Manuskript

Esskultur

Anders als Franzosen und Italiener gelten die Deutschen nicht als Nation, in der Essen und Esskultur eine wichtige Rolle spielen. Inzwischen achten aber immer mehr darauf, was sie essen. Und: Sie haben Freude am Kochen.

In Sachen Essen und Trinken sind die Deutschen im europäischen Vergleich knauserig. Nur rund 14 Prozent ihres Einkommens gaben sie im Jahr 2010 für Lebensmittel aus. In den 1950er Jahren war es noch fast die Hälfte des Lohns. Das hat unter anderem mit dem Stellenwert des Essens in Deutschland zu tun. Es spielt nicht die zentrale Rolle wie zum Beispiel in Frankreich oder Italien. Nur bei wenigen ist Kochen und Essen mit Genuss „in“. Diese Genießer tauchen immer tiefer in die Feinschmeckerküche ab. Andere dagegen mögen es weiterhin lieber schnell und deftig:

„Machste mir einmal Currywurst bitte! Mit ‘ner Pommes rot-weiß.“

Eine Currywurst mit Pommes Frites gilt als Fast-Food-Klassiker in Deutschland. Wer eine Currywurst mit Pommes bestellt, möchte sie entweder ohne alles oder rot,also mit Ketchup, oder rot-weiß – mit Ketchup und Mayonnaise. Aber die Currywurst hat längst Gesellschaft bekommen. Ob Döner, Hamburger, Frühlingsrolle oder Pizza vom großen Blech: Imbissbuden sind allgegenwärtig in der Bundesrepublik. Selbst gekocht wird immer weniger in deutschen Haushalten, dafür aber mehr im Fernsehen, in den zahlreichen Kochshows. Ausnahmen wie Wilfried bestätigen aber – wie es in einem Sprichwort heißt – die Regel:

„Das ist einfach genießen wollen, Freude beim Essen haben. Das ist es. Also, es ist kein okkultes Geschäft hier. Das ist einfach die gemütliche Runde, die dann da vorherrscht.“

Die gemütliche Runde, die Wilfried beschreibt, besteht aus Mitgliedern der Vereinigung „Slow Food“. Diese Vereinigung sei kein Geheimbund, der geheimnisvolle, okkulte, Geschäfte betreibe. Man treffe sich, um mit Genuss, also mit Freude, und bewusst zu essen – eben „slow“, langsam. Der Begriff ist als Gegensatz zum „Fast Food“ zu verstehen, dem schnellen Essen am Imbissstand oder unterwegs. Etwa 10.000 Mitglieder hat die Vereinigung allein in Deutschland. Für die regelmäßigen Treffen der Lokalgruppe, der sogenannten „Convivie“, stellt Ferdinand – selbst langjähriges Slow-Food-Mitglied – den Gleichgesinnten auch gerne seine Räumlichkeiten zur Verfügung:

„Ich bin mehr oder weniger auf ‘m Land auch großgeworden und hab’ noch im Hinterkopf zumindest, fast auf der Zunge, wie eine richtige Milch schmeckt und keine aus der Tüte. Das ist das ursprüngliche Essen, das ist regional essen. Das ist, dass wir die Früchte und so weiter, das Gemüse nicht dann isst [essen], wenn ‘s aus Südafrika oder Argentinien kommt, sondern wenn ‘s hier wächst. Genuss natürlich, spielt ‘ne Rolle. Nachhaltigkeit ist ganz wichtig. Und einfach, ja vielleicht auch zu sehen, so wenig Energie zu verbrauchen als möglich, wenn man sein Essen auf ‘n Tisch bringen will. Und da gehört halt dazu, dass die Erdbeeren nicht aus Spanien, Südafrika oder sonst woher kommen.“

Ferdinand steht hinter dem Grundgedanken der Slow-Food-Bewegung: Lebensmittel zu verwenden, die im Einklang mit der Natur angebaut werden, die möglichst aus der nahen Region kommen und nicht mit dem Flugzeug aus fernen Ländern transportiert werden und die den Landwirten zu fairen preislichen Bedingungen abgekauft werden. Ferdinand verwendet hierfür den Begriff der Nachhaltigkeit. Er selbst kommt vom Land, ist auf einem Bauernhof aufgewachsen, großgeworden. Und er weiß, hat im Hinterkopf, wie frische Milch von der Kuh schmeckt, nämlich anders als Milch aus der Tüte, also Milch in einer Verpackung, die oft noch haltbar gemacht wurde. Die Slow-Food-Mitglieder kochen gerne und probieren regelmäßig Produkte von regionalen Erzeugern. Damit unterscheiden sie sich von der Mehrheit der Deutschen. Denn im normalen Alltag haben die meisten keine Zeit und oft auch kein Geld, frische Produkte einzukaufen und in Ruhe zu kochen. Deshalb wird dann umso öfter in die Tiefkühltruhe gegriffen. Bereits fertig gekochte Mahlzeiten müssen in der Mikrowelle nur erwärmt werden. Fertigkost? Für Ferdinand ist das unvorstellbar. Seine Geschmackswelt sieht anders aus:

„Samstag hab ich ‘ne Veranstaltung hier gehabt, und da hat jemand die Bratwürschtl aus Franken mitgebracht. Und das ist ein Metzger, der zu den Bauern hinfährt, sich die Viecher alle anschaut und dann auch heimlich immer Futter mitnimmt und das untersuchen lässt. Und wenn das nicht passt, dann kauft er das Viech nicht. Und da saßen 25 Leute, die haben gesagt, so eine Bratwurst haben wir noch nie gegessen. Und man schmeckt es einfach.“

Wer zum Beispiel wissen will, woher seine Bratwurst kommt, auf Fränkisch Bratwürschtl, der kann das nachprüfen. So wie der erwähnte Metzger. Er hat sich auf dem Bauernhof die Tiere – die Viecher, wie Ferdinand es umgangssprachlich formuliert – angeschaut und hat sogar das Futter, das sie fressen, von Experten untersuchen lassen. Sollte die Untersuchung ergeben, dass etwas nicht stimmt, dass etwas nicht passt, bezieht der Metzger sein Fleisch nicht von diesem Bauern. Die Formulierung „passen“ wird in der Umgangssprache sehr häufig angewandt für „in Ordnung“, „okay“. Sagt jemand zum Beispiel auf die Frage, ob man sich zu einer bestimmten Uhrzeit trifft: „Das passt mir!“ oder „Das passt!“, drückt er damit aus, dass er damit einverstanden ist. In den vergangenen Jahren ist in Deutschland die Zahl derjenigen gewachsen, die redensartlich „auf Bio setzen“, auf nachhaltige Produkte. Außerdem gibt es inzwischen eine große Gruppe von Feinschmeckern oder zumindest solche, die eine Menge Geld für außergewöhnliche und meist teure Speisen, sogenannte Delikatessen, ausgeben:

„Ich sag jetzt mal ‘n Beispiel: Meinen ersten Trüffel-Vortrag habe ich vor 18 Jahren gehalten, und die erste Frage war: ‚Wie, Trüffel sind gar nicht aus Schokolade?‘ Die Leute sind zum Trüffelessen gegangen und haben gedacht, es gibt Schokoladentrüffel. Die wussten gar nicht, dass es auch Pilze gibt, die „Trüffel“ heißen. Und wenn ich heute solche Vorträge halte, dann sind die Gäste da so gut informiert. Die kennen nicht nur die verschiedenen Sorten, sondern auch die Anbaugebiete und die besten Zeiten, und wann man es am besten isst. Heute ist es ja auch ‘n Lifestyle-Thema. Man sieht das ja omnipräsent im Fernsehen, dass irgendwelche Köche irgendwas Besonderes kochen, und jeden Abend werden irgendwelche exotischen Sachen aus ‘n Schubladen geholt, damit auch die Sendungen nicht langweilig werden.“

Ralf Bos ist Koch und einer der größten Delikatessenhändler in Deutschland. Zu kaufen gibt es bei ihm nur das Feinste vom Feinen. Von Trüffeln über lange gereifte Schinken bis zu exotischen Gewürzen und edlen Weinen. Für ihn als Experten war immer klar, was eine Trüffel ist. Für manche Besucher seiner Vorträge war das Anfang der 2000er Jahre noch nicht so. Sie dachten, dass es sich um Pralinen aus Schokolade mit demselben Namen handelt. Beide Trüffel haben aber außer dem Namen gar nichts miteinander zu tun. Während die kugelige Praline gefüllt ist mit einer Mischung aus Butter, Sahne und flüssiger Schokolade, sogenannter „Kuvertüre“, ist die andere, eigentliche Trüffel ein meist unterirdisch wachsender Pilz. Die echten Trüffel sind schwer zu finden und daher auch sehr teuer. Besonders ausgebildete Schweine und Hunde, sogenannte Trüffelschweineund Trüffelhunde, werden eingesetzt, um sie zu finden. Inzwischen sind die Menschen aber bestens informiert vor allem durch die zahlreichen Kochshows, die im deutschen Fernsehen omnipräsent, allgegenwärtig, sind. Und die Zuschauer wollen unterhalten werden, weil Kochen ein Lifestyle-Thema geworden ist, etwas, das zum guten und angenehmen Leben dazugehört. Daher bemühen sich die Köche oft, Speisen zu kochen und Zutaten zu verwenden, die nicht alltäglich sind, oder, wie es Ralf Bos ausdrückt, exotische Sachen aus den Schubladen zu holen. Aber nicht nur Rezepte und Zutaten sind wichtig, so Ralf Bos:

„Früher war ja das, also ‘n Mann, der kocht: ‚Hallo, was soll das denn?‘ Aber heute? Sie können sich ja das tollste Auto kaufen. Da ist die Anerkennung höchstens: ‚Ah, guck mal, der zahlt bestimmt ‘ne hohe Leasing-Rate dafür oder irgend so was.‘ Aber wenn Sie ‘ne geile Küche haben: ‚Boah, das ist ja toll.‘ Ist das Klasse! Mit einem Dämpfer drinne und was weiß ich was. Das ist ja heute wirklich ‘n Statussymbol. Und heute ist es auch niemandem mehr peinlich zu sagen, ich muss nach Hause, ich muss noch wat kochen, sondern heute sagt man: ‚Heute Abend koche ich eine ‚Seezunge à la Bonne Auberge!‘ oder irgend so was. Also, die Zeiten haben sich ganz sicher geändert, also in der Ebene, in der ich zu Hause bin.“

Während früher ein tolles Auto als Statussymbol galt, als Zeichen, dass jemand Geld und eine hohe gesellschaftliche Stellung hat, ist es heutzutage eine tolle, geile Küche. Ganz besonders, wenn in dieser zudem noch außergewöhnliche Geräte wie ein Dampfgartopf, ein Dämpfer, zu finden sind. Fährt jemand dagegen jetzt mit einem teuren Auto durch die Gegend, bewegt das niemanden mehr so richtig. Es wird nur davon ausgegangen, dass diese Person sich zumindest die hohen monatlichen Raten für das Leasing, eine Art Mietkauf, leisten kann, sagt Ralf Bos. Die Einstellung gegenüber männlichen Statussymbolen habe sich geändert, sagt Ralf Bos. Kochende Männer seien sich der Bewunderung der anderen sicher, zumindest in dem Teil der Gesellschaft, in der Ebene, in der er sich aufhalte. In Deutschland wächst die Zahl der Feinschmecker ebenso wie der Bereich derjenigen, die weiter auf billig und schnell setzen. Nur die sogenannte „gut bürgerliche Küche“ mit ihren traditionellen Gerichten wie Rouladen oder Sauerkraut und Würstchen ist fast ausgestorben. Aber es gibt Hoffnung, sagt Ralf Bos. Einige Spitzenköche hätten nämlich zum Beispiel die gute alte Roulade wieder auf ihre Speisekarte gesetzt.