Manuskript

Nach dem Erdbeben

Tausende Tote, zehntausende Verletzte. Das Erdbeben an der türkisch-syrischen Grenze hat ganze Stadtteile und Dörfer in Trümmer gelegt. In die Trauer der Menschen mischt sich immer mehr Wut über schlecht gebaute Wohnblöcke und Häuser.

SPRECHER:
Das war einmal das Wohnhaus der Familie Şahin. Am Morgen des 7. Februar stürzte es beim Erdbeben in sich zusammen. Die Trümmer begruben die Mutter von Tuncay Şahin und verletzten sie schwer. Wenig später verstarb sie.

TUNCAY ŞAHIN:
Diese Gefühle und diese Situation ... Da gibt es keine Worte dafür.

SPRECHER:
Wir sind im Südosten der Türkei, im Dorf Tokar. Die Menschen hier sind arm und weit weg von den durch das Beben zerstörten Metropolen. Eines der zusammengefallenen Häuser war erst ein Jahr alt. Das Wohnhaus der Familie Şahin, erzählt uns Tuncay, war älter. Sein Vater, der auch in der Unglücksnacht nicht zu Hause war, erkennt erst jetzt, wie minderwertig das Baumaterial war.

HACI ŞAHIN:
Schauen Sie sich den Stahl an. Diese dünnen Streben sollten die tragenden Stützen halten. Das sollte uns eine Lehre sein. Aber der Mensch passt ja nur auf, nachdem er sich den Kopf gestoßen hat. Wenn der Schmerz nachgelassen hat, wird er wieder unvorsichtig.

TUNCAY ŞAHIN:
Diese Baustoffe hätten von den Behörden überprüft werden müssen. Wenigstens von nun an sollten in den Risikogebieten die Bauten strenger überwacht werden.

SPRECHER:
Ob man sich auf die Baubehörden in der Türkei verlassen sollte – da hat auch Hasan Aksungur seine Zweifel. Aksungur ist Vorsitzender der Bauingenieurskammer der Hafenstadt Adana. Seit dem großen Beben steht sein Telefon nicht mehr still. Sie alle wollen, dass seine Experten die Statik ihrer Häuser überprüfen. Den staatlichen Stellen vertrauen sie nicht mehr. Beim Rundgang durch eine vom Beben betroffene Wohnsiedlung entdeckt Aksungur immer wieder Risse in den Fassaden.

HASAN AKSUNGUR (Bauingenieurskammer Adana):
Das können bloße Risse im Putz sein. Solange nicht auch tragende Teile betroffen sind, könnte das Gebäude weiter bewohnt werden. Aber das kann ich so schwer beurteilen.

SPRECHER:
Die Regierung hat Kritiker ihrer Erdbebenpolitik jetzt davor gewarnt, sogenannte Falschmeldungen zu verbreiten. Aber nicht nur Aksungur weiß: Millionen Schwarzbauten wurden von der Regierung per Gesetz legalisiert, und viele Gebäude wurden höher gebaut als genehmigt.

HASAN AKSUNGUR:
Es geht ums Geschäft, um Profit. Schauen Sie hier: Da geht doch keine Wohnung unter umgerechnet 250.000 Euro weg. Gegen die Profitgier kommt die Erdbebenvorsorge kaum an.

SPRECHER:
Unermüdlich warnt Aksungur die Bewohner, dass die tödlichen Beben jederzeit wieder auftreten können. Doch viele scheinen das schon jetzt wieder zu verdrängen.

MANN 1:
Uns haben sie gesagt, unser Haus sei okay. Wir sollen noch den Abriss der Trümmer auf dem Nachbargrundstück abwarten. Dann kehren wir zurück.

SPRECHER:
Nach dieser Katastrophe darf es kein Zurück zu den alten Gewohnheiten geben, findet der Experte Aksungur. Es brauche einen völligen Neuanfang.

HASAN AKSUNGUR:
In diesen gefährdeten Regionen müssen sich alle zusammensetzen: Bürger, Stadtplaner, Architekten, Soziologen und Politiker und einen Konsens suchen für den Wiederaufbau, ohne nach Möglichkeit jemals wieder direkt über den Erdbebenspalten etwas zu bauen.

SPRECHER:
Zurück im Dorf Tokar: So gut wie niemand hier traut sich zurück in sein Haus. Ein Zelt ist von den Behörden geschickt worden. Wer dort keinen Platz findet, der baut sich aus Plastikplanen selbst eins. Wie lange sie in Zelten wohnen bleiben sollen, wissen sie nicht. Aber sie sind sich einig: In Zukunft brauchen sie andere Häuser:

MANN 2:
Wir bauen von nun an nur noch einstöckig. So wie früher, flach.

SPRECHER:
Doch nur sichere Neubauten – das reicht Tuncay Şahin nicht.

TUNCAY ŞAHIN:
Ich wünsche mir, dass es von nun an endlich mehr Aufklärung über die Gefahren von Erdbeben gibt.

SPRECHER:
Dann nimmt Tuncay auf dem Friedhof Abschied von seiner Mutter. Vielleicht, sagt er uns zum Schluss, wäre ihm dieser Schmerz erspart geblieben, wenn alle, Behörden und Bürger, die Erdbebengefahr ernst genommen hätten.