Manuskript

Martin Luther – der Musiker und Liederdichter

Martin Luther erneuerte nicht nur die Kirche. Er leistete auch als Liederdichter und Komponist Bahnbrechendes. Auch durch seine Musik gewann die Reformation an Schubkraft.


Als wortmächtiger Redner und sprachgewaltiger Verfasser theologischer Schriften ist er bekannt: Martin Luther. Als Komponist von Liedern und als Musiker dagegen weniger. Dabei hat er ein neues Kapitel des geistlichen Singens aufgeschlagen. Wie kam es dazu? Bereits im Alter von 14 Jahren wurde Martin Luther in Musiktheorie ausgebildet; er sang im Kirchenchor und in einem Schülerchor. Luther spielte Laute, eine Art Vorläufer der Gitarre, und Querflöte, komponierte selbst und war Mitglied eines Musikkreises, heutzutage würde man dazu wahrscheinlich „Band“ sagen. Später studierte er neben der Theologie auch Musik sowie Sanges- und Kompositionstechnik. Diese Liebe zur Musik hätte seinen Lebensweg bestimmen können, sagt der Theologe Burkhard Weitz:

„Er hatte sogar überlegt, ob er Musiker werden soll, hat sich dann aber für die Theologie entschieden.“

Das Theologie-Studium versetzte Luther in die Lage, ab dem Jahr 1517 all die kirchlichen Veränderungen in Angriff nehmen zu können, die danach auch die gesellschaftliche und politische Denkweise zu Beginn der Neuzeit grundlegend veränderten. Gerade in dieser Zeit hatte er kaum Zeit für die Musik. Das sollte sich im Jahr 1523 mit dem ersten von ihm komponierten Lied ändern. Burkhard Weitz erzählt, warum:

„Als in Brüssel die ersten Märtyrer verbrannt wurden, die Luthers Lehre anhingen, hat er sich sehr darüber erschrocken. Und dann hat er eben dieses Lied gedichtet ‚Nun freut euch liebe Christen g’mein und lasst uns fröhlich springen‘. Und erstaunlicherweise hat dieses Zuversichtslied so viele Menschen begeistert, und das hat so sehr die Runde gemacht, dass er überhaupt erst die Macht der Musik entdeckt hat.“

Noch ganz gefangen vom schrecklichen Martyrium seiner Anhänger komponierte Martin Luther ein Lied, das Mut machen sollte: „Nun freut euch, liebe Christen g’mein und lasst uns fröhlich springen“. Luther legte in zehn Strophen dar, wie Gott den sündigen Menschen erlösen will. Das Lied sprach viele an, machte die Runde, und hatte großen Anteil an der Ausbreitung des reformatorischen Gedankenguts. Überall wurde es gesungen und sogar auf Flugblätter gedruckt. Sein Verfasser entdeckte, welche enorme Wirkung ein Lied entfalten kann. Hochmotiviert machte sich Luther daran, lateinische Hymnen, Lobgesänge für Gott, zu übersetzen. Er fasste Lieder und Gebete des Alten Testaments der Bibel – Psalme – in Reime und interpretierte sie. Außerdem komponierte er neue Lieder mit zentralen reformatorischen Glaubensaussagen. Aber nicht nur das, weiß der deutsche Musikproduzent und Komponist Dieter Falk:

„Da gibt es ja so ganz hochwissenschaftlich das Wort: Kontrafaktur. Ich nenn’ es einfach nur ’ne Cover-Version. Luther hat ‚gecovert‘. Er hat eigentlich das, was das Volk singt auf der Straße – Bänkelsongs, Volkslieder –, das hat er gehört und fand das gut, hat das natürlich auch ’n bisschen verändert, und zwar nicht nur textlich, aber auch musikalisch. Das, was er so treffend gesagt hat ‚dem Volk aufs Maul schauen‘, hat er musikalisch verwirklicht. Der hatte keine Hemmungen, der Typ!“

Martin Luther scheute nicht davor zurück, hatte keine Hemmungen, allseits bekannte und erfolgreiche Lieder selbst zu interpretieren – Lieder, die die Menschen im Wirtshaus oder auf der Straße sangen. Er schaute dem Volk aufs Maul. Neudeutsch würde man von „covern“ sprechen, wissenschaftlich von Kontrafaktur. Er schaffte ein neues Lied, indem er bestimmte Formbestandteile des alten beibehielt. Grundlage waren nicht nur Volkslieder, sondern auch Bänkellieder, erzählende Lieder mit oft dramatischem Inhalt. Zu diesen „Cover“-Liedern gehört laut Dieter Falk auch ein sehr bekanntes Weihnachtslied:

„Es hieß anfangs ‚Aus fremden Landen komm’ ich her und verkündige euch jetzt neue Mär‘, also neue Nachrichten. Und daraus macht er dann: ‚Vom Himmel hoch, da komm ich her und bring euch gute neue Mär‘. Es ist ein Bänkelsängerlied, es ist ein weltlicher Gesang, der leicht umgedichtet wird, und man merkt’s dem Lied nicht unbedingt an, dass es eine Umdichtung ist, weil es in sich so schlüssig und originell ist.“

Dieter Falk nennt einen musikalisch nachvollziehbaren Grund für den Erfolg von Luthers Liedern:

„Strophenform, recht einfach. Es gab nicht so was, wie man heute bei Popsongs hat: Man hat ’ne Strophe, einen Refrain und noch so ’n C-Teil. Das waren reine Strophen wie Volkslieder eigentlich auch sind. Und manchmal ein Kehrvers, das ist dann der ‚Refrain‘ auf neudeutsch. Das hat Luther eigentlich in die Kirche gebracht.“

Luther schuf Ohrwürmer, eingängige Melodien und leicht zu merkende Verse – die ideale Kombination in einer Zeit, in der die meisten Menschen weder Noten noch Schrift lesen konnten. Es fehlte, wie heute manchmal üblich, ein sogenannter C-Teil, ein harmonischer oder rhythmisch neuer Part im bestehenden Song. Martin Luther wollte allerdings auch dafür sorgen, dass sich beim Gesang im Gottesdienst, der Liturgie, etwas ändert. Der Theologe Burkhard Weitz nennt den Grund:

„Luther war es wichtig, dass man versteht im Gottesdienst, worum es geht. Und deswegen war es ihm auch wichtig, auf Deutsch zu predigen, auf Deutsch die Liturgie zu halten und auf Deutsch auch zu singen. Die Mehrzahl der Deutschen erreichte er eben nur übers Deutsche – und deswegen schrieb er 1526 eine Messe in Deutsch.“

Weil er wusste, dass die meisten seiner Landsleute kein Latein verstanden, schrieb Luther eine Messe in deutscher Sprache, ein musikalisches Werk, dem Texte der katholischen Liturgie zugrundeliegen. Damit bekamen die Gläubigen plötzlich eine ungewohnt neue Rolle. Statt – wie bis dahin üblich – nur zuzuhören, gestalteten sie nun den Gottesdienst durch den Gesang aktiv mit. Bald erfüllten die Lieder aber auch einen anderen Zweck, sagt Burkhard Reitz:

„Sie erwiesen sich als wirkungsvolle Propaganda. Ich glaube, wahrscheinlich haben es die Reformatoren auch gemerkt und deshalb auch eingesetzt. Es ist überliefert aus einer Gemeinde, wo die Gemeinde den Prediger niedergesungen hat, weil er sich weigerte, sich der Reformation anzuschließen. Und über Gesangbücher, also Liedersammlungen eigentlich, verbreiteten sich die Lieder – über Druckerzeugnisse.“

Beim Singen agiert der ganze Körper. Verstärkt durch die Melodie kann er eine ganz eigene Kraft entwickeln. So wie in der Kirchengemeinde, in der Luthers Anhänger den Prediger niedergesungen, ihn mit ihrem Gesang bezwungen haben. Allerdings geht die Kraft von Gesang und Liedern noch darüber hinaus, weiß Dieter Falk:

„Es gibt ’n berühmtes Zitat von Martin Luther King, der hat nämlich gesagt: ‚Was ich von Martin Luther wiederum gelernt hab’ ist: ‚Eine Bewegung wird nur siegen, wenn sie singt‘.‘ Das sieht man an der Marseillaise, das sieht man in jeder politischen Bewegung, ‚Die Internationale‘ im Kommunismus. Und die Reformation hat ganz sicherlich durch die Musik noch mal ’n ganz anderen Schub bekommen.“

Revolutionärinnen und Revolutionäre wussten um die Kraft von Liedern, egal ob es um die Marseillaise ging, das Lied der Französischen Revolution und die heutige Nationalhymne Frankreichs, oder ‚Die Internationale‘, das Kampflied der sozialistischen Arbeiterbewegung. Auch die Reformation gewann an Kraft, bekam einen Schub, durch die Lieder Martin Luthers. Alle seiner 37 bekannten Lieder gehören bis heute zum Kernbestand evangelischer Liederbücher. Dass man Luthers Musik auch unters Volk bringen und modernisieren kann, beweisen Musiker wie Dieter Falk und Michael Kunze. Anlässlich des Reformationsjubiläums im Jahr 2017 komponierten sie ein Luther-Oratorium und tourten damit durch verschiedene deutsche Städte. Der Reformator würde vermutlich seine Freude daran haben, denn wie sagte er doch: „Musica ist das beste Labsal eines betrübten Menschen, dadurch das Herze wieder zufrieden, erquickt und erfrischt wird.“