Von Goalies und Spielkaisern: Fußball-Kauderwelsch
Tor, Ecke, Mittelstürmer: Die meisten der heutigen Grundbegriffe im Fußball sind Anfang des 20. Jahrhunderts von einem Deutschlehrer festgelegt worden. Er wollte kein englisches Kauderwelsch auf dem Platz.
Die Begriffe „Fußball“ und „Deutschland“ sind eng miteinander verbunden. Der Ballsport ist die mit Abstand beliebteste Sportart hierzulande. Als Mutterland des Fußballs gilt jedoch England. Erst in den 1870er- Jahren schaffte er den Sprung über den Ärmelkanal ins damalige Deutsche Reich – auch physisch. Denn ein Turnlehrer eines Braunschweiger Gymnasiums brachte seinem Kollegen Dr. Konrad Koch einen originalen Lederball mit. Denn der Lehrer für Deutsch und Alte Sprachen war der Meinung, dass Schüler nicht nur drinnen turnen, sondern sich auch im Freien sportlich betätigen sollten. Deshalb führte er sogenannte Schulspiele ein, darunter auch Fußball. Das war 1874. Koch war es auch, der ein Jahr später die ersten Fußballregeln vorlegte. Doch der Ballsport hatte es im damaligen Kaiserreich anfangs sehr schwer, sagt der Journalist Christoph Marx, Autor eines Buchs über Fußballsprache:
„Es galt damals als englischer Mist. Das Turnen war deutsch, das war militärisch organisiert, und der Deutsche hatte zu turnen und nicht Fußball zu spielen, weil es natürlich leicht anarchistisch auch ist und zu unmöglichen Emotionsäußerungen Anlass geben kann. Was damals sicher auch schon die Leute erkannten, dass es potentiell herrschaftsgefährdend sein könnte.“
Fußball galt als Mist, der von der Insel kam. Der Sport passte nicht zu einem deutschen Obrigkeitsstaat mit klaren, militärisch organisierten Strukturen. Im Kampf um den Ball und in dem Bestreben, Tore zu schießen, werden Emotionen freigesetzt. Und das galt in der damaligen Zeit, so Christoph Marx, als leicht anarchistisch, als etwas, das die staatliche Ordnung hätte gefährden können. Doch trotz anfänglicher Widerstände fand der Fußballsport im Land immer mehr Anhänger. Die Zahl der Spieler wuchs, die ersten Vereine entstanden in Berlin, Hamburg und Karlsruhe. Diese Entwicklung ging eng einher mit der Herausbildung einer eigenen Sprache, schreibt Christoph Marx in dem 2018 veröffentlichten Buch ‚Der springende Punkt ist der Ball‘. Denn dem Deutschlehrer Koch war etwas ein Dorn im Auge, wie er in einem 1903 veröffentlichten Pamphlet schrieb, dem alle Vereine zustimmen mussten:
„Auf recht vielen Spielplätzen hört man ein widerwärtiges Kauderwelsch. Um diesem Übelstande zu steuern, hat der Zentralausschuss zur Förderung der Volks- und Jugendspiele in Deutschland eine Zusammenstellung deutscher Kunstausdrücke des Fußballspieles von mir anfertigen lassen.“
Konrad Koch war ein Kind seiner Zeit. Ihm war es wichtig, das englische Spiel sprachlich zu einem deutschen zu machen. Ein Kauderwelsch, eine wirre, unverständliche Sprache, auf dem Platz: für ihn unvorstellbar. Gemeint waren die damals noch üblichen englischen Fußballbegriffe. Der Deutschlehrer wollte die englischen Wörter, den Übelstand, gänzlich ausmerzen und sie durch möglichst treffende und verständliche deutsche Begriffe ersetzen. Doch diese dürften – so wörtlich – „nicht farblos und gekünstelt“ sein. Gerade „goal“, das nicht englischsprechende Deutsche gern als „johl“ aussprachen, sei ein „hässliches“ Fremdwort. Koch verbrachte Stunden damit, für jeden englischen Begriff einen passenden deutschen auszutüfteln, verwarf den einen oder anderen, wenn er ihm nicht gefiel. So musste etwa das Wort ‚Mal‘ dem ‚Tor‘ weichen. Es sei doch wohl besser, meinte Koch, bei einem erfolgreichen Torschuss zu sagen: „Wir haben ein Tor gewonnen“ statt „Wir haben ein Mal gewonnen“. Seltsam war jedoch das deutsche Äquivalent für „captain“, den Mannschaftskapitän, so Christoph Marx:
„Was ja die wenigsten kennen jetzt, hieß es nicht ‚der Kapitän‘ der Fußballmannschaft, sondern das war der Spielkaiser. Und das war natürlich extrem der gesellschaftlichen Formation damals geschuldet.“
An der Spitze des Reichs stand damals der Kaiser. Das Thema Führung musste sich dann eben auch im Fußball begrifflich widerspiegeln. In deutschsprachigen Ländern, die weniger streng oder nationalistisch waren, überlebte laut Christoph Marx, allerdings der eine oder andere englische Begriff, etwa für den Torwart/Torhüter oder die Linienrichter:
„Früher hießen [die] halt noch ‚Goalkeeper‘ und ‚Linesmen‘ – also alles noch so Begriffe, die teilweise im Österreichischen und im Schweizerischen tatsächlich auch noch in dieser englischen Ursprungsbezeichnung bis heute üblich sind. ‚Goalie‘ sagt man für den Torwart bis heute in Österreich, ja.“
Von den damals festgelegten 80 Begriffen werden die meisten heute weitgehend noch verwendet. Hinzugekommen sind jedoch Abertausende neuer Begriffe oder Floskeln, die von Medien, Spielern und Trainern im Laufe der Zeit kreiert wurden. Diese kommen laut Christoph Marx mal bildlich-kreativ daher, wie die Bananenflanke oder die Schwalbe, eher kriegerisch wie ‚Abwehrschlacht‘ oder künstlerisch wie ‚Mittelfeldregisseur‘. Neben solchen Wortneuschöpfungen sind seit vielen Jahren auch die oft unabsichtlich komischen Aussagen von Fußballern oder Trainern in die Alltagssprache eingegangen und mittlerweile zu geflügelten Worten geworden – wie beispielsweise „Mailand oder Madrid – Hauptsache Italien“. Es wird dem ehemaligen Fußballnationalspieler Andreas Möller zugeschrieben. Besonders gut gefallen Christoph Marx zwei Sprüche, der eine von Trainer Thomas Tuchel, der andere vom ehemaligen niederländischen Fußballprofispieler und -trainer Erik Meijer:
„Wenn konsequent, dann konsequent konsequent‘, weil das irgendwie so diese ‚Eine Rose ist eine Rose, ist eine Rose‘ ist. Von den Klassikern gefällt mir natürlich auch sehr gut: ‚Nichts ist Scheißer als Platz zwei‘, weil er a) den Komparativ enorm innovativ erweitert hat, und zweitens natürlich eine unglaubliche Wahrheit – sowohl im Fußball, als vielleicht auch im Leben – ausdrückt: dass es zwar schön ist, weit zu kommen, aber [man] am Schluss doch auch ganz gerne gewinnen will.“
Dass der im Fußball gebräuchliche Jargon überaus kreativ ist, zeigt beispielsweise auch der Begriff ‚Lewangoalski‘. In einem Wort werden die unglaublichen Torschussqualitäten des polnischen Stürmerstars von Bayern München, Robert Lewandowski, ausgedrückt. So gesehen wird sogar wieder eine Verbindung zum Englischen geschaffen. Darüber hinaus sind seit langem wieder viele ursprünglich englische Begriffe gebräuchlich wie ‚dribbeln‘, ‚passen‘ oder ‚kicken‘ statt ‚treiben‘, ‚abgeben‘ oder ‚stoßen‘. Und der ‚Spielkaiser‘ heißt natürlich – in Anlehnung an ‚captain‘ – ‚Mannschaftskapitän‘.