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Wer versteht das Grundgesetz?

Vor 75 Jahren trat die deutsche Verfassung in Kraft. Die meisten Menschen betonen ihre Bedeutung – aber viele wissen gar nicht genau, was drinsteht. Kein Wunder, das Grundgesetz ist nicht immer leicht zu verstehen.

Eine Ausgabe des Grundgesetzes (Quelle:Joko/Bildagentur-online/picture alliance)

Am 23. Mai 1949 verkündete der damalige Präsident des Parlamentarischen Rates und baldige Bundeskanzler Konrad Adenauer in Bonn das Grundgesetz – die Verfassung der neu gegründeten Bundesrepublik. Ursprünglich als Übergangslösung gedacht gilt sie heute auch für das wiedervereinigte Deutschland. Das Grundgesetz war auch eine Antwort auf Diktatur, Krieg, Völkermord und Holocaust. So heißt es in Artikel 1 programmatisch: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

In diesem Sinne sind die Grundrechte, die in den ersten 19 der mehr als 200 Artikeln formuliert sind, vor allem Abwehrrechte der Bürgerinnen und Bürger gegen den Staat. Dazu gehören etwa die Meinungs- und Pressefreiheit und die Freiheit, sich zu versammeln und Gemeinschaften – auch Verbände und Parteien – zu bilden, aber auch die Freiheit von Kunst, Wissenschaft und Glauben.

Die Mehrheit der Menschen in Deutschland hält das Grundgesetz für eine der größten Errungenschaften der Bundesrepublik. Etwa drei Viertel (73 Prozent) bewerten Deutschlands Verfassung positiv, wie eine Onlineumfrage des Meinungsforschungsinstituts Yougov und des Sinus-Instituts ergab. Zugleich offenbart die Umfrage zu 75 Jahren Grundgesetz große Wissenslücken. 43 Prozent geben zu, sich nicht gut mit dem Grundgesetz auszukennen.

Ein schwieriger Text

Das liegt vielleicht auch daran, dass der Gesetzestext nicht leicht zu verstehen ist. Nach einer Analyse des Kommunikationswissenschaftlers Frank Brettschneider erhält die Verfassung auf dem von ihm mit entwickelten Hohenheimer Verständlichkeitsindex (HIX) einen Wert von 3,8 auf einer Skala von 0 (schwer verständlich) bis 20 (leicht verständlich). Vier Artikel kommen auf einen Wert von 0,0 – zum Beispiel Artikel 35, der auch den Einsatz der Bundeswehr innerhalb Deutschlands bei Naturkatastrophen regelt.

Gründe dafür seien unter anderem die Länge der Sätze: Die durchschnittliche Satzlänge im Grundgesetz betrage 19,5 Wörter; der längste Satz bestehe sogar aus 88 Wörtern. Außerdem enthalte über die Hälfte der Sätze zu viele Substantive. „Sie lassen den Text schwerfällig erscheinen. Sie sind typisch für Amtsdeutsch und Rechtstexte“, so der Kommunikationswissenschaftler.

Hinzu kommt: Das deutsche Grundgesetz ist im internationalen Vergleich eine lange Verfassung. Zählt man den noch heute gültigen Auszug aus der Weimarer Reichsverfassung mit, umfasst das Grundgesetz fast 24.000 Wörter. Im Vergleich dazu kommt die US-amerikanische Verfassung auf nur rund 7600 Wörter.

Das Grundgesetz verstehen

Was kann man also tun, wenn man das Grundgesetz auch als Nicht-Muttersprachlerin oder Nicht-Muttersprachler verstehen will? Als Taschenbuch ist das Grundgesetz nicht nur auf Deutsch, sondern auch auf Russisch, Arabisch und Türkisch erhältlich. All diese Varianten sind kostenlos bei der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) erhältlich. Der Bundestag bietet das Grundgesetz als Taschenbuch zusätzlich in englischer Sprachean.

Und natürlich ist das Grundgesetz inzwischen auch digital erhältlich: Der Bundestag stellt den Text zum Herunterladenauf Englisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch, Polnisch, Türkisch, Arabisch und Persisch zur Verfügung. In Kürze erscheint laut Mitteilung zusätzlich eine offizielle ukrainische Übersetzung der deutschen Verfassung.

Aber auch auf Deutsch gibt es Möglichkeiten, zumindest die Grundrechte besser zu verstehen. Unter anderem bei der Bundeszentrale kann man sich den Text in einfacher Sprachekostenfrei herunterladen. Eine kürzere Version gibt es auch vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. 

Spielerisch kann man dem Grundgesetz zum Beispiel mit dem Kartenspiel „Der Tugendvogel“ näherkommen. Die Artikel des Grundgesetzes werden dabei mit aktuellen internationalen Ereignissen und Persönlichkeiten in Verbindung gebracht. Darunter sind etwa Greta Thunberg oder der bei einem Polizeieinsatz in den USA erstickte Schwarze George Floyd. „Der Tugendvogel“ ist nicht das einzige Spiel zum Thema: Mit hundert Fragen und Antworten kann man mit dem Grundgesetz-Kartenspiel der Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern sein Wissen über das Grundgesetz testen.

ip/sts (KNA, AFP, dpa)