Mythos deutscher Wald
Etwa ein Drittel der Fläche Deutschlands ist von Wald bedeckt. Er ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, ein vielschichtiges Ökosystem, ein beliebtes Freizeitziel – aber auch ein Ort der Mythen, Legenden und Sehnsüchte.
„Der Förster vom Silberwald. Je gehetzter das Leben des Alltags, umso größer die Sehnsucht nach einem Stück unberührter Erde und nach Tieren, die noch in echter Freiheit leben.“
Monatelang arbeiteten Filmtechniker und Künstler in den Alpen unter den schwierigsten Bedingungen, um die Aufnahmen für den Film „Der Förster vom Silberwald“ herzustellen. 1955 kam der Film in die deutschen Kinos und wurde zu einem der größten deutschen Leinwanderfolge. Zahlreiche andere Heimatfilme folgten, die den Wald als romantische Kulisse nutzten, in der die Natur noch rein, noch unberührt war. Dazu gehörten zum Beispiel „Die Försterchristel“ oder „Ein Posthaus im Schwarzwald“. Auch in unzähligen deutschen Schlagern, Opern und Volksliedern wurde der Wald besungen, wie in „Der Jäger aus Kurpfalz“:
„Ein Jäger aus Kurpfalz,
der reitet durch den grünen Wald
Und schießt sein Wild daher.“
Ob als Hintergrund für eine Welt, in der alles noch seine Ordnung hat, oder als Gegenstand ehrfürchtiger Gesänge: Der Wald steht für reine Natur und Ursprünglichkeit. Er bildet den Kontrast zur Hektik und einem unnatürlichen Leben, das vor allem modernen Großstädten zugeschrieben wird. Diese Betrachtungsweise ist – historisch gesehen – nicht sehr alt. Denn noch im 18. Jahrhundert hatte der Wald ein ausgesprochen negatives Image, wie der emeritierte Volkskundeprofessor Albrecht Lehmann erklärt:
„Der Wald war im 18. Jahrhundert eher eine gefürchtete Naturform und vor allen Dingen eine intensiv genutzte. Im Wald wollte niemand eigentlich im 18. Jahrhundert sein. Es gab Untersuchungen, die haben den Nachweis führen wollen, dass der Wald sogar eine ungemein ungesunde Luft hat. Das war die sogenannte Miasma-Theorie, die hatte den Nachweis führen wollen, dass die Waldluft ungesund ist, weil sie neblig, dick und feucht ist.“
Also: Man hatte Furcht davor, in den Wald zu gehen, weil man damit rechnen musste, krank zu werden. Es wurde sogar eine Theorie angewandt, die Miasma-Theorie. Das Wort „Miasma“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie „übler Dunst“, aber auch „Ansteckung“. So dachten Mediziner bis ins 19. Jahrhundert, dass Krankheiten wie Pest und Cholera über die Luft verbreitet wurden. Hinzu kamen die Geister, die Krankheit und Tod brachten. Der Wald machte den Menschen damals aber auch aus anderen Gründen Angst, so Professor Albrecht Lehmann. Man konnte sich in ihm verirren und von Räubern überfallen werden. Außerdem hielt sich lange Zeit die Vorstellung, dass im Wald Geister und Hexen leben. Auf jeden Fall war es kein Ort, an dem man gerne seine Zeit verbrachte. Das Bild des Waldes änderte sich allerdings im 19. Jahrhundert mit dem Beginn der Romantik. Der Sprachwissenschaftler Jacob Grimm, einer der beiden Brüder Grimm, fand die Schriften des römischen Historikers Tacitus, die „Germania“. Und ihm wurde dabei einiges klar:
„Da hat er plötzlich erfahren, dass der Wald der Ursprungsort der deutschen Kultur sein soll. Nun ist natürlich der Grundgedanke der Romantik der, dass man aus den Mythen, aber auch aus Märchen und Sagen und anderen Volkserzählungen die Kultur und zwar die Ursprungskultur rekonstruieren kann.“
Jacob Grimm entnahm den Schriften Tacitus’, dass die deutsche Kultur ihren Ursprung im Wald haben soll. Wichtig ist hierbei, dass es zum Grundverständnis der Romantik gehörte, aus Märchen, Sagen und Volkserzählungen die Kultur eines Volkes herauslesen zu können. Es wurde also fälschlicherweise eine Vergangenheit konstruiert, die es so nicht gab. In der Epoche der Romantik, die von Ende des 18. bis etwa Mitte des 19. Jahrhunderts andauerte, wurde unter anderem alles abgelehnt, was mit dem Verstand erklärt werden konnte. Die bürgerliche Gesellschaft galt als langweilig und gewinnorientiert. Die Romantiker begeisterten sich für das Schöne und das Wilde der Natur. Und zahlreiche Schriftsteller und Dichter halfen mit, dieses Bild vom Wald zu erschaffen – wie Josef von Eichendorff:
„Und dann haben sie etwas gemacht, was also ein Kunstgriff ist. Das Rauschen der Bäume und so weiter, das wirkt auf die Menschen so ein, dass jeder, wenn er in den Wald geht, sich so ähnlich fühlt wie ein Germane. Das war, als die Nazis an die Macht kamen, längst Teil unserer Kultur. Die Nazis zum Beispiel, aber auch andere des 19. Jahrhunderts wollten die Liebe zum Wald zu etwas speziell Deutschem machen.“
Die Romantiker hatten also ihre eigenen Methoden, das Gefühl zu vermitteln, man sei ein wahrer Deutscher, ein Germane, wenn man durch einen Wald geht. In der Beschreibung des Waldes haben die Romantiker eine Art Kunstgriff angewandt: Beim Anblick mächtiger Bäume und rauschender Blätter im Wind konnten sich viele wie wilde Germanen fühlen. Vor allen Dingen mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten, der Nazis, wurde das rein Germanische zur politischen Leitlinie – mit den entsprechenden fatalen Konsequenzen. Der Volkskundler Wilhelm Heinrich Riehl lieferte die entsprechende Theorie dazu. Er stellte die naturverbundenen Wald-Germanen den zivilisierten Engländern und Franzosen gegenüber. Die besaßen nicht so viel Fläche, die mit Bäumen bewachsen war. Deshalb kam er zu dem Schluss, der deutsche Wald sei etwas Besonderes und mit ihm die Deutschen. Der Wunsch nach einer eigenen deutschen Identität und Überlegenheit ließ diesen Glauben noch wachsen. Deutschland überwand die Nazizeit, der Wald als Ort von Sehnsucht und Identifikation blieb. Jahrzehnte später, als der Wald schon längst von Joggern entdeckt worden war, kam auf einmal eine neue Furcht auf: das aus der Romantik stammende Bild zu verlieren. Professor Lehmann:
„Diese romantische Bilderwelt der Schönheit, der Waldeinsamkeit, der Stille und vor allen Dingen der Natur – alles das floss zusammen in der Vorstellung der Angst davor, dass uns etwas verloren geht.“
Umweltschützer, die sich gegen das Waldsterben engagierten, griffen zurück auf das von den Romantikern vermittelte Bild des Waldes, auf deren Bilderwelt. Der Wald als Ort der Ruhe und Erholung, als Sinnbild von Schönheit und Natur schien durch den sogenannten „sauren Regen“ bedroht. Im Laufe der Jahre hat sich diese Angst etwas abgeschwächt. Und der Wald ist das geblieben, was er wohl immer war: ein Ort der Sehnsucht für Naturliebhaber, Sportler und Romantiker.