NS-Zeit und Holocaust als Unterrichtsthema
Was lernen Schüler und Schülerinnen über die NS-Zeit im Unterricht? Und wie viel? Ein Besuch an der Lina-Morgenstern-Gemeinschaftsschule in Berlin. Hefte raus, Doppelstunde Geschichte.
Es ist ein warmer Morgen in Berlin, Mitte der Woche, die Schülerinnen und Schüler der 9. Klasse der Lina-Morgenstern-Gemeinschaftsschule betreten das Klassenzimmer. Doppelstunde Geschichte. Sie grüßen freundlich und setzen ihre Mützen ab, der Geschichtslehrer Karl Birkner lobt ihre Pünktlichkeit und macht die Fenster auf –zu heiß für einen Juni-Morgen. Natürlich haben zwei, drei Schüler den Gong nicht gehört oder vergessen zu hören – und kommen verspätet. Wie immer. Wie überall. Normal.
Karl Birkner ist ruhig, er schaltet die elektronische Tafel an. Das Thema heute: „Machterlangung und Machtübertragung“ aus der Unterrichtsreihe „Demokratie und Diktatur„. Konkret geht es um das Jahr 1933 und den Beginn derNS-Herrschaft in Deutschland.
„Was ist der Unterschied zwischen Machtergreifung und -übertragung?“, fragt Karl Birkner und zeigt auf die Begriffe an der Tafel. Viele Hände gehen in die Höhe, jeder kommt dran. „Ergreifung ist, wenn man gewaltsam an die Macht kommt“, sagt eine Schülerin. „Und Übertragung ist, wenn man von den Leuten gewählt wird“, antwortet eine andere. „Ganz einfach“, ruft ein dritter Junge ganz hinten, „links – Diktatur, rechts – Demokratie, fertig“. Viele nicken zustimmend.
„Das Ziel muss sein, weit über die Ereignisgeschichte hinaus zu gehen, das heißt es geht nicht nur darum zu lernen, was die NS-Zeit war, sondern auch zu verstehen, was die gesellschaftlichen Fragen und die individuellen Handlungsspielräume waren. So sollen sie gefördert werden, sich an geschichtspolitischen Deutungskontroversen zu beteiligen und ein Bewusstsein für aktuelle Fragen zu entwickeln“, sagt Birthe Pater, Leiterin des Bildungsreferats bei den Arolsen Archives. Die Aufgabe der Einrichtung ist es, den Opfern der NS-Verfolgung und deren Angehörigen bei der Aufklärung von Schicksalen zu helfen. Außerdem entwickelt die Organisation bildungspolitische Angebote und kooperiert mit Schulen bundesweit.
Neue Methoden im Geschichtsunterricht
Für solch komplizierte Themen rund um das Thema NS-Regime nutzt Karl Birkner die Engelchen-Teufelchen-Methode: „Das ist eine Methode, mit der die Teilnehmenden lernen, ein begründetes Urteil zu fällen. Das ist eine wichtige Kernkompetenz für mündige Menschen. Mittels der Methode sollen Schülerinnen und Schüler lernen, auf Grundlage von historischen oder politischen Gegebenheiten sowohl sich eine Meinung zu bilden, als auch ein begründetes Urteil zu fällen.“
Der Lehrer teilt die Klasse in sechs Gruppen auf - jeder bekommt eine Wäscheklammer mit einem aus Papier ausgestanzten Teufelchen oder Engelchen. Innerhalb der Gruppe sollen die Teufelchen Argumente finden, die für eine Machtergreifung sprechen, und die Engelchen müssen Argumente finden, die gegen eine Machterlangung sprechen. Nach einer 15-minütigen Arbeitsphase stellen die Teufelchen und Engelchen den „Menschen“ (die dritte Rolle im Spiel) ihre Argumente vor. Der „Mensch“ entscheidet am Ende, welche Argumente ihn mehr überzeugt haben. Der Timer auf der digitalen Tafel läuft – die Schüler und Schülerinnen lesen konzentriert die Erklärtexte und versuchen, für ihre Rolle die Argumente zusammenzufassen. Für unbekannte Wörter wie etwa die Abkürzung KPD dürfen sie ihre Handys nutzen - oder fragen. Die meisten konsultieren ihre Handys. Andere Abkürzungen, wie SS und SA, werden an der Tafel aufgeschrieben und vom Lehrer erklärt.
Wie viel wissen Jugendliche über den Holocaust?
„Ohne den Geschichtsunterricht wüsste ich eigentlich nichts darüber, was damals passiert ist. Meine Eltern wissen auch nicht so viel über das Thema“, sagt eine Schülerin im Interview nach der Unterrichtsstunde. „Aus der Vergangenheit kommt die Zukunft, die Geschichte beeinflusst unsere Gegenwart“, sagt ein Mitschüler. Und sein Sitznachbar: „Meine Mutter schickt mir Links zu Dokumentationen, die ihr eine Freundin, die als Lehrerin arbeitet, empfiehlt.“
Das Wissensniveau über die historischen Ereignisse sei unterschiedlich, sagt Karl Birkner: „Adolf Hitler ist bei den meisten bekannt, Nationalsozialismus als Begriff auch. Einige haben auch Wissen über den Holocaust, aber das sind punktuelle Kenntnisse auf der meistens weißen Karte“, teilt der Lehrer seine Beobachtungen mit. Wie viel die Kinder wissen, hänge nicht vom Migrationshintergrund ab: „Wir sind eine diverse Schule, die Berlin-Kreuzberg – wo wir uns gerade befinden – in all seiner Vielschichtigkeit abbildet, sprich: Wir haben viele Schüler und Schülerinnen, die neulich nach Deutschland gekommen oder hier geboren sind, aber deren Eltern aus dem Ausland kommen. Wir haben sowohl wohlsituierte Kinder als auch Kinder, die von der Stadt Berlin finanziell gefördert werden müssen. Es ist sehr bunt. Und wenn ich mir das anschaue, dann kann ich sagen, dass nicht die Herkunft als solche entscheidend ist, sondern das Elternhaus: Wird über Geschichte und Politik zu Hause gesprochen? Und wenn ja, wie? Werden die Kinder außerhalb der Schule gefördert oder nicht? Das ist das Entscheidende, nicht der Migrations- oder der Einkommensfaktor.“
Ähnlich sieht es Birthe Pater von den Arolsen Archives: „Die Annahme, dass sich Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund per se weniger dafür interessieren, weniger damit in Kontakt kommen oder ähnliches, kann ich aus meiner Erfahrung nicht bestätigen. Denn oft, wenn man Jugendliche fragt, wo sie das erste Mal mit dem NS-Thema in Berührung gekommen sind, dann sagen sie meist in der Schule oder in Filmen - und da spielt die Herkunft weniger eine Rolle.“
Mehr Unterrichtsstunden für Geschichte
Eine der größten Herausforderungen sei, dass es zu wenig Zeit für solch komplexen Themen gebe, sagt Karl Birkner. „Ich habe jedes Mal ein bisschen Bauchschmerzen, diesen Stoff so adäquat runterzubrechen, das er erfassbar ist. Und zugleich darf es nicht oberflächlich bleiben. Meiner Meinung nach sollte es für solche Themen im Bereich Geschichte, Politik und Gesellschaft mehr Unterrichtseinheiten geben.“
Birthe Pater bestätigt diese Aussage: „Tatsache ist, dass die Lehrpläne auf jeden Fall den Raum geben, sich mit diesen Themen zu beschäftigen – und da sind wir anderen Gesellschaften weit voraus. Man könnte sich über den Zeitpunkt streiten, wann die Schüler und Schülerinnen das erste Mal in Kontakt damit kommen - ob es nicht in der 9. Klasse zu spät dafür ist. Junge Menschen, je nachdem was für eine Schulkarriere sie haben, kommen oft nur einmal mit dem Thema in Kontakt. Eine weitere Frage ist, ob die NS-Thematik nur in den Geschichtsunterricht gehört oder nicht auch in anderen Fächer, wie etwa Deutsch zum Beispiel.“
Die Zeit, ihre Argumente zu finden, ist für die Teufelchen und Engelchen um. Die Ergebnisse werden im Klassenraum vorgestellt. Anschließend zeichnet der Lehrer eine Linie – auf der einen Seite steht das Wort "Machtergreifung", auf der anderen "Machtübertragung" und in der Mitte "Machterlangung". Jeder Schüler und jede Schülerin darf nun den Strich dort setzen, wo er die Ereignisse 1933 aus dem Erlernten heute sieht. Die überwiegende Mehrheit der Striche pendelt zwischen Machtergreifung und Machterlangung.
Die Doppelstunde ist geschafft. Zum Schluss die gute Nachricht: "Die letzten zwei Stunden habt ihr frei, wir haben eine Lehrerkonferenz", sagt Karl Birkner, und der Jubel ist so laut, dass der Gong kaum hörbar ist.
Autorin: Rayna Breuer