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Nachfahren von Nazi-Opfern kämpfen um deutsche Pässe

Im Grundgesetz steht: Deutsche Bürger, die während des Nationalsozialismus aus
Deutschland fliehen mussten, haben ein Recht auf die deutsche Staatsangehörigkeit.
Auch ihre Nachfahren könnten eigentlich einen deutschen Pass bekommen. Doch jetzt
erleben viele, dass das gar nicht so einfach ist: Manche werden abgelehnt, weil in ihrem
Fall eine Ausnahme gilt. Andere warten jahrelang auf eine Entscheidung.

SPRECHERIN:
Stephan Feuchtwang ist Brite – fast sein ganzes Leben schon. Geboren aber wird er 1937 in Berlin.

STEPHAN FEUCHTWANG:
 Mein Vater war Österreicher, meine Mutter Deutsche. Er war Jude. Sie war „Halbjüdin“.

SPRECHERIN:
1938, am Abend bevor Nazi-Deutschland Österreich annektiert, flieht Feuchtwangs Familie aus Berlin.

STEPHAN FEUCHTWANG:
Mein Vater hat meine Mutter in der Stadt getroffen und sagte: „Geh nach Hause, schnapp dir das Kind, nimm den Koffer. Wir treffen uns heute Abend am Bahnhof und fahren zu meiner Schwester nach Rotterdam.“ Am nächsten Morgen – so hat es die Schwester meiner Mutter erzählt – hat die Gestapo uns bereits gesucht, weil mein Vater nicht mehr durch seinen österreichischen Pass geschützt war.

SPRECHERIN:
Die Nationalsozialisten nehmen den Juden erst die Bürgerrechte – und später Millionen das Leben. Feuchtwang will zumindest den deutschen Pass zurück. Laut Artikel 116 des Grundgesetzes können Deutsche und ihre Nachfahren, die von den Nazis verfolgt wurden, ihre alte Staatsbürgerschaft zurückbekommen. Feuchtwang aber wurde abgewiesen.

STEPHAN FEUCHTWANG:
Zu meinem Ärger wurde ich abgewiesen, weil mein Vater Österreicher war. Wenn er geblieben wäre – ich kann gar nicht glauben, dass ich das jetzt sage, aber das stand so im Brief – bis zu dem Zeitpunkt, an dem den Juden die deutsche Staatsbürgerschaft von den Nazis entzogen wurde, dann hätte ich mich qualifiziert. Aber bis dahin wären wir doch bereits tot gewesen.

SPRECHERIN:
Wegen vieler solcher Ablehnungen hat sich nun auch der Deutsche Bundestag mit dem Thema auseinandergesetzt. Der Brite Felix Couchman und seine Frau Isabelle sind Gründer einer weltweiten Gruppierung, die für weniger Ausnahmeregelungen im Gesetz kämpft. Sie waren im Januar in Berlin, um der Debatte im Parlament zuzuhören. Doch die deutschen Abgeordneten sehen aktuell keinen Nachbesserungsbedarf. In zwei zusätzlichen Erlassen hatte die Deutsche Regierung im August erst einige Einschränkungen abgeschafft. Couchman reicht das nicht.

FELIX COUCHMAN:
Die Erlasse sind Ermessensentscheidungen. Aber Artikel 116 ist ein Grundrecht! Diese Menschen können ihre Lieben nicht mehr zurückholen, die umgebracht wurden. Sie können ihren Besitz und ihre Jobs nicht zurückbekommen. Aber sie können sich die deutsche Staatsbürgerschaft zurückholen.

SPRECHERIN:
Jüngere Nachfahren sind ebenfalls betroffen. Marcella Marx’ Großvater Georg floh aus dem nationalsozialistischen Deutschland 1937 nach Brasilien, zwei Jahre nach den Nürnberger Rassegesetzen. Nun will auch sie die deutsche Staatsbürgerschaft.

MARCELLA MARX:
Ich dachte, das muss ich tun – für die Ehre meiner Familie. Sie waren doch so lange Deutsche. Mein Urgroßvater kämpfte sogar für Deutschland im Ersten Weltkrieg.

SPRECHERIN:
Marcella bekam zunächst eine Absage, weil ihr Großvater Deutschland angeblich freiwillig verlassen hätte. Ihr zweiter Antrag liegt dem Amt seit fast drei Jahren vor.

Auch Stephan Feuchtwang will nicht aufgeben. Mit der neuen Regelung kann nun auch die Herkunft seiner deutschen Mutter berücksichtigt werden. Aber seine Geduld mit den Behörden ist fast am Ende:

STEPHAN FEUCHTWANG:
Es ist ein Kampf, in den ich gleichzeitig sehr involviert bin, aber auch jederzeit bereit aufzugeben. Wenn die Bürokratie einem so den Weg versperrt, dann werde ich nicht weiterkämpfen.

SPRECHERIN:
Warum die Deutschen so vielen Nachfahren die Anerkennung verweigern, versteht Feuchtwang nicht. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als erneut auf die Entscheidung zu warten.

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