Manuskript

Zwei Winzerinnen und ihr Neuanfang im Ahrtal

Im Sommer 2021 verloren die Winzerinnen Meike und Dörte Näkel fast alles: Ein Hochwasser verwüstete die Region, die beiden konnten gerade noch aus einem Kellerfenster herausschwimmen und sich auf einen Baum retten. Drei Jahre später arbeiten sie wieder auf dem Weingut – und haben viele Pläne für die Zukunft.

SPRECHER:
Zwischen diesen Bildern liegen nur knapp drei Jahre. Mitte Juli 2021 zerstört eine Jahrhundertflut das Ahrtal im Westen Deutschlands. Mindestens 135 Menschen kommen hier ums Leben. Wie haben es diese beiden Winzerschwestern geschafft, nicht nur ihr Leben zu retten, sondern auch innerhalb kürzester Zeit wieder Spitzenweine herzustellen?

MEIKE NÄKEL (Winzerin):
Dass wir heute hier stehen, hat mit ganz, ganz viel Glück zu tun. Viele haben in der Flut 2021 ihr Leben verloren. Wir haben zum Glück nur unser Weingut verloren. Ich bin Meike Näkel.

DÖRTE NÄKEL (Winzerin):
Und ich bin Dörte Näkel.

MEIKE NÄKEL:
Und heute erzählen wir euch, wie wir unser Weingut wieder aufgebaut haben.

SPRECHER:
Dörte und Meike sind mit Leib und Seele Winzerinnen. Die beiden Schwestern leiten ihren Familienbetrieb bereits in der fünften Generation. Besonders bekannt sind die Spätburgunder des Weinguts Meyer-Näkel. Diese werden von dem kleinen Ort Dernau im Ahrtal in die ganze Welt exportiert. Vor Kurzem wurde ihr Unternehmen sogar zum Weingut des Jahres 2024 ausgezeichnet. Das Weingut befindet sich nur 60 Meter von dem Fluss Ahr entfernt. Rückblick: Als in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 der Pegel der Ahr aufgrund von starkem Dauerregen steigt, ahnen die Schwestern noch nicht, welche Folgen das Unwetter haben wird.

DÖRTE NÄKEL:
Fast jeder, der irgendwo an ’nem … an ’nem Fluss lebt, kennt Hochwasser, weiß im Grunde, was zu tun ist. Und das haben wir den ganzen Tag hier auch gemacht. Wir haben Sandsäcke gepackt, wir haben uns drauf vorbereitet, dass Hochwasser kommt.

MEIKE NÄKEL:
Aber wir hätten niemals gedacht, dass das so ’ne Dimension und so ’n Ausmaß annimmt.

SPRECHER:
Das Hochwasser entwickelt sich zu einer unvorhersehbaren Flutwelle, die schnell in die Hallen des Weinguts eindringt. Die Schwestern geraten in eine lebensbedrohliche Situation.

DÖRTE NÄKEL:
Das Wasser stand zum Glück eben nur auf der Hälfte vom Fenster… Man weiß ja, wenn Wasser vor und hinter der Scheibe ist, kann man’s nicht mehr einschlagen. Und wir hatten eben das Glück, dass es dann gerade zu dem Zeitpunkt noch nicht über der … über der Scheibe war, [so] konnten wir uns das eben einschlagen und da aus dem Gebäude rausschwimmen.

SPRECHER:
Es gelingt den Schwestern, den reißenden Wassermassen zu entkommen und sich auf einen Baum zu retten. Dort müssen sie stundenlang bis zum nächsten Morgen ausharren, bis sie von der Feuerwehr gerettet werden.

MEIKE NÄKEL:
Es war ein ganz, ganz großes Glück, dass wir zusammen eben uns da festhalten konnten, weil wir uns so ’n bisschen gegenseitig immer Mut machen konnten. Was von Anfang an mit uns passiert ist, ist, dass wir angefangen haben, uns drüber zu unterhalten: ungefähre Schadensbilanz, was ist kaputt, wie es weitergehen kann, ob wir versichert sind gegen das Ganze, und haben im Prinzip schon uns überlegt, wie wir weitermachen, also was wir alles anders machen. Also acht Stunden auf so ’nem Baum sind ziemlich lang.

SPRECHER:
Am Tag nach der Flut wird die Dimension der Katastrophe sichtbar. Die Schwestern haben fast alles verloren. Die Schadenssumme: mehrere Millionen Euro.

DÖRTE NÄKEL:
Die Option wegzugehen, die haben wir gar nie gesehen. Zum einen sind unsere Reben hier. Also, wir arbeiten als Winzer ja mit der Natur, in der Natur. Und zum anderen hat uns diese wahnsinnige Hilfsbereitschaft einfach so viel Mut mitgebracht, dass man da gar nicht die Chance hatte aufzugeben am Anfang.

SPRECHER:
Und es gibt noch weitere Hoffnung: Neun von insgesamt 380 weggerissenen oder zerstörten Weinfässern tauchen unbeschadet wieder auf. Ein besonderer Jahrgang, den die Schwestern „Lost Barrels“, auf Deutsch „Verlorene Fässer“, nennen. Mit der Hilfe von Familie, Freunden und Kollegen wird erst einmal gründlich aufgeräumt. Der Wiederaufbau wird auch zum Neuanfang: Ab sofort werden nur noch Bioweine produziert. Das Weingut wird erst einmal nur mit provisorischen Lösungen wieder zum Laufen gebracht. 2025 wollen die Näkels ein komplett neues und nachhaltiges Weingut hoch oben auf einem Weinberg bauen – geschützt vor Hochwasser, integriert in die Natur, mit viel Holz, Naturmaterialien und einer begrünten Außenfassade.

MEIKE NÄKEL:
Wir haben jetzt nicht das Gefühl, dass wir unschlagbar oder unkaputtbar sind. Aber wir wissen, dass wir an unsere Grenzen gekommen sind. Wir wissen, was wir alles schaffen können, wenn wir müssen, und was alles möglich ist, wenn es nötig ist. Und das stärkt einem auch noch mal den Rücken, und das gibt einem auch Kraft für die Zukunft.

SPRECHER:
Viele im Ahrtal sind nach wie vor traumatisiert, haben aufgegeben oder sind weggezogen. Keine Option für Dörte und Meike. Für sie hat es sich gelohnt, gegen den Strom zu schwimmen.

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