Wieso sagt man eigentlich „Muttersprache“?
Jedes Jahr am 21. Februar wird am Internationalen Tag der Muttersprache weltweit an die sprachliche Vielfalt erinnert. Doch welche Bedeutung hat die „Sprache der Mutter“? Und warum heißt sie so und nicht anders?
Die Zahlen changieren: Nach Informationen des „Instituts der Deutschen Wirtschaft“ gibt es aktuell weltweit 7186 Muttersprachen. Die Weltkulturorganisation UNESCO geht von etwas mehr als 6000 Sprachen aus.
In einem Punkt besteht jedoch Einigkeit: die Vielfalt der Muttersprachen ist bedroht. Denn alle zwei Wochen würde eine weitere Muttersprache verstummen, sagen Forscher. Um diesem Trend entgegenzusteuern, wurde vor über 25 Jahren der „Internationale Tag der Muttersprache“ ins Leben gerufen.
Was ist eine Muttersprache?
„Natürlich, Russisch!“, antwortet der 16-jährige Sohn der Autorin dieses Artikels auf die Frage, was seine Muttersprache sei. In Köln geboren, hat er in Russland nur wenige Monate seines Lebens verbracht, hat deutschsprachige Freunde, sein Deutsch und sogar sein „Kölsch“, die in Köln gesprochene Mundart, sind mindestens so gut wie sein Russisch. Ein russisches Buch würde der Halbwüchsige ohnehin ungern lesen (ein deutsches allerdings auch). „Du sprichst doch Russisch, Mama?“, fragt er zurück, „also, meine Muttersprache ist Russisch!“
Der Duden definiert die Muttersprache als eine „Sprache, die ein Mensch als Kind von den Eltern erlernt“ – also, noch vor jeglicher Schulbildung. In der Regel sind es Mütter, die einem Kind die ersten Worte beibringen, deswegen spricht man in den meisten Kulturen von der „Sprache der Mutter". Allerdings nicht überall: so handelt es sich etwa im Ukrainischen oder Russischen um „ridna mova“ oder „rodnoj jazyk“ – also, die „angeborene“ Sprache oder die Sprache der Verwandten oder der Familie.
Im deutschen Sprachgebrauch gibt es das Wort „Muttersprache“ erst seit dem frühen 16. Jahrhundert. Das Wort war eine Übersetzung des lateinischen „materna lingua“ und bezeichnete zunächst die Umgangssprache im Gegensatz zum Latein, der Wissenschaftssprache. Latein, die „lingua patria“, war im Mittelalter vor allem den Männern vorbehalten, während Frauen meist keine Schulbildung erhielten und eben bei ihrer Muttersprache blieben, erklärt etwa der Germanist Claus Ahlzweig im Vorwort zu seinem berühmt gewordenen Buch „Muttersprache-Vaterland. Die deutsche Nation und ihre Sprache“.
Vaterland – ein Land der Muttersprache?
Ein ähnliches Spiel zeigt sich beim Begriff „Heimat“. Das deutsche Wort „Vaterland“ ist erst mal eine Übersetzung des lateinischen „patria". Der Versuch deutscher Dichter und Philosophen, vor allem Johann Gottfried Herders, den Begriff „Mutterland“ passend zur „Muttersprache" einzuführen, hat jedoch nicht funktioniert. Heute hört man lediglich von England als „Mutterland des Fußballs“.
Dafür gibt es eine enge Verbindung zwischen Heimat und Muttersprache. In vielen, etwa den slawischen und einigen afrikanischen Sprachen ist „Heimat“ feminin und bedeutet nicht „Land der Väter“, sondern eher „Land der Mütter“ oder „Land des Volkes“.
Selbst im Zeitalter globaler Migration ist es oft die Muttersprache, die Identität und Heimatgefühl stiftet. So spricht etwa die in Berlin lebende russische Dichterin Maria Stepanova von „einer Ersatzheimat in der russischen Sprache“. Auch die vor den Taliban geflohene afghanische Dichterin Shafiqa Khpalwak bezeichnet Paschtu, ihre Mutter- und Schreibsprache, als „ihre wahre Heimat“.
Deutsch: Sprache der Dichter und Denker nicht in Gefahr
„Eine Sprache kann dann sterben, wenn die Anzahl der Sprecher zu gering wird, so dass sie von den Eltern kaum mehr an die nächste Generation weitergegeben werden kann“, unterstrich 2019 im DW-Gespräch Sprachforscher Aria Adli. „Verstärkt wird dies dadurch, wenn die Sprache auch institutionell keinen Einfluss hat.“ Genau diese Gefahr droht momentan mehr als 2600 Sprachen.
Der interaktive UNESCO-Weltatlas der bedrohten Sprachen listet diese Sprachen nach Region und Bedrohungsgrad auf. So sprechen in Deutschland immer weniger Menschen Bairisch, Alemannisch, Ostfränkisch, Rheinfränkisch, Moselfränkisch, Niedersächsisch, Limburgisch-Ripuarisch, Sorbisch oder Jiddisch. Als ernsthaft bedroht gelten Nordfriesisch und Saterfriesisch sowie Jütländisch und das von Sinti und Roma gesprochene Romani.
Um Deutsch braucht man sich gleichwohl weniger Sorgen zu machen: rund 77 Prozent der Bevölkerung spricht zu Hause ausschließlich Deutsch, so das Statistische Bundesamt in Wiesbaden. Weitere 17 Prozent benutzen neben Deutsch mindestens eine weitere Sprache im Kreise der Familie - am häufigsten Türkisch, gefolgt von Ukrainisch, Russisch und Arabisch. Und nur sechs Prozent der in Deutschland lebenden Menschen verständigen sich zu Hause ausschließlich in einer anderen Sprache als Deutsch.
Mehrsprachigkeit als Bereicherung
In der Mehrsprachigkeit sehen Forscher, darunter der Kölner Sprachwissenschaftler Aria Adli, vor allem eine Ressource für die Bereicherung und Weiterentwicklung der Kultur, einen Schlüssel für Respekt und Verständnis.
„Sprache ist ständig im Wandel, ständig im Fluss. Das ist der natürliche Gang der Dinge“, unterstrich Adli im DW-Gespräch. „Das Englische genießt, gerade durch Internet, Film- und Musikkultur, seit einigen Generationen verstärkt Prestige. Davor gab es eine längere Phase, in der das Französische im deutschsprachigen Raum einen hohen Prestigewert hatte. Solche Moden spiegeln sich in der Art, wie wir sprechen, wider. Das ist etwas ganz Natürliches.“
21. Februar: kein zufälliges Datum
Aber warum feiert die Welt genau am 21. Februar die Vielfalt der Sprachen? Das Datum ist nicht zufällig gewählt. Es erinnert daran, dass im Jahre 1952 die damalige pakistanische Regierung beschloss, Urdu als alleinige Amtssprache einzuführen. Urdu war allerdings nur für eine verschwindend kleine Minderheit von knapp drei Prozent der Bevölkerung die Muttersprache.
Die Menschen – vor allem diejenigen, deren Muttersprache Bengalisch war – gingen auf die Straße. Die Polizei griff ein. Bei den Protesten in Dhaka am 21. Februar gab es Tote und Verletzte. 1971 erklärte das damalige Ost-Pakistan im neu gegründeten Staat Bangladesch Bengali zur Landessprache. Bangladesch stellte 1999 den Antrag, den 21. Februar zum Welttag der Muttersprache zu erklären.
Der Antrag wurde von der UNESCO positiv beschieden, und nun erinnert sich die ganze Welt an diesem Tag daran, dass die Muttersprache ein hohes, weil Identität stiftendes Gut ist, um das man auch kämpfen muss.
Anastassia Boutsko