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Eine besondere Mission: Gletscherrettung

Der Klimawandel setzt auch den Gletschern in den Alpen ordentlich zu: Sie schmelzen immer schneller. Zwei Schweizer Forscher warten mit Ideen auf, wie die Schmelze aufgehalten werden kann.

Das ewige Eis in den Alpen ist in Gefahr. Die Erderwärmung setzt ihm zu und sorgt dafür, dass sich die Gletscher auf dem Rückzug befinden, selbst wenn es Winter mit sehr viel Schnee gibt. Doch das will nichts heißen, erklärt der Schweizer Gletscherforscher Felix Keller vom Zentrum für angewandte Glaziologie in Samedan:

„Wir stehen jetzt auf zweieinhalb Meter Schnee. Aber wenn man dann bedenkt, dass hier im Sommer fünf Meter Eis schmilzt, dann relativiert sich das.“

Der Glaziologe steht am Morteratschgletscher im Engadin. Der meistbesuchte Gletscher der Schweiz hat eine beindruckende Länge von mehr als sechs Kilometern. Doch vor gut hundert Jahren war er zweieinhalb Kilometer länger. Felix Keller sagt, besonders an heißen Sommertagen gehe es dem Eis an den Kragen:

„Der Gletscher insgesamt verliert im Moment pro Jahr etwa fünfzehn Millionen Tonnen Eis. Allein an einem Hitzetag können bis zu eine Million Tonnen Eis schmelzen.“

Das allein entspricht etwa einer Milliarde Liter Wasser. Felix Keller will gegensteuern, indem er den Morteratsch künstlich beschneit. Er hat sich ein gigantisches Kunstschnee-Berieselungssystem ausgedacht. Quer über den Gletscher will er zahlreiche, ein Kilometer lange Seile spannen und daran Wasserleitungen und hunderte Wasserdüsen befestigen. Daraus sollen dann Schneekristalle entstehen, die eine Kunstschneedecke erzeugen. Die Leitungen werden dann mit  Schmelzwasser eines oberhalb gelegenen Gletschers gespeist, so sein Plan:

„Wir bezeichnen das als eine Art Schmelzwasser-Recycling. Das heißt, dass wir im Sommer, wenn massenweise Schmelzwasser anfällt, dass wir das oben behalten, und dann im kalten Winter, wie jetzt, daraus Schnee produzieren, um zuverlässig den Gletscher zu schützen.“

Im Februar 2021 nahmen Forscher eine Pilotanlage in Betrieb, die unter anderem von der Schweizer Regierung gefördert wird. Die Technik funktioniert bei winterlichen Außentemperaturen in 2000 Metern Höhe – und wegen des Drucks, der durch das Gefälle vom Gletschersee aus entsteht, braucht sie auch keine Stromzufuhr. Laut dem Glaziologen ist jedoch viel Schnee nötig, um den Schutz bis zum Sommer zu erhalten:

„Es braucht eine etwa zehn bis zwölf Meter hohe Schneedecke. Wenn man das umrechnet, dann sind das rund drei Millionen Tonnen Schnee, die wir jedes Jahr produzieren müssen.“

Doch wie lässt sich diese Schneemenge am effizientesten erzeugen? Welche Düsengröße braucht es? Welchen Wasserdruck? Welches Wetter? Das sind Fragen, die der Forscher in seinem Versuch herausfinden will. Kritiker verweisen darauf, dass die Anlage Millionen Franken kostet und zudem einen enormen Eingriff in die Natur darstellt. Felix Keller sieht das ebenso – aber eben auch den Nutzen:

„Auch mich schmerzt es, dass man quasi einen derart massiven Landschaftseingriff machen muss. Es geht [aber] darum, dass Menschen eine lohnenswerte Zukunft haben, damit sie überhaupt überleben.“

Denn Millionen Menschen sind abhängig von den Gletschern und ihrer Funktion als Süßwasserspeicher – etwa im Himalaya. Dort sieht Keller eine Einsatzmöglichkeit für seine Technik. Schon viel länger am Start ist ein anderer Versuch der Gletscherrettung: das Abdecken mit weißen Textilplanen. Zunächst in Deutschland und Österreich ausprobiert, zog die Schweiz 2005 nach. Der kleine Gletscher Gurschenfirn war der erste, der verhüllt wurde. Es gab einen praktischen Grund: Skifahrende wären nicht mehr von der Bergstation der Seilbahn auf die Gletscherskipiste gekommen, weil das Eis geschmolzen war. Noch immer wird der obere Bereich des Gurschenfirn jeweils vom späten Frühjahr bis zum Herbst abgedeckt.

Die weißen Textilbahnen wirken gleich mehrfach gegen die Gletscherschmelze: Das Vlies reflektiert das Sonnenlicht, es isoliert und es schützt vor Regenwasser, das das Tauen beschleunigen würde. Die Abdeckung hoch oben im Gebirge ist aufwendig und sehr teuer. Ob sich die hohen Kosten wirklich lohnen, analysierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Schweizer Forschungseinrichtungen in einer im März 2021 veröffentlichten Studie. Der Studienleiter, Matthias Huss von der Technischen Hochschule ETH Zürich, sagt:

„Grundsätzlich funktionieren diese Methoden sehr gut. Das heißt, wenn ich das Eis mit Vlies abdecke oder auch zusätzlich künstlichen Schnee darauf werfe, dann reduziert es die Schmelze an diesem Punkt, wo ich das mache, sehr, sehr deutlich.“

Unter dem Vlies schmilzt rund 60 Prozent weniger Eis und Schnee als daneben. Gerade einmal 0,02 Prozent der gesamten Gletscherfläche der Schweiz werden gegenwärtig abgedeckt. Doch allein dadurch sind jährlich 350.000 Kubikmeter Gletschereis vorerst erhalten geblieben. Ein kleiner fast verschwundener Gletscher wurde sogar wiederbelebt. Das klingt gut. Dennoch, so Mattias Huss, lohnt sich der Aufwand nur lokal begrenzt, etwa um Skipisten oder touristische Attraktionen zu sichern:

„Theoretisch funktioniert das Ganze, praktisch umsetzbar ist es meiner Ansicht nach aus Kostengründen, aber auch aus Umweltschutzgründen nicht. Denn solche künstlichen Eingriffe auf Gletschern, die ziehen natürlich sehr viele Probleme nach sich. Also man greift in die Natur ein, um sie zu schützen, und das ist irgendwo paradox.“

Ganze Alpengletscher mit Hilfe von Vliesabdeckungen zu sichern, sei weder realisierbar noch bezahlbar und auch keine Dauerlösung. Dafür sei was anderes viel, viel wichtiger, meint Matthias Huss:

„Wir können die Gletscher ein Stück weit zumindest retten, aber eben nur mit globalen Maßnahmen, indem das Klima geschützt wird.“

Ähnlich sieht das sein Kollege Felix Keller: Das Abschmelzen eines Gletschers könne nicht komplett gestoppt, doch zumindest um 30 bis 50 Jahre verzögert werden. Motiviert für seinen Gletscherrettungsversuch wird er von künftigen Generationen und ist überzeugt davon:

„Dass unsere Kinder nicht fragen werden, ob wir diesen Gletscherrückzug nicht gesehen haben, sondern sie werden uns eher fragen, was wir getan haben. Und dann möchte ich meinen Kindern sagen, ich habe versucht einen Beitrag zu leisten.“

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