Ein offenes Ohr für jeden
Christoph Busch ist Drehbuchautor und immer auf der Suche nach guten Geschichten. In einer Hamburger U-Bahn-Station hat er einen Kiosk gemietet – um zu schreiben und um mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Mittlerweile findet Busch allerdings kaum noch Zeit zum Schreiben. Die meiste Zeit verbringt er damit, anderen in seinem Kiosk zuzuhören. Nicht alles, was Busch hört, ist schön.
SPRECHER:
U-Bahn-Linie 2, Hamburg, Haltestelle Emilienstraße. Ein Bahnsteig, ein Kiosk – aber kein gewöhnlicher mit Zeitungen und Süßigkeiten: Für die Vorbeikommenden hat der Mann im Kiosk ein ganz besonderes Angebot.
CHRISTOPH BUSCH (Autor):
Schönen guten Morgen!
SPRECHER:
Guten Morgen! Was kann man hier denn kaufen?
CHRISTOPH BUSCH:
Hier kann man nichts kaufen, hier kann man sich zuhören lassen. Ich bin ganz Ohr, wenn Sie mir ’ne Geschichte erzählen wollen. Oder auch nur ’n paar Sätze, ich nehm’ alles.
SPRECHER:
Einfach zuhören – das macht neugierig. Die Leute bleiben stehen an Christoph Buschs Zuhör-Kiosk in der U-Bahn.
CHRISTOPH BUSCH:
Ich würde mich freuen, wenn Sie mal vorbeikommen, da steht auch ’ne … eine Telefonnummer drauf.
FRAU 1:
Und Sie schreiben ein Buch?
CHRISTOPH BUSCH:
Das wird dann vielleicht ein Buch, aber vor allen Dingen hör’ ich erst mal zu. Sie haben bestimmt was zu erzählen.
SPRECHER:
Der 71-Jährige ist Drehbuchautor für das Fernsehen. Eigentlich hat er den ungewöhnlichen Ort als Schreibstube gemietet.
CHRISTOPH BUSCH:
Ich hab’ mir vorgestellt, dass ich hier sitze und schreibe, und ab und zu spricht mich mal jemand an. Oder ich spreche jemanden an und ich höre ’ne neue Geschichte. Und zum Schreiben komm’ ich eigentlich nicht mehr, ich hör’ nur noch zu.
SPRECHER:
Die meisten Leute, denen Christoph Busch sein Ohr leiht, wollen aber nicht vor die Kamera. Sie erzählen aus ihrer Kindheit, Episoden oder ihr ganzes Leben. Und sie freuen sich, dass jemand für sie da ist.
CHRISTOPH BUSCH:
Die Tatsache, dass man normalerweise nicht in die U-Bahn-Station geht, um da zu bleiben, bedeutet auch, wenn jemand hier hinkommt, dann ist er extra gekommen und hat Zeit mitgebracht.
Und da ist … Hallo, ich hab’ Sie auf dem Zettel.
SPRECHER:
Sie hatte sich telefonisch angemeldet und erzählt von ihrer Ehe mit einem Senegalesen. Christoph Busch spürt nach: Könnte das eine spannende Geschichte werden?
FRAU 2:
Damals bin ich in [den] Senegal ausgewandert mit meinem Mann zusammen, und er war da nicht so überzeugt. Ich hab’ gesagt: Ey, nein, das machen wir! Und: Ich hab’ so viele Ideen. Und: Das ist ein armes Land, wir müssen da gute Ideen reinbringen, das schaffen wir.
CHRISTOPH BUSCH:
Ja?
FRAU 2:
Hat nicht geklappt. Dreivierteljahr …
CHRISTOPH BUSCH:
… und dann sind Sie zurückgekommen?
FRAU 2:
Ja, dann sind wir zurückgekommen. Es war ’ne tolle Erfahrung.
CHRISTOPH BUSCH:
Ich halte schon Ausschau nach Menschen, die ich normalerweise so nicht kennenlernen würde, also die nicht unbedingt bei mir zu Hause auf die Party kommen würden – sogar auch Leute, die mir ’nen gewissen Respekt einflößen oder wo ich denke: Oh, was der wohl sagt – oder die. Aber das reizt mich grade.
SPRECHER:
Ersatz sein für einen Therapeuten oder Seelsorger will er aber nicht. Dennoch hört er hier mehr üble Geschichten als schöne.
CHRISTOPH BUSCH:
Ich sag’ mir immer: Unglück ist das Gegenteil von Glück. Und wenn man kein Unglück hat, weiß man gar nicht, was Glück ist. Und die Leute, die hier hinkommen, wollen allermeist aus ihrem Unglück raus. Und dann ist das hier so ’n kleiner erster Schritt, um zu gucken, wie schaffe ich das.
SPRECHER:
Viele Geschichten gehen Christoph Busch nahe. Dann kann er gar nicht anders, als abends das nach Hause mitzunehmen, was die anderen ihm dagelassen haben.