Manuskript

Auch Polizisten brauchen mal Hilfe

Stärke zeigen in jeder Situation – das ist es, was man in der Regel mit der Polizei verbindet. Was aber, wenn die Beamten selbst mal Hilfe brauchen? Dafür gibt es Polizeiseelsorger wie Martin Dautzenberg.


Sie gelten als Hüter von Recht und Ordnung, ihre Tätigkeit reicht von Verkehrsunterricht an Schulen, der Aufnahme von Verkehrsunfällen über die Aufklärung von Todesfällen und Gewaltverbrechen bis zur Terrorismusabwehr. Passiert etwas, heißt es meist: „Ruf die 110 an!“ – die zentrale Notrufnummer der Polizei, die in allen Bundesländern gilt. Wichtig ist das, da aufgrund der föderalen Struktur Deutschlands jedes der 16 Bundesländer eine eigene Polizeibehörde hat. Die Bundespolizei übernimmt übergeordnete Aufgaben, die die Sicherheit des ganzen Landes betreffen, beispielsweise den Grenzschutz oder den Schutz von Flughäfen.

Allerdings kommen auch Polizistinnen und Polizisten mal in die Situation, dass sie sich an eine neutrale Person wenden wollen, die ihnen hilft. Dafür gibt es die bei der katholischen und evangelischen Kirche angesiedelte Polizeiseelsorge, die in den verschiedenen Polizeibehörden der Länder tätig ist – so gesehen ein kirchlicher Dienst innerhalb der Polizei. Polizeiseelsorger haben unterschiedliche beruflich-kirchliche Hintergründe. Sie sind zum Beispiel Pfarrerinnen und Pfarrer, Priester oder Pastoralreferenten. Zu ihnen gehört auch Martin Dautzenberg. Zwanzig Jahre lang war er in Pfarreien tätig, suchte dann eine neue Herausforderung und bewarb sich auf eine von der katholischen Kirche ausgeschriebene Stelle als Polizeiseelsorger im Einsatzgebiet Bochum und Ennepe-Ruhr-Kreis in Nordrhein-Westfalen. Seit März 2017 ist er dort tätig. Am Anfang fiel es ihm nicht leicht, wie er erzählt:

„Der Wechsel hat auch mit Verlusten zu tun, also es gibt nicht nur positive Aspekte. Denn ich hab nicht mehr so ’n Team wie in der Pfarrei, in dem man sich täglich kurzschließen, beraten kann. Es fehlt so ’n Stück Heimat, eben ’ne Gemeinde, ’ne Kirche, wo ich mich so zuhause gefühlt hab. Aber dafür gibt es andere positive Aspekte. Eben Wirksamkeit in einem völlig fremden Bereich, in einer Organisation, die wie Kirche auch hierarchisch gegliedert ist, aber ’nen ganz anderen Auftrag hat – und die erst mal nicht auf uns wartet.“

Martin Dautzenberg vermisste anfangs ein Team, in dem man sich auch mal schnell kurzschließen, sich austauschen und beraten konnte. Dem stand eine Behörde gegenüber, in der es – wie in der Kirche auch – Rangordnungen, gibt, die hierarchisch gegliedert ist. Allerdings sind Polizeiseelsorger nicht an sie gebunden, arbeiten völlig frei von diesen Strukturen. Sie unterliegen der Schweigepflicht und dürfen – anders als die Polizeibeamtinnen und -beamten – mögliches Fehlverhalten nicht strafrechtlich verfolgen. Allerdings, so Martin Dautzenberg, wartet man bei der Polizei nicht unbedingt auf einen Polizeiseelsorger. Und das beeinflusst auch seine alltägliche Arbeit, wie er sagt

„Wie der Tag endet, weiß ich morgens nicht. Ich habe ’n Anteil an Schreibtischarbeit, um Dinge zu konzipieren, um Gottesdienste vorzubereiten, Veranstaltungen vorzubereiten. Ansonsten besteht ’n großer Teil meiner Arbeit im sogenannten ‚Klinkenputzen‘, das heißt Kontakte schließen, pflegen, immer wieder sagen: ‚Hier bin ich. Wie geht’s euch? Kann ich was tun?‘“

Zu seiner Tätigkeit als Polizeiseelsorger gehört oft unspektakuläre Arbeit wie zum Beispiel Seminare zum Umgang mit bestimmten belastenden Situationen zu entwickeln, sie zu konzipieren, oder Gottesdienste vorzubereiten. Seine Haupttätigkeit sieht Martin Dautzenberg aber darin, sich und seine Arbeit als Seelsorger bekanntzumachen, Klinken zu putzen. Er besucht Wachen und Dienststellen, fährt in Streifenwagen mit, ist Ansprechpartner bei physisch wie psychisch schwierigen Einsätzen. Und so wird er, wie er sagt, auch wahrgenommen, als Seelsorger und nicht als „Mann der Kirche“:

„Die meisten sehen es so als psycho-soziale Unterstützung, weil das ist [der] Querschnitt der Gesellschaft, [wo] der Großteil der Menschen sich jetzt nicht als christlich bezeichnet. Das ist bei der Polizei genauso. Aber auch der Großteil der Polizei, die sich vielleicht sogar als ungläubig bezeichnen würden, sind trotzdem dankbar dafür, dass es diese Institution gibt, ‚Polizeiseelsorge‘. Es ist ja nicht mein Ansinnen, zu missionieren, sondern Dienst zu tun.“

Trotz seines christlichen Glaubens will Martin Dautzenberg nicht missionieren, seinen Glauben unter den Beamtinnen und Beamten verbreiten. Er will ihnen als Gesprächspartner zur Verfügung stehen. Nicht ganz ohne Grund. Denn Glaube und Religion spielen in der deutschen Gesellschaft eine zunehmend geringere Rolle. Die beiden christlichen Großkirchen verlieren immer mehr Mitglieder. Auf der anderen Seite nimmt die Zahl der Konfessionslosen zu. Deutschland entwickelt sich zu einer säkularisierten Gesellschaft. Die Polizei bildet laut Martin Dautzenberg somit einen Querschnitt der Gesellschaft, spiegelt diese gesellschaftliche Entwicklung wider. Allerdings bekommt er gelegentlich dann doch dankbar zu hören: „Das finde ich gut, dass die Kirche sich für uns interessiert“.

Eine psychisch belastende Situation, die ihn selbst aus der Bahn geworfen hätte, hat er bislang nicht erlebt. Zwei Ereignisse sind ihm aber besonders in Erinnerung geblieben:

„So das Herausragendste bisher war eine Betreuung nach ’nem Schusswaffengebrauch. Das ist übrigens Routine, wenn Polizisten schießen müssen, werden sie hinterher betreut. Und ’ne andere Situation war, nachdem ein Kollege einer Dienstgruppe zuhause tot aufgefunden worden war, bin ich gebeten worden, eben mit der Gruppe zu sprechen, so die Trauer ein bisschen verarbeiten zu können. Das sind Dinge, die nehme ich dann auch mit.“

Manche Situation berührt auch den Polizeiseelsorger, er nimmt sie mit nach Hause, denkt viel darüber nach. Etwa, wenn eine Polizistin oder einen Polizisten Schuldgefühle plagen, weil sie oder er die Schusswaffe einsetzen und jemanden erschießen musste. Die meisten Menschen, die besonders belastende Situationen erleben, können ihren Tränen freien Lauf lassen. Wie aber sieht es mit Polizisten aus, die per se für Stärke stehen? In einer Runde erfahrener Beamtinnen und Beamten zum Thema ‚Belastung im Dienst‘ wurde diese Frage diskutiert:

„‚Darf ’n Polizist eigentlich weinen?‘ Und darf er das öffentlich tun? Also an einem Unfallort, wenn eben jemand schwer verletzt ist, wenn jemand verstorben ist, wenn im Beisein eines Polizisten ein Verkehrsopfer verstirbt, wenn Kinder betroffen sind, dann ist das auch für Polizeibeamte und -beamtinnen sehr belastend, gerade wenn sie selbst Kinder haben.“

Konsens war, wie Martin Dautzenberg sagt:

„Zum einen muss Polizei sicher handeln. Wenn Dinge zu tun sind, dann müssen die das tun. Und zum anderen sind es eben auch Menschen. Und das dürfen und sollen sie auch zeigen.“

Eine mögliche emotionale Reaktion hängt von der Art des Einsatzes ab: Wenn Stärke und ein kühler Kopf gefragt sind, sind Tränen eher hinderlich. Wenn aber beispielsweise eine Todesnachricht überbracht werden muss, darf auch Mitgefühl gezeigt werden. Zu Martin Dautzenbergs ‚Polizeigemeinde‘ gehören 2300 Beamtinnen und Beamte. Allerdings wechseln diese auch mal zu anderen Dienststellen. Es herrscht eine hohe Fluktuation. Für den Polizeiseelsorger bedeutet das, sich und seine Aufgabe immer wieder neu bekanntzumachen. Eine Aussage, die laut Martin Dautzenberg dabei immer wiederkehrt ist:

„‚Schön, dass Sie da sind. Herzlich willkommen. Hoffentlich brauchen wir Sie nicht!‘ Da hör ich so raus: ‚Im Moment ist alles gut bei uns, aber gut, dass wir diese Institution haben, dass wir quasi so ’n Netz haben, in das wir uns fallen lassen können. Wenn mal was ist, wissen wir, wo wir Hilfe bekommen können.‘“

Die Vorstellung, als Netz dienen zu können, das eine Hilfesuchende beziehungsweise einen Hilfesuchenden auffängt, ist für Martin Dautzenberg beruhigend – und bestätigt den Polizeiseelsorger darin, dass er eine sinnvolle Tätigkeit ausübt. Jeden Tag aufs Neue.