus am Kontrollpunkt Nuijamaa
Ein Kleinbus wartet am Kontrollpunkt Nuijamaa an der russisch-finnischen Grenzenull Vesa Moilanen/dpa/Lehtikuva/picture alliance

Beispielsweise wird in der Gruppe "Informationen Russland-Finnland" (auf Arabisch: معلومات روسيا فنلندا) gegen Bezahlung Hilfe beim Beantragen eines Visums für Russland und anschließend beim Überqueren der russisch-finnischen Grenze angeboten, sogar von den Administratoren der Gruppe.

Wie aus dem Chatverlauf hervorgeht, wurde die Gruppe im Mai 2022 vom User "Rus GT" erstellt. Sein Profil ist inzwischen gelöscht. Wer sich hinter dem Account verbarg, ist nicht bekannt.

"Hilfe" beim Grenzübertritt

Mehrere User, deren Profile ebenfalls inzwischen gelöscht sind, versicherten im Chat, sie könnten bei der Beantragung eines russischen Studienvisums und anschließend beim Überqueren der Grenze entweder nach Estland oder Finnland behilflich sein. Für die Beschaffung eines dreimonatigen Studienvisums zur formalen Teilnahme an kurzen Sprachkursen in Russland sowie für den Transport bis zur EU-Grenze wurden 1300 US-Dollar verlangt.

Für 2500 US-Dollar wurde ein Visum versprochen, das um ein Jahr verlängert werden kann. Darüber hinaus wurde eine "studentische Unterkunft" und eine Krankenversicherung garantiert, "damit es an der Grenze keine Probleme gibt".

Ferner sollte bis zur Grenze eine russischsprachige Begleitung gestellt werden, "die sich in der Gegend besser als ein GPS auskennt". Zudem wurden Hinweise gegeben, wie man "aufgrund politischer Ansichten, Überzeugungen oder Bedrohungen im Heimatland" am besten in der Europäischen Union Asyl beantragt.

Was versprechen die "Vermittler"?

Im Oktober und November 2023 gab es die meisten Nachrichten im Chat. So schrieb ein User mit einer in Belarus registrierten Telefonnummer und dem Nicknamen "Abo Abdo", er könne Menschen helfen, die nach Finnland wollten.

Sie würden erst von "bestimmten Russen" nach Wyborg gebracht, von wo sie sich dann selbst auf den Weg nach Finnland machen müssten. Für den Grenzübertritt benötige man jedoch ein Fahrrad, so "Abo Abdo".

Eine ganze Reihe sichergestellter Fahrräder
Sichergestellte Fahrräder am russisch-finnischen Grenzübergang Nuijamaanull Vesa Moilanen/dpa/Lehtikuva/picture alliance

Die meisten Grenzübergänge zwischen Russland und Finnland können tatsächlich nur mit einem Verkehrsmittel und nicht zu Fuß passiert werden. Dazu zählen auch Fahrräder und Roller.

Ein Russe, der den Kontrollpunkt Värtsilä-Niirala überquert hat, erklärte gegenüber der DW, er habe einen Kleinbus mit russischen Nummernschildern voller Fahrräder beobachtet. Der Busfahrer habe kurz vor der Grenze die Zweiräder an rund 30 Personen verteilt.

Ein weiterer Mann berichtet, die Menschen hätten zunächst schnell die Fahrräder in Empfang genommen. "Dann folgten sie einem russischen Grenzbeamten bis zur Kontrolle", so der Augenzeuge.

Ein anderer User der Gruppe mit dem Nicknamen "N" berichtete, die russische Polizei würde keine Migranten festnehmen, die zusammen mit einem "Vermittler" auftauchten.

Ein weiterer User mit dem Nicknamen "Torab" betonte, die "Vermittler" hätten eine Art Abmachung mit den russischen Grenzbeamten. Sie würden die Pässe der Migranten abstempeln und diese auf die finnische Seite schicken.

Dort könnten die Menschen dann einen Asylantrag stellen. Beide User haben auf Rückfragen der DW nicht reagiert.

Schild am Grenzübergang Vartius an der russisch-finnischen Grenze
Grenzübergang Vartius an der russisch-finnischen Grenzenull Miska Puumala/Lehtikuva/dpa/picture alliance

Seit der Ankündigung der finnischen Behörden, die Kontrollpunkte zu schließen, wird in einer anderen Telegram-Gruppe mit der Bezeichnung "Moscow_Finland" darüber diskutiert, ob es möglich sei, die russisch-finnische Grenze hoch im Norden in der Region Murmansk oder in Karelien zu überqueren.

Die Zahl der User dieser Gruppe stieg in kurzer Zeit von 30 auf 170 Teilnehmer. Angesichts der neuen Lage verlangen viele von den "Vermittlern" eine Garantie für den Grenzübertritt in die EU.

"Wenn ich an der Grenze ankomme, kann es dann passieren, dass ich festgenommen und abgeschoben werde?", will einer der User wissen.

Die Antwort klingt beruhigend: "Innerhalb von zwei Tagen haben mehr als 100 Menschen die Grenze passiert und niemand wurde abgeschoben", versicherte der Administrator der Gruppe "Moscow_Finland".

Russland weist Finnlands Vorwürfe zurück

Unterdessen betonte die finnische Außenministerin Elina Valtonen in einem Interview mit der DW, dass Russland die gemeinsame Grenze nicht mehr gemäß der bilateralen Vereinbarungen bewache.

Dies gefährde die nationale Sicherheit und öffentliche Ordnung in Finnland. Laut Valtonen "scheint Russland illegale Grenzübertritte zu fördern".

Dmitrij Peskow, Sprecher des russischen Präsidenten, wies seinerseits darauf hin, dass Grenzübergänge "von denen genutzt werden, die das gesetzliche Recht dazu haben, und dass die russischen Grenzbeamten in dieser Hinsicht alle offiziellen Anweisungen vollständig befolgen".

Das russische Außenministerium erklärte, es halte die Idee der finnischen Behörden, alle Kontrollpunkte an der Grenze zu schließen, für "destruktiv".

Vorerst sind die vier Kontrollpunkte an der russisch-finnischen Grenze, die in der Nähe der Metropole St. Petersburg liegen, nur bis zum 18. Februar 2024 geschlossen. Vom finnischen Innenministerium heißt es, dass diese Entscheidung noch korrigiert oder ganz aufgehoben werden könnte, sollte sie nicht mehr nötig sein.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk

Finnland schließt fast alle Grenzübergänge nach Russland

Afghanische Migranten: Wird der Iran dem Beispiel Pakistans folgen?

Während die Übergangsregierung in Pakistan bereits angekündigt hat, 1,7 Millionen der nach offiziellen Angaben bis zu 4,4 Millionen Afghanen im Land abzuschieben, gibt es bisher noch keine derartigen offiziellen Ankündigungen des Iran, wo noch mehr Afghanen leben - laut offiziellen Schätzungen rund fünf Millionen. Roxana Shapour vom Afghanistan Analysts Network beobachtet dennoch eine Veränderung: „Üblicherweise führt der Iran freiwillige Rückführungen in Absprache mit der IOM durch", sagt sie im Gespräch mit der DW. Sie erhalte jedoch in jüngerer Vergangenheit deutlich mehr Berichte über Abschiebungen, die gegen den Willen der Betroffenen und ohne Rücksprache mit der UN-Organisation für Migration durchgeführt wurden.

Nach Angaben der Grenzbehörden der Taliban hat sich die Anzahl der Migranten, die täglich aus dem Iran nach Afghanistan zurückkehren, im Vergleich zum Vormonat tatsächlich verdoppelt und liegt nun bei etwa 3.400 bis 4.500 Personen pro Tag.

Hochrangige Gespräche mit Afghanistan zur Migration

Vor diesem Hintergrund besuchte vorletzte Woche eine Delegation der Taliban den Iran - die bislang ranghöchste seit deren Machtübernahme in Afghanistan. Abdul Ghani Baradar, Taliban-Mitgründer und stellvertretender Wirtschaftsminister des Regimes, vereinbarte dabei mit dem iranischen Außenminister Hossein Amir- Abdollahian neben der Ausweitung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit auch die Einrichtung einer gemeinsamen Arbeitsgruppe, die geordnete Rückführungen von Afghanen sicherstellen soll. Die DW hat Abdul Rahman Raschid, Minister der Taliban-Regierung für Flüchtlings- und Rückkehrangelegenheiten, zu dieser Frage kontaktiert, ein vereinbartes Gespräch kam jedoch bis Redaktionsschluss nicht zustande.

Ökonomie im Iran
Der iranische Außenminister Hossein Amir-Abdollahian behauptet, dass eine Million Afghanen allein in den Monaten nach der Machtübernahme der Taliban in den Iran geflohen seien.null Rouzbeh Fouladi/ZUMA/picture alliance

Der Iran und Pakistan sind die beiden Länder in der Region mit der höchsten Anzahl von afghanischen Geflüchteten. Der iranische Außenminister Abdollahian behauptet, dass etwa eine Million Afghanen allein in den Monaten nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan in den Iran eingereist seien. Woher die Behörden diese Informationen haben, ist nicht bekannt.

Die meisten Flüchtlinge überqueren die Grenze illegal und werden nicht registriert. Die 950 Kilometer lange Grenze mit Afghanistan verläuft über hohe Berge und unwegsames Gelände; der Iran kann sie schwer sichern. Offiziell gibt es nur drei Grenzübergänge, über die derzeit afghanische Flüchtlinge vom Iran nach Afghanistan abgeschoben werden.

Kontroverse im Iran

Obwohl Teheran die Taliban-Regierung bis heute nicht offiziell anerkennt, duldet es die Nutzung der afghanischen Botschaft durch Taliban-Vertreter und hält seine Botschaft und Konsulate im Nachbarland offen. Auch innenpolitisch findet die Debatte im Iran durchaus kontrovers statt. Die dem Regime nahestehende Zeitung „Jomhuri-ye Eslami" warnt in zahlreichen Artikeln vor wachsenden Bedrohungen, wenn die Anzahl afghanischer Migranten im Iran steige, während die offizielle Nachrichtenagentur „Mehr News" in einem ausführlichen Artikel die positive Rolle der Afghanen in der iranischen Wirtschaft hervorhebt.

Iran Afghanistan Arbeiter
Wichtig für die Wirtschaft im Iran: ein afghanischer Bauarbeiter in der Stadt Isfahannull Morteza Nikoubazl/NurPhoto/picture alliance

Katja Mielke, Senior Researcher beim Bonn International Centre for Conflict Studies (BICC), verweist auf die lange Geschichte dieser Verbindung mit dem Nachbarland. Arbeitsmigration aus Afghanistan in den Iran gebe es schon seit 100 Jahren, allerdings erfolge diese in der Regel unreguliert. Ali Fekri, der Generaldirektor der Organisation für Kapitalanlage und wirtschaftliche und technische Hilfe des Iran, betont in dem Beitrag für Mehr News einen weiteren Aspekt: Ihm zufolge wurden im ersten Halbjahr 2023 die meisten ausländischen Investitionen im Iran durch afghanische Staatsbürger getätigt. Ein wichtiger Aspekt für die von westlichen Sanktionen und Inflation stark in Mitleidenschaft gezogene Wirtschaft des Landes.

Kommt Massenabschiebung von afghanischen Geflüchteten?

Ob der Iran massenhafte Abschiebungen nach dem Vorbild Pakistans ernsthaft in Erwägung zieht, lässt sich anhand der vorliegenden Fakten nicht abschließend bewerten. Katja Mielke fürchtet, dass schon die zu erwartenden Abschiebungen aus Pakistan zu einer drastischen Verschlimmerung der humanitären Lage in Afghanistan führen werden. „Wir haben Probleme mit Arbeitsbeschaffung, die Menschen haben nicht genug Einkünfte, sie können sich nicht richtig ernähren. Es mangelt an allen Ecken und Enden," so die Forscherin. Diese Lage werde bereits durch die Abschiebungen aus Pakistan drastisch verschärft.

Aus ihrer Sicht versucht die Taliban-Regierung, eine zusätzliche Verschlimmerung durch weitere Ausweisungen aus dem Iran zu vermeiden. Shapour sieht dabei durchaus Grund zur Hoffnung. Zum einen gebe es eine durchaus relevante Anzahl von afghanischen Geschäftsleuten, die offiziell und mit gültigem Aufenthaltstitel im Iran wohnen. Zum anderen seien in vielen Branchen – dabei besonders im Baugewerbe – der Großteil der Arbeiter Afghanen. Nicht zuletzt verweist die Expertin auf das Handelsvolumen zwischen den Ländern und zieht den Schluss: „Es ist schwer vorstellbar, dass der Iran Maßnahmen ergreifen würde, die sich negativ auf die Wirtschaftsbereiche auswirken, […] besonders angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Situation."

Wie in Nigeria über Deutschlands Abschiebungspolitik diskutiert wird

Menschen in Nigeria verfolgen die hitzige Debatte um die neue Ausländerpolitik Deutschlands, die auch Folgen für zahlreiche nigerianische Flüchtlinge in Deutschland hat. Berlin ist entschlossen, eine härtere Gangart einzuschlagen, insbesondere bei der Abschiebung von Migranten, deren Asylantrag abgelehnt wurde. Dennoch streben viele Nigerianer nach wie vor danach, ins Ausland überzusiedeln

"Wenn ich auf legalem Weg nach Europa gelangen kann, ist das besser für mich, denn die Not hier ist sehr groß", sagt ein Anwohner des Viertels "Area 10 Market" in Nigerias Hauptstadt Abuja. Einige äußern Zweifel an dem gefährlichen Schritt, ihr Heimatland zu verlassen: "Manche Menschen reisen ohne Ziel. Man muss einen Grund haben", sagt ein anderer zur DW. "Ich würde Nigeria nicht verlassen wollen. Wenn alle Nigerianer gehen, wer bleibt dann noch übrig hier? Wir müssen Nigeria aufbauen, anstatt es einfach zu verlassen".

Abschiebeflug Abschiebung Symbolbild
Ausländische Flüchtlinge sollen künftig aus Deutschland zügiger in ihre Heimatländer ausgeflogen werdennull Michael Kappeler/dpa/picture alliance

Nigeria, Afrikas bevölkerungsreichstes Land, hat mit Korruption, Arbeitslosigkeit und Terror zu kämpfen. Boko Haram und ISWAP (Islamischer Staat Provinz Westafrika) haben ihre Angriffe auf Regierungs- und Sicherheitskräfte sowie auf Zivilisten im Nordosten des Landes fortgesetzt. In dem Konflikt sind seit 2009 etwa 40.000 Menschen getötet und mehr als zwei Millionen vertrieben worden.

Nigeria gehörte jahrelang zu den zehn wichtigsten Herkunftsländern von Asylbewerbern in Deutschland. Seit letztem Jahr ist dies nicht mehr der Fall, aber auch in diesem Jahr wurden bis September mehr als 1800 Asyl-Erstanträge von Nigerianern gestellt.

Nigerias unerfüllte Versprechen

Die Anerkennungsquote ist jedoch vergleichsweise niedrig. Knapp 14.000 Menschen aus Nigeria gelten aktuell nach Angaben der deutschen Ausländerbehörde als ausreisepflichtig. Davon sind rund 12.500 geduldet, meist weil sie keine Ausweispapiere haben. Bislang hat Nigeria die Menschen in diesen Fällen in der Regel nicht zurückgenommen.

Judith Ibi, eine nigerianische Anwältin, sagt, dass viele Nigerianer das Land in erster Linie verlassen, um in Deutschland bessere Arbeitsmöglichkeiten, höhere Löhne und einen besseren Lebensstandard zu finden. "In diesem Fall mache ich die nigerianische Regierung dafür verantwortlich, dass sie ihre Aufgaben und ihre Politik nicht erfüllt", sagt sie im DW-Gespräch.

Laut Ibi sieht die nigerianische Verfassung eine Sozialpolitik vor, die das Leben der Bürgerinnen und Bürger in Nigeria erleichtern soll. "Das Versäumnis der Regierung, diese Leistungen bereitzustellen, ist jedoch ein großes Problem", erklärt sie.

Nigeria | Bundeskanzler Olaf Scholz trifft Präsident Bola Tinubu
Bundeskanzler Olaf Scholz warb bei seinem Treffen mit Nigerias Präsident Bola Tinubu für eine bessere Handhabung von Migrationnull Nosa Asemota/Nigeria State House/AP/picture alliance

Während seines Besuchs in Nigeria Ende Oktober forderte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) eine engere Partnerschaft zur Steuerung der Migration. Er sprach sich für den Ausbau von Migrationszentren aus und forderte die Rückführung von abgelehnten Asylbewerbern.

Finanzierung der Migrationszentren

Die Migrationszentren wurden gegründet mit dem erklärten Ziel, Rückkehrer aus Deutschland und anderen Ländern zu unterstützen. Im Gegenzug sollen die Einrichtungen Fachkräfte beraten, die nach Deutschland auswandern wollen.

"Das erfordert Vorbereitung und Investitionen - auf beiden Seiten", sagte Kanzler Scholz in Lagos. Präsident Bola Tinubu hat sich offen für die Rückkehr der betreffenden Migranten gezeigt, und es gibt Pläne zum Ausbau von Migrationszentren in Nigeria.

Celestine Odogwu, Soziologiedozentin an der Universität Abuja, unterstützt nachdrücklich die Absicht Berlins, Nigerianer ohne Bleiberecht in Deutschland zurückzuschicken. "Es ist bedauerlich, dass Nigerianer in einer Situation sind, in der sie in Deutschland nichts zu tun haben", sagt sie.

"Was die deutschen Behörden jedoch verlangen, ist der Schutz ihrer Wirtschaft und ihres Staates, was für jede verantwortungsvolle Regierung normal ist. Wenn illegale Migranten in einer Gemeinde angetroffen werden, stellt das eine Beeinträchtigung für andere Menschen dar", so die Soziologin zur DW.

Qualifizierte Migranten werden gebraucht

Im Rahmen der jüngsten Reise von Bundeskanzler Scholz nach Nigeria und Ghana wurde viel über Menschen aus diesen beiden Ländern, die sich ohne Aufenthaltsrecht in Deutschland aufhalten, und ihre mögliche Rückkehr vor allem nach Nigeria diskutiert, bestätigt Henrik Maihack, Leiter der Afrika-Abteilung der Friedrich-Ebert-Stiftung, im DW-Interview.

"Das langfristige strategische Ziel Europas müsste jedoch sein, mehr qualifizierte Migranten nach Europa zu holen, anstatt über die Rückkehr zu reden. Denn im Jahr 2050 wird ein Drittel aller Europäer im Ruhestand sein", betont Maihack.

Deutschland als größte Volkswirtschaft in Europa müsse sich - ebenso wie Europa insgesamt - darüber Gedanken machen, wie es ein attraktives Ziel für qualifizierte Migranten werden könne, sagt er. "Das wird eine strategische Frage sein, denn das ist eine entscheidende Säule für die Sicherung unseres zukünftigen wirtschaftlichen Wohlstands in Europa."

Symbolbild Flüchtling aus Nigeria
Arbeit in Deutschland - darauf hoffen viele Migranten, die ins Land kommen. Doch jetzt drohen ihnen schnellere Abschiebungennull Lino Mirgeler/dpa/picture alliance

Tahir Della, Sprecher der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland, beschreibt im DW-Gespräch die aktuelle deutsche Migrationspolitik mit harten Worten: "Abschiebung um jeden Preis, Abwälzung der Verantwortung auf den Globalen Süden, Missachtung der Menschenrechte und weitere Aushöhlung des Asylrechts."

Schon in den 1990er Jahren habe sich gezeigt, dass dies die Migration auf Dauer nicht verhindern werde, und es werde immer deutlicher, dass sich die europäischen Nationen, Gesellschaften und Staaten diesen Problemen endlich verantwortungsvoll stellen müssten, so der Aktivist. "Eine Festung Europa darf und soll es nicht geben."

Deutschland "nicht am Abgrund"

Die deutsche Regierung steht unter starkem Druck der Oppositionsparteien, die ihr vorwerfen, die Zuwanderung nicht zu kontrollieren und die illegale Migration nicht zu stoppen. Offenkundig durch Migranten ausgelöste Krawalle hatten dazu neuen Anlass gegeben. "Die Politiker fühlen sich von der Alternative für Deutschland (AFD) und anderen getrieben", sagt Della mit Blick auf diese rechtspopulistische politische Partei.

Aber nur ein kleiner Teil der Flüchtlinge aus Nigeria und anderen Ländern erreichten Europa und Deutschland, sie wanderten in erster Linie in ihre Nachbarländer, merkt Della an. Die Politik müsse sich die Fragen stellen: 'Wohin schieben wir sie ab, wie ist die Sicherheitslage in der Heimat und wie sind ihre Perspektiven?', betont Della: "Deutschland ist nicht am Abgrund."

Dieser Artikel erschien zuerst auf Englisch. Mitarbeit: Ben Shemang in Abuja

Südafrikas massives Problem mit Ausländerfeindlichkeit

Die selbsternannte Bürgerwehr, die in Südafrika im Township Soweto durch die Straßen zog, hatte nur ein Ziel: Ausländer vertreiben. Ein Mob aus Anhängern der Anti-Migranten-Gruppe Operation Dudula stürmte in der Hüttensiedlung Diepkloof in kleine Kioske, die von Migranten betrieben werden. Die Dudula-Leute griffen die Besitzer an, prüften das Verfallsdatum ihrer Produkte und drohten mit Schließung der sogenannten Spaza-Shops.

Auch Victress Mathuthu, die aus Simbabwe stammt, wurde dabei zur Zielscheibe des Ausländerhasses schwarzer Südafrikaner. "Wenn die Mitglieder der Operation Dudula unzufrieden damit sind, dass Ausländern Lizenzen für den Betrieb von Kleinbetrieben erteilt werden, sollten sie sich an die Regierung oder das zuständige Ministerium wenden", sagte die Simbabwerin im DW-Interview.

Angriffe auf Spaza-Shops

Unter dem Vorwand, dass die zuständigen Behörden ungenügend gegen Ausländer vorgingen, nehmen die Anhänger der Operation Dudula das Gesetz einfach selbst in die Hand. 

"Es ist Ihnen nicht erlaubt, einen Spaza-Laden zu besitzen", behauptete beispielsweise Thabo Ngayo bei so einer Selbstjustiz-Aktion gegenüber einem ausländischen Kioskbesitzer. Die seien nur für Südafrikaner reserviert, so der nationale Dudula-Koordinator. "Das bedeutet, dass dieser Spaza-Shop einem Südafrikaner gehören muss. Sie haben ein paar Tage Zeit, ihn zu räumen", setzte Ngayo dem Kioskbesitzer ein Ultimatum. Das gelte auch für die ausländischen Besitzer, deren Läden angemeldet seien, fabulierte der Dudula-Funktionär.

Ins gleiche Horn stößt Mzwanele Manyi, Abgeordneter der Economic Freedom Fighters (EFF). Auch er fordert die Schließung von Spaza-Läden in ausländischen Besitz im ganzen Land. "Wir können eine solche Situation nicht tolerieren", sagte Manyi der Deutschen Welle.

Ausländerhass in Südafrika tief verwurzelt

Fremdenfeindlichkeit ist nicht neu in Südafrika, sie flammt immer wieder auf: Im April 2022 wurde ein Simbabwer in Diepsloot nördlich von Johannesburg gesteinigt und verbrannt. 2008 zündeten schwarze Südafrikaner in den Townships die Hütten ihrer ausländischen Nachbarn an. 62 Menschen starben. Der Aufschrei bei dieser massiven Welle an Hass war groß, doch die damals begonnene Aufklärungsarbeit von Initiativen ging nicht weit genug.

Daten zu ausländerfeindlichen Übergriffen erhebt die Plattform Xenowatch, die vom Afrikanischen Zentrum für Migration und Gesellschaft an der Universität Witwatersrand entwickelt worden ist. In dem Beobachtungszeitraum von 1994 bis heute kam es zu insgesamt 1038 Übergriffen auf Migranten. 661 Menschen kamen ums Leben, 5131 Läden wurden geplündert. Xenowatch geht zudem von einer Dunkelziffer aus, da nicht alle Vorfälle gemeldet würden.

Anwachsen des rechten Lagers

Die Operation Dudula tauchte erstmals im Jahr 2020 in den sozialen Medien auf. Dudula ist ein Wort aus der Zulu-Sprache, das "zurückdrängen" bedeutet. Jetzt hat sich die Bewegung als politische Partei registriert - sie wird 2024 zur Wahl antreten.

Doch Dudula-Mitglieder werden wohl nicht die Einzigen sein, die mit ausländerfeindlichen Parolen in den Wahlkampf ziehen. Auch Südafrikas momentan drittstärkste Partei, die EFF, versucht es auf diese Weise. Wirtschaftlich vertritt sie linksradikale Positionen und gibt sich gleichzeitig offen fremdenfeindlich.

Weitere, kleinere Parteien hetzen ebenfalls zunehmend gegen Ausländer. Zum Beispiel die Patriotische Allianz und ActionSA. Letztere konnte vor zwei Jahren bei den Kommunalwahlen mit ausländerfeindlichen Parolen punkten.

Aus Sicht von Fredson Guilengue ist das eine bedrohliche Entwicklung. Er ist in Johannesburg Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die der deutschen Linkspartei nahesteht. Guilengue befürchtet vor der anstehenden Präsidentenwahl im Mai 2024 einen Anstieg der Übergriffe gegen Migranten und ein Anwachsen des rechten Lagers in Südafrika.

Fremdenfeindlicher Protest in Johannesburg (13.02.2022) - Ein Mann hält ein Plakat mit der Aufschrift "Ausländer müssen in die Heimat zurück"
Fremdenfeindlicher Protest in Johannesburg (2022): "Ausländer müssen in die Heimat zurück"null Guillem Sartorio/AFP

Auch wenn die Zahl der aktiven fremdenfeindlichen Übergriffe aktuell geringer sei als 2022, nehme die Ablehnung von Ausländern generell zu, sagt Guilengue, der aus dem Nachbarland Mosambik stammt. "Im Gegensatz zu den vorangegangenen Wellen scheinen wir jetzt eine Institutionalisierung der Fremdenfeindlichkeit zu erleben", sagte er der DW. Auch Operation Dudula trage dazu bei.

Die Ablehnung von Einwanderern: Ein Erbe der Apartheid

Die Schwierigkeiten der schwarzen Südafrikaner, Menschen aus anderen Ländern Afrikas zu akzeptieren, erklärt sich Guilengue durch eine Kombination von Faktoren: "Erstens haben Kolonialismus und Apartheid nicht nur zu einer Spaltung zwischen Weißen und Schwarzen geführt, sondern auch zu einer Spaltung innerhalb der schwarzen Mehrheitsgesellschaft, wodurch Einwanderer auf die unterste Stufe der schwarzen Gesellschaft gestellt wurden." Dieses Erbe der Apartheid werde nun durch eine desolate Wirtschaft, die keine Arbeitsplätze schafft, und aufgrund der fremdenfeindlichen Politik einiger Parteien noch verschärft.

Der Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung vermutet, dass auch die bisherige Dauerregierungspartei, der Afrikanische Nationalkongress (ANC), auf den fremdenfeindlichen Zug aufspringen könnte. Denn auch im ANC gibt es fremdenfeindliche Kräfte und Nelson Mandelas ehemalige Befreiungsbewegung steht vor den schwierigsten Wahlen ihrer Geschichte: Experten sagen voraus, dass der ANC erstmals unter die 50-Prozent-Marke fallen könnte.

Südafrikas Probleme nicht von Migranten verursacht

Fremdenfeindliche Übergriffe

Jeder zweite junge Mensch in Südafrika sei arbeitslos, heißt es in einer Studie des Institutes für Sicherheitsstudien (ISS) in Pretoria. Die Schuld an der wachsenden Armut, extremer sozialer Ungleichheit, Korruption und hoher Kriminalität werde häufig auf Ausländer abgewälzt.

In Wirklichkeit seien aber laut ISS schlechte Regierungsarbeit und Korruption in der Politik sowie Mängel in der Verwaltung für die Probleme verantwortlich. Zudem sei der geschätzte Ausländeranteil in Südafrika mit 6,5 Prozent nicht höher als anderswo auf der Welt.

Dass viele Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis im Land sind, habe auch mit einer schlechten Migrationspolitik zu tun. Viele Ausländer würden auf ganz legalen Wegen einwandern, würden dann aber ihren Status unverschuldet verlieren, so die Forschenden aus Durban. Denn das südafrikanische Innenministerium sei schon seit Jahren von Korruption geplagt und mit der Bearbeitung von Anträgen und Aufenthaltsgenehmigungen in Verzug.

Mitarbeit: Thuso Khumalo

Migration und Asyl: Berlin unter Druck - nicht überfordert

In der Asyl - und Migrationspolitik in Deutschland besteht Handlungsbedarf, darüber sind sich fast alle politischen Entscheidungsträger einig. Viele Kommunen, die für die Unterbringung und Versorgung der geflüchteten Menschen zuständig sind, sehen sich an der Grenze der Belastbarkeit. Sie klagen über zu wenig Platz für die Unterbringung, über zu wenig Geld für die Versorgung. 

Zuletzt hatte die Bundesregierung den Kommunen für das kommende Jahr 1,7 Milliarden Euro für Unterbringung, Versorgung und Integration angeboten, weniger als in diesem Jahr. Viel zu wenig, kritisierte der Hauptgeschäftsführer des Städte- und Gemeindebunds, Gerd Landsberg. Im Magazin "Handelsblatt" plädierte er für "mehr Ordnung, mehr Begrenzung, eine gerechte Verteilung in Europa und endlich eine ausreichende Finanzierung der umfänglichen Aufgaben der Kommunen".

Berlin: "Enormer Druck, aber noch keine Überlastung."

Der Berliner Staatssekretär für Soziales, Aziz Bozkurt (SPD), ist einer derjenigen, der die Aufnahme in den Kommunen organisiert. Er präsentierte Mitte der Woche die aktuellen Zahlen für die deutsche Hauptstadt: In Berlin hat die Zahl der Asylsuchenden gegenüber dem Vorjahr um fast 32 Prozent zugenommen.

Blick auf die Container des Erstaufnahmezentrums in Berlin-Tegel, im Vordergrund die Haltestelle für den Bus-Shuttle.
Platz für momentan 4000, bald für 6000 Menschen: Das Ankunftszentrum für Geflüchtete in Berlin-Tegelnull Jens Thurau/DW

Der Druck sei enorm, sagt Bozkurt im Ankunftszentrum für Geflüchtete am ehemaligen Flughafen Tegel, aber als überfordert könne er die Behörden nicht bezeichnen, noch nicht. Bis Ende September wurden in Berlin fast 12.000 neue Asylsuchende registriert, im gesamten vergangenen Jahr waren es rund 9000.

Der Druck steigt also, aber 2015, als sehr viele Menschen vor allem aus Syrien und Afghanistan nach Deutschland kamen, war die Lage weit dramatischer: Allein in Berlin wurden damals nach Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge 33.300 Asylsuchende registriert.

Ein Mann in Hemd und Jackett steht im Aufnahmezentrum für Geflüchtete und gibt Interviews. Im Hintergrund stehen einige Männer
Berlins Sozialsenator Aziz Bozkurt (SPD): "Das ist hier wie in einer kleinen Stadt" null Jens Thurau/DW

Bozkurt ist auch kommissarischer Leiter des Landesamts für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) in der deutschen Hauptstadt. Einige Beschäftigte hatten sich zuletzt anonym in Brandbriefen an ihn gewandt und von "katastrophalen Bedingungen" gesprochen.

Bozkurt sagte der DW: "Dass mein Amt belastet ist, verstecke ich nicht. Es ist eine schwierige Situation." Aber wenn die Bundesregierung sage, sie habe nicht mehr Geld, dann müsse man eben über die Schuldenbremse nachdenken, dann müsste der Staat sich eben erneut verschulden.

Hitzige Debatten in der Bundespolitik

Ob es dazu kommen wird? Bundeskanzler Olaf Scholz hat jedenfalls den Oppositionschef, den CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz zu einem Gespräch eingeladen. Es solle dabei, so heißt es, um die vielen Vorschläge gehen, die zuletzt die politische Debatte in Deutschland bestimmten. Um eine Obergrenze für die Zahl der Flüchtenden etwa, um Gutscheine statt Geldleistungen, um eine mögliche Arbeitspflicht für Asylsuchende.

Die Regierung verkündete am Mittwoch, dass sie Verschärfungen für Asylsuchende plane. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) will Rückführungen von Menschen ohne Bleiberecht in Deutschland erleichtern und beschleunigen.

Das alles findet statt in einem gesellschaftlichen Klima, in dem immer mehr Bürger den Fluchtbewegungen nach Deutschland kritisch gegenüberstehen. Zwar will eine Mehrheit der Menschen laut mehrerer Umfragen das Grundrecht auf Asyl beibehalten, aber in einer Befragung des Meinungsforschungsinstitutes Civey im Auftrag des Magazins Focus meinten 74 Prozent der Befragten, das Land habe seit 2015 zu viele Menschen aufgenommen. 89 Prozent forderten konsequente Abschiebungen, etwa von Straftätern. Das ist in der Praxis oft nicht leicht, weil viele Herkunftsländer sich weigern, Menschen zurückzunehmen.

Eine kleine Stadt von Geflüchteten

Im Ankunftszentrum in Tegel führt Staatssekretär Bozkurt über das Gelände mit seinen Container-Unterkünften. 4000 Menschen leben schon jetzt hier, allein 3000 von ihnen aus der Ukraine. Für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine gilt das Asylverfahren nicht. Die Asylsuchenden hier kommen aus Syrien, aus Afghanistan oder aus Georgien.

Ein Mann sitzt in einem großen Zelt mit einfachen Tischen und Bänken. Er blickt in die Kamera und spricht in ein Mikrofon der Deutschen Welle
Alex aus Afghanistan: "Wenn ich zurückgehe, bringen mich die Taliban um"null Jens Thurau/DW

Noch im Oktober sollen weitere Unterkünfte für noch einmal 2000 Menschen geschaffen werden, die Arbeiten haben bereits begonnen. Von einer kleinen Stadt spricht Bozkurt, von einer Situation, wie auch er sie noch nicht erlebt habe.

Tanja aus der Ukraine, Alex aus Afghanistan

Zwei der Geflüchteten sind Tanja aus der Ukraine und Alex aus Afghanistan. Beide möchten ihre Nachnamen nicht sagen. Sie sind noch nicht lange hier im Ankunftszentrum. Alles in allem fühlen sie sich gut aufgehoben, sagen sie. Alex betont, dass er auf keinen Fall zurückgehen will in sein Heimatland: "Ich war dort Soldat, die Taliban würden mich umbringen", sagt Alex der DW.

Die aus der Ukraine geflüchtete Tanja sitzt im Essensraum des Erstaufnahmezentrums in Berlin-Tegel, blickt in die Kamera und wird von der DW interviewt.
Tanja stammt aus der Ukraine und ist erst seit einigen Tagen in Berlinnull Jens Thurau/DW

Tanja spricht von Problemen bei Behördengängen, wirkt aber gelassen. Es gibt auch besorgtere Stimmen. Julia aus der Ukraine ist mit ihrem Sohn hier. Sie wirkt verzweifelt und sagt, niemand könne ihr wirklich helfen, seit Wochen schon sei sie hier, die Behördengänge überforderten sie total.

"Es ändert sich nichts!"

Einige Kilometer weiter südlich in Berlin befinden sich die Räume der "Unabhängigen Beschwerdestelle" für geflüchtete Menschen in Berlin. Seit 2021 gibt es die vom Senat finanzierte Mini-Behörde. 3500 Beschwerden von Geflüchteten hat sie seitdem bearbeitet, knapp die Hälfte davon allein in diesem Jahr.

Behördenleiterin Maike Caiulo-Prahm sagt der DW: "Durch die hohe Zahl von Geflüchteten steigen die Spannungen in den Unterkünften. Auch das gesellschaftliche und politische Klima ist sehr angespannt. Dazu kommt, dass 95 Prozent unserer Mitarbeiter selbst einen Migrationshintergrund haben und von der Lage sehr betroffen sind."

Ein Mann mit dunklem Haar und Bart sitzt vor seinem Schreibtisch und blickt nach rechts an der Kamera vorbei
Oguz B. berät Geflüchtete bei Schwierigkeiten etwa mit Behördennull Jens Thurau/DW

Berater Oguz B. ergänzt: "Die Menschen haben jetzt weniger Platz, das ist mir aufgefallen. Auch die Mitarbeiter in den Unterkünften und in der Flüchtlingshilfe klagen über eine starke Überforderung. Und jeden Tag hört und liest man in den Medien, dass sich endlich etwas ändern muss. Aber es ändert sich nichts."

Die hitzige Debatte über mögliche Verschärfungen bei der Abschiebung trägt nicht zur Beruhigung bei. Bozkurt kommentierte die Pläne der Bundesinnenministerin jedenfalls so: "Das ist eine Symbolpolitik, die niemandem hilft." Bozkurt ist wie Faeser Mitglied der SPD, der Partei von Bundeskanzler Olaf Scholz.