Manuskript

Wenn Lesen und Schreiben zur Qual werden

Menschen, die nicht richtig lesen und schreiben können, haben es im Alltag schwer. Betroffene versuchen oft, ihre Schwäche zu verstecken. Doch auch im Erwachsenenalter kann man das Lesen und Schreiben noch lernen.


In einer Fremdsprache nur mühsam lesen oder schreiben zu können, ist eine Sache. Eine ganz andere ist es, wenn jemand genau das in seiner Muttersprache nicht kann. Der Alltag steckt dann voller Herausforderungen. Allein in Deutschland geht es laut einer Studie der Universität Hamburg aus dem Jahr 2018 rund 6,2 Millionen Menschen so. Sie gelten als sogenannte funktionale Analphabeten, können also nicht richtig lesen und schreiben, obwohl sie eine Schule besucht haben – im Gegensatz zu denjenigen, die überhaupt nicht lesen und schreiben können. Funktionale Analphabeten besitzen zwar die Fähigkeit, einzelne Wörter oder Sätze zu lesen und zu schreiben. Doch sobald es sich um längere Texte handelt, erschließt sich ihnen der Sinn oft gar nicht oder nur, wenn sie sehr viel Zeit haben.

So erging es auch dem Kinderbuchautor und Verleger Tim-Thilo Fellmer. Wie jedes Kind besuchte er die Schule; nach der zehnten Klasse machte er seinen Hauptschulabschluss. Doch richtig lesen und schreiben lernte er in dieser Zeit nicht. Er weiß nur zu gut, wie es sich anfühlt, wenn Schriftsprache vom Kindesalter an eine riesige Hürde darstellt:

„Man ist praktisch tagtäglich immer in einer Überforderung. Ich hab mich ursprünglich mal auf Schule gefreut, wie viele Kinder. Und das kippte aber relativ schnell schon in den ersten Wochen, Monaten, als ich gemerkt habe, ich find da nicht so richtig den Zugang und fühl mich da nicht wirklich wohl in diesem System. Und dann wurde das eine richtige Schulangst. Ich hab mich auch mal krank gestellt, weil ich so ’ne Angst hatte, in die Schule zu gehen.“

Aus der anfänglichen Freude, endlich in die Schule zu gehen, wurde Angst. Das Gefühl kippte, veränderte sich zum Negativen. In dem Schulsystem kam er nicht richtig zurecht, fand nicht so den Zugang. Gründe für eine Lese- und Schreibschwäche können seiner Meinung nach beispielsweise häufige Umzüge in den ersten Grundschuljahren sein, aber auch eine längere Krankheit oder ein instabiles Elternhaus. Funktionale Analphabeten haben, so Fellmer, allerdings nicht nur Probleme im Deutschunterricht:

„Das ist ja dann auch fächerübergreifend ’n ganz großes Thema, weil, selbst in Mathematik gibt es dann irgendwann die Textaufgaben auch schon in der Grundschule, die man dann nicht schnell genug lesen kann oder gar nicht lesen kann. Und selbst im Musikunterricht gibt es Liedtexte, die man nicht so lesen kann.“

Das Schlimmste dabei ist, so Fellmer, dass Kinder die Schuld bei sich selbst suchen, wenn sie die eingeforderte Leistung nicht bringen können – mit den entsprechenden Konsequenzen:

„Dadurch entsteht dann oft auch ’ne ganz, ganz negative Selbstwahrnehmung, dass man selbst denkt, man ist halt anscheinend zu dumm dafür. Man ist minderbemittelt. Und das macht dann ganz viel mit einem selbst, psychisch gesehen.“

Das Gefühl, dumm beziehungsweise minderbemittelt, nicht sehr intelligent, zu sein, macht ganz viel mit einem selbst, wirkt sich auf die eigene Persönlichkeit, das Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein, aus. Mit dem Ende der Schulzeit hören die Probleme meist nicht auf. Im Gegenteil: Unsere Gesellschaft ist darauf ausgerichtet, dass wir uns auch über die Schrift miteinander verständigen. Auch Tim-Thilo Fellmer musste sich lange Zeit in dieser Welt zurechtfinden, ohne richtig lesen und schreiben zu können. Das funktionierte nicht ohne die Hilfe seiner Familie und Freunde. Fremden Menschen gegenüber wollte er seine Lese- und Rechtschreibschwäche aber nicht zugeben. Dort griff er dann häufig zu Notlügen, damit sein Handicap nicht auffällt:

„Zum Beispiel, wenn es hieß, lasst uns doch einfach mal ’nen netten Spieleabend machen und lasst uns Monopoly spielen, dann hab ich halt einfach gesagt, ich hab da gar keine Lust drauf. Das ist ’n blödes Spiel. Oder ich bin auch nie in einen Fußballverein gegangen, obwohl ich da gerne hingegangen wär’. Und ich bin aber auch so weit gegangen, dass ich dann auch, wenn ich wusste, dass ich beim Amt etwas ausfüllen musste, an dem Tag zum Beispiel auch mal wirklich den Arm in ’ne Schlinge gelegt habe und hab das Formular dann mit nach Hause genommen.“

Selbst wenn er das Gesellschaftsspiel Monopoly gern mit den anderen gespielt hätte, wenn er – wie seine Freunde – gerne im Verein Fußball gespielt hätte: Er gab das Gegenteil vor, um sich keine Blöße zu geben. Überall hatte er es mit Schrift zu tun: Spielanweisungen, Listen bei Fußballturnieren oder das Anmeldeformular im Verein mussten gelesen werden. Bei wichtigen Formularen der einen oder anderen Behörde täuschte er gar einen verletzten Arm vor. Er legte ihn in eine Schlinge, ein Tuch oder Band, um Schulter und Handgelenk, um Zeit zum Lesen zu haben.

Diesen Zustand wollte er irgendwann nicht mehr hinnehmen. Erst mit Mitte 20 lernte er lesen und schreiben – durch Kurse speziell für erwachsene funktionale Analphabeten, durch Privatunterricht und im Selbststudium – in seinem eigenen Tempo. Und so kam es, dass er seine späte Liebe zu Büchern entdeckte. Neben seiner Autoren- und Verlegertätigkeit ist Tim-Thilo Fellmer als eine Art Botschafter in eigener Sache unterwegs. Zusammen mit anderen ehemals Betroffenen hat er die sogenannte „Alfa-Selbsthilfe“ gegründet. Der Verein will Selbsthilfegruppen funktionaler Analphabeten miteinander vernetzen, aber auch Einzelkämpfern mit Rat und Tat zur Seite stehen. Außerdem möchte er die breite Öffentlichkeit in Deutschland für das Thema Analphabetismus sensibilisieren. Auch in der Schule sei es immer noch mit einem Stigma behaftet, sagt er:

„Man kann eher mal sagen, man kann nicht so gut rechnen. Dann wird darüber noch ’n Witz gemacht. Wenn man aber sagt, man kann nicht so gut lesen und schreiben, dann ist das einfach nochmal ’ne ganz andere Hausnummer. Das merkt man ja auch im Internet zum Beispiel, bei den sozialen Netzwerken, dass dort, wenn da jemand viele Fehler in irgendeinem Kommentar hat, auch oftmals [’n] weiterer blöder Kommentar da drunter sich befindet.“

Nach Tim-Thilo Fellmers Erfahrung kommen Menschen eher damit klar, dass jemand nicht gut rechnen kann. Kann jemand aber nicht richtig lesen und schreiben, ist das noch mal eine ganz andere Hausnummer, ist ganz schlimm. Vor allem die Angst davor, sich outen zu müssen, will Tim-Thilo Fellmer Betroffenen nehmen. Denn seine eigene Erfahrung und die, die er durch seine Arbeit in der Alfa-Selbsthilfe gemacht hat zeigen, dass die meisten Menschen nicht so negativ reagieren, wie viele Betroffene befürchten:

„Wenn Menschen sich dann outen und eventuell sogar direkt nach Hilfe fragen, dass das eigentlich dann eher positiv aufgenommen wird. Insofern möchte ich auch die Menschen ermutigen, da ’n Stück weit offener mit umzugehen, auch Hilfe anzunehmen und auf ihr Umfeld zuzugehen. [Es] ist keine Garantie, dass das immer positiv ist. Aber auch selbst wenn es dann mal ’n negatives Erleben gibt, lohnt sich der Weg auf jeden Fall.“

Den Mut zu finden, etwas, ein Stück weit, offener mit der eigenen Lese- und Rechtschreibschwäche umgehen, kann helfen, obwohl es nicht sicher ist, keine Garantie gibt, dass andere darauf positiv reagieren. Tim-Thilo Fellmer kann – auch wenn er „nur“ funktionaler Analphabet war und keiner, der überhaupt nicht lesen und schreiben konnte – jetzt sagen:

„Diese Fortschritte, die ich dann erlebt hab, nachdem ich angefangen hab, mich zu alphabetisieren, die waren trotzdem natürlich sehr, sehr bereichernd und unheimlich mutmachend und kraftspendend.“

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