Wie sich das Lesen im digitalen Zeitalter verändert
Ein gutes Drittel der Menschen in Deutschland liest E-Books. Die Corona-Pandemie hat auch diesem Bereich der Digitalisierung einen Schub gegeben. Aus Sicht des Leseforschers Andreas Gold birgt der Trend durchaus Chancen.
Im ersten Jahr der Corona-Pandemie boomten E-Books; Bücher dienten als Zeitvertreib und Trostspender. Das Umsatzplus für 2020 lag bei 16,2 Prozent. Im Folgejahr fiel das Wachstum zwar geringer aus, doch weiterhin lesen viele Menschen hierzulande elektronische Medien – Tendenz steigend. Insbesondere Menschen unter 30 Jahren nutzen das digitale Bücherregal, wie eine Umfrage des Branchenverbandes Bitkom im Herbst 2022 ergab. Als Vorteil von E-Books sehen viele, dass sie keine schweren Bücher herumtragen müssen – und dass neuer Lesestoff binnen Sekunden bereitsteht.
Der Pädagogische Psychologe Andreas Gold forscht seit Jahrzehnten zu Lesen, Lernen und menschlichem Gedächtnis und befürwortet eine „Sowohl-als-auch-Haltung“ bei gedrucktem Buch und E-Book. „Unterschiedliche Leseanlässe und -gelegenheiten gehen mit unterschiedlichen Lesemodalitäten einher“, schreibt er in seinem Buch „Digital lesen – was sonst?“.
Verringert Lesen am Bildschirm das Textverständnis?
In einem Selbstversuch wollte die US-Leseforscherin Maryanne Wolf bereits vor einigen Jahren ihr Lieblingsbuch erneut lesen: „Das Glasperlenspiel“ von Hermann Hesse. Doch die Geduld dafür aufzubringen, fiel ihr schwer. Sie brauchte Wochen, bis sie nicht länger zu schnell oder zu oberflächlich las. Und sie vermutete, dass der Grund dafür jahrzehntelanges Lesen am Bildschirm war. Nicht nur sie persönlich, sondern die Gesellschaft als Ganze drohe die kognitive Geduld zu verlieren, warnte Wolf.
Gold hat seine Zweifel daran, ob das vermehrte Lesen am Bildschirm hier wirklich die Ursache war. Er sagt, vielmehr könne das zweckorientierte berufliche Lesen an sich das Problem sein. „Es gibt verschiedene Lesehaltungen: Das informatorische Lesen ist eher ‚quick and dirty‘, wenn wir etwa nach einem bestimmten Stichwort suchen. Das ist etwas ganz anderes als das weltvergessene Sich-Einlassen auf einen Roman“, so der Forscher.
Wer in Schule, Universität oder Beruf ständig Texte informatorisch lese und nur auf der Suche nach bestimmten Informationen überfliege, dem könne die Fähigkeit zum ‚Deep Reading‘ abhandenkommen. Damit ist gemeint, sich wirklich auf einen möglicherweise komplizierten, sprachlich sperrigen Text einzulassen, in dieser Welt zu versinken – also ein Teil dessen, was viele Menschen an Literatur lieben.
Das richtige Medium für die Textart ist entscheidend
Das hängt nicht allein vom Lesemedium ab, wie Gold betont. Allerdings läsen Menschen am Bildschirm oft anders als auf Papier: „Insbesondere längere Sachtexte lesen wir am Bildschirm schneller, flüchtiger, unkonzentrierter und nicht so sorgfältig.“ Darunter leide das Textverständnis. Dagegen sei das Lesemedium für Romane weniger entscheidend: „Als Leserinnen und Leser bevorzugen wir dennoch bei der Unterhaltungslektüre eher das gedruckte Buch; Sachtexte für die Arbeit lesen wir am Bildschirm“, so der Experte. „Wir sollten es eigentlich genau umgekehrt machen.“ Er wirbt für bewusstes ‚Slow Reading‘, um jener Flüchtigkeit entgegenzuwirken, zu der Menschen am Bildschirm offenbar neigen.
Digitaler Austausch mit elektronischen Texten – auch im Klassenzimmer
Gold nennt weitere Vorzüge, die digitale Medien in Zusammenhang mit dem Lesen bieten können: So gibt es Plattformen für gemeinsame Textarbeit etwa im Klassenverband, für den Austausch über Lektüre oder für das Einstellen eigener Texte, die andere dann lesen und kommentieren können. Fachleute sprechen von ‚Social Reading’ beziehungsweise ‚Social Writing’. Auch könnten digitale Angebote etwa Kinder mit Lernschwierigkeiten gezielt unterstützen.
Generell böten digitale Medien bereits im Vorschulalter auch Chancen – zum Beispiel mit interaktiven Bilderbüchern, so Gold. Er betont auch den Einfluss von Vorlesen und gemeinsamem Lesen mit Kindern auf die Lernsozialisation und den späteren Erwerb der Schriftsprache. Allerdings müsse man Kindern und Jugendlichen beibringen, wie man auch elektronisch so lesen kann, dass das Textverständnis nicht darunter leidet, betont der Forscher. Und nicht zuletzt könne elektronisches Lesen auch der so genannten Buchlesekrise zwischen 12 und 14 Jahren vorbeugen – ein Alter, in dem Jugendliche oft das Interesse am Lesen verlieren. Hier gilt laut Gold: „Die Lesegelegenheit heiligt die Mittel. Wo E-Reader oder Smartphone Lesemöglichkeiten eröffnen, die sonst nicht bestehen würden, ist das eine Win-win-Situation.“
rh/sts (mit KNA, bitkom)