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Manuskript

Heute hier, morgen dort: Ein Leben auf der Walz

Manche Handwerker pflegen sie noch heute: die Tradition, nach Ende der Ausbildung auf mehrjährige Wanderschaft zu gehen. Meist erkennt man sie schon an ihrer besonderen Kleidung.

 

Schlaghose, Schlapphut, Weste, Jackett, kragenloses weißes Hemd und schwarze Schuhe: Manchmal sieht man so seltsam gekleidete Tramper am Straßenrand stehen, den Daumen in die Höhe gereckt. Sie wirken ein bisschen wie aus der Zeit gefallen, diese jungen Männer – selten auch Frauen –, die nach Abschluss der Gesellenprüfung, der sogenannten Freisprechung, auf die Walz gehen. „Walz“ oder auch „Tippelei“ heißen die Wanderjahre von Gesellen unterschiedlichster Handwerksberufe – eine Tradition, die bis ins 12. Jahrhundert zurückreicht.

Junge Männer zogen in die Fremde, um neue Handwerkstechniken zu lernen, Land und Leute kennenzulernen und Erfahrungen zu sammeln. Häufig gab es zu dieser Zeit in der Heimat auch nicht genug Arbeit – anders als in den sich entwickelnden Städten. Hier zogen unter anderem zu errichtende Kathedralen Handwerker an: Zimmerleute und Maurer, Maler und Steinmetze. Kamen Wandergesellen zurück, hatten sie sich den Ruf des ‚bewanderten‘ Handwerkers erworben. Doch am Anfang jeder Wanderschaft steht – wie bei Dachdeckergeselle Uli – erst mal ein ritueller Brauch:

„Dann war’s soweit, dass man irgendwo übers Ortsschild geklettert ist und seiner Familie zugewunken hat. Und dann: nicht mehr umdrehen und jetzt einfach geradeaus, irgendwo.“

Drei Jahre und einen Tag war Uli unterwegs, arbeitete heute hier, morgen dort, bevor er wieder nach Hause durfte. Beim Auszug aus seinem Heimatort musste er symbolisch über das Ortsschild klettern. Doch man kann sich nicht einfach nach Lust und Laune aufmachen. Voraussetzung ist, entweder zu einem Schacht, einer Handwerkervereinigung, zu gehören, oder sich als Freireisender oder Freireisende aufzumachen – für zwei oder drei Jahre und einen Tag. Das wird zu Beginn festgelegt. Freireisende sind an keinen Schacht gebunden, ihre Grundsätze stimmen aber mit denen der Schächte weitgehend überein. Es gibt in Deutschland sieben große Schächte. In den fünf traditionellen sind Frauen bis heute nicht zugelassen, zwei weniger traditionelle sind da nicht so streng.

Jeder, der auf Wanderschaft geht, muss bestimmte Kriterien erfüllen, Regeln und Bräuche einhalten. Dazu gehört, höchstens 30 Jahre alt und ledig zu sein, sich ohne eigenes Auto fortzubewegen, eine Bannmeile von 50 Kilometern um den Heimatort einzuhalten, ohne Mobiltelefon und Geld loszuziehen und zurückzukommen. Auch das Tragen einer Kluft ist obligatorisch. Diese traditionelle Tracht besteht unter anderem immer aus einem Hut, einer Staude, einer Weste und einem Jackett mit weißen Perlmuttknöpfen und schwarzen Schuhen oder Stiefeln. Je nach Beruf unterscheidet sich die Farbe der Kluft. Schwarz beispielsweise steht für alle Holzberufe. Freireisende erkennt man daran, dass sie keine Ehrbarkeit tragen: eine Krawatte oder Handwerksnadel. Auch ein Stenz, ein Wanderstock aus Holz, sollte nicht fehlen. In einem Charlottenburger, einem großen Tuch, das als Bündel auf dem Rücken getragen wird, ist das Nötigste verstaut. Gerade dieser Minimalismus ist es, der zum Beispiel Zimmermann Sascha auf seiner Wanderschaft begeistert hat:

„Das wirklich Tolle an der Wanderschaft ist, was ich mir vorher auch so nie vorgestellt hab, dass ja dieses Weniger an materiellem Besitz, was man mit sich führt, nicht Armut bedeutet, sondern absolute Freiheit. Man muss sich eben nicht um Wohnung und sonst was Gedanken machen. Man kann, wenn es einem nicht gefällt, von heut auf morgen gehen.“

Gehen, wohin man will, bleiben, solange man mag, schlafen, wo Platz ist – und dabei neue Leute, neue Regionen oder Länder kennenlernen: Das macht den Reiz der Freiheit auf der Walz aus. Doch es gibt auch eine Kehrseite der Medaille, sagt Sascha:

„Man kommt überall, wo man hingeht, als Fremder hin. Und diese Erfahrung, was es bedeutet, angenommen zu werden, von vornherein Vertrauen entgegengebracht zu bekommen, und eben im Gegensatz dazu die Erfahrung, was es bedeutet, wenn sich einem ’ne Tür vor der Nase zuschlägt, bevor man überhaupt die Möglichkeit hatte, sich vorzustellen, das ist schon auch ’ne prägende Erfahrung gewesen.“

Die Wandergesellen wechseln ständig den Ort, den Betrieb, die Kollegen und den Schlafplatz. So ist es kein Zufall, dass sie während der Walz ‚Fremde‘ genannt werden. Was immer gleich bleibt, sind Material, Werkzeug und handwerkliche Fertigkeiten. Auf der anderen Seite, so erzählt der Schlosser Antoine aus Frankreich, lehrt dieses Leben einen auch, flexibel zu sein, sich auf neue Situationen einzustellen:

„Ich komme in eine neue Firma, und zack, innerhalb einer Woche muss ich mich auskennen, um gut zu arbeiten. Ich muss mich einfach schnell an die neue Umgebung gewöhnen. Jedes Jahr ändert sich alles. Man muss sich schnell orientieren, sich die Straßen merken, wissen, wo Bäcker, Supermarkt und Kino sind. Man muss immer wieder neu lernen, neue Freunde finden. Das ist schwer.“

Zack, ganz schnell, musste sich Antoine zurechtfinden, in einem anderen Land mit anderer Sprache. Er war mit der CCEG unterwegs, einer Dachorganisation europäischer Gesellenzünfte. Grundsätzlich steht den Wandergesellen die ganze Welt offen. Ein Flugzeug zu benutzen, ist erlaubt. So betrachtet ist die traditionelle Wanderschaft nur eine Form der Reiseerfahrung. Denn aus beruflicher Sicht sind Wanderjahre heutzutage eigentlich nicht mehr nötig – anders als früher. Damals waren sie Voraussetzung dafür, um Meister zu werden. Heutzutage ist die Ausbildung breit gefächert, man kann sich auch ohne Wanderschaft ausreichend weiterbilden. Im Vordergrund dürfte daher eher der krönende Aspekt stehen, Lebenserfahrung zu sammeln, die eigene Persönlichkeit weiterzuentwickeln. Auch Sascha und Uli haben – jeder für sich – etwas aus dieser Zeit mitgenommen:

„Das ist vielleicht das, was dann so die Krönung der Wanderschaft vielleicht auch ist: Dass man es schafft hinterher, auch wieder ins normale Leben rein zu finden und nicht zu gehen, wenn’s einem dann nicht mehr gefällt. / Ich hab gelernt, Abschied zu nehmen, eben zu wissen, wenn man Leute verlässt, es kommt hinterher auch wieder was Neues. Ich kann nicht überall bleiben, wo es mir gut gefällt. Und ich denk mal, dass das ’ne ganz wichtige Erfahrung war, zu merken, dass jeder Verlust auch ’n Gewinn bedeutet.“

Die Walz ...
Jeder, der auf die Walz geht, muss grundsätzlich …
Früher ...

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