Manuskript

Gendermedizin – der kleine Unterschied macht’s

Noch führt sie weitgehend ein Schattendasein: die geschlechtsspezifische Diagnose und Behandlung von Krankheiten. Ein eigener Studiengang in der Schweiz will das Thema Gendermedizin stärker in den Fokus rücken. 


Bereits bei der Befruchtung der weiblichen Eizelle durch den männlichen Samen entscheidet sich das genetische Geschlecht: Zwei X-Chromosomen stehen für das weibliche, ein X- und ein Y-Chromosom für das männliche Geschlecht. Dieser kleine große Unterschied hat nicht nur Auswirkungen auf das Immunsystem, sondern auch auf die unterschiedliche Anfälligkeit der beiden Geschlechter für Krankheiten. Bei Medizinforschenden rückt die Verschiedenheit von Frauen und Männern langsam mehr und mehr in den Fokus – und das hat Auswirkungen auf die Diagnose und Behandlung.

Eins der bekanntesten Beispiele, wenn es um die Bedeutung von Gendermedizin geht, also um Medizin, die die biologischen Unterschiede von Frauen und Männern berücksichtigt, ist der Herzinfarkt. Erkrankungen des Herzkreislaufsystems sind in Deutschland nach wie vor Todesursache Nummer eins – bei Männern und Frauen. Doch die Symptome äußern sich unterschiedlich. Typische Symptome für einen Herzinfarkt sind Schmerzen in der Brust, die ins Kinn und in den linken Arm ausstrahlen. Das gilt zumindest für Männer. Bei Frauen äußert sich ein Herzinfarkt oft ganz anders, etwa mit Übelkeit, Bauchschmerzen oder Müdigkeit. Dieser Unterschied werde oft nicht beachtet, erklärt die Kardiologin Cathérine Gebhard. Das hat schwerwiegende Folgen:

„Das hat dazu geführt, dass die Frauen oft mit starker Verzögerung erst behandelt werden bei ’nem Herzinfarkt, [und] dass die Zeit, bis Frauen erstens Hilfe rufen und zweitens Hilfe bekommen, viel länger ist als bei Männern – im Schnitt 30 bis 45 Minuten.“

Cathérine Gebhard forscht seit mehreren Jahren zu Herzkreislauferkrankungen und Gendermedizin. Neben unterschiedlichen Krankheitssymptomen beschäftigt sich dieser Zweig der Humanmedizin auch mit geschlechtsspezifischen Krankheitsrisiken:

„Zum Beispiel wurde eine Studie publiziert in einer großen Kardiologie-Zeitschrift, die gezeigt hat, dass Frauen mit Bluthochdruck, dass deren Gefäße eben viel schneller altern, als diejenigen von Männern mit Bluthochdruck, und dass diese Frauen auch ein höheres Risiko haben, einen Herzinfarkt zu bekommen. Genauso sieht es aus mit Rauchen und Lungenkrebs. Frauen, die rauchen, haben ein ungleich höheres Risiko für Lungenkrebs als Männer, die rauchen. Und diabetische Frauen haben auch ’n höheres Risiko, ’nen Herzinfarkt zu bekommen oder Herzkreislauferkrankungen als Männer.“

Die US-amerikanische Fachzeitschrift ‚Jama Cardiology‘ hat im April 2020 eine Untersuchung zu geschlechtsspezifischen Unterschieden bei Bluthochdruck veröffentlicht. Die Mediziner fanden heraus, dass Frauen eher als Männer Anzeichen für eine Erhöhung des Blutdrucks zeigen, eine Hypertonie. Sind die Blutdruckwerte dauerhaft höher als normal, altern die Blutgefäße schneller. Das heißt, schädliche Stoffe lagern sich an den Gefäßwänden ab, die Blutgefäße werden enger und weniger elastisch. In letzter Konsequenz wird das Herz nicht genug mit Blut versorgt, es kommt zum Infarkt. Auch beim Zusammenhang von Diabetes, einer Krankheit, bei der der Körper kein Insulin produziert, und Herzinfarkten gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede. Die Gründe für diese Unterschiede sind vielfältig: Sie reichen von der genetischen und hormonellen Verschiedenheit von Frauen und Männern bis hin zum unterschiedlichen Körperbau, sagt Cathérine Gebhard:

„Körpergröße, Gewicht, Muskelmasse, Körperfett, Wasseranteil sind zum Beispiel alles unterschiedlich bei Männern und Frauen. Und das wirkt sich natürlich auf viele Sachen aus – auf die Krankheitsentstehung, die Manifestation und den Verlauf, aber zum Beispiel auch auf den Abbau und die Verteilung von Medikamenten.“

Selbst geschlechtsspezifische kulturelle und sozialbedingte Verhaltensweisen können zu unterschiedlichen Krankheitsbildern bei Frauen und Männern führen – etwa bei psychischen Erkrankungen wie der Depression:

„Depression ist bei Männern ’ne Erkrankung, die sich auch in der Symptomatik anders zeigt. Die reagieren anders darauf, sprechen kaum darüber, wohingegen sich Frauen da eher mitteilen. Und deswegen wird das bei Männern oft übersehen und nicht behandelt, was dann natürlich fatale Folgen haben kann. Wir wissen zum Beispiel, dass die Suizidrate – der vollendete Suizid – bei Männern viel höher ist.“

Da in der Medizin der Mann auch heute noch als Prototyp angesehen wird, gelten die Symptome und der Verlauf von Krankheiten bei männlichen Patienten als der Normalfall, die Symptome der Frauen als atypisch. Das führt immer wieder zu falschen Diagnosen und unerkannten Erkrankungen bei Patientinnen. Doch manchmal sind auch Männer das unterversorgte Geschlecht – und das nicht nur in puncto unerkannter Depression, so Cathérine Gebhard:

„Zum Beispiel die Osteoporose bei Männern ist mit die unterdiagnostizierteste Erkrankung in Europa, weil man das als typische Frauenkrankheit sieht. Und Osteoporose, da denkt man meistens an gebrechliche, ältere Damen. Es sind aber auch Männer, die darunter leiden können. Und das wird kaum diagnostiziert und eben auch nicht behandelt.“

Bislang wird gerade diese Krankheit mit älteren gebrechlichen, körperlich schwachen, Frauen in Verbindung gebracht. Dass aber auch Männer an Knochenschwund leiden können, wird von Ärzten nur selten in Betracht gezogen. Daher ist es bei ihnen, so Cathérine Gebhard, die unterdiagnostizierteste Erkrankung, also diejenige, die am seltensten erkannt und behandelt wird.

Die medizinische Geschlechterforschung führte sehr lange ein Schattendasein. Erst seit den 1980er-Jahren rückte sie in den Fokus. Mittlerweile, so sagt Cathérine Gebhard, werden jedes Jahr 8000 bis 9000 wissenschaftliche Artikel zu den Geschlechterunterschieden veröffentlicht. Dass diese Aspekte letztendlich auch im klinischen Alltag stärker beachtet werden, soll mit Hilfe eines europaweit einzigartigen Weiterbildungsstudiengangs an den Universitäten Bern und Zürich erreicht werden.

Das Interesse an dem Studiengang ist groß, wenngleich auch hier ein Unterschied zwischen den Geschlechtern festgestellt werden kann: sind es doch vor allem Frauen, die sich gemeldet haben.