Lesen lernen als Chance
Der Weg in die deutsche Gesellschaft ist nicht immer leicht. Für Frauen ist die Integration oft noch schwieriger als für Männer. Manche verbringen viel Zeit mit der Familie und haben kaum Gelegenheit, Deutsche kennenzulernen. Durch Alphabetisierungs- und Integrationskurse versucht man, sie aus ihrer Isolation herauszuholen.
SPRECHERIN:
Habibe aus Afghanistan hat ein Geheimnis.
HABIBE:
Ich kann weder meinen Namen noch den meiner Familie schreiben.
SPRECHERIN:
Auch Paiman kann kaum lesen und schreiben.
PAIMAN:
Ich bin zwei Jahre zur Schule gegangen, dann habe ich als Friseurin gearbeitet und dann war ich Hausfrau.
SPRECHERIN:
Habibe und Paiman gehören zu den Frauen, für die es besonders schwer ist, sich in Deutschland zu integrieren. Paiman ist 23 Jahre und Kurdin aus dem Irak. Mit 14 wurde sie verheiratet. Sie wohnt mit ihrem Mann und drei schulpflichtigen Kindern in einem Wohnheim in Köln. Meistens bleibt die Familie unter sich.
PAIMAN:
Ich habe keine deutschen Freundinnen. Ich kenne nur einen Spanier. Ich wünsche mir deutsche Freunde, aber bisher hatte ich keine Chance.
SPRECHERIN:
Auch Habibe hat kaum Kontakt zu deutschen Familien. Nur eine deutsche Frau hat sie im Wohnheim kennengelernt.
HABIBE:
Wir sind seit einem Jahr mit ihr befreundet. Wenn wir Probleme haben oder Briefe bekommen von den Behörden, hilft sie uns. Wir machen dann einen Termin, meine Tochter trifft sich mit ihr und bringt die Briefe mit. Und wenn wir zum Arbeitsamt gehen müssen, dann begleitet sie uns. Sie hilft uns sehr und wir sind ihr sehr dankbar.
SPRECHERIN:
Dennoch fühlen sich die 44-jährige Witwe Habibe und ihre Kinder nicht integriert. Sie leben in einem ganz eigenen kulturellen Umfeld, jenseits der deutschen Gesellschaft. Mit sogenannten niedrigschwelligen Alphabetisierungskursen versucht die deutsche Politik, an die vielen Frauen heranzukommen, die hier gewissermaßen unter dem Radar leben.
LEHRERIN UND KURSTEILNEHMERINNEN:
Das ist mein Buch.
FATMA YALCIN (Lehrerin im Alphabetisierungskurs):
Wir wollen den Frauen überhaupt ermöglichen, dass sie aus der Wohnung, aus deren Häusern rausgehen, auf die Straße gehen, dass sie die Umgebung kennenlernen, dass sie Deutsch lernen, dass sie andere Frauen kennenlernen, dass sie einfach Kontakt haben und sich dann auch frei bewegen können.
SPRECHERIN:
Die Kurse werden vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge angeboten. Ein erster Schritt, der aber nicht ausreiche, mahnen Experten.
REINHARD MERKEL (Mitglied des Deutschen Ethikrats):
Ich glaube, dass das so nicht reicht. Man muss für eine gelingende Integration vor allem die Kinder im Blick haben und dafür ganz bestimmt auch die Mütter. Sehr viele der Zuwanderer, die jetzt zu uns kommen und gekommen sind, sind Muslime, die Väter sind sozusagen im Sinne des altrömischen „pater familias“ die, die den Ton angeben und oft ihre Frauen im Hintergrund halten.
THOMAS RITTER (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge):
Ja, wir versuchen ja gerade, durch diese niederschwelligen Frauenkurse die Frauen zu erreichen, und es wäre sehr hilfreich, wenn diese Denkstrukturen auch geändert werden, aber machen wir uns nichts vor: Das geht nicht von heute auf morgen. Das dauert, das (ist) ein langwieriger Prozess und diese Kurse leisten einen Beitrag dazu.
LEHRERIN:
Wir hatten gestern Dialoge geübt.
KURSTEILNEHMERIN 1:
Möchtest du auch kommen?
KURSTEILNEHMERIN 2:
Super! Wo denn?
SPRECHERIN:
Seit 2015 sind mehr als eine Million Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Die Mittel für niedrigschwellige Angebote wurden verdreifacht auf mehr als 2 Millionen Euro im Jahr 2017. Das reicht aber nur für eine erste Orientierung im neuen Kulturkreis. Doch viele Frauen kommen darüber nie hinaus. Auch bei Kostan Rida war das lange so. Die Kurdin ist vor 17 Jahren nach Deutschland gekommen, zusammen mit ihrem Mann und zwei Söhnen. Ihr Mann war dagegen, dass sie einen Integrationskurs besucht. Irgendwann hat sie sich entschieden, aus der Isolation auszubrechen. Sie hat Deutsch gelernt und kümmert sich nun selbst um Migrantinnen. Sie beobachtet, dass viele überfordert sind und gehemmt.
KOSTAN:
Viele Frauen möchten nicht, weil sie viel beschäftigt mit den Kindern sind oder sie haben keine Lust zum Lernen, aber viele Frauen, die schon lange hier sind, die können Deutsch verstehen oder auch ein bisschen sprechen, aber die wollen nicht sprechen.
SPRECHERIN:
Kostan hat es viel Mut gekostet, sich aktiv in die neue Gesellschaft zu integrieren und die Isolation hinter sich zu lassen. Sie hat sich Hilfe gesucht bei der Caritas. Doch damit mehr Frauen so handeln, müsste auch die deutsche Politik aktiver Gesicht zeigen gegenüber den Herkunftskulturen, sagen Experten.
REINHARD MERKEL (Mitglied des Deutschen Ethikrats):
Das wird zu Kollisionen führen mit den familiären Vorgaben von Zuhause, diese Kollisionen sollte der Staat hier durchstehen, auch Zumutungen an die Eltern und sogar an die Kinder durchstehen und das Ziel einer vernünftigen, zivilgesellschaftlichen Integration im Blick behalten.
SPRECHERIN:
Dafür könnten sie der Schlüssel sein. Denn Paiman, Habibe und die anderen Frauen wollen in Deutschland bleiben, wollen, dass ihre Kinder hier aufwachsen.