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Die Tradition des Osterspaziergangs

Johann Wolfgang von Goethe hat ihn sehr geschätzt und ihm im ‚Faust I‘ sogar ein langes Gedicht gewidmet: dem Osterspaziergang. Was aber verbinden Menschen heute mit dem Stichwort „Osterspaziergang“?

„Vom Eise befreit sind Strom und Bäche / Durch des Frühlings holden, belebten Blick, / Im Tale grünet Hoffnungsglück; / Der alte Winter, in seiner Schwäche, / zog sich in rauhe Berge zurück …“

So fabuliert Doktor Faustus in der Szene „Vor dem Tor“ in Goethes ‚Faust I‘. Unvergessen ist das Gedicht „Osterspaziergang“ bei allen, bei denen das Werk auf dem Lehrplan stand, so wie bei dieser Frau:

„Wenn ich da an den Goethe’schen Osterspaziergang denke, das bringt mich in alte Zeiten zurück. Ich hab den mal als Schülerin vortragen müssen und war stolz, dass ich das alles behalten habe, und war ganz ergriffen: ‚Vom Eise befreit sind Bäche und Seen‘. So geht’s los.“

Ostern – das bedeutet Frühling. Er wird begrüßt von Komponisten und vielen Schriftstellern. Mancher, der sich in der Schule mit ‚Faust I‘ beschäftigt hat, erinnert sich an den „Osterspaziergang“. Nicht jeder wird sich auch heute noch so ergriffen, so berührt, von Goethes Gedicht fühlen. Wer es auswendig lernen musste, vergisst zumindest die ersten Zeilen sein Leben lang nicht. In Goethes „Osterspaziergang“ spielen Bäche eine Rolle. Spaziergänger heutzutage verbinden damit eher andere Dinge und andere Örtlichkeiten: 

„Eigentlich ehrlich gesagt die Elbe. Erstes Grün, wahnsinnig viele Leute, diese kleinen Kapitänshäuschen, Schiffe, die vorbeifahren, das Tuten, vielleicht sogar barfuß laufen und Osterfeuer. / Die Route für den Osterspaziergang ist tatsächlich die Kranichroute hier einmal hinten rum. / Ich hab ein Bild vor Augen, wie ich durch eine Landschaft gehe, wo diese kleinen, wilden Narzissen blühen und ein Bach lang fließt und wo man noch so ’n bisschen sieht, dass der Winter war. Es ist sehr schön, ja.“

Ein Osterfeuer, aufgeschichtetes Holz, das am Vorabend des Osterfestes entzündet wird, die Kranichroute, eine etwa 60 Kilometer lange Strecke in Niedersachsen, die Kraniche im Frühling nehmen, wenn sie aus wärmeren Gegenden Europas zurückkehren oder die Narzissen, gelbe Blumen, die als Frühlingsboten gelten: Das ist alles etwas, das man mit Ostern und einem Ausflug in die Natur verbinden kann. Kinder denken da eher an bunt bemalte Eier und Schokoladenhasen, die sie im Garten suchen müssen. Für ungläubiges Staunen bei Jüngeren dürfte bestimmt sorgen, wie ihre Großeltern früher Ostern erlebt haben: 

„Ich bin ja auf dem Lande groß geworden, und da war das einfach Usus, dass man zu Ostern das erste Mal als Kind Kniestrümpfe anzog, egal wie kalt es war. Ich hab Ostern erlebt mit Schnee, aber Kniestrümpfe. Da hab ich drauf bestanden! Weiße Kniestrümpfe und schwarze Lackschuhe, das war Ostern. / Für uns Kinder gab es neue Kleidchen, und dann sind wir also doch zu Tante und Onkel gefahren und haben an [einen] Osterspaziergang – auch als ich erwachsen wurde – nie dran gedacht.“

Ostern, das bedeutete Frühling, für Mädchen das Zeichen, endlich keine dicken Wollstrumpfhosen mehr anziehen zu müssen. Egal, ob es noch kalt war, war es Usus, machte man das so, Kniestrümpfe anzuziehen, auch für einen Osterspaziergang. Man ‚machte sich fein‘, putzte sich heraus, weil es ein Feiertag war. Daher waren es weiße Kniestrümpfe und schwarze Lackschuhe, Schuhe aus glänzendem Leder. Natürlich gab und gibt es sogenannte ‚Osterspaziergangsverweigerer‘, diejenigen, die sich an diesem langen Wochenende nur ausruhen wollten und wollen. Denn so gesehen kann ja das ganze Jahr Ostern sein:

„Also, Osterspaziergänge in diesem traditionellen Sinne kenne ich selbst nicht aus meiner Familiengeschichte und aus meiner Familie. Wir waren immer in der Natur in unserer Freizeit, oder häufig, wenn wir nicht was anderes getan haben. Und das hat sich eigentlich bis heute fortgesetzt. Und für uns ist das ganze Jahr in diesem Sinne Ostern, weil wir immer Spaziergänge machen.“

Ein Spaziergang ist etwas, das man zum Zeitvertreib macht, das man macht, weil man sich körperlich betätigen will, oder weil es so Brauch ist, nicht nur an Ostern. Etwas Ähnliches wie einen Spaziergang kann man natürlich auch machen:

„Meine Tochter hat gesagt, dass es in Stuttgart einen ‚Emmausgang‘ gibt. Dann geht man also mit den Kindern und mit der Familie los und, ja, wie die Emmausjünger auch, und hinterher ist dann ein Gottesdienst.“

Vor allem in Süddeutschland und in Österreich kennt man den christlichen Brauch des Emmausgangs, eines besinnlichen Spaziergangs am frühen Morgen des Ostermontags. Zurück geht er auf den in der Bibel beschriebenen Gang der Jünger Jesu Christi nach Emmaus, einem Ort nahe Jerusalem, dem sich Jesus unerkannt angeschlossen haben soll. 

Fausts Osterspaziergang endet mit den Worten: „Ich höre schon des Dorfs Getümmel, / Hier ist des Volkes wahrer Himmel, / Zufrieden jauchzet groß und klein: Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.“ Die Szene „Vor dem Tor“ soll übrigens um das Jahr 1774 durch einen Spaziergang Goethes am Ostersonntag inspiriert worden sein. Dieser führte ihn vom Sachsenhäuser Mühlberg in Frankfurt am Main zur Gerbermühle, einer ehemaligen Getreidemühle, die jetzt ein beliebtes Ausflugslokal ist – und Ziel für einen ausgedehnten Spaziergang an Ostern.
 

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