Weniger Interesse an Goethe
Johann Wolfgang von Goethe ist einer der bekanntesten deutschen Dichter. Doch wie relevant ist er heute noch? Tatsache ist: Seine Werke werden in Deutschland weniger gelesen als früher, seine Stücke seltener aufgeführt.
Er ist einer der bedeutendsten Schriftsteller Deutschenlands – Johann Wolfgang von Goethe. Zu seinen bekanntesten Werken gehören das Drama „Götz von Berlichingen“ (1773), der Roman „Die Leiden des jungen Werther“ (1774) und die Tragödie „Faust I" (1808). Goethe hat zudem mehr als 3000 Gedichte geschrieben – darunter „Prometheus“, „Der Zauberlehrling“, „Erlkönig“ und „Wandrers Nachtlied“. Goethe gehört auch zu den wortmächtigsten Schriftstellern in Deutschland: Rund 93.000 unterschiedliche Wörter haben Wissenschaftler in seinem Werk identifiziert. Besonders gern schrieb Goethe über die Liebe.
Auch in „Die Leiden des jungen Werther“ geht es um die Liebe – um eine unerfüllte allerdings. Der Briefroman hat den Dichter, Naturforscher und Italien-Freund 1774 im Alter von 25 Jahren auf einen Schlag in ganz Europa berühmt gemacht. Später – nach seinem Tod – wurde Goethe zwar auch kritisiert: als Klassenfeind, Sexist und Antisemit zum Beispiel. An seinem Ansehen als einer der wichtigsten deutschen Schriftsteller hat dies jedoch nichts geändert.
Aber in den vergangenen Jahren ist etwas passiert: Das Interesse an Goethe scheint abzuebben. 2022 ergab eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur, dass Goethes „Faust“ nur noch in wenigen Bundesländern Pflichtlektüre an den Schulen ist. Der Deutsche Bühnenverein stellte zudem fest, dass das Stück immer weniger gespielt wird. In der Saison 2022/23 wurden acht Inszenierungen verzeichnet, vor der COVID-19-Pandemie waren es noch 20.
Goethe – nicht mehr zeitgemäß?
„Der Hauptgrund ist meiner Meinung nach, dass ein alter, intellektueller weißer Mann bei den derzeitigen Diskursen nicht unbedingt als Hauptfigur taugt“, analysiert Detlev Baur, Chefredakteur der Fachzeitschrift „Die Deutsche Bühne“. „Allenfalls für Umschreibungen wie ,Doktormutter Faust‘, das in der letzten Saison uraufgeführt wurde und nun erneut inszeniert wird,“ so Baur.
Was die Schullektüre betreffe, habe Georg Büchners gesellschaftskritisches Drama „Woyzeck“ dem „Faust“ den Rang abgelaufen. Das derzeit meistinszenierte Drama an den Theatern ist ebenfalls „Woyzeck“, das Büchner im Jahr 1836 schrieb. Bei beiden Stücken beschäftigen die Theater derzeit besonders die Frauenfiguren: „Die Opferfiguren Gretchen beziehungsweise Marie werden fast immer umgeschrieben oder uminszeniert.“
Auch der Literaturkritiker und Schriftsteller Thomas Steinfeld, der mit „Goethe – Porträt eines Lebens, Bild einer Zeit“ gerade eine knapp 800 Seiten lange Biografie des Schriftstellers veröffentlicht hat, konstatiert, dass das Goethe-Wissen gerade im vergangenen Jahrzehnt eingebrochen sei: „Bis vor einigen Jahren konnte man sich darauf verlassen, dass Goethes Leben und Werk in groben Umrissen bekannt waren. Die Bewunderung, die man ihm gegenüber aufbrachte, setzte vage Vorstellungen von einem allgemeingültigen und verehrungswürdigen Denkmal voraus.“ Dass heute andere Bedingungen gälten, liege vielleicht nicht nur am Schulunterricht, sondern auch an einem allgemein weniger ausgeprägten historischen Bewusstsein.
Goethe-Influencer aus dem Ruhrgebiet geht neue Wege
Vielleicht sind Lesekreise und Drei-Stunden-Vorstellungen im 21. Jahrhundert aber auch einfach nicht mehr das zeitgemäße Mittel, um sich dem Dichter anzunähern. Damian Mallepree aus Essen erprobt seit vier Jahren eine andere Herangehensweise: das Instagram-Format „Alles Goethe!“. Sein Ziel ist es, „über Goethe und seine Zeit miteinander im Gespräch zu bleiben“. Dafür spricht er mitunter mehrmals pro Woche mit Menschen, die sich ebenfalls für den Dichter interessieren oder irgendeinen Bezug zu ihm oder seiner Epoche haben.
Zu seinen Gästen gehörten zum Beispiel ein Krankenpfleger, der ein großer Goethe-Fan ist und ein Chirurg für Stimmbänder, der Auskunft über Goethes Stimmlage geben konnte. Immer wieder werden erstaunliche „Fun Facts“ enthüllt: So gibt es in Südkorea und Japan einen Milliardenkonzern mit dem Namen „Lotte“ – nach der Lotte aus den „Leiden des jungen Werther“. Firmengründer Shin Kyuk-Ho war von dem Roman so begeistert, dass er sein Unternehmen nach der weiblichen Hauptfigur benannte.
Malleprees Follower-Zahl ist mit 1600 noch überschaubar, doch gerade das erlaubt den intensiven Austausch: „Ich kenne meine Follower ziemlich gut.“ Er ist überzeugt: „Goethe ist heute nicht mehr jemand, der uns sagt, wo‘s langgeht, sondern jemand, der uns verbinden kann, weil er Verknüpfungspunkte schafft.“ Aufgrund seiner zahllosen Interessen und seiner Offenheit passe er eben nicht in Schubladen, sondern lasse Interpretationsspielräume zu, findet Mallepree.
sts (mit dpa, KNA)/ip