Manuskript

Polyamorie – ein alternatives Beziehungsmodell

Am Ende von Liebesfilmen finden sie sich doch immer: zwei Verliebte. Zwei und nicht mehr. Doch es gibt auch Menschen, die mehrere Liebesbeziehungen gleichzeitig haben. Und das ist emotional nicht immer so einfach.

„Das erste Mal, als meine Freundin mit ‘nem anderen Freund geschlafen hat, war das ‘ne Situation, die ich sehr genau mitbekommen hab.“

Das sagt Johannes. Seine Freundin hat eine intime Beziehung zu einem anderen Mann – und er weiß Bescheid. Was für die meisten vermutlich ein mögliches Ende ihrer Beziehung darstellt, ist für andere der Beginn eines alternativen Beziehungstyps. Wie für Johannes und Anna. Johannes, der seit mehr als zehn Jahren in einer festen Beziehung ist, trifft und liebt aber auch Anna. Annas Hauptbeziehung ist die mit Jonathan, der aber auch eine zweite feste Beziehung hatte. Polyamorie nennt sich dieses Phänomen, wörtlich übersetzt „Vielliebe“. Für Johannes war das anfangs nicht leicht. Er stellte sich mehrere Fragen:

„Wie reagier’ ich? Geh ich da dazwischen? Find ich das gut? Mach’ ich ‘n Drama? Unterbind’ ich das? Oder wie geh’ ich damit um? Also, ich hab das recht deutlich miterlebt.“

Johannes war sich anfangs nicht so sicher, wie er reagieren, damit umgehen, sollte, als ihm seine Freundin sagte, dass sie gleichzeitig noch eine Beziehung zu einem anderen Mann hat. Sollte er wütend sein, ihr ein Drama machen? Oder sollte er dazwischengehen, eingreifen? Oder sollte er das ganze gar unterbinden, sich darum bemühen, dass sie die Beziehung zu dem anderen Mann beendet? Viele Fragen, die die eigenen Gefühle berührten. Um sie zu beantworten, muss man sich selbst gut kennen, die Situation genau analysieren und sich über die eigenen Wünsche und Vorstellungen klar werden – und über die des Anderen. Mittlerweile ist für Johannes und Anna klar, dass sie in einer Partnerschaft leben, gleichzeitig aber auch Liebesbeziehungen zu anderen Partnern unterhalten. Körperlichkeit mit anderen ist in der Polyamorie also kein Fremdgehen, sondern Teil des Konzeptes. Auch spielen Verliebtheit und Zärtlichkeit eine zentrale Rolle. Doch wie verbreitet ist dieser Lebensstil, der sich so stark von der gewohnten klassischen Zweierbeziehung unterscheidet? Nach Erkenntnissen von Diplompsychologin Gisela Wolf, die sich in ihrer Arbeit auch mit dem Thema Polyamorie beschäftigt, gibt es keine genauen Informationen, wie viele Menschen diese Lebensart teilen. Sie meint allerdings:

„Ich geh’ aber davon aus, dass quasi das Vorkommen von Mehrfachbeziehungen doch auch relativ häufig ist. Nur haben wir in traditionelleren Familien oder Beziehungen dann oft das Phänomen, dass diese Mehrfachbeziehung verschwiegen wird, dem Partner oder der Partnerin, und dann einfach auch ‘ne Tabuisierung und ‘n Versteckspiel stattfindet.“

Gisela Wolf hat in ihrer Arbeit herausgefunden, dass das Phänomen der Polyamorie vor allem in bestimmten Gesellschaftsgruppen vorkommt. Wenn außerhalb dieser Gruppen Mehrfachbeziehungen existieren, handelt es sich dabei meist eher um das klassische Fremdgehen, weil die weiteren Beziehungen dem Partner oder der Partnerin nicht offen mitgeteilt, verschwiegen, werden. Denn solche Beziehungen sind tabuisiert: Die Partner, die fremdgehen, wissen, dass es gesellschaftlich nicht akzeptiert ist und sprechen nicht drüber. Meist findet sogar ein Versteckspiel statt, man möchte nicht, dass diese Beziehungen öffentlich werden. In polyamorösen Beziehungen dagegen gehören Offenheit und der gegenseitige Austausch gewissermaßen zu den Spielregeln. Besonders in kritischen Situationen, in denen bestimmte Gefühle hochkommen, ist das hilfreich, meint Anna:

„Klar hab ich Angst, und klar hab ich auch die Eifersucht, aber das gehört dazu. Und dadurch, dass man aber darüber so offen spricht, werden einem viele Dinge klar. Man lernt einfach viel über sich selber. Und indem man das mit jemand anderem teilt – und gerade in der Partnerschaft teilt so was –, ist man, glaub’ ich, gezwungen, ehrlich zu sich selber zu sein auch.“

Gefühle wie Verlustangst oder Eifersucht, die aufkommt, wenn man die Partnerin beziehungsweise den Partner mit jemand anderem teilt, sind nach Ansicht von Anna normal. Hilfreich ist dann, seine Gedanken und Gefühle mit den Partnern zu teilen, sie offen anzusprechen. Und man muss ehrlich zu sich selber sein, also zulassen, dass es solche Gefühle gibt und sie einem möglicherweise Probleme bereiten. Gisela Wolf sieht daher auch die Fähigkeit, über Emotionen sprechen zu können, als besonders wichtigen Teil einer polyamorösen Beziehung an:

„Ich hab den Eindruck, dass Menschen die ‘ne glückliche Polybeziehung leben möchten, doch auch ‘ne größere Fähigkeit letztendlich einsetzen, um halt das gut zu kommunizieren. Weil natürlich treten in Polybeziehungen auch Gefühlsschwankungen auf wie Eifersucht oder Ängste vor Verlust. Und da muss man einfach drüber reden können.“

Polyamoröse Menschen brauchen diese kommunikative Fähigkeit besonders. Sie müssen gut zuhören und auch über sich selbst sprechen können. Mehr Menschen und mehr Beziehungen bedeuten auch mehr Gefühle, und diese können sich schnell ändern. Gefühlsschwankungen verwandeln Freude schnell in Traurigkeit oder Glück in Angst. Doch wenn alle Partner offen und ehrlich sind, können sie gemeinsam versuchen, im Gespräch einen Weg zu finden. Und genau das ist es, was auch Gisela Wolf für jede Beziehung – egal ob mit einem oder mit mehreren Menschen – empfiehlt:

„Als Psychotherapeutin geht’s mir dadrum zu gucken, was tut Menschen gut und hilft ihnen langfristig auch, ein authentisches und gut in soziale Beziehungen eingebettetes Leben zu führen. Und aus dieser Sicht spricht weder etwas gegen monogame Beziehungen noch etwas gegen Polyamorie.“

Für die Diplompsychologin gibt es kein Patentrezept für eine glückliche Beziehung. Wichtig ist, in das soziale Umfeld von Familie und Freunden gut eingebettet, integriert, zu sein und hinter dem zu stehen, was man tut, authentisch, zu sein. Das kann auch in einer monogamen Partnerschaft, der Beziehung mit nur einem Partner, sein. Offenheit und Ehrlichkeit den eigenen Gefühlen gegenüber trifft aber unabhängig vom Beziehungsmodell letztendlich auf alle Beziehungen zu. Dann kommt möglicherweise heraus, dass der streng monogam Lebende sich nach sexueller Freiheit sehnt. Auf der anderen Seite aber kann auch der überzeugte Polyamorist vielleicht entdecken, dass er seine Partnerin lieber doch für sich alleine hätte. Laut einer Umfrage des Online-Datingportals „parship“ halten allerdings nur 40 Prozent absolute Ehrlichkeit für den wichtigsten Faktor einer erfolgreichen Beziehung. Das ist nachvollziehbar. Denn absolute Ehrlichkeit erfordert Mut. Die Angst, verletzt zu werden und nicht bekommen zu können was man sich wünscht, muss überwunden werden. Johannes meint, er und Anna hätten das geschafft:

„Wir haben halt den Raum uns geschaffen, wo wir offen reden können.“

Anna und Johannes haben sich den Raum geschaffen, haben einen Weg gefunden, um offene Kommunikation und vertrauten Austausch stattfinden zu lassen. Und das, so Johannes, führt zu etwas, was für alle gilt, die einen anderen Menschen lieben:

„Und dieses „Offen-miteinander-Reden“ und „Sich-aufeinander-Einlassen“, auch auf die Ängste und Bedürfnisse des anderen, schafft halt irgendwie ‘ne sehr schöne Art von Zusammensein.“

Manuskript