Das deutsche Volkslied – ein Auslaufmodell?
Für die einen sind sie total ‚out‘, für die anderen ein Stück Kulturgut: deutsche Volkslieder. Nach Kriegsende galten sie als geschichtlich belastet. Und heute? Da hört man eher volkstümliche Musik.
„Von Volksliedern halt ich eigentlich nicht mehr so viel, weil, ist ja heute eigentlich ziemlich out so, wenn man Volkslieder hört und so. Ja, höchstens aus dem Musikunterricht kennt man so ’n paar Volkslieder, die man dann da singen musste. Oder aus der Kindheit noch, im Kindergarten. / Ich finde es schade, weil sie drücken doch irgendwie ein Stück deutsche Geschichte, deutsche Kultur auch aus. / Ja, das sind natürlich Texte, die aus vergangenen Zeiten erzählen, weil sie damals geschrieben wurden. Deswegen sollte man sich, find ich, auch dran erinnern, wie es früher einfach mal war.“
Die Meinungen, ob Volkslieder noch in die heutige Zeit passen, sind geteilt. Die eine Fraktion lehnt sie komplett ab, findet, dass sie out sind, nicht mehr in die heutige Zeit passen, und es viel modernere, ansprechendere, Lieder gibt. Die andere Fraktion dagegen sieht in ihnen ein Spiegelbild deutscher Geschichte und Kultur und eine Tradition, die bewahrt werden sollte.
Eingeführt wurde der Begriff „Volkslied“ Ende des 18. Jahrhunderts vom deutschen Dichter und Philosophen Johann Gottfried Herder als Pendant zum englischen Begriff „popular song“. Denn in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, das zugleich das Zeitalter der Romantik wie auch der beginnenden Industriellen Revolution war, machte sich eine Sehnsucht nach der „guten alten Zeit“ breit, nach dörflichem Idyll und unberührter Natur – und das wurde eifrig besungen. Zunächst waren die Lieder unpolitisch. Das änderte sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts; jetzt ging es in den Texten oftmals um das schwere Los der Arbeiter, Bauern, Handwerker und Soldaten.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand die sogenannte Wandervogelbewegung. Ihre Mitglieder hatten immer das 1909 erschienene Liederbuch namens „Zupfgeigenhansl“ im Rucksack, wenn sie auf Wanderschaft gingen und Volks- und Fahrtenlieder anstimmten. Eine dunkle Zeit erlebte das traditionelle Volkslied dann in der Zeit des Nationalsozialismus nach 1933. Das NS-Regime begann nach und nach damit, die Lieder für eigene Zwecke zu missbrauchen und sie bei passenden Gelegenheiten in infamer Weise zur Demütigung einzusetzen. So wird beispielsweise von dem Fall berichtet, dass Häftlinge auf dem Weg ins Konzentrationslager Börgermoor im westlichen Niedersachsen das eigentlich fröhliche Lied „Das Wandern ist des Müllers Lust“ singen mussten, während sie dabei misshandelt wurden. Darüber hinaus nutzten die Nationalsozialisten die Musikform des Volksliedes als Propagandainstrument und staatliches Erziehungsmittel. Neue patriotische Lieder wurden komponiert, die melodisch und textlich den alten Liedern nachempfunden waren. Gerade dieser Missbrauch hat nach Ansicht des ehemaligen Chorleiters Volker Hempfling dazu geführt, dass das Volkslied nach 1945 komplett abgelehnt wurde. Denn, so Hempfling:
„Weil die Vorsicht, national zu sein oder national zu denken, natürlich sehr, sehr stark war. Und da ist das Volkslied sicherlich in Mitleidenschaft gezogen worden, nicht nur die Lieder, die Hitler benutzt hat, sondern eben auch alles andere. Das war allgemein: Das deutsche Volkslied können wir nicht mehr gebrauchen. Das macht uns ins Ausland hin verdächtig.“
Volkslieder galten nach Ende des Dritten Reichs lange Jahre als politisch belastet. Sie standen auch für die Verbrechen, die von den Nationalsozialisten im Namen des deutschen Volkes verübt wurden, und verschwanden in der Versenkung. Das entstandene Vakuum besetzte dann die sogenannte volkstümliche Musik, Lieder in deutscher Sprache, die aber mit dem eigentlichen Volkslied nicht mehr viel gemein hatten und haben. Im Prinzip handelt es sich um populäre Unterhaltungsmusik, die sich volksmusikalischer Elemente bedient, volkstümelnd ist. Zwar haben die Volksmusikstars heutzutage in Deutschland eine treue Anhängerschaft; die überwiegende Mehrheit der Deutschen lehnt diese Art der Musik aber ab, meint Volker Hempfling:
„Die Ablehnung, die hat sicherlich damit zu tun, dass das Volkslied volkstümelnd oder in Kostümen im Fernsehen dargeboten wird. Obwohl ich sagen muss, wenn diese Sendungen nicht wären, wär’ in Deutschland vielleicht das Volkslied schon total zusammengedörrt.“
Volksmusikshows – ob öffentlich oder in den Medien –, in denen Künstlerinnen und Künstler etwa in Lederhose oder Dirndl auftreten, sind etwas, das nicht jede und jeden vom Hocker reißt. Wenn es diese Veranstaltungen allerdings nicht gäbe, wäre das deutsche Lied als solches, so Volker Hempfling, schon ausgestorben, sähe aus wie vertrocknetes, gedörrtes, Obst. Doch ganz verloren ist das alte deutsche Liedgut trotzdem nicht, denn die Romantiker haben schon früh begonnen, die Lieder aufzuzeichnen. Die berühmteste Sammlung stammt von Achim von Arnim und Clemens Brentano. Sie veröffentlichten Anfang des 19. Jahrhunderts unter dem Titel „Des Knaben Wunderhorn“ gleich mehrere Bände. Brentano war auch der Schöpfer der Sagengestalt , der Heinrich Heine später ein Gedicht widmete. Das wurde in seiner vertonten Version zu einem beliebten Volkslied, das man heute auf der ganzen Welt kennt.
Um das deutsche Liedgut dauerhaft zu bewahren, gründete 1914 der Germanist und Volkskundler John Meier in Freiburg im Breisgau das Deutsche Volksliedarchiv. Zum damaligen Kernbestand der Sammlung gehörten auch Kriegs- und Soldatenlieder, Handschriften mit Liedtexten und erste Aufzeichnungen von mündlich überlieferten Texten. Meier setzte sich dafür ein, dass diese Sammlung systematisch ergänzt wurde und allen zur Verfügung stand. Allerdings hatte er eine klare Definition davon, was ein Volkslied ist, sagt Michael Fischer vom „Zentrum für Populäre Kultur und Musik“, zu dem das Archiv seit 2014 gehört
„Das sollte mündlich überliefert sein und nicht schriftlich – und so weiter und so fort. All das hat sich im Grunde als Mythos erwiesen.“
Der Ansatz, was denn genau ein Volkslied ist, basierte lange auf einem Mythos, einer Annahme, die mit der Realität nicht übereinstimmte. Denn es gab beispielsweise auch Kunstlieder, die sich ebenfalls als allgemeines Liedgut etablierten und nicht mündlich tradiert wurden, wie etwa Lieder aus Franz Schuberts Zyklus „Winterreise“. Auch entwickelte sich parallel zur traditionellen Musik eine kommerzielle, populäre Musik.
Wenn heutzutage gesungen wird, gehören Volkslieder eher selten zum Repertoire. Was aber kann man gegen das Vergessen dieser Lieder tun? Volker Hempfling meint:
„Singen! Diese Lieder wieder singen, und sie nicht einfach abschieben und sagen, ‚wir singen lieber Englisch‘, sondern ‚gerne Englisch‘ und ‚gerne Französisch‘, aber eben auch Deutsch, und nicht das Deutsche total wegschieben, weil wir sonst die Wurzeln unserer eigenen Lieder vergessen werden.“
Vielleicht ist eine Karaoke-Version verschiedener Volkslieder ja ein guter erster Anfang dafür, dass sie kein Auslaufmodell werden.