Als Kind misshandelt – ein Schweizer Schicksal
Jahrzehntelang wurden in der Schweiz bis zu 60.000 Menschen „administrativ versorgt“. Sie verloren ihre Rechte und ihre Freiheit, viele wurden misshandelt und ausgebeutet. Der Grund: Sie entsprachen nicht der gesellschaftlichen Norm. Nun kämpfen die Opfer um Entschädigung und Anerkennung.
SPRECHERIN:
Sie haben sein Leben zerstört, haben ihn seiner Mutter weggenommen und ins Heim gesteckt: die Schweizer Behörden. Mit sechs Jahren kam Walter Emmisberger zu Pflegeltern, einem Pfarrersehepaar, das ihn schwer misshandelte.
WALTER EMMISBERGER:
Der Pfarrer hat mich halt viel an den Ohren gezogen und den Haaren und geschlagen und … in den Keller gesperrt oder in die Besenkammer.
SPRECHERIN:
Emmisberger ist schwer traumatisiert, kann bis heute kaum eine Kirche betreten. Der Hausmeister hat ein kleines Museum im Keller des Gemeindehauses seines Wohnortes Fehraltdorf eingerichtet. Hier wird das Leben spürbar, zu das [dem] ihn der Schweizer Staat verurteilt hatte. Der 64-Jährige und seine Mutter gehörten zu den rund 60.000 Menschen, die bis 1981 in der Schweiz von den Kantonsbehörden „administrativ versorgt“ wurden, weil sie nicht der Norm entsprachen. Sie wurden in Gefängnisse wie dieses gebracht. Hier wurde Emmisberger 1957 geboren.
WALTER EMMISBERGER:
Ich vermute, dass meine Mutter „administrativ versorgt“ wurde, weil sie ein uneheliches Kind erwartete. Und das war damals … hat man das so gemacht, dass man solche Mütter weggesperrt hat. Das passte nicht in die Gesellschaft von der Schweiz damals.
SPRECHERIN:
Unter dem Vorwand, sie seien liederlich, trunksüchtig oder arbeitsscheu, wurden sie ins Gefängnis, in sogenannte Pflegefamilien oder in die Psychiatrie gebracht. Dort sollten sie umerzogen werden – mit Maßnahmen, die ihre komplette Entrechtung und Ausgrenzung zur Folge hatten. Historiker wie Urs Germann bestätigen, dass es sich nicht um Straftäter handelte. Er hat im Auftrag der Schweizer Regierung für eine unabhängige Untersuchungskommission geforscht.
URS GERMANN (Historiker an der Universität Bern):
Bei den „administrativ Versorgten“ ging es in der Regel nicht um Straftaten, sondern einfach nur um eine Lebensweise, die nicht den gesellschaftlichen Normen entsprach.
SPRECHERIN:
Schicksale wie das von Walter Emmisberger werfen einen Schatten auf die Schweizer Geschichte. In rund 650 Gefängnissen und anderen Anstalten in der Schweiz wurden Kinder und junge Erwachsene eingesperrt, ausgebeutet und vielfach schwer misshandelt. Auch Emmisberger wurde hier im Haus seiner Pflegeeltern stundenlang eingesperrt. Er musste putzen, im Garten arbeiten und auf dem Feld. Er konnte uns nicht an den Tatort begleiten. Ein Versuch endete vor ein paar Jahren in einer Panikattacke.
WALTER EMMISBERGER:
Das war so komisch, und ich hab mich da verkrochen in einem Busch wie ein Tier. [Ich] hab wirklich geglaubt, jetzt ist’s vorbei.
SPRECHERIN:
Mit elf Jahren bringen ihn die Pfarrleute in die Psychiatrische Klinik Münsterlingen. Dort erreicht das Martyrium des Jungen eine neue Stufe: Am idyllischen Bodensee testet der Klinikchef in den 60er-, 70er-Jahren an ihm Psychopharmaka.
WALTER EMMISBERGER:
Also, was ich weiß, ist einfach, dass es mir viel übel war, schlecht und … also hundsmiserabel, dass ich auch plötzlich immer wieder so einen … wie einen Anfall bekam, so.
SPRECHER:
„Das Tofranil scheint der Knabe nicht gut zu ertragen, und wir glauben, dass die unangenehmen Erscheinungen, die er zeigt, Nebenwirkungen dieser Medikation sind.“
WALTER EMMISBERGER:
Ja, da bekomme ich ein Schaudern und frag mich: Wieso hat man das gemacht?
SPRECHERIN:
Die „administrativ versorgten“ Schweizer hatten keine Chance, dem System zu entkommen, das sie entrechtet hatte. Deshalb kämpft Walter Emmisberger nun öffentlich um Rehabilitation. 25.000 Franken hat er aus einem Entschädigungsfonds der Schweiz bekommen. Der mitverantwortliche Kanton Thurgau aber schreibt: Es seien Medikamententests durchgeführt worden, aber mangels weiterer Studien lasse sich das Ausmaß noch nicht abschätzen. Walter Emmisberger findet diese Hinhaltetaktik unerträglich. Zehntausende Menschen seien vom Schweizer Staat entrechtet worden. Ihre Qual dürfe nicht vergessen werden.
WALTER EMMISBERGER:
Ja, ich wünsche mir auf jeden Fall, dass so etwas nie mehr passiert. Und auch, dass das in die Geschichtsbücher kommt, das ganze dunkle Kapitel da von der Schweiz.