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Eine Reise durch die Reiseliteratur

Bücher reisen nicht nur in Paketen um die Welt. Sie berichten auch von Reisen um die Welt – und das schon seit Jahrtausenden. Dabei ist der Begriff „Reiseliteratur“ sehr umfassend. Nur Reiseführer gehören nicht dazu.

Menschen reisen nicht nur, um Urlaub zu machen. Sie reisen auch beispielsweise aus beruflichen Gründen oder weil sie in einem anderen Land studieren beziehungsweise sich weiterbilden wollen. Reiseautoren reisen mit einer Absicht: ein Buch zu verfassen. Vielleicht denkt manch einer gleich an einen Reiseführer. Einem anderen kommt Jules Vernes Roman „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ in den Sinn. Sicher muss man zwischen Reiseführern, Reisetagebüchern, Reiseberichten und Reiseromanen unterscheiden. Aber was ist der Unterschied? Was beinhaltet der Begriff „Reiseliteratur“? Paulo Astor Soethe, Germanistikprofessor, Literaturwissenschaftler und Träger des Grimme-Preises, erklärt:

„Das Reisen und die Literatur sind so alt wie die sprachfähige Menschheit selbst. Denn zum Menschsein gehören sowohl das Reisen als auch das sprachgewandte Erzählen über die Reise, über die Erfahrungen auf Fahrwegen, auf dem Weg ins Neue, ins Unbekannte. Es ist daher, wenn man von Reiseliteratur spricht, von einem ursprünglichen Phänomen des Menschseins die Rede. Wenn man an die ‚Odyssee‘, den Bericht über Marco Polos Reise in den Orient oder die Abenteuer von Hans Staden in Brasilien denkt, das heißt an ältere Texte, wo die Bewegung, die Erfahrung der Welt durch die Bewegung im geographischen Raum beschrieben wird, geht es im breiten Sinne auch um Reiseliteratur.“

Reiseliteratur hat also eine lange Tradition und umfasst viele unterschiedliche Werke. Das erste, bekannteste ist wohl Homers „Odyssee“, eine Geschichte, die die lange, abenteuerliche Irrfahrt des Königs Odysseus auf der Suche nach seiner Heimat Ithaka erzählt. Doch warum gehört der Reiseroman nur im weiten Sinne dazu? Das liegt vielleicht daran, dass der Begriff der Reiseliteratur sich erst viel später etablierte. Zuvor sprach man laut Paulo Astor Soethe allein von Reiseberichten:

„‚Reiseliteratur‘ als Begriff hängt heutzutage eher mit einer Auffassung von Literatur zusammen, die erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden ist und bis heute die wissenschaftliche Diskussion dominiert. Es gab zum Beispiel im Grimmwörterbuch die Vokabel ‚Reiseliteratur‘ nicht. Man findet dort ‚Reisebericht‘ – aber ‚Reiseliteratur‘ nicht. Einer der ersten, der im deutschsprachigen Raum von ‚Reiseliteratur‘ geschrieben hat, war Robert Prutz, ein fortschrittlicher Publizist und Literaturwissenschaftler im Vormärz, das heißt, er lebte in derselben Zeit wie die Brüder Grimm zum Beispiel.“

Robert Prutz hat eine der ersten Monografien zum Thema verfasst, im Vormärz, der Zeit vor der Märzrevolution 1848/49 in Deutschland. Im Gegensatz zur „Odyssee“ ist der Reisebericht eine realistische Reise, die eine Autorin, ein Autor in der Regel auch tatsächlich erlebt hat. Das bedeutet wiederum nicht, dass die Reise wahrheitsgetreu wiedergegeben werden muss, weswegen Reiseberichte nicht gleichzeitig Autobiographien sind. Die Geburtsstunde des Reiseberichts liegt wohl in Herodots „Historia“. Auch in Deutschland haben bekannte Schriftsteller und Wissenschaftler Werke zu dieser Form von Reiseliteratur beigetragen. Einer der ersten war Georg Forster, der gemeinsam mit seinem Vater Johann Reinhold Forster und James Cook die Welt umsegelte. Noch heute können wir dank seines Reiseberichts „Reise um die Welt“ an ihr teilhaben. Auch Goethe hat zur Reiseliteratur beigetragen. Die „Italienische Reise“ berichtet in zwei Teilen über seine Reise nach und durch Italien. Wir können auch mit Goethe durch Deutschland reisen, denn seine Werke und Briefe lassen sich oft auf Orte in Deutschland zurückführen, die er bereist hat.

Reisetagebücher sind eine weitere wichtige Form der Reiseliteratur. Zu ihrem wertvollen Schatz zählen die Reisetagebücher des Naturforschers Alexander von Humboldt, nicht ohne Grund wie Paulo Astor Soethe sagt:

„Alexander von Humboldt hat in der Wende vom 18. aufs 19. Jahrhundert nicht nur eine neue Welt bereist. Er hat durch sein relationales Denken eine neue Art und Weise dargelegt, die Welt wahrzunehmen. Die südamerikanischen Reisetagebücher Humboldts sind das performative Exerzieren dieses neuen Wahrnehmungsvermögens. Seine Schrift in den Tagebüchern, die Kombination von Bild und Text, die Mehrsprachigkeit des Textes – Französisch, Deutsch, Spanisch findet man dort. All das macht aus seinen Schriften ein einmaliges Dokument der Entstehung des modernen Denkens.“

Auf seinen mehrjährigen Forschungsreisen, die ihn unter anderem nach Lateinamerika, führten, betrieb Alexander von Humboldt naturwissenschaftliche, geografische und sprachliche Studien und scheute auch Eigenversuche nicht, etwa zur Wirkung von Schlangengift. Durch die gedanklichen Verbindungen, die er dann schuf, sein relationales Denken, ließ er seine Leser an seinen Erlebnissen und seinen Erfahrungen teilhaben. Die teilweise bebilderten Reisetagebücher seiner Lateinamerikareise Ende des 18. Jahrhunderts sind dafür ein Ausdruck, oder wie es Professor Soethe wissenschaftlich formuliert, ein performatives Exerzieren dieser Wahrnehmung.

Der Begriff „Reiseliteratur“ ist also sehr umfassend. Aber was ist mit dem Reiseführer, der uns stets hilfreich auf Reisen in fremde Städte und Länder begleitet? Vielleicht kommt manch einem sofort ein Reiseführer wie Baedecker oder Lonely Planet in den Sinn, die bei der letzten Urlaubsreise noch schnell im Handgepäck verstaut wurden:

„Im Falle von Baedecker und Lonely Planet würde ich wegen der Spezialisierung des Begriffs ‚Reiseliteratur‘ im 19. Jahrhundert die besagten Bücher in diese Kategorie nicht einordnen. Da fehlt die Dimension der problematisierenden Versprachlichung einer persönlichen existenziellen Erfahrung, eine Erfahrung des Reisens ins Neue, ins noch Unbekannte. Baedecker und Lonely Planet kennen ja sichere Wege und garantiert schöne, amüsante Ziele. Das hat mit Reiseliteratur dann ganz wenig zu tun.“

Reisen öffnet uns die Augen, erweitert unseren Horizont, bietet uns Perspektivwechsel – so auch die Reiseliteratur, die uns die Welt auch zu Hause auf dem Sofa liegend näher bringen kann. Goethe war bereits der Meinung: „Ein gescheiter Mensch findet auf Reisen die beste Bildung“. In unserer heutigen Welt, in der das Zusammenleben der Menschen unterschiedlichster Kulturen eine sehr wichtige Rolle spielt, gewinnt auch die Reiseliteratur wieder an Bedeutung. Leicht hat sie es allerdings nicht. Besonders in der Literaturwissenschaft hat die Gattung keinen leichten Stand: Kritiker stellen aufgrund der Vielzahl an Reisenden, dem Beginn des Massentourismus und den Möglichkeiten der modernen Fortbewegung die Qualität der Texte infrage. Professor Paulo Astor Soethe ist da anderer Meinung:

„Dieses Leben der Reiseliteratur ist für unsere Zeit besonders relevant. Reisetexte antizipieren Phänomene, Prozesse und Dimensionen der Globalisierung in einem ursprünglichen Zustand, könnte man sagen. Daher enthalten sie möglicherweise ungesehene Elemente, die zum Verständnis, zur Erläuterung, vielleicht ja auch zur Richtigstellung von Globalisierungsprozessen einen Beitrag leisten können.“

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