Manuskript

In Tracht auf die Wiesn

Für viele ist es ein Muss, das Oktoberfest in Lederhosen und Dirndl zu besuchen. Nirgendwo sonst trifft man so geballt auf die bayerische Tracht wie dort. Und nicht nur die Einheimischen ziehen sie gern an.

Alljährlich im Oktober zieht das Münchner Oktoberfest Millionen von Menschen aus aller Herren Länder an – außer es wird wie 2020 wegen einer Pandemie abgesagt. Und wie kein anderes Event steht das weltbekannte Volksfest für bayerische Tradition. Fragt man rund um den Globus nach, was die Menschen für typisch deutsch halten, lautet die Antwort oft „Bier“, „Lederhosen“ und „Dirndl“. Und deswegen gehen nicht nur Einheimische, sondern auch viele Besucher in Tracht auf die Wiesn. Viele, aber eben nicht alle:

„[Ja], weil es einfach schön aussieht, und es passt zu den Wiesn. / [Ja], weil es Tradition ist und weil ich’s schön finde. / Ich trag das nicht. Das steht mir nicht so. / Nein ich trag keine Tracht. Ich bin Tourist und ich finde, das sollte man den Einheimischen überlassen, Trachten zu tragen. / Ich hab noch nie eine gekauft, und ich hab jetzt nicht so viel Gelegenheiten, sie anzuziehen. Und es ist ja doch eine Preisfrage. Wenn man eine schöne Tracht will, die kostet ja auch Geld, ne.“

Wer sich passend einkleiden will, hat zwei Möglichkeiten: entweder richtig oder nur annähernd richtig. Wer ein echtes, handgefertigtes Trachtgewand tragen möchte, muss dafür schon ein paar Hundert Euro auf den Tisch legen. Denn neben der möglichst handgegerbten Lederhose (entweder eine kurze Krachlederne oder eine lange Variante) trägt Mann auch noch das passende Trachtenhemd, Socken oder Kniestrümpfe und Haferlschuhe. Das echte Dirndl besteht aus einem in Falten gelegten Rock und einem meist angenähten Mieder, das das weibliche Dekolleté betonen soll, einer kurz bis unter die Brust reichenden Dirndlbluse und einer Schürze, die normalerweise einige Finger breit über dem Rocksaum endet.

Solche ‚echten‘ Gewänder legen sich eher Einheimische zu, weil sie sie mehr als einmal im Jahr tragen und sogar vererben. Nicht-Einheimische kaufen sich die Gewänder eher, um beim Oktoberfest ein Klischee zu bedienen. Schließlich kann man einfache Lederhosen oder Dirndl für wenig Geld beim Discounter oder online erstehen. Die Bayerin Laura ärgert das:

„Na ja, eigentlich sagt man ja, dass man ein Dirndl auf der Wiesn erst anziehen kann, wenn man mindestens zehn Jahre in Bayern gewohnt hat. Und es ist aber so, dass – glaube ich – viele Mädchen und Frauen, die jetzt hier auf der Wiesn ein Dirndl anhaben, irgendwie aus Preußen kommen, wo auch immer her, und trotzdem sich einbilden, sie dürften eins tragen. Und das ist glaub ich was, was mich so ein bisschen aufregt.“

Anders sieht das dieser Norddeutsche – nach bayrischer Lesart ein Preuße, also jemand, der von jenseits des Weißwurstäquators kommt und somit kein Ur-Bayer ist:

„Ja, weil ich mich einfach dem Land anpassen möchte. Ich fühle mich nicht als Bayer, [aber] weil ich die Tradition schön finde, die bayerische Tradition, dass man in der Tracht auf die Wiesn geht. Das ist okay.“

Doch woher kommt dieses Gefühl, sich unbedingt in eine traditionelle Tracht werfen zu wollen, wenn man aufs Oktoberfest geht? Warum sieht man Dirndl und Lederhosen gerade dort so geballt? Die Kulturwissenschaftlerin Simone Egger hat sich eingehend mit dem Thema befasst und 2008 sogar ein Buch zum „Phänomen Wiesntracht“ veröffentlicht. Sie meint:

„Die Wiesn ist ja schon relativ früh so zum bayerischen Nationalfest deklariert worden, schon von den Wittelsbachern im 19. Jahrhundert. Und offensichtlich ist dieses Moment, dass der Oktoberfestbesuch auch zur Identitätsfindung beiträgt, nach wie vor erhalten.“

Das erste Oktoberfest fand Mitte Oktober 1810 auf der heutigen Theresienwiese statt.  Fünf Tage lang wurde die Hochzeit von Kronprinz Ludwig von Bayern mit Therese Charlotte Louise von Sachsen-Hilburghausen gefeiert. Zu diesem Zeitpunkt bestand das Königreich Bayern, das aus der Vereinigung mehrerer Regionen entstanden war, gerade mal vier Jahre. Das Fest kam so gut an, dass sich alle einig waren: Bitte mehr davon – auch ohne königliche Hochzeit. Fortan wurde alle Jahre wieder gefeiert. König Maximilian I. und später Maximilian II. vom Haus Wittelsbach, einem der ältesten deutschen Adelsgeschlechter, ordneten damals an, auf dem Oktoberfest sei Tracht zu tragen – als Symbol einer unverwechselbaren bayerischen Identität. Man wollte allen klarmachen: ‚So sehen wir in Bayern aus‘. Am Anfang war das Bild auf dem Platz allerdings noch bunt gemischt, berichtet Simone Egger:

„Die Tracht hatte insofern Platz, als dass natürlich auch Leute bei dem ersten, zweiten, beim zehnten Oktoberfest auf der Wiesn waren, die einfach so ihr gewohntes Gewand anhatten. Aber es waren auch Soldaten da oder Leute vom Militär, die ihre Uniform anhatten, und die städtischen Damen waren nach der Mode gekleidet.“

Lederhosen und Dirndl gehörten also ursprünglich gar nicht zum Oktoberfest-Outfit. Die robusten Lederhosen trugen zunächst Bauern bei der Arbeit, dann Adelige bei der Jagd. Und das fesche Dirndl?

„Das Dirndl ist ein Kleid, das eigentlich schon für die Städterin in der Sommerfrische kreiert worden ist. Das heißt, es war nie ein Arbeitsgewand im ursprünglichen Sinne.“

Das Dirndl, wie man es heute kennt, erinnert laut Simone Egger nur sehr vage an das hochgeschlossene, praktische Kleid, Gewand, das Dienstmägde bei der Arbeit trugen. Stattdessen soll es in den 1870er-Jahren von einer findigen Schneiderin entwickelt, kreiert, worden sein. Sie kam auf die Idee, aus dem Unterkleid der Dienstmägde eine Art luftiges, leichtes Sommerkleid für Städterinnen zu schneidern, die es während der Sommerfrische, einem Erholungsaufenthalt auf dem Land, tragen konnten. So richtig als Wiesn-Kleidungsstück setzte es sich erst spät durch, erzählt Egger:

„Das erste Werbeformat, das ich gefunden habe, war von Lodenfrey, und das ist eigentlich erst aus den [19]70er Jahren so. Also Anfang 70er-, Ende 60er-Jahre haben die zum ersten Mal ein eigenes Wiesn-Dirndl.“

Der eigentliche Trachten-Boom begann dann in den 2000er-Jahren: Kniebundhosen im Army-Look mit Taschen an der Seite, handbestickte Dirndl mit asymmetrisch ausgefranstem Reifrock oder Dirndl im Petticoat-Stil mit Ballerinas – nur einige Varianten, die angesagt waren. Eine Verkäuferin vom Modehaus Lodenfrey am Münchner Marienplatz stellte damals fest:

„Da ist so ’n richtiges Outfit ein ‚Must‘, sonst kann man nicht auf die Wiesn gehen.“

Und das Gefühl, dass das richtige Outfit auf dem Oktoberfest absolut notwendig, ein ‚Must‘ ist, hat sich bis heute gehalten. Für Simone Egger hat das mit der Globalisierung und dem starken Wunsch einer mobilen Gesellschaft nach Identität zu tun:

„München ist eine Stadt, die von der Globalisierung geprägt ist. Und die Dirndl und Lederhosen sind eigentlich so ein Anlass, sich dadrüber zu unterhalten: ‚Wer bin ich? Wo komme ich her? Wo lebe ich jetzt? Wo fühle ich mich vielleicht auch zuhause?‘ Und dieses neue ‚Heimaten suchen‘, das hat auch viel damit zu tun, wer eigentlich Dirndl und Lederhosen trägt.“

Es sei denn, man kennt seine Identität. So wie dieser Mann, der auf die Frage, ob er in Tracht auf die Wiesn geht, klipp und klar feststellt:

„Nö, nö. Ich bin Bayer im Herzen. Das langt.“

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*Mit einem Interview von Tilman Seiler mit Simone Egger und einem Beitrag von Elena Senft zum Thema