Inklusion am Arbeitsplatz
Kognitive Behinderungen wie Autismus, ADHS oder Legasthenie werden heute häufiger diagnostiziert als früher. Der Grund: Die Themen sind bekannter, auch Erwachsene lassen sich noch untersuchen. Am Arbeitsplatz ist es wichtig, offen über die eigenen Bedürfnisse zu sprechen, sagen Mitarbeitende. Für die Arbeitgeber bedeutet das aber auch, mehr Flexibilität zuzulassen.
SPRECHER:
Man sieht es ihr vielleicht nicht an, aber Alexis Evans hat eine Behinderung am Arbeitsplatz: Legasthenie. Bei dieser Einschränkung hat das Gehirn Schwierigkeiten, Wörter beim Lesen oder Buchstabieren zu verstehen – eine besondere Herausforderung für Alexis Evans‘ Arbeit als Social-Media-Managerin.
ALEXIS EVANS (Social-Media-Managerin, Zalando):
Am Anfang war es wirklich entmutigend, wenn 200.000 Follower auf etwas schauen, das ich gepostet habe, und es könnte ein Fehler darin sein.
SPRECHER:
Alexis Evans ist eine von Millionen Arbeitnehmern auf der ganzen Welt, bei denen kognitive Behinderungen diagnostiziert wurden. Sie sind nicht sichtbar, haben aber Einfluss auf die Arbeits- und Bürokultur. Das zwingt die Mitarbeitenden dazu, offen über ihre Behinderung und ihre Bedürfnisse zu sprechen. Für Alexis Evans war das kein Problem.
ALEXIS EVANS:
Es war sehr wichtig für mich, offen mit meiner Behinderung umzugehen. Ich wollte, dass meine Vorgesetzte weiß, dass bestimmte Aufgaben etwas länger dauern, dass sie vielleicht mal ein paar Mal nachschauen muss, ob ich alles richtig gemacht habe. Ich möchte an einem Ort arbeiten, der offen und integrativ ist und Menschen wie mir das Gefühl gibt, dazuzugehören. Ich würde nicht irgendwo arbeiten, wo das nicht der Fall ist.
SPRECHER:
Oft scheinen kognitive Behinderungen bei Erwachsenen im erwerbsfähigen Alter nicht diagnostiziert zu werden. Dazu gehören ADHS, verschiedene Formen von Autismus, Dyspraxie und Dyslexie. Insbesondere die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung ADHS ist weiter verbreitet als bisher angenommen. Zwischen 2016 und 2021 nahm die Verschreibung von ADHS-Medikamenten bei Jugendlichen und Erwachsenen in den USA zu, während sie bei Kindern zurückging.
FABIAN KARSCH (Professor für Sozial- und Gesundheitswissenschaften an der Hochschule Döpfner):
Ich würde nicht davon ausgehen, dass es heute tatsächlich mehr Betroffene gibt, sondern dass nur Personen häufiger diagnostiziert werden oder sich auch eher in den entsprechenden Umfeldern auch trauen, ihren Zustand oder ihre Diagnose sogar öffentlich zu machen.
SPRECHER:
Viele von ihnen arbeiten jahrelang ohne Diagnose – wie Diana Martin. Ihr Arzt hat bei ihr vor zwei Jahren Autismus diagnostiziert, nachdem Diana Martin bei der Arbeit Probleme bekam.
DIANA MARTIN (Ingenieurin für Benutzerfreundlichkeit, Allianz):
Es ist total erleichternd für mich, weil ich natürlich auch Schwierigkeiten in meinem Arbeitsumfeld hatte, weil ich einfach Aufgaben teilweise nicht verstanden habe. Und derjenige, der sie mir übertragen hat, meinte, ich will sie nicht verstehen. So. Oder er hat … war unspezifisch, hat gesagt: „Ja, überleg dir mal was!“ Und das darf man nicht zu mir sagen: „Überleg dir mal was!“ Da können Sie auch einen Marmorkuchen dann kriegen, aber nicht das, was Sie eigentlich wollten.
SPRECHER:
Diana Martin arbeitet jetzt hauptsächlich von zu Hause aus. Das Büro und der damit verbundene Arbeitstag wurden ihr zu anstrengend.
DIANA MARTIN:
Also, es betrifft ja schon den Arbeitsweg hierher, dann natürlich das Umfeld. Das ist eine höhere kognitive Belastung für mich, die mich in meiner Konzentration massiv einschränkt, ja.
SPRECHER:
Für Arbeitgeber bedeutet die Anpassung an Arbeitnehmerinnen wie Diana Martin, Flexibilität zuzulassen und ihre Mitarbeiter zu ermutigen, ihre Meinung zu sagen.
BETTINA DIETSCHE (Personalchefin, Allianz):
Ich glaube, es ist wie immer: Es startet mit offener, ehrlicher, transparenter Kommunikation, Information, aber dann auch im aktiven Handeln. Also: Wie kann man jemandem helfen? Wie findet sich jemand zurecht in einem Gebäude? Was heißt es für die Nutzung von IT-Software, wo wir natürlich sehen, dass das Thema Accessibility ein großes Thema ist?
SPRECHER:
Dennoch tun sich viele Unternehmen immer noch schwer mit dem Thema Behinderung. Eine im vergangenen Jahr durchgeführte Umfrage bei 500 Unternehmen ergab: Weniger als die Hälfte hat ein Integrationskonzept. Kognitive Behinderungen werfen weitere Fragen auf: Sollen Leistungsbewertungen angepasst werden? Wie definiert man einen typischen modernen Arbeitsplatz, der mit anderen geteilt wird? Peter Karl ist Produktmanager. Er hat das Asperger-Syndrom. Nach jahrelanger Therapie hat ihm die Diagnose endlich Klarheit verschafft. Aber er glaubt nicht, dass er sich dadurch von seinen Kollegen unterscheidet – im Guten wie im Schlechten.
PETER KARL (Produktmanager, Siemens):
Es bestimmt die Art und Weise, wie ich arbeite. Es bestimmt mit Sicherheit … Manche Sachen, die ich halt auf eine bestimmte Art und Weise mache, macht jemand, der halt nicht im autistischen Spektrum ist, auf eine andere Art und Weise. Aber das bedeutet nicht, dass es ein Vor- oder Nachteil ist. Mit manchen Sachen tue ich mich leichter als andere Leute, mit manchen Sachen tue ich mich schwerer als andere Leute.
SPRECHER:
Peter Karl hat aus seinen Erfahrungen gelernt. Dabei hat er erkannt, wie wichtig ein offener Umgang mit seinen Vorgesetzten ist.
PETER KARL:
Wenn man sich etwas eingesteht, dass man eben eine Schwäche an einer gewissen Stelle hat, und das dann offen kommuniziert, das ist eigentlich der erste Schritt, wo man dann wirklich sagen kann: Ja, das ist Erleichterung. Das ist nicht schlimm, dass ich halt einfach so bin. Und es ist auch nicht schlimm, darüber zu reden.
SPRECHER:
Und das rückt die Arbeitgeber wieder ins Rampenlicht: Sie müssen offen für Arbeitnehmer sein und ihnen entgegenkommen, wenn sie die besten Talente haben wollen. Dann gibt es eine größere Vielfalt in der Belegschaft. Und Mitarbeiter mit Behinderungen sind nicht mehr eine Minderheit.