Pilgern auf dem Jakobsweg
Jahr für Jahr machen sich Tausende von Menschen auf den Weg, um einen Teil des Jakobswegs zu gehen. Die Motive der Pilger sind unterschiedlich. Raimund Joos möchte vor allem eins: den Alltag loslassen.
Meist starten sie im Frühjahr: Menschen, die ihrem gewohnten Leben, ihrem Alltagstrott, für einige Zeit Ade sagen, die ihre Komfortzone verlassen und sich auf einen mehr oder weniger meditativen Weg machen. Sie begeben sich auf Pilgerschaft. Die meisten werden vermutlich einen Abschnitt des Jakobswegs gehen, dem bekanntesten Pilgerweg durch Europa. Seit 1993 ist er als UNESCO-Weltkulturerbe anerkannt. Sein weitverzweigtes Netz, insgesamt 42.000 Kilometer, durchzieht zahlreiche Länder. Endpunkt ist die Stadt Santiago de Compostela im Nordwesten Spaniens.
Nachdem das christlich motivierte Pilgern lange fast in Vergessenheit geraten war, erfuhr es in den 1970er Jahren eine Renaissance. Seit dem Jahr 2000 steigt die Zahl der Pilgerinnen und Pilger rasant an. Woran liegt dieses gestiegene Interesse am Pilgern? Raimund Joos, selbst Pilger auf dem Jakobsweg, Pilgerbegleiter und Autor mehrerer Bücher, meint:
„Wir haben immer mehr virtuelle Welten, immer mehr, was nicht mehr original ist, was irgendwie ’ne Kopie ist, ’ne Darstellung im Internet. Und da fehlt einfach wirklich der direkte Kontakt zur Welt und zum Menschen. Und das kann das Pilgern wirklich wieder anbieten, da ist man geerdet.“
Das Leben mit dem Internet oder in einer virtuellen Welt der 3D-Technik führt dazu, dass Menschen immer weniger geerdet sind. Sie verlieren den Kontakt zur Wirklichkeit. Und das, so Raimund Joos, ertragen manche Menschen auf Dauer nicht:
„Das ist im Menschen einfach drin, dass er einfach über seinen Horizont hinaus möchte. Dass er mal das Gefühl hat, dass es so nicht mehr weitergeht und dass man jetzt einfach mal raus muss.“
Eine Möglichkeit: seinen Rucksack zu packen und sich auf eine Pilgerschaft zu begeben. Das Wort „pilgern“ beinhaltet nämlich laut Joos genau das:
„Pilgern heißt ja eigentlich ‚fern des Ackers‘. Man hatte da früher das Dorf. Und dieses Dorf war so diese abgegrenzte Welt, die Sicherheit gegeben hat, ja. Und um dieses Dorf herum war der Acker, und nach dem Acker kam so der Wald, und in dem Wald, da sind die Räuber. Da ist im Grunde die Welt, die zu Ende war.“
Wer sich dann redensartlich „vom Acker machte“, ging in die Ferne. Pilgern war in seinen Anfängen eine Reise ins Fremde und Ungewisse, meist ohne bestimmtes Ziel und ohne bestimmte Absicht – wie bei den Wandermönchen. Hinweise auf diese Art des frühen Pilgerns findet man noch heute, weiß Raimund Joos:
„Es gibt also teilweise auch heute noch Pilgerwege, die eigentlich rund sind, die ’n Kreis machen und nicht im Grunde irgendwo hingehen.“
Wer sich heutzutage aufmacht, tut das aus unterschiedlichen Gründen: etwa um nach dem Sinn des Lebens zu suchen, nachzudenken und das eigene Leben zu ordnen. Mancher hofft, die Existenz einer göttlichen Kraft zu erfahren oder möchte schlicht und einfach den Kopf freibekommen oder seinen Horizont erweitern, neue Erfahrungen machen, rauskommen aus dem Trott des Alltags, dem immer gleichen Ablauf. Lange Zeit war das laut Raimund Joos auch möglich, aber so langsam ändert sich das:
„Also, wenn ich unterwegs war auf dem Jakobsweg, dann hatte ich bestenfalls irgendwann mal in ’ner Bar ’n Fernseher stehen, und da kamen dann auch bloß spanische Nachrichten. Oder man hat ’n Telefon irgendwo in ’ner Bar gehabt und konnte mal anrufen zuhause. Heute ist es immer noch so, dass dieses Pilgern ein Loslassen sein kann von dem normalen Tagestrott. Aber heute ist es leider auch so, dass immer mehr von der modernen Welt in den Jakobsweg reinkommt.“
Und das macht sich dann vor allem in den Unterkünften, den Herbergen, auf dem beliebtesten, etwa 800 Kilometer langen Jakobsweg Camino Francés bemerkbar, erzählt Raimund Joos:
„Dass man heute gerade auf dem Camino Francés fast in jeder Herberge WLAN hat. Und da sitzen dann die Pilger am Abend vor ihrem Smartphone und kommunizieren mit ihren Freunden, aber nicht mehr mit den Pilgerfreunden – und sind eigentlich, ich möchte das mal so ausdrücken, mit den Füßen auf dem Weg, aber mit dem Kopf im Alltag."
Raimund Joos ist überzeugt, dass sich die Pilger immer häufiger selbst im Weg stehen, wenn es darum geht, das eigentliche Geheimnis des Pilgerns zu entdecken:
„Dieses Geheimnis, ich glaub‘, das liegt im Loslassen, dass man einfach sich auf was Neues einlässt und wirklich mit der Welt Kontakt aufnimmt. Und dafür ist ja der Jakobsweg eigentlich auch gut. Der soll ja nicht irgend so ’n losgelöster Hippie-Urlaub sein, wo man mal einfach so mal ganz anders ist und ausflippt, sondern es geht ja wirklich [dar]um, was zu lernen für sich selbst und für die Welt, und das soll ja dann auch nachhaltig sein für den Alltag.“
Dem chinesischen Gelehrten Konfuzius wird der Spruch zugeschrieben: „Der Weg ist das Ziel. Ist das Ziel fern, ist der Weg lang.“ Wer sich dafür entscheidet, den Jakobsweg zu gehen, sollte das nach Ansicht von Raimund Joos nicht tun, weil er einfach mal ausflippen, Dinge tun möchte, die er sonst nicht tun würde – wie die Hippies in den 1960er und 1970er Jahren, die sich mit langen Haaren und bunter Kleidung gegen die herrschende Gesellschaftsnorm auflehnten. Wer den Jakobsweg geht, findet Joos, sollte bleibende, nachhaltige, Erfahrungen machen wollen, die er nach der Rückkehr von der Wanderschaft in den Alltag integrieren kann. Auch sollte man wirklich loslassen wollen. Wenn er sich was wünschen dürfte, wüsste Raimund Joos schon was. Seine Vision:
„’n Weltfriedensweg, der eigentlich die ganze Welt umspannt und wo verschiedene Pilgerorte miteinander verbunden werden. Und dass dieser Weg aber begangen wird nicht nur von einer Person, sondern in so ’ner Art Staffellauf, wo man symbolisch klarmacht, dass diese Welt einfach zusammengehört.“