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Manuskript

Gesellschaft im Wandel

Die deutsche Gesellschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert. Manche Werte und Normen gelten noch, andere nicht mehr. Auch wenn sich viel verändert hat. Eine Sehnsucht ist gleich geblieben.

Jeder kennt die Klage der Alten über die Jungen, die Sorge um den Verfall der Moral und der Tradition. Das ist ein zeitloser Konflikt zwischen den Generationen. Viele gelehrte Menschen, Wissenschaftler und Journalisten machen sich immer mal wieder Gedanken zum Wandel von Werten und Moralvorstellungen in der Bundesrepublik. Und was denken die Menschen auf der Straße?

„Jeder denkt irgendwie, jeder ist sich selbst am nächsten, grad in dieser heutigen Zeit. / Das Hemd ist einem näher als der Rock. Die Moral nimmt ab: Ehrlichkeit, Vertrauen und zum Teil vielleicht auch Gehorsam und vielleicht auch Treue. Also gute menschliche Werte. / Ich denke, die sind egoistischer geworden, ja, gehen auch sehr viel an Armut vorbei. Erst mal ‚du‘, ‚du‘ und ‚du‘ und dann gucken wir, was die anderen machen. Man sollte trotzdem die anderen nicht vergessen dabei.“

Das Urteil fällt eindeutig aus. Die Passantin und die beiden Passanten sind der Meinung, dass sehr viele Deutsche egoistisch sind. Sie verwenden dafür zwei in der Alltagssprache gängige Redewendungen: „Jeder ist sich selbst der Nächste“ und „das Hemd ist einem näher als der Rock“. Die erste Wendung dreht das christliche Gebot der Nächstenliebe um, die zweite übernimmt einen Spruch des römischen Dichters Plautus: „Tunica proprior pallio est“. Die Tunika, ein Untergewand der Römer, wurde später mit „Hemd“ übersetzt, „pallium“, das griechische Obergewand, mit „Rock“. Die Passantin ist zudem der Meinung, dass manchen die Armut anderer nicht auffällt, dass sie an ihr vorbeigehen. Der Passant findet grundsätzlich, dass moralische Werte wie Ehrlichkeit und Vertrauen für viele Deutsche nicht mehr zählen. Die Moral nimmt ab. Die Moral einer Gesellschaft oder – wie Wissenschaftler es nennen – die sozialen Normen und Werte werden auch in der Erziehung vermittelt. Neben den Eltern spielt hierbei die Schule eine wichtige Rolle. Hier hat sich nach den Erfahrungen des Lehrers Heiner einiges geändert:

„Als ich Lehrer wurde, da habe ich die Eltern eingeladen, und die standen wie ein Mann hinter der Schule. Da gab es eine einheitliche Vorstellung des Handelns in Richtung auf Erziehung. Und heute ist das so, wenn Sie die Eltern einladen zum Elternabend, dann kommen also die, die Sie nicht brauchen, weil die Schüler sowieso in Ordnung sind, und die, die Sie gerne hätten, die fehlen. Aber sagen wir mal, es kommen zwanzig, und die haben vierzig Meinungen, und das ist eben das Elend, und die übereinzubringen, ist ganz schwierig.“

Heiner hat festgestellt, dass sich die Einstellung der Eltern zum Unterricht, zur Schule und zur Erziehung verändert hat. Deutlich wird das für ihn unter anderem an Elternabenden. Bei diesen Versammlungen von Eltern einer Klasse wird über schulische, aber auch klassenbezogene Dinge wie etwa Klassenfahrten oder den Unterricht gesprochen. Damals, so Heiner, seien nicht nur alle Eltern gekommen, sie hätten auch alle die Schule in ihrem Erziehungskonzept unterstützt. Sie standen wie ein Mann hinter ihr, wie er unter Verwendung eines Bibelspruchs formuliert. Heutzutage ist das anders. Nach Ansicht von Heiner kommen diejenigen, deren Kinder schulische Probleme haben, nicht. Und diejenigen, die kommen, sind sich nicht einig. Jeder hat eine andere Meinung: „Es kommen zwanzig, und die haben vierzig Meinungen“. Und da zu einer Übereinstimmung zu kommen, die Meinungen übereinzubringen, sei nicht leicht. Für ihn ist es schlimm, es ist ein Elend. In sehr vielen Schulen brauchen Lehrerinnen und Lehrer oft auch viel Zeit, um das Miteinander in der Klasse zu fördern. Und das ist nach der Erfahrung von Lehrer Armin nicht immer leicht:

„Es geht sicherlich um: ‚Wie will ich Demokratie leben?‘ Es wird mit den Schülern zum Beispiel nichts ausgehandelt. Also, ich sag manchmal, das ist wie in ’nem Omnibus. Da sitzt einer vorne, der fährt, und die anderen haben mitzufahren. Und irgendwann steigen sie mal aus, weil sie keinen Bock mehr haben.“

Für Armin ist es wichtig, wie Demokratie gelebt wird, wie also demokratische Grundrechte umgesetzt werden. Er persönlich kritisiert, dass Lehrer und Schüler nichts aushandeln, also wie bei einem Geschäft darüber verhandeln, was gemacht wird und was nicht. Stattdessen gibt der Lehrer – wie ein Busfahrer – die Richtung vor. Und diejenigen, die keine Lust, keinen Bock, mehr haben, machen dann nicht mehr mit. Sie steigen – im übertragenen Sinn – aus. Einen weiteren wichtigen Punkt erwähnt Lehrerkollegin Oda: die Glaubwürdigkeit einer Lehrperson. Ihrer Meinung nach hat sich auch hier etwas verändert:

„Früher hatte der Lehrer qua seines Amtes eine Autorität. Heute wird seine Persönlichkeit gefordert. Der Mensch als Person, als Lehrer hat ja auch Vorbildfunktion. Wenn er bestimmte Werte vermittelt, Schülern nahebringen will, dann kann er das nicht nur verbal machen. Er muss es leben. So sind Schüler eigentlich auch nur erreichbar.“ 

Nach Ansicht von Oda waren Lehrer früher Respektspersonen. Sie besaßen allein durch ihr Amt, qua ihres Amtes, Autorität. Sie gaben gesellschaftliche und persönliche Werte und Moralvorstellungen verbal weiter, sagten, was sie für richtig und falsch hielten. Heutzutage hat sich das laut Oda verändert. Lehrerinnen und Lehrer müssen die Werte, die sie ihren Schülerinnen und Schülern vermitteln wollen, auch selbst leben. Das heißt, sie müssen auch selbst danach handeln, ihre Persönlichkeit wird gefordert. Wer zum Beispiel Ehrlichkeit verlangt, muss auch selbst ehrlich sein. Nur so sind für Oda Schülerinnen und Schüler erreichbar, fühlen sich von dem angesprochen, was vermittelt werden soll. Werte werden auch durch die gesamte Gesellschaft vermittelt. Und ein wesentlicher Zug der modernen Gesellschaft – und da nimmt Deutschland keine Sonderstellung ein – ist die zunehmende Individualisierung. Es gibt immer mehr Menschen, die alleine wohnen und leben und die ihr Leben so gestalten, wie sie selbst es für richtig halten. Dafür gibt es nach Ansicht des evangelischen Theologen Manfred Kock Gründe:

„Die Individualisierung wird nahegelegt durch das gesellschaftliche Umfeld. Die Menschen werden dazu gebracht, im Wesentlichen ihr eigenes Glück zu suchen. Das wird jeden Tag uns vorgemacht, in der Werbung, in all dem, was wir anziehen, was wir essen, was wir genießen sollen. Aber es gibt eine große Sehnsucht danach, dass die Menschen doch eben in Gemeinschaft existieren wollen.“

Nach Ansicht von Manfred Kock bestimmt das heutige gesellschaftliche Umfeld, also die Gesamtheit aller gesellschaftlichen Einflüsse, die Lebensweise eines jeden. Zu diesem Umfeld gehört beispielsweise auch die Werbung. Dort wird jeder und jedem Einzelnen vermittelt, vorgemacht, was gut für sie oder ihn ist, etwa was man anziehen oder essen sollte. Allerdings, so Manfred Kock, gibt es bei aller Individualisierung doch etwas, das die meisten sich wünschen: in einer Gemeinschaft zu leben – und diese wiederum bestimmt letztlich Werte und Moralvorstellungen ihrer Mitglieder.

Der Text …
Die befragten Passantinnen und Passanten …
Der Lehrer Heiner sagt, dass …

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