Das Mutterbild
Mindestens einmal im Jahr steht sie im Mittelpunkt: die Mutter. Wer das Wort „Mutter“ hört, verbindet damit oft bedingungslose Liebe oder den Ursprung allen Lebens. Was aber beinhaltet das Wort noch?
Seit Anfang des 20. Jahrhunderts feiert man ihn auch in Deutschland im Mai, den Muttertag. Die Kinder finden sich ein, überreichen Selbstgemaltes oder Selbstgebasteltes, Gutscheine für Wellnesstage oder Blumen. Ins Leben gerufen wurde der Muttertag von der Amerikanerin Anne Maria Jarvis. Sie ehrte bei einem Gedenkgottesdienst am 12. Mai 1907 ihre zwei Jahre zuvor verstorbene Mutter, die sich sehr für wohltätige Zwecke eingesetzt hatte. Gleichzeitig bemühte sich Jarvis darum, dass an jedem zweiten Sonntag im Mai ein nationaler Feiertag zu Ehren aller Mütter eingeführt werden sollte, was am 8. Mai 1914 geschah. Viel älter als der Gedenktag ist natürlich das Wort „Mutter“ selbst. Woher es kommt, erklärt der Germanist Martin Stankowski:
„Also die Sprachforscher finden als Ursprung natürlich das römische „māter“, das griechische „mētēr“ und führen das auf ein indogermanisches Wort zurück, das auch „mātēr“ heißt, und sagen, darin ist enthalten einmal so ein kindlicher Lall-Laut – das „mā“, haben wir auch in „Mama“ noch enthalten, was es ja in allen Sprachen gibt. Und das „tēr“ ist eigentlich häufig gebraucht für Verwandtschaftsbeziehungen, also Schwester, Vater, Tochter. In all denen kommt das vor.“
Der eigentliche Ursprung des Wortes „Mutter“ liegt laut Martin Stankowski im Indogermanischen. Gemeint ist hier eine Sprache, die etwa um das Jahr 3500 vor Christus vermutlich in der Nähe des Schwarzen Meeres gesprochen wurde und der Ursprung vieler anderer Sprachen war. Die aus der indogermanischen Ursprache entstandenen Sprachen ähneln sich etwa beim Wortschatz – wie bei „mātēr“, „māter“ und „mētēr“. Die erste Silbe bildet vor allem für Kleinkinder einen Laut, den sie lallen, undeutlich aussprechen. In der Regel sind die Worte „Ma-ma“ und „Pa-pa“ die ersten Worte, die Kinder sagen. Während das Wort selbst wenig zum Mutterbild aussagt, ist das bei Redewendungen anders, so Martin Stankowski:
„Das berühmteste ist ja wahrscheinlich ‚Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste‘. Also, schon ne Porzellankiste ist ja was ganz Problematisches, was leicht zerbricht, wo man aufpassen muss. Und es gibt ne ganze Reihe. Zum Beispiel ‚Not ist die Mutter der Künste‘ – also die Künstler müssen erst leiden, damit sie anständige Produkte machen.“
Die Wendungen sind immer nach demselben Schema aufgebaut: Die Mutter ist der Ursprung von allem. Wer sagt: „Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste“ will damit ausdrücken, dass man vorsichtig ist, bevor man etwas tut. Die Wendung „Not ist die Mutter der Künste“ bedeutet, dass Künstler erst produktiv sind, wenn sie vorher materielle Not erfahren haben. In der Wendung von „Mutter Erde“ kommt das Bild der Mutter als Ursprung allen Lebens zum Ausdruck. Martin Stankowski verdeutlicht das anhand einer Geschichte:
„Wenn jemand auf die Schnauze fällt, sagt man: ‚Er hat Mutter Erde geküsst.‘ Und das geht zurück auf eine Legende in der römischen Tradition, ein Tarquinius Superbus, ein römischer Senator, sehr reich der Mann, und es ging um sein Erbe und wer das alles kriegt, und wer seine Herrschaft übernimmt. Und da hat er ein Orakel befragt. Er wollte wohl selber nicht entscheiden, hatte mehrere Söhne und wollte nicht ungerecht erscheinen. Und das Orakel hat gesagt: ‚Derjenige wird die Herrschaft antreten, der zuerst seine Mutter küsst.‘ Da sind die alle nach Hause gerannt, die haben es aber nicht kapiert. Nur einer der Söhne hat es verstanden, ist gestolpert, hat sich lang auf die Erde gelegt, die Erde geküsst, und das war mit dem Orakel gemeint. Und der hat tatsächlich dann die Nachfolge von diesem Tarquinius Superbus auch angetreten.“
Mutter Erde, der Erdboden, wird gleichgesetzt mit dem Leben. Ist der Boden fruchtbar, haben Lebewesen etwas zu essen, ist er dagegen verdorrt, hungern sie und sterben im schlimmsten Fall. Dass eine rätselhafte Wahrsagung, ein Orakel, nicht wortwörtlich zu nehmen ist, wird in der Legende, der nicht wahrheitsgetreuen Geschichte, des römischen Ratsherrn deutlich. Bis auf einen seiner Söhne verstand, kapierte, niemand, dass jemand, der auf die Schnauze fällt – stolpert und mit seinem Gesicht auf den Boden fällt – auch die „Mutter“ küsst.
Schon in der Zeit vor Christi Geburt, auf der unsere heutige Zeitrechnung beruht, existierten Mutterkulte, bei denen Muttergottheiten verehrt wurden. In der Vorstellung der Menschen damals war die „Muttergöttin“ oder auch „Große Mutter“ eine gottähnliche Person mit Macht über den Boden und seine Bewohner. Wie genau diese Kulthandlungen aussahen, weiß man aber nicht genau, sagt Martin Stankowski:
„Das ist sehr schwierig, diese vorchristlichen Kulte genau zu beschreiben, weil es da ja keine schriftlichen Quellen gibt. Also man kann das häufig aus Legenden, aus Sagen, aus Liedern, aus ähnlichen Sachen schließen und versucht dann eben, solche, sagen wir mal, Alltagsgewohnheiten und solche Rituale sich zu erschließen. Natürlich ist die Mutterverehrung durch den Marienkult im Christentum ganz extrem angewachsen.“
Maria, die Mutter Gottes, wird heute nicht nur als Mutter verehrt, die einen Sohn geboren hat. Sie gilt als Gottesgebärerin und als Mutter aller Katholiken. Rund um Maria entwickelte sich auch ein Kult mit allem, was dazu gehört: etwa Wallfahrten, Statuen, die angebetet werden, und verschiedenen Gedenk- und Feiertagen, die ihr gewidmet sind. Der Monat Mai gilt sogar als „Marienmonat“. Wissenschaftler versuchen, aus verschiedenen Quellen herauszufinden, daraus zu schließen, wie die Mutterkulthandlungen vor mehr als 2000 Jahren aussahen. Schon zu Zeiten der Kelten, einer Volksgruppe, die in ganz Mitteleuropa etwa um 800 vor Christus bis zu Christi Geburt lebte, gab es wahrscheinlich schon einen besonderen Ehrentag für die Mutter, so Martin Stankowski:
„Bei den Kelten hat es bereits am vierten Sonntag im April einen solchen Feiertag gegeben, wo die Kinder mit Kuchenstücken zu ihren Müttern gegangen sind, die von den Müttern gesegnet wurden, und die sie dann gemeinsam verspeist haben.“
Martin Stankowski selbst hatte – wie er sich erinnert – keinen so engen Bezug zum Muttertag, wie er seit Anfang des 20. Jahrhunderts gefeiert wird:
„In meiner Familie hieß das eher: ‚Ne, das ist so ne Nazigeschichte, das lassen wir.‘ Wir haben mehr Namenstag gefeiert, so Muttertag, nein. Ich hab dann später einen Freund kennengelernt, der hat den richtigen Spruch, find ich, dafür gefunden. Der hat mir dann nämlich gesagt: ‚Du musst das so begreifen. Ehret die Mutter, dann ist alles in Butter.‘“
Der Muttertag wurde von den Nationalsozialisten dafür missbraucht, ihr Mutterideal zu propagieren: Wer dem „Führer“ Adolf Hitler mehr als vier lebende, sogenannte „reinrassige arische“ Kinder gebar, wurde mit dem sogenannten „Mutterkreuz“ ausgezeichnet. Und weil der Muttertag für Martin Stankowski und seine Familie mit dieser Zeit eng verbunden – ‚so eine Nazigeschichte‘ – war, wurde entsprechend des katholischen Glaubens der Namenstag der Mutter besonders gefeiert, sie geehrt. Damit war dann redensartlich alles in Butter, alles war gut.
Nicht jeder findet den Muttertag aus unterschiedlichen, oft persönlichen Gründen sinnvoll. Und seine „Erfinderin“ Anne Maria Jarvis bekämpfte ihn später auch bis zu ihrem Tod: aus Abscheu vor dem, was aus diesem Tag kommerziell gemacht wurde – und dass mancher ihn nur als Pflichterfüllung sah.