Manuskript

Wir sind anders: Autismus

Sie unterscheiden sich von anderen Menschen: Autisten. Forscher suchen nach den Gründen für die Störung, denn deren Symptome sind nicht bei allen gleich. Aber was ist autistisch und was normal?

Der Hollywood-Film „Rainman“ mit Dustin Hoffmann und Tom Cruise in den Hauptrollen machte im Jahr 1988 einer breiten Öffentlichkeit das Thema bewusst: Autismus. Die von Dustin Hoffmann verkörperte Filmfigur Raymond Babitt wurde zu „dem“ Beispiel eines Autisten. Im Film leidet Babitt an einer bestimmten Form von Autismus, dem Savant-Syndrom, auch „Inselbegabung“ genannt. Hierbei zeigt sich in einem Teilbereich, einer „Insel“, eine herausragende Begabung. Im Falle der Filmfigur ist es ein außergewöhnliches Zahlengedächtnis. Generell gibt es ganz unterschiedliche Ausprägungen von Autismus. Während einige Autisten nie sprechen lernen, fallen andere schon früh durch ihre gewählte Sprache auf. Die einen sind in ihren Körperbewegungen ungeschickt, andere zeichnen stundenlang. Es gibt den geistig beeinträchtigten Autisten ebenso wie den mit dem außergewöhnlichen Zahlengedächtnis. Sie alle aber zeigen in der Regel sich wiederholende, monotone Verhaltensmuster und haben ähnliche Schwierigkeiten, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Auch Rainer ist Autist. Er war bereits erwachsen, als bei ihm das Asperger-Syndrom festgestellt wurde. Schon in der Schule war er, wie er erzählt, ein Außenseiter:

„In meinem Zeugnis stand dann auch immer in der Schule: Der findet keinen Kontakt zur Klassengemeinschaft, keinen Zugang. Ich war dann schon froh, wenn man mich in Ruhe gelassen hat und ich lesen und lernen konnte. Das war immer so meine Lieblingsbeschäftigung. Ich hab’ ’ne Hochbegabung. Ich hab’ Spezialinteressen: Im Bereich Geographie und Geschichte ist das hauptsächlich, wo ich dann auch manchmal ellenlange Listen anfertige über Regenten oder Hauptstädte und – weiß ich nicht – irgendwas.“

Zum charakteristischen Bild von Autisten mit Asperger-Syndrom gehört eine Schwäche im Umgang mit anderen Menschen. Sie wirken auf andere seltsam und merkwürdig, weil sie kaum Gestik und Mimik entwickeln und Probleme haben, Gefühle anderer zu verstehen. Sie wissen nicht richtig, wie Freundschaft funktioniert, haben Schwierigkeiten, mit anderen in Kontakt zu treten, Zugang zu ihnen zu finden. Darüberhinaus sind sie, wie Rainer bestätigt, gerne für sich. Er bezeichnet sich als hochbegabt. Damit meint er überdurchschnittliche Fähigkeiten in besonderen Bereichen, die er „Spezialinteressen“ nennt. In seinem Fall ist es die Fähigkeit, sich die Namen von Kaisern und Königen, von Regenten, und von Hauptstädten zu merken. Diese listet er dann in sehr, sehr langen, ellenlangen, Tabellen auf.

Seit Jahren versuchen Forscher zu klären, was die Gründe für Autismus sind. Zu ihnen gehört auch Professor Sven Bölte. Er leitet am Karolinska-Institut der schwedischen Hauptstadt Stockholm das „Center of Neurodevelopmental Disorders“ und befasst sich dort unter anderem mit dem Thema „Autismus-Spektrum-Störungen“. Er erklärt, was damit gemeint ist:

„Früher haben wir gedacht, es gibt wirklich qualitativ unterschiedliche Zustände, die auch ’ne unterschiedliche Ätiologie nahelegen. Und es gibt unzählige Studien, die gezeigt haben, dass sie sich wirklich eher graduell unterscheiden. Also, Autismus ist nicht was qualitativ anderes als Asperger-Syndrom. Die variieren sozusagen eher in der Schwere ihrer Symptomatik und vielleicht in der Komposition ihrer Symptome.“

Früher waren Wissenschaftler der Meinung, dass es sich bei den verschiedenen Formen von Autismus um qualitativ, also grundsätzlich, unterschiedliche Zustände handelt, die wiederum jeweils andere Ursachen haben. Diese legen laut Sven Bölte eine unterschiedliche Ätiologie nahe. In der Fachsprache ist damit die Lehre von den Ursachen der Krankheiten gemeint. Aufgrund vieler Untersuchungen weiß man heute laut Sven Bölte aber, dass sie sich eher quantitativ, also im Bezug auf die Stärke, den Schweregrad, des Syndroms unterscheiden. Es gibt graduelle, kleine, aber doch erkennbare Unterschiede. Außerdem variieren die Symptome in ihrer Komposition, ihrer Zusammenstellung. Es gibt also beim Autismus ein großes Spektrum, eine Vielfalt unterschiedlicher Ausprägungen. Diese „Autismus-Spektrum-Störungen“ werden darauf zurückgeführt, dass sich die Nervenbahnen im Gehirn anders entwickelt haben oder gestört sind. Warum das so ist, ist nicht geklärt. Aus sogenannten „Hirnscans“ im Labor wissen die Wissenschaftler, dass Autisten weniger Aktivität in Hirnregionen zeigen, die für die Verarbeitung von Gefühlen und Sprache oder für die Erinnerung an Gesichter zuständig sind. Dafür gibt es eine stärkere Aktivität dort, wo Dinge und Details eines Systems erkannt werden. Auch in den Bereichen des Gehirns, in denen etwa Angst oder Motivation gesteuert werden, gibt es Unterschiede zu den Gehirnen von normal entwickelten Personen. Zudem sind eine Reihe von Genen und Genveränderungen im Zusammenhang mit Autismus entdeckt worden. Aber wo ist die Grenze zwischen „gesund“ und „krank“ zu ziehen? Inge Kamp-Becker, Leiterin der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Marburg, beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema „Autismus“. Sie meint dazu:

„Die Kriterien, was ist Autismus und was ist nicht mehr Autismus, die verschwinden immer mehr. Was jetzt passiert, ist, dass eben das so ausfranst, dieses: Wo ist das Ende des Spektrums? Und wenn wir sagen, es ist ’ne Eigenschaft – das gibt’s auch in der gesunden Normalbevölkerung und noch viel mehr bei vielen anderen diagnostischen Störungsbildern, da gibt es auch autistische Eigenschaften, autistische Traits –, dann wird immer unklarer: Ja, was ist das dann?“

Inge Kamp-Becker findet, dass nicht mehr ganz genau zu definieren ist, wer Autist ist und wer nicht. Es wird immer unklarer, es franst aus. Damit meint sie, dass die Grenze nicht mehr wie eine klare Linie verläuft, sondern – wie bei einem ausgefransten Kleidungsstück – offen und nicht mehr eindeutig ist. Denn auch bei gesunden Menschen oder bei Menschen, die eine andere Störung haben, gebe es sogenannte Traits, also Auffälligkeiten in Persönlichkeitsmerkmalen, die eigentlich mit Autismus in Verbindung gebracht werden. Für eine Diagnose wird nach jetzigem Stand der Forschung die Grenze zwischen gesund und krank meist an einer bestimmten Stelle gezogen: Dort, wo autistisches Verhalten dazu führt, dass jemand alltägliche Aufgaben nicht selbstständig erfüllen kann und auf Hilfe angewiesen ist. Die Grenze jedoch ist fließend – und die Frage, ob Autismus eine Krankheit oder ein Charakterzug ist, bleibt vorerst unentschieden.