Manuskript

Beton ist wieder in

Ab den 1950-Jahren entstand in Berlin und anderswo auf der Welt Architektur im Stil des Brutalismus. Viele Menschen finden die riesigen Gebäude aus rohem Beton hässlich und lebensfeindlich. Andere sind heute von dem ungewöhnlichen Baustil aufs Neue fasziniert und versuchen die Bauwerke des Brutalismus vor dem Abriss zu schützen. Zugleich entstehen sogar neue Gebäude in diesem Stil.

SPRECHER:

Monumental, farblos, menschenfeindlich – die Architektur des Brutalismus. Es sind Bauwerke, die polarisieren. Bausünden für die einen. Doch eine wachsende Zahl Architekturbegeisterter auf der ganzen Welt entdeckt den Brutalismus neu.

FELIX TORKAR (Architekturhistoriker):
Ich finde den Brutalismus so faszinierend, weil es so gegensätzlich und kontrovers ist. Einerseits werden die Bauwerke als hässlich verschrien und sind wirklich vielerorts sehr gewöhnungsbedürftig. Aber wenn man dann ’n bisschen hinter die Kulissen guckt und anfängt zu verstehen, warum die Bauwerke so aussehen, wie sie aussehen, dann eröffnet sich da so ein ganzer architektonischer Kosmos.

SPRECHER:
An ein riesiges Kreuzfahrtschiff erinnert das Corbusierhaus im Westen Berlins. Für den Architekturhistoriker und Fotografen Felix Torkar ist es eines der wichtigsten brutalistischen Gebäude der deutschen Hauptstadt, entworfen 1957 vom französisch-schweizerischen Architekten Le Corbusier. 530 Wohnungen auf 17 Etagen – eine sogenannte „Wohnmaschine“.

FELIX TORKAR:
Le Corbusier ist eigentlich schon der Namenspate für den Brutalismus, denn er hat den Begriff „béton brut“, also rohen, unbehandelten Beton erfunden. Und er hat ihn bei dieser Baureihe erfunden, und wenn man sich das Gebäude anschaut, ist das so ein Riesen-Maschinenungetüm, das aber gleichzeitig sehr roh geblieben ist.

SPRECHER:
Im Inneren konnte Le Corbusier seine Pläne nicht verwirklichen. Nur eine Wohnung wurde nachträglich originalgetreu umgestaltet, basierend auf der von ihm entwickelten Farbenlehre. Für Le Corbusier waren Farben genauso wichtig wie Grundriss und Schnitt. Der Schwede Henrik Svedlund war sofort fasziniert und kaufte die Wohnung samt der meisten Möbel.

HENRIK SVEDLUND (Eigentümer):
Wir werden die Farben in dieser Wohnung niemals ändern. Niemals! Es ist wie ein Kartenhaus. Es kann ganz einfach in sich zusammenfallen, wenn man zu viel ändert.

SPRECHER:
Unverändert seit Ende der 1970er-Jahre ist auch das Botschaftsgebäude Tschechiens in Berlin-Mitte – ein Gesamtkunstwerk. Die Architekten entwarfen selbst Lampen, Tische und Sessel. Es beheimatet auch das tschechische Kulturinstitut. In dessen Ausstellungen spielt das Gebäude oft eine Rolle. Denn das Interesse an dem Architekturstil wächst – auch wenn er nicht von allen geliebt wird.

SIMONA BINKO (Mitarbeiterin am Tschechischen Zentrum Berlin):
Also ich würd’ sagen, dieser Clash, der besteht immer noch, dass es entweder geliebt oder so ’n bisschen gehasst wird. Und natürlich ist Brutalismus jetzt viel mehr in. Und ich versuche eben, Architekturbegeisterte in das Haus zu holen und zu erzählen, was das für ein Haus ist.

SPRECHER:
Gerade veröffentlichte ein britischer Verlag sogar eine Brutalismus-Stadtplan-Reihe. Felix Torkar fotografierte und kuratierte die Berliner Ausgabe. Zu finden sind hier Gebäude wie dieses Hygieneinstitut. Vor Kurzem drohte der Abriss, nun ist es denkmalgeschützt. Weil sie so markant sind, erleben die Brutalismus-Bauten in sozialen Netzwerken ein Revival. Ausgelöst auch durch Kampagnen, die Bauwerke wie das ehemalige Berliner Tierversuchslabor vor dem Abriss schützen wollen.

FELIX TORKAR:
In den 60er-Jahren, wo diese Bauwerke geplant wurden, damals wurden extrem viele Bauwerke aus der Gründerzeit abgerissen. Bauwerke, die wir heute fantastisch finden und wo wir uns die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, was da alles für Baukunst verloren ging. Die waren damals gerade erst so um die sechzig Jahre alt. Genauso alt wie diese Bauwerke jetzt hier heute sind, und wir müssen uns überlegen, ob wir nicht dieselben Fehler wiederholen.

SPRECHER:
Gleichzeitig kommen neue Beton-Bauten hinzu, im Stil des Neo-Brutalismus – wie der „Lobe Block“ im Berliner Stadtteil Wedding. Hier dominiert roher Beton das Innen und Außen. Das mehrfach ausgezeichnete Atelierhaus vereint Arbeiten und Wohnen. Die Rohbauästhetik ist nicht nur angesagt, sie ermöglicht auch geringe Baukosten und hält so die Mieten niedrig.

FELIX TORKAR:
In den letzten Jahren ist zu beobachten, dass es ’ne neue Freude an Handwerklichkeit gibt. Diese ganzen Craft-Bewegungen, und das geht dann auch damit einher, dass die Architektur wieder mehr zum Anfassen sein soll.

SPRECHER:
Brutalismus – ein Architekturstil, der vor mehr als 60 Jahren entstanden ist und bis heute spaltet und fasziniert.

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