Wie Migration für Stress sorgt
Was macht es mit einem Menschen, sein Heimatland zu verlassen und in der Fremde ganz neu anzufangen? Ist Stress dann nicht programmiert? Das Leipziger Willkommenszentrum bietet Betroffenen Hilfe an.
Das Leben kann manchmal ziemlich stressig sein. Der Alltag stellt uns täglich vor neue Herausforderungen. Für Menschen, die unfreiwillig migriert sind, kommen noch weitere Faktoren dazu. „Alles ist neu und fremd: die Sprache, die Kultur, das Klima. Das ist Stress pur“, sagt Farzin Akbari Kenari. Er kennt das aus eigener Erfahrung. Vor über 20 Jahren flüchtete er aus dem Iran, wo er als Psychologe an einer Teheraner Klinik tätig war. Zunächst war er drei Jahre in Rumänien, dann kam er nach Deutschland. Heute hilft er im Willkommenszentrum für Migranten der Stadt Leipzig Betroffenen, mit diesem speziellen Stress umzugehen.
„Es gibt kein Patenzrezept“
Eine Gruppe ist hier für zwei Stunden zusammengekommen, um von ihm mehr über Migration und seelische Gesundheit zu erfahren. Kenari zeigt den Teilnehmenden Atemübungen, gibt praktische Tipps zum Umgang mit alltäglichem Stress: Bewegung, Meditation, gesunde Ernährung, ausreichend Schlaf, positive Erlebnisse schaffen und sich etwas Gutes tun, sich mit Freunden austauschen. „Letztlich ist es ganz individuell – es gibt kein Patentrezept, jeder und jede muss es für sich herausfinden“, erklärt der Psychologe.
Doch wie geht man mit den besonderen Stressfaktoren um, die mit Migration und Flucht verbunden sind? Verlusterfahrung, Entwurzelung, Kulturschock, enttäuschte Hoffnungen und Erwartungen vor und nach der Migration, existenzielle Unsicherheit, unsicherer Aufenthaltsstatus, kein oder eingeschränkter Zugang zu Arbeit, Bildung und medizinischer Versorgung, schlechte Wohnbedingungen, etwa in Gemeinschaftsunterkünften – all das können Faktoren sein, die Migrantinnen und Migranten stressen.
Das Phänomen „Migrationstrauer“
Um sich dem Thema weiter zu nähern, erläutert Kenari das Phänomen „Migrationstrauer“: Mit der oft unfreiwilligen Migration einher gingen Verlust und Trennung: Heimat, Beziehungen, Status, Selbstbewusstsein, Identität. Die natürliche Reaktion: Trauer. „Das kann viele Ausprägungen haben: Sehnsucht, Heimweh, Einsamkeit, Traurigkeit – was sich oft dann auch in körperlichen Symptomen ausdrückt, ausgelöst durch diesen ganz besonderen Stress“, so der Psychologe. Das kann die junge Afghanin Fatima bestätigen: „Ich habe mich hierher gerettet, ich habe es geschafft, aber all die anderen nicht. Meine Familie, meine Freunde, die immer noch in Afghanistan sind ... das ist sehr hart, ich muss immer daran denken.“
Auch ein junger Musiker, der vor neun Jahren aus Taiwan zum Studium nach Österreich kam und jetzt in Deutschland lebt, erzählt, dass er eigentlich gut integriert sei, die Sprache spreche und neue Freunde gefunden habe. Aber wenn er an besonderen Feiertagen mit seiner Familie in der Heimat telefoniert, dann bricht die Sehnsucht sich ihre Bahn.
Kenari nickt und erläutert den Anwesenden, dass das eine ganz normale Reaktion ist: „Die Entwurzelung wirkt lange nach. Und oftmals schlägt sie auch noch zehn Jahre später – trotz guter Integration – plötzlich wieder stärker durch.“ In der Anfangsphase nach einer Migration oder Flucht sei zwar der Stress hoch, aber bei vielen auch die Motivation: Man will möglichst schnell die Sprache lernen, Arbeit finden, sich integrieren. „Ist das alles erreicht und es kehrt wieder etwas Ruhe ein, kann es gut sein, dass die tiefe Entwurzelungserfahrung wieder stärker ins Bewusstsein rückt und Raum einnimmt.“
„Keiner muss da alleine durch“
Doch was hilft bei Migrationstrauer und Kulturschock? „Wichtig ist, sich bewusst zu machen: Ein Kulturschock ist normal“, sagt Kenari. Er zeigt eine Folie mit Tipps: geduldig sein, Unsicherheiten ansprechen, beobachten und zuhören, mutig sein, nach Erklärungen fragen, sich mit anderen austauschen, sich „Inseln der Vertrautheit“ schaffen, positiv denken, Tagebuch schreiben und Neues ausprobieren, den Glauben als Kraftquelle nutzen. Vieles sei leichter gesagt als getan, räumt der Psychologe ein, betont aber zugleich: „Keiner muss da alleine durch – es gibt viele Hilfsangebote und Netzwerke.“
Und er gibt Hinweise auf mehrsprachige Angebote in der Stadt, aber auch im Internet sowie telefonische Hotlines. Viele Krankenkassen übernehmen die Kosten für Entspannungskurse. Kenari verweist auch auf die kostenlosen Beratungen etwa von Caritas und Diakonie, aber auch auf Opferberatungen und Antidiskriminierungsstellen für Betroffene von Rassismus – einem zusätzlichen Stressfaktor für viele Migrantinnen und Migranten.
ist/suc (mit KNA)